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WALTHER ILMER


Karl Mays Weihnachten in Karl Mays ›»Weihnacht !«‹



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Weihnacht! Welch ein liebes, liebes, inhaltsreiches Wort! . . . Dem gläubigen Christen ist es der Inbegriff der heißersehnten Erfüllung langen Hoffens auf die Erlösung aller Kreatur . . . (W 1)1

   Wie froh gestimmt muß Karl May gewesen sein, als er diese Sätze als Einleitung zu einer seiner bewegendsten Erzählungen niederschrieb; wie weit über innere Sperrbezirke hinweg muß sein geistiger Blick gewandert sein und den Sieg des Lichtes erschaut haben -

   Und wie verdunkelt war diese Vision der Befreiung von allen Schlacken der Seele, als er unter der Last der Prozesse und böswilligen Anfeindungen, ein gutes Dutzend Jahre nach jenen Worten der Freude, in seiner Selbstbiographie die Qualen der Vergangenheit noch einmal heraufbeschwor:

   Es gab keine Lichte für den Weihnachtsleuchter (LuS 101)2 . . . es waren das sehr trübe, dunkle Weihnachtsfeiertage. Ich habe wohl überhaupt schon gesagt, daß grad Weihnacht für mich oft eine Zeit der Trauer, nicht der Freude gewesen sei (LuS 102) . . . für mich und die Meinen sehr oft keine frohe, sondern eine verhängnisvolle Zeit (LuS 8) . . . daß grad die Weihnachtszeit mir selten freundlich gesinnt gewesen ist (LuS 191).

   Diese Verdüsterung des Weihnachtsbildes, wie Karl May sie vornahm an der Schwelle des Greisenalters - das sonst ja eher zur verklärenden Sicht der Dinge führt -, entspringt dem Zwang zur Schwarz-Weiß-Malerei, zum Extremen, wie er dem Autor ein Leben lang eigen war; und sie entspricht dem Bedürfnis, das exemplarische bedeutungsvolle Einzelschicksal des Karl May mit eben dem für die gesamte Menschheit so bedeutungsschweren Ereignis der Geburt des wundertätigen und doch leidenden Jesus Christus, des Erlösers und doch Gekreuzigten, schicksalhaft zu verknüpfen. Je düsterer die Weihnacht für den zur Erlösung strebenden Karl May, desto länger, härter der Weg bis hin zu dieser Erlösung und desto länger und grausamer die Kreuzigung des schuldlos schuldigen und leidenden Karl May. Damit verband sich nichts Blasphemisches, kein wahnwitzig übersteigerter Versuch,



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eine Annäherung herzustellen zwischen der Identität des Heilands und der des Sünders Karl May. Die traumatische Rolle des Weihnachtsmotivs lieferte nur eines der vielen Mittel, Trost und Stärkung zu finden in der Gewißheit: Was immer an Bösem ihm widerfuhr, er konnte es überwinden, wenn er stark und unbeirrt seinen Erlöser suchte. Und daß das Unheil grad zur Weihnachtszeit zuschlug, war nur Ausdruck der Strenge Gottes, seinem Geschöpf Karl May den Abstand zwischen dem Verderben in Ardistan und dem ewigen Leuchten in Dschinnistan nur umso sinnfälliger vor Augen zu führen. Das ist einer der Leitgedanken in der Selbstbiographie: Noch dem Greis Karl May wollen die gehässigen Mächte Ardistans den Einzug nach Dschinnistan verwehren. Und eben diesem Dschinnistan war er Ende 1897, als ›»Weihnacht!«‹ fertig vorlag, schon einmal sehr nahe gewesen . . .

   In einem Beitrag, exakt treffend ›Der Fiedler auf dem Dach‹ genannt, hat Heinz Stolte die Situation Karl Mays zur Zeit der Entstehung der Erzählung ›»Weihnacht!«‹, als der Autor auf der Höhe seines Ruhmes und - ohne es zu wissen - damit eben kurz vor dem Absturz stand, eindringlich geschildert.3 In dem Versuch, Heinz Stoltes Darlegungen in einer bestimmten Richtung zu ergänzen und auch die sich mit meinen Beobachtungen deckenden früheren Ausführungen Hartmut Vollmers4 zu vertiefen, aber auch in Respekt vor Gerhard Neumanns scharfsinniger Charakterisierung ›Das erschriebene Ich‹ (in diesem Jahrbuch) - eine klassische Überschrift, die ich gern selbst gewählt hätte -, will ich nachfolgend dem Weihnachts-Motiv weiter nachspüren.5 Ist doch gerade ›»Weihnacht!«‹ ganz offensichtlich Karl Mays geradezu heroisches Bemühen, seiner Schizoidität Herr zu werden.



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Das Unheil, das im Sturz der Seele in den Abgrund kulminierte, ereignete sich in der Tat oft genug im Umfeld der Weihnachtszeit - wie tief und wie tiefgreifend in Bezug auf die Prägung der Persönlichkeit und deren ferneres Verhalten man das Unheil und den Sturz in den Abgrund auch ansehen mag. Die alles andere als erfreulichen Geschehnisse in Gedanken in die unmittelbare Nähe der Festtage zu rücken, die dem Jubel dienen sollen, konnte bei Karl May nicht ausbleiben, nachdem das  e i n e  zentrale Ereignis, das ihn für immer aus der bis dahin vorgezeichnet erschienenen Bahn hinauswarf, nämlich die Festnahme wegen Uhrendiebstahls, wahrhaftig zu Weihnachten eingetreten war. Seltsam schicksalhaft und gleichermaßen bedrohlich muß es ihm, im-



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mer diese seine Sicht der Dinge vorausgesetzt, vorgekommen sein, daß schon der Großvater, der Mann der Märchengroßmutter, ausgerechnet zur Weihnachtszeit bei dem Bemühen scheiterte, den Seinen eine Festtagsfreude zu bereiten, und vom Weg abirrte und in den Abgrund stürzte (LuS 8). Es darf uns nicht irremachen, daß wir Heutigen über Zeitpunkt und Ursache des Unfalltodes dieses Großvaters besser unterrichtet sind.6 Karl May, davon können wir ausgehen, kannte mutmaßlich keine andere Version als die, die er in ›Mein Leben und Streben‹ schildert; es lag vielmehr im Interesse der Familie, insbesondere der Großmutter, diesen unrühmlichen Tod mit einer Aura des Besonderen zu umgeben, das Andenken an den Verstorbenen zu verbrämen. Vielleicht gar - wie derlei oft geschieht - war bis zu dem Zeitpunkt, als Karl May zum ersten Mal von diesem unglücklichen Ende des Großvaters hörte, die Wahrheit aus dem Gedächtnis der noch Lebenden entrückt, hatte die Version des Opfermutes zur Weihnachtszeit längst die Stelle der Wahrheit eingenommen. Vielleicht auch legte Karl May von sich aus diese Deutung in ein vergangenes, ins Dunkel gesunkenes Geschehen hinein, weil dies dem doppelgesichtigen Hang entgegenkam, die Schuld sowohl im eigenen schlechten Tun zu suchen als auch sie von sich auf andere abzuwälzen, bösen Schicksalsmächten die Verantwortung wenigstens zum Teil zuzuschieben.

   Schon dem Großvater trug also der menschlich anrührende Wunsch, Weihnachten für die Familie zum Fest zu machen, den Sturz in den Abgrund und den Tod ein. Und im Enkel Karl fand der Neid des Schicksals ein noch weitaus geeigneteres Opfer: Wohl hatten die anstrengenden ›Soldatenspiele‹ mit dem Vater (LuS 43, 44) den Jungen körperlich gekräftigt, wohl war er unter dem birkenen Hans (LuS 10) erstaunlich widerstandsfähig gediehen, und wohl hatte die rasche Auffassungsgabe des Knaben ihn den in ihn hineingestopften wirren Wust an Wissen verdauen lassen, ohne daß das junge Gehirn überschnappte; aber die arme Pflanze Seele war darüber doch gar zu kümmerlich geraten und war anfällig nach allen falschen Richtungen hin. Insoweit ist schon der heimliche Aufbruch des offenbar Dreizehnjährigen nach Spanien, wo er von den edlen Räubern Hilfe holen wollte, bedenklich (LuS 79, 92).7 Ein gesichertes Datum zu dieser Begebenheit liegt (bisher) nicht vor; gleichwohl läßt sich aus Karl Mays in der Selbstbiographie folgenden Zeitangabe Ostern 1856 (LuS 93) rückschließend immerhin ein Wahrscheinlichkeitsanspruch ableiten, daß der Junge sich um die Jahreswende 1855/1856, also ›zur Weihnachtszeit‹, auf den Weg gemacht hatte. Damit liegt der Verdacht nahe, Karl Mays Realitätsflucht habe damals, bei seinem Eintritt ins Pubertätsalter, begonnen, und eben die



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Auswirkungen der Pubertät auf das empfindliche Gemüt des Knaben könnten Spaltungserscheinungen begünstigt haben.

   Eine unheilvolle Kombination von Veranlagungen brach sich Bahn: Natürliche Gutmütigkeit gepaart mit aufrichtigem Bestreben, gerade das Weihnachtsfest für die Eltern und Geschwister und die Großmutter freundlich zu gestalten, untermischt von Geltungshunger und von dem Durst nach Lob für das Vollbringen einer von den Angehörigen unvermuteten Leistung; mit den Jahren wachsend das bohrende Verlangen, den ungünstigen materiellen Verhältnissen etwas Glanz entgegenzusetzen - wobei ihm die Unredlichkeit der Mittel angesichts des angestrebten Zwecks entschuldbar schien -, im Verein mit dem geheimen Trotz gegen die autoritären Gewalten, die nicht an der Besserung des Geschicks des Individuums interessiert waren, sondern nur an der Verfestigung der eigenen Institutionalisierung - sei es die Anstaltsdirektion in Waldenburg (LuS 96, 98f.) oder, später, jegliche staatlich-behördliche Einrichtung; und dazu jenes Quentchen unbedachtsamen Wagemutes, der als untaugliches Mittel zur Überwindung der vermuteten - oder ihm angeblich angelasteten - persönlichen ›Minderwertigkeit‹ herhalten mußte (wie er ihn sein bestgelungenes Teil-Ich, den ruhmredigen Hadschi Halef Omar, immer wieder zu dessen Nachteil zur Schau stellen läßt), nebst einer Prise Imponiergehabe, das nur aus sich selbst heraus lebt und wie ein Luftballon zerplatzt.

   Und so verdunkelte sich Karl May sein Weihnachtsfest durch eigenes schuldhaftes Handeln. Viele Male.



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Das erste Mal ist es 1859, nachdem er als Lichtwochner am Seminar zu Waldenburg widerrechtlich sechs Wachskerzen entwendet und versteckt hat und Anwürfe und Verdächtigungen auch wegen anderer Delikte, z. B. Gelddiebstahls, ertragen muß. Das Weihnachtsfest steht im Schatten der drohenden Ausweisung aus der Anstalt und des Verlustes jeden Studienplatzes im Königreich Sachsen. Insoweit ist das tatsächliche Datum der Ausweisung, der 28. Januar 1860, nicht von vorrangiger Bedeutung. Das Weihnachtsfest 1859 war den Mays jedenfalls verdorben worden.

   Die zweite Weihnacht zerstörte Karl May sich zwei Jahre später, 1861, als er leichtfertig die Uhr des Zimmergefährten mitnahm nach Hause und, viel schlimmer, den Besitz der Uhr gegenüber der Polizei leugnete, statt umgehend den Stier bei den Hörnern zu packen. Der



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Verlust der Lehrerstelle als Vorbestrafter machte die zunächst scheinbar so frohe Weihnacht 1861 im nachhinein zur Unglücks-Weihnacht schlechthin (LuS 104-107).

   Über Mays Weihnachten 1862 und 1863 wissen wir nichts. Freudenreich dürften sie für den Stellungslosen und praktisch Verdienstlosen nicht gewesen sein. Zur Aufhellung des Weihnachtsbildes können sie kaum beigetragen haben. Und die darauffolgende Weihnacht, 1864, stand im Schatten der Schwindelmanöver des ›Herrn Seminarlehrer Lohse‹ und des ›Dr. med. Heilig‹ und des ›Kupferstecher Hermes‹. Für einen von der Polizei gejagten Dieb, dessen materieller Ertrag aus der jeweiligen Beute überhaupt nicht der Rede wert war und der mühsam von Unterschlupf zu Unterschlupf hastete, kann das keine fröhliche Weihnacht gewesen sein. Eher wohl eine böse und einsame Weihnacht - unter Heimweh und Gewissensdruck.

   Dreimal verbringt Karl May sodann das Weihnachtsfest im Gefängnis Osterstein zu Zwickau - 1865, 1866, 1867. Im zeitlichen Umkreis eines dieser Feste entsteht das später in so vielen seiner Werke immer wieder in Bruchstücken verbreitete Gedicht ›Weihnachtsabend‹ (Ich verkünde große Freude), worin er mit sich selbst hart ins Gericht geht, dieweil er Gottes Gnade und Vergebung erfleht.8 In Verbindung mit der Hinwendung zu ersten tastenden schriftstellerischen Arbeiten während der Zwickauer Haftzeit bahnte sich hier wohl eine Versöhnung Karl Mays mit seinem Weihnachtsbild an, eine Abkehr von der pessimistischen Haltung, der eigenes Verschulden zugrunde lag.

   Doch wieder warf schon das nächste Jahr den innerlich noch immer nur ungenügend Gefestigten in die trübsinnige Auflassung zurück: Das Weihnachtsfest 1868 war das Fest der gellenden, höhnenden Stimmen, die den Weg ins Verderben wiesen (LuS 116, 118, 157, 163 und passim), nicht ein Fest des Aufbaus. Gleichgültig, wo er es verbrachte - ob daheim im Elternhaus, neuer böser Straftaten verdächtigt, wenn auch diesmal zu Unrecht, und von der örtlichen Polizei mißtrauisch belauert, oder bereits umherirrend auf der Suche nach Halt und nach sich selber, aufgespalten in den sehnsüchtigen, redlich um ein bürgerliches Dasein bemühten Karl May und in den die arglosen Menschen dreist düpierenden, Dokumente fälschenden und sinnlos dahintrudelnden Karl May - frohe Weihnacht gönnten die Stimmen ihm nicht.

   Und wieder ein Jahr später, 1869, ist Karl May um die Weihnachtszeit in Böhmen, irgendwo östlich der Elbe, auf dem Wege ins Schlesische, allein, verlassen, ohne Geld und Ausweispapiere, und ringt mit sich und seinem Gewissen, ob er nach Hause zurückkehren und sich freiwillig dem Gericht stellen soll (LuS 168). Es scheint, als sei er im



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Begriffe gewesen, diesem heimlichen Ruf seines besseren Ich zu folgen. Ein Hauch von Weihnachten? Ein Schimmer winkender Erlösung? Welches Licht auch immer jene schrecklichen Weihnachtstage 1869 mühsam erhellt haben mag - es verlosch und ließ Dunkelheit zurück. Karl May verfiel jenen inneren Gewalten (LuS 168), irrte weiter dahin und ward einige Tage später gestellt und festgenommen. Die ›Albin-Wadenbach‹-Farce begann - - und mit ihr Karl Mays leidensvoller Weg ins Zuchthaus Waldheim. Der Weg, der ihn letztendlich dann aber doch zu seinem wahren Ich, zu seinem Selbst führte. Nur, auf Jahre hinaus, nicht zu einer lichtvollen, beseligenden Weihnacht. Weihnachten im Zuchthaus ist keine Erquickung, so sehr Anstaltsleitung, Aufseher und Geistliche sich bemühen mögen, an diesen Tagen den Stachel der Haft zu entschärfen. Viermal ging Weihnachten ins Land, ohne daß Karl May sie hätte genießen können als Gottes Gnadengeschenk an die Menschheit; und selbst noch die erste Weihnacht in der wieder errungenen Freiheit, 1874, konnte ihm nicht hell werden: Drohend grau hing darüber die unveränderte Ungewißheit über die Sicherung der Existenz und hing weiter darüber der graue Schatten der Polizeiaufsicht. Weihnachtsfreuden im Herzen Karl Mays 1874? Wir dürfen es füglich bezweifeln.

   Die Weihnacht des Jahres 1875 hat einen besseren Anstrich. Mit ihr wird sich Hoffnung, Klingen, Lichterglanz verbunden haben. Die Redakteurstelle bei Münchmeyer, die Herausgabe der Zeitschrift ›Schacht und Hütte‹ verhießen Zukunftsaussichten. Sogar ein Klavier steht dem »Herrn Doktor« zur Verfügung.9 Und doch erwies all das sich rasch als Talmiglanz: Bereits ein Jahr später, 1876, hatte Karl May die Stellung gekündigt, vernebelte sich das Weihnachtsfest erneut. Er flüchtete um die Jahreswende 1876/1877 in eine Entscheidung zwischen Scylla und Charybdis hinein: Flucht vor Münchmeyer und vor dessen Schwägerin Minna Ey; Flucht in die aus lauter Ungewißheiten und Risiken bestehende Rolle des freischaffenden, von der Hand in den Mund höchst unzulänglich lebenden Schriftstellers; und Flucht in die unselige Leidenschaft eines Mittdreißigers für ein kaum mündig gewordenes, sinnlich verführerisches Mädchen namens Emma Pollmer, dem er daheim flüchtig begegnet war und das er so gern näher kennenlernen wollte. Und nach allen Seiten manövrierte er sich in Schuldgefühle hinein, indem er die gesicherte Stellung bei Münchmeyer aufgab und damit nicht nur den Verleger, sondern auf jeden Fall auch Minna enttäuschte - und diese tief verletzte, selbst wenn er in seinem Verhalten nie hatte erkennen lassen, ob ihm etwas an ihr gelegen sei -, und indem er Emma von ihrem sie treulich umsorgenden Großvater zu ent-



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fernen suchte. Er, Karl May, vermochte den Lebensunterhalt des Mädchens nicht so fraglos sicherzustellen. Doch die Phantasievorstellungen hinsichtlich des Aufbaus einer Beziehung zu Emma, die er um diese Weihnachten herum ersehnte, deckten alles zu: Diese Weihnacht entschied über mich, wenn ich mich auch nicht sofort verlobte (LuS 191). Die entscheidenden Begegnungen zwischen den beiden Menschen kamen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht vor Februar oder März 1877 zustande, doch im Erinnerungsbild Karl Mays zur Zeit der Niederschrift seiner Selbstbiographie bot jene Jahreswende, als Ausgangspunkt einer seiner schwersten Fehlentscheidungen - dem Nachhängen eitler Hoffnungen in bezug auf Emma -, ein bleibendes Symbol der Betrübnis.10 Die eitlen Hoffnungen waren schillernde Wahrheit geworden und doch zerstoben; Emma hatte ihm, wie er es sich vorhielt, nur ein Schein-Glück und viel Kummer gebracht. Weihnacht 1876 stand unter der Ungunst des Schicksals.

   Die beiden folgenden Weihnachten nicht minder: Das Jahresende 1877 stand im Zeichen weiterhin ungenügender materieller Existenzsicherung und des Beginns des offenen Zusammenlebens mit Emma ohne Trauschein -, dieweil Großvater Pollmers anhaltende Mißbilligung die wieder und wieder mühsam geklitterte Liebesbeziehung belastete; und Weihnachten 1878 brachte im Gefolge der für Karl May so beschämenden Stollberg-Affäre das Zerwürfnis mit Emma. Zehn Jahre nach dem Aufruhr der gellenden Stimmen, die ihn ins Zuchthaus trudeln ließen, lief er Gefahr, abermals unter einem schweren seelischen Schock zu zerbrechen. Diesmal aber zog der Drang, den Gewalten zu trotzen, ihn in die andere Richtung: Er setzte seine wilden Phantasien nicht in die Tat um, sondern nur auf dem Papier, schrieb sich fast die Finger wund bei der deprimierenden Arbeit an dem fürchterlich dahinwuchernden und freudearmen Monsterwerk ›Scepter und Hammer‹/›Die Juweleninsel‹, worin das trübe Schicksal des unglücklich liebenden und unglücklich verfolgten Karl May in vielfach verzerrter Spiegelung gespenstisch umgeht. Er schuf aber in diesem Jahre 1879 auch erstmals seinen Ich-Helden Old Shatterhand - nachdem er früher einmal beiläufig erwähnt hatte, der Name sei ihm, dem schreibenden Erzähler, gelegentlich beigelegt worden - und gab sich mittels dieses Image die Kraft, die vierte Haftstrafe seines Lebens, die er ausgerechnet im Gefängnis des Heimatortes verbüßte, zu überstehen,11 statt an ihr zugrundezugehen. Weihnachten 1879, zehn Jahre nach den bitteren Wochen des Landstreicherdaseins in Ost-Böhmen, sah ihn voller neuer Arbeitspläne. Am Beginn der Pilgerschaft zum Glück.



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Für einen Menschen, der die helle Seite des Lebens gesucht und wissentlich - oder unter psychischem Zwang - die dunkle Seite des Lebens aufgesucht hatte, der an Gemütseindrücken und Gemütsbewegungen so schwer trug wie Karl May, für den Weihnacht dank der in frühester Kindheit durch Großmutters Erzählungen geformten Sehnsuchtsbilder das Wunder der allumfassenden Heilsbringung war, der sich aber durch eigene Schuld immer neu die Teilhabe an dem Wunder verscherzt hatte - für diesen Menschen, der in Zwiespalt mit sich selbst lebte, mußte Weihnachten zum zwiespältigen Symbol werden. So wie die Menschheit sich vor dem Bild des zur Weihnachtszeit erschienenen Christus spaltet in Gläubige, die darin den Retter aller Seelen erkennen, und Ungläubige, die am Diesseits zu sehr kranken, als daß ein verheißenes Jenseits sie hoffen ließe, so auch das Individuum Karl May. Er fühlte sich nicht denen zugehörig, die in Verehrung und Dankbarkeit den Heiland willkommen heißen können, weil sie alles Sündige abgestreift und anderen geholfen haben, das Gleiche zu tun; er rechnete sich zu jenen, die sich abwandten und es duldeten, daß man den Heiland ans Kreuz schlug, oder die gar die Hand dazu boten. Aber er zweifelte auch an seinen Zweifeln. Die Vorstellung, es gebe gar keine Gotteshand, war ebenso schreckenerregend wie die, Gott habe seine Hand für immer von der Kreatur Karl May abgezogen. Der ferne Glanz Dschinnistans blieb immer stark genug, um ihn heranzuziehen und ihn hoffen zu lassen, er werde den Weg dorthin eines Tages doch finden. Die Last des selbstgeschaffenen Weihnachtsbildes drückte. Wenn es sich zurechtrücken ließe - wenn es eindeutig freundlich wurde und schattenlos blieb - dann wäre auch die Spaltung des Ich, die zur Weihnachtszeit einsetzte, überwunden.

   Aber der Weg dorthin mußte von der Seele systematisch vorbereitet werden. Einen vielversprechenden Anfang bildete der 1880 unter der Feder entstehende berühmte Dialog zwischen Kara Ben Nemsi und Halef über die Meriten des Christentums gegenüber denen des Islam .12

   Lichterglanz oder Eintrübung der May'schen Weihnachtsfeste ab 1880, also nach der Eheschließung mit Emma, sind bis dato der Beurteilung entzogen. Der kinderliebe Karl May mag in der kinderlos bleibenden Ehe stumm beklagt haben, daß kein Kinderlachen unter dem Weihnachtsbaum erklang und er keine gläubigen Kinderaugen den Kerzenschein reflektieren sah. Wie immer er damit fertig wurde, wie immer - wenn überhaupt - er sich an den Weihnachtstagen jener Jah-



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re ab 1880 mit Erinnerungen an frühere, bösere Weihnachten auseinandersetzte, ob stille oder laute Freuden seinem Herzen zuteil wurden, wir wissen es nicht. Von der Weihnacht 1891 freilich ist fürwahr anzunehmen, daß sie ihn strahlend vorfand: Er war von Fehsenfeld entdeckt worden und hatte einen Vertrag mit ihm geschlossen. Und die Weihnacht 1892 sah ihn mit sechs erfolgreichen Bänden als den Senkrechtstarter im Buch-Geschäft dieses Verlegers Fehsenfeld und erfüllte ihn berechtigt mit ungezählten neuen Hoffnungen. Und von der Weihnacht 1894 liegt sein Zeugnis im Brief an Emil Seyler vor, daß echte Festtagsstimmung im Hause May geherrscht hatte.13

   Doch die Weihnacht 1895 bescherte wieder ein Grollen: Karl May blickte zurück auf ein Jahr nur geringer schriftstellerischer Neu-Produktion - vergleichsweise kraftlose Gebilde obendrein - und blickte dem Heraufziehen seiner ganz persönlichen ›midlife crisis‹ ins erbarmungslose Auge: eine zweite Frau war verlockend in sein Leben getreten.

   Stück um Stück war er, seit 1880, seit ›Giölgeda padishanün‹, losgekommen von den Felsblöcken, die seine Seele belasteten, hatte systematisch - und den geheimen Befehlen des Unterbewußten folgend - die Reise-Erzählungen als ein Instrument genutzt, sich die aus dem Uhrendiebstahl und aus den Straftäterzeiten herrührenden Qualen aus dem Inneren des Ich herauszuschreiben und auch die jeweils aktuellen, im Lebensverlaufe neu hinzutretenden Problemlasten mit zu verarbeiten - wie z. B. die beiden Perioden der Arbeit für Münchmeyer und manche Mißhelligkeiten seines Ehelebens - und ihre Gewichtigkeit dadurch zu verringern. Insoweit sind eben die Reise-Erzählungen der getreue Spiegel des Lebens ihres Autors und gewinnen auch eben dadurch ihren ganz besonderen unauslöschlichen Reiz. Eine Last aber war bis Ende 1895 noch keineswegs gewichen, sondern eher gewachsen, und sollte auch so bald nicht weichen: Die Bürde der Ehe mit Emma blieb - - und zugleich blühte in Karl Mays Herzen heimlich, ohne daß er es sich, geschweige denn dem anderen Menschen, einzugestehen wagte, die sündige Liebesleidenschaft des alternden Mannes zu der zweiundzwanzig Jahre jüngeren Klara Plöhn. Sündig deshalb, weil sowohl er als auch Klara verheiratet waren - und Klaras Mann, Richard Plöhn, Karls bester, wenn nicht einziger, Freund. Die Seele im neuen Zwiespalt, die Zweifel am Bild des Erlösers, der doch auch für Karl May da sein sollte, größer denn je.



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Das schriftstellerische Werk zeigt die folgerichtige, weil von zunehmender Unruhe der Seele diktierte, Hinwendung des materiell Gesicherten zu den Problemen jenseits der materiell gesicherten Existenz - zu Gott und zu dessen Walten der Gnade oder der Ungnade über das Geschöpf Karl May. Zweifel und Unruhe und seelischer Umbruch bringen zunächst nur einige Proben neuer, wenig befriedigender Marienkalender-Geschichten zustande, schlagen sich dann im Laufe des Jahres 1896 nieder in so gegensätzlichen Erzeugnissen wie dem Schluß des III. Bandes der Erzählung ›Im Lande des Mahdi‹ (›Thut wohl denen, die Euch hassen!‹/›Die letzte Sklavenjagd‹)14 auf der einen Seite und der trotz aller heiteren Obertöne so viel innerste Lebensangst verratenden Skizze ›Freuden und Leiden eines Vielgelesenen‹15 auf der anderen Seite - und treiben Karl May dann alsbald hinein in die bis dahin seltsamste und rätselhafteste Geschichte seines Schaffens, den abschließenden dritten Band der Trilogie ›Old Surehand‹.16 Seltsam wegen der auffälligen Diskrepanz zwischen den unentschuldbaren kompositionstechnischen Schwächen (die auch schon den ersten Band der Trilogie durchziehen und den zweiten Band vollends mißlingen ließen) und der missionarischen Wucht, deren Karl May hier fähig ist; und rätselhaft wegen der ungewöhnlich erfolgreichen Verschleierung der biographischen Bezüge in dieser Erzählung. Erst bei sehr nahem Hinsehen zeigt das Werk durch einige wenige Textstellen sich als der Aufschrei des gequälten Mittfünfzigers zwischen zwei körperlich attraktiven Frauen, der seiner sexuellen Probleme nicht Herr wird.17 Der separat zu Papier gebrachte Stoßseufzer Endlich, Endlich, Endlich Schluß des IIIten Bandes Hamdulillah18 - dessen Wörter des IIIten Bandes er nachträglich noch durchgestrichen hat - läßt aber in dieser zwie-artigen Formulierung ebenso wie der eine verräterische Satz über Tokbela in dem scheinbar matten Schlußabschnitt der Erzählung keinen Zweifel, daß Karl May zu Weihnachten 1896, als die Surehand-Erzählung fertig vorlag, die ihm gemäß scheinende Lösung seines Problems gefunden und sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte: Er wandte sich verstärkt neuerlich Emma zu, in dem festen Willen, die Ehe zu retten - - und sich nicht jetzt, da er auf der Höhe des Ruhmes stand und Bildpostkarten als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi verbreitete, eine unversöhnliche Feindin zu schaffen, die ihn mit wenigen Worten entlarven könnte.19

   Was immer mit der Verarbeitung des Old-Wabble-Komplexes20 und anderen, von der Karl-May-Forschung bisher nicht voll durchschauten



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Lebensvorgängen in der Verkleidung der Old-Surehand-Erzählung und der verworrenen Familiengeschichte ihres merkwürdig farblosen Titelhelden Gestalt angenommen hat - es schwemmte Hemmnisse fort und schaffte unsägliche Erleichterung. Die Weihnacht des Jahres 1896 verhieß Aufbruch.

   Ein Prozeß kam in Gang, der das bisherige schritt- und schubweise vorangetragene Streben nach Erlösung machtvoll beflügelte.



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Er kündigte sich an in der raschen Fertigstellung der farbigen, buntbewegten Erzählung ›Am Turm zu Babel‹.21 Nicht nur verraten deren lockerer Ton und prickelnde Rasanz eine gelöste, aufgeräumte Stimmung des Autors, sondern auch das Thema Gottsuche - hier exemplifiziert im Polen Dozorca und in dem Offizier Ahmud Mahuli - wird ohne Mißton bewältigt. Karl May ist im Einklang mit sich selbst. Und dieser Aufbruch mündet ein in eine vielwöchige Reise mit Emma durch frühlingslachendes und sommerliches Land, voller Entspannung und neuer Eindrücke; und das letzte Stadium dieser Reise im Sommer 1897 führt nach Böhmen hinein, entlang einer Strecke, die dieser Karl May schon einmal, 1869, aber im Winter, zurückgelegt hat - und Erinnerungen werden wach - insbesondere an jene schlimme Phase der Ich-Spaltung, die in »Albin Wadenbach« gipfelte -, und hinter dem Aufbruch glüht ein Ziel auf - und Karl May gebiert einen Plan . . . Er sieht unter sommerlicher Sonne alle Schrecken des Winters in sich zusammenfallen und alle jemals zur Winterszeit aufragende, mit dem Begriff Weihnacht verbundene Trübsal und Not sich auflösen in einem einzigen großen Licht . . . Und noch ganz unter dem Eindruck der erlösenden Idee zwingt er sich, sie festzuhalten und die fertige Erzählung zur Weihnacht dieses Jahres 1897 vorzulegen. Entgegen vielen anderen bunten Plänen, die er Fehsenfeld gegenüber aufrollte und dann ohne Erklärung fallenließ, setzt er diesmal das, was er am 12. August 1897 in einem bewegenden Brief skizzierte,22 unverzüglich in die Tat um.



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Karl May schreibt ›»Weihnacht!«‹ In kühnem Zugriff bestimmt er das Thema Weihnacht zum Zentrum einer Erzählung. Das geht weit über Früheres hinaus. Wohl hat er den weihnachtlichen Schicksalsschlag der



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Festnahme wegen Uhrendiebstahls, wodurch die Laufbahn als Lehrer zunichte wurde, und deren mittelbare Folgen schon oft im Werk behandelt.23 Er hat auch gerade in zeitlicher Nähe der Weihnachtstage - nicht ohne beziehungsreiche Verwendung einiger Zeilen seines eigenen Weihnachtsgedichtes - Szenen gestaltet, in denen einer seiner sympathischsten Helden, Dr. Karl Sternau, sich unter dem Verhängnis der falschen Beschuldigung eben zur Weihnachtszeit im Gefängnis findet.24 Und er hat die nach-weihnachtliche Seifenblase-Lüge »Albin Wadenbach« - letztes großes Schwindelmanöver und größte Niederlage, die den Sturz ins Zuchthaus Waldheim einleitete - mehrmals unnachsichtig, schelmisch wie dramatisch, abgehandelt.25 Aber gerade dem Ausgangspunkt der Malaise seines Lebens, dem Kerzendiebstahl von Waldenburg, und eben damit der Einleitung der Spaltung der Persönlichkeit, ist Karl May bis dahin in seinen Reise-Erzählungen ausgewichen. Der Kerzendieb von 1859, der die ersten drohenden Aberrations-Erscheinungen in sich wahrgenommen hat und dem statt der erträumten Pose des die Weihnacht der Familie erhellenden Helden die Rolle des kläglich Entehrten zuteil ward, ist noch nicht entsühnt. Wahrscheinlich bedurfte es des Wegräumens und Beseitigens aller anderen Deckschichten,26 bevor er zum Urgrund vorstoßen konnte. Wahrscheinlich auch mußte er sich erst die - zumindest von ihm so gesehene - volle Versöhnung mit Gott erschreiben,27 mußte überzeugt sein, daß Gott ihn nicht mehr als räudiges Schaf, als Auswurf ansah, ja daß sogar - und gerade - das fast wahnwitzige öffentliche Auftreten als Old Shatterhand28 in seiner tiefsten Bedeutung ein Reue-Moment darstellte und die Bloßstellung des Sünders Karl May förmlich herbeischrie. Gerade jetzt, da er sich persönlichen Fragen und Nachstellungen gefahrvoll preisgibt, hegt er offenbar die unerschütterliche Überzeugung, von Gott festgehalten zu werden, und zieht daraus die Kraft, die Spaltung des Ich unmittelbar zum Thema zu erheben.29 Unversehens weiß da etwas in psychischen Tiefenbezirken, daß er nahe daran ist, den einen letzten Sperrbezirk zu überwinden.

   So entbehrt die Situation wieder einmal nicht des Makabren. Karl May trieb zwei Extremen gleichzeitig entgegen - ganz typisch im Hinblick auf die spezifische Entwicklung seiner Gesamtpersönlichkeit. Während er einerseits im Begriffe stand, geistesschöpferisch von den Spaltungserscheinungen loszukommen, schob er sich durch sein Old-Shatterhand-Porträt im Bande ›Old Surehand III‹ und durch seine hemmungslosen Bramarbas-Auftritte vor fanatisiertem Publikum noch weiter in die Spaltung hinein. Er verfestigte die Lüge - und traf gleichzeitig Anstalten, ihr den Garaus zu machen.



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Die Erzählung setzt ein mit dem Triumph des wenig begüterten, etwa sechzehn- oder siebzehnjährigen Gymnasiasten May. Die Identifizierung des Autors mit dem Ich-Erzähler ist perfekt. May hat lange hierzu gebraucht.30 Von Andeutungen und Nennung des Vornamens Karl und der Heimat Sachsen in früheren Bänden bis hin zum Redakteur und Dres'ner Doktor in ›Satan und Ischariot‹ und, ebenfalls dort, der genialen Wendung, er heiße wie einer von den zwölf Monaten, wagte er sich immer weiter vor. Jetzt, da er als Old Shatterhand öffentlich aufgetreten ist  u n d  da er sich dem Ursprung des Fehlverhaltens stellt,  m u ß  er in der Erzählung seinen Namen nennen. - Unerwartet ist ›May‹ Sieger in zwei Wettbewerben geworden: Sowohl ein Musikstück als auch ein Gedicht aus seiner Feder haben jeweils den ersten Preis gewonnen; der reiche Gewinn von dreißig plus fünfundzwanzig Talern ermöglicht es dem reiselustigen Burschen, während der Weihnachtsferien eine ausgedehnte Reise ins Ausland, nach Böhmen hinein, zu unternehmen.

   Da ist sie wieder, die Sicherheitsplattform, die Karl May sich so gern als Ausgangspunkt einer Erzählung schuf, um von dort aus rückschauend diffizile seelische Probleme literarisch anzugehen.31 Weder der Schüler Karl May noch der Erwachsene Karl May hat je eine Weihnachts-Motette oder ein Weihnachtsgedicht als Wettbewerbs-Beitrag eingereicht oder gar Preise damit erzielt. Aber der Schriftsteller Karl May kann, als er im Sommer 1897 die Zeilen zu Papier bringt, stolz und behaglich auf eine kaum für möglich gehaltene Bilanz zurückschauen: Seine Reise-Erzählungen haben ihm in Buchform unerwarteten Ruhm und ebenso unverhofften Wohlstand gebracht, und die Buchausgaben seiner Jugenderzählungen sind ähnliche ›Knüller‹. Insoweit ist Karl May, dem als Autor für den Verlag Fehsenfeld wie als Autor für die Union Verlagsgesellschaft die Führungsrolle in den Schoß gefallen ist, im übertragenen Sinne ›Preisträger Nummer Eins‹. Und seine finanzielle Lage hat ihm in der Tat bereits ausgedehnte Reisen innerhalb Deutschlands und im benachbarten Böhmen ermöglicht. Der wohlauf etablierte Schriftsteller holt sich, von dieser Plattform aus agierend, konzentriert und gelassen die Gespenster der Jugendzeit heran - und erschlägt sie.



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Den Kerzendiebstahl geht er sofort ungehemmt an. Die Elemente der Sicherheitsplattform - die gewinnbringende Motette, das gewinnbrin-



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gende Gedicht - sind symbolträchtig die Tragpfeiler zur Bewältigung des vergangenen Geschehens und verknüpfen zwei Gegenpole, nämlich zwei Menschen, deren Handeln das Geschick des Seminaristen Karl May entscheidend lenkte: den Seminardirektor auf der einen und den Heimatpfarrer auf der anderen Seite.

   Die Fakten sind bekannt32: Karl May brachte im November 1859 als »Lichtwochner« sechs Wachskerzen beiseite und versteckte sie in seinem Koffer in einer abgelegenen Kammer des Seminargebäudes. Zwei andere Schüler, Gustav Adolf Ilisch und Erwin Maximilian Illing, fanden sie dort, verschwiegen aber den Fund, bis kurz vor Weihnachten Ermittlungen wegen verschiedener Gelddiebstähle angestellt und alle Seminaristen zur Mithilfe bei der Entdeckung des Diebes aufgefordert wurden. In Gewissensnot gaben die beiden ihre Kenntnis preis. Karl May wurde am 22. Dezember peinlich verhört und mußte, angesichts der von früher her bekannten Strenge des Direktors, mit der Höchststrafe, der Ausweisung, rechnen. Direktor Schütze meldete den Vorfall dem Kultusministerium zur Entscheidung. Ganz in Schützes Sinn verfügte das Ministerium am 28. Januar 1860 tatsächlich die Ausweisung, und der Direktor beeilte sich, dies Karl May zu verkünden. Im März 1860 verfaßte Karl May eine längere Eingabe an das Ministerium, der sich sein Ortspfarrer Hermann Schmidt mit Erfolg anschloß: Karl May durfte sein Studium in Plauen fortsetzen.

   In der Erzählung heißt es (W 3, 4, 5): Ich, der ärmste unter den Schülern meiner Klasse, . . . setzte . . . mich eines Tages mit der nur durch meine Jugend zu entschuldigenden Idee hin, über das Lieblingsthema »lch verkündige Euch große Freude« eine Weihnachtsmotette zu komponieren. Wie gedacht, so gethan! Das opus operatum sollte freilich tiefes Geheimnis bleiben, war aber schon bald nach seiner Vollendung aus meinem Kasten verschwunden. Später erfuhr ich, daß ein mir übelwollender Mitschüler es mir wegstibitzt und, um mich zu blamieren, es meinem Lehrer, einem alten, braven Kantor, ... zugeschickt hatte. . . . Wie nun selten ein Unglück allein kommt - und das eigenmächtige Ueberschreiten der einem Schüler gezogenen geistigen Grenzen kann leicht zum Unglück für ihn werden -, . . . setzte (ich) mich abermals hin und brachte ein Gedicht von 32 . . . Strophen zu Papier. Mein Lieblingsthema, meine Armut und wer weiß was sonst noch für gute oder nicht gute Gründe »drückten mir . . . die Feder in die Hand«; . . . (Ich) trug den Brief in höchst feierlicher Stimmung . . . (zum) Briefkasten (und) . . . sah . . . den Kasten noch lange an. Er kam mir jetzt ganz anders vor . . . zweiunddreißig Strophen auf einmal zu verschlingen, das hatte



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wohl noch kein vernünftiger Mensch von ihm verlangt. So, so. Und das Gedicht fällt dann dem Herrn Direktor in die Hände (W 7).

   Motette und Gedicht sind ›motivisch‹ miteinander verbunden, wobei ›Motette‹ auf ›Motiv‹ in zweifacher Bedeutung hinweist,33 dieweil dem Gedicht ohnehin ganz offen leitmotivischer Charakter eingeräumt wird.

   Das ›Motiv‹ »Ich verkündige Euch große Freude« ist Inhaltselement und Gegenstand wie auch Beweggrund: Mit Blick auf das bevorstehende Weihnachtsfest, das er der armen Familie daheim etwas verschönen möchte, entschließt sich Karl, Freude zu verkünden - sprich: etwas zu komponieren, zusammenzustellen, zu bewerkstelligen, worin sich das ›Motiv‹ Weihnacht ausdrückt. Und faßt die nur durch meine Jugend zu entschuldigende Idee, Kerzen zu stibitzen. Das opus operatum sollte freilich tiefes Geheimnis bleiben . . . natürlich sollte es das. May versteckte die Beute. Aber sie wurde entdeckt und war aus dem Kasten verschwunden. Der bzw. die Mitschüler sah(en) sich genötigt, den Fund im Koffer Mays dem Direktor zu melden. Ja - dem Direktor, nicht dem alten, braven Kantor - sprich hier: Mays Heimatpfarrer - , der ihm wohlgesonnen war. Karl May vertauscht unauffällig, und brilliant, beide Elemente um der Story willen - ein wenig dichterische Freiheit beim Mitteilen unangenehmer wahrer Begebenheiten muß er sich gönnen. Die Wahrheit soll ja auch jetzt, 1897, nicht mehr allzusehr schmerzen. Schmerz könnte dem Schwung hinderlich sein.

   Die Entdeckung und die nachfolgenden Verhöre waren für Karl May ein Unglück, das ihm Weihnachten unbedingt vergällte. Wie nun selten ein Unglück allein kommt -, folgte das zweite, größere, die Ausweisung aus Waldenburg, gewissermaßen auf dem Fuße. Also setzte Karl May sich hin und verfaßte ein langes, langes, unterthänigstes (Jb-KMG 1976, 101) Reueschreiben an das Ministerium mit der inständigen Bitte um Vergebung: ein Gedicht von 32 . . . Strophen, dessen Tenor das Flehen des Sünders um Gnade ist. Und dieses »Gedicht« - ebenfalls ja eine »Komposition« - wird vom Fürsprecher wärmstens unterstützt - vom Pfarrer in Ernstthal, nicht wie in der Erzählung vom Schuldirektor.34

   Das Gnadengesuch enthält zwei miteinander in Widerstreit liegende Aussagen: Karl May bezeichnet die Strafe . . . als ganz gerecht und dem Vergehen gemäß, sagt aber auch, daß . . . in Betreff der Lichte keineswegs der Wille zu einer Veruntreuung vorlag, sondern daß es nachlässige Säumigkeit von mir war, sie nicht rechtzeitig an den gehörigen Platz zu legen (Jb-KMG 1976, 101). Von Diebstahl ist also keine Rede - schon damals nicht! Wenn aber kein Diebstahl vorlag, dann war die Auswei-



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sung alles andere als ganz gerecht und dem Vergehen gemäß! Die Erklärung liegt natürlich in Karl Mays trotzigem Begehren, auf jeden Fall wieder zum Studium zugelassen zu werden: da galt es eben, unterthänigst das ›zu bekennen‹, was das Ministerium hören wollte, damit es milde gestimmt werde. Auflehnung, Protest gegen die Unangemessenheit der Strafe hätte die Ministerialen keineswegs zu Gunsten des relegierten Karl May beeinflußt. Schon damals also Karl May, obschon im Kleinformat, als das, was er im Alter offenbarte - Psycholog. Und ein Mensch, der Unvereinbares, scheinbar Unvereinbares, in einer Einheit ineinanderfließen läßt. Manifestation erster Spaltungserscheinungen.

   Zwischen gedrückter Stimmung und Hoffnung schwankend wird Karl May den Brief, der das Bittgesuch enthielt, zur Post getragen haben - sicherlich. Aber die darauf bezüglichen Sätze in der Erzählung binden auch die voraufgegangene wirkliche Tat ein: Zwischen bangem Jubel und scheuer Angst schwankend wird Karl May die Kerzen in seinen Kasten gelegt haben, den er dann noch lange sinnend ansah: Derartigen bedeutungsvollen und ›gewichtigen‹ Inhalt hatte der Koffer tatsächlich noch nicht beherbergt. Und ›gedichtigen‹ Inhalt obendrein - denn mit »Ich verkündige Euch große Freude«, dem ›Motiv‹, verbindet sich ja in der Rückschau beim Erzählen auch das wirkliche Gedicht Ich verkünde große Freude, das damals nicht im Kasten lag, sondern vom ›Verbrecher‹ May im Gefängnis Osterstein verbrochen (W 3) wurde und das jetzt das ›Motiv‹ für die gesamte, so einzigartig ›komponierte‹ Erzählung ›»Weihnacht!«‹ ist!

   Wie bekennt der Schriftsteller seinen Zustand? . . . mit mir ging eine Veränderung vor. Wer mich beobachtete, der mußte unbedingt bemerken, daß ich ein schlechtes Gewissen hatte (W 5). Nämlich nach der Tat und erst recht nach der Relegierung. Wie schmunzelerregend liest sich alles auf diesen ersten Seiten in ›»Weihnacht!«‹. Ach ja, auch hier »muß man wieder einmal die seelische Kraft bewundern, mit der hier peinliche biographische Realien in Spiel und Kunst umgesetzt werden«.35 Wie aber muß der halbwüchsige Karl May tatsächlich gelitten haben und gedemütigt gewesen sein, als der unnachsichtige Direktor des Lehrerseminars in Waldenburg ihn zur Rede stellte wegen des Kerzendiebstahls und ihm noch andere Missetaten vorhielt, deren der Junge verdächtigt, aber nicht überführt wurde, und ihn beschimpfte. Wie leidvoll schildert der Greis seine Erfahrungen in ›Mein Leben und Streben‹, und wie scharf läßt er die unchristliche Haltung des Seminardirektors anklingen (LuS 101f.). Der Vergleich ist lehrreich: Es gab keine Lichte für den Weihnachtsleuchter. ... Der Schwester stand das Wei-



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nen hinter den Augen. Sie sah die Talgreste, die ich soeben aus den Dillen und von den Leuchtern herabgekratzt hatte. . . . ». . . wäre es . . . gestohlen, wenn wir uns ein bißchen davon mit nach Hause nähmen?« »Gestohlen. Lächerlich! . . . Der ganze Schmutz ist nicht drei Pfennige wert. ... Daraus machen wir drei kleine Weihnachtslichte.« Gesagt, getan!36. Ein anderer Seminarist stand dabei. ... Er warnte mich nicht etwa, sondern er war ganz freundlich dabei, ging fort und - - - zeigte mich an. Der Herr Direktor kam in eigener Person, den »Diebstahl« zu untersuchen. Ich gestand sehr ruhig ein, was ich getan hatte, und gab den »Raub«, den ich begangen hatte, zurück. Ich dachte wahrhaftig nichts Arges. Er aber nannte mich einen »infernalischen Charakter« und rief die Lehrerkonferenz zusammen, über mich und meine Strafe zu entscheiden. Schon nach einer halben Stunde wurde sie mir verkündet. Ich war aus dem Seminar entlassen und konnte gehen, wohin es mir beliebte. Ich ging gleich mit der Schwester - - - in die heiligen Christferien - - - ohne Talg für die Weihnachtsengel - - - es waren das sehr trübe, dunkle Weihnachtsfeiertage.

   Diese sowohl fiktive als auch essentiell wahre und auch in beider Hinsicht verkürzte Darstellung besagt alles. (›Verkürzt‹ bezieht sich auf Mays Art der Darbietung, nicht auf die hier unwesentlichen Auslassungen im zitierten Text.) Das beherrschende Moment war für Karl May 1910 nicht seine Tat von 1859, sondern deren Folge: die Ausweisung aus Waldenburg - eine Ungerechtigkeit, die er, ungeachtet der unterthänigsten Phraseologie im Gnadengesuch, als von der Sache her durchaus unangemessen bewertete und die er als Person nicht verzeihen konnte. Schon nach einer halben Stunde dürfte der Seminardirektor dem Kulpanten May damals allerdings verkündet haben, er könne gehen, - das Weitere werde sich finden. Welches Bedrohliche sich dahinter verbarg, war für Karl May klar. Also ging er wirklich in sehr trübe, dunkle Weihnachtstage hinein. Das schlechte Gewissen (W 5) drückte.

   Die Schwere der Tat trat hinter deren Folge zurück. Diese Tat legte Karl May im Jahre 1910, als er ›Mein Leben und Streben‹ schrieb, dem längst überwundenen Bösen in sich zur Last, mit dem er nichts mehr zu tun hatte . . . In Mays Innerem hatte das Ereignis längst Verformungen angenommen, die aus der Überwindung der Spaltung herrührten und die eine Verniedlichung und Verdeckung erforderten, um jedwede neuerliche Anfälligkeit oder neuerliche Seelenstörung, die aus intensiver Beschäftigung mit dem Grauen von einst erwachsen könnte, abzublocken.37


Die Schwester - mag sie an jenem Tag in Waldenburg gewesen sein



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oder nicht, die Lage des Bruders gleich nach der Entdeckung der Tat gekannt haben oder nicht - wird mittels eines (re-)konstruierten Gespräches mit einbezogen in die Schilderung, weil Karl May damit für sich selbst zweierlei erzielt:

   (1) Er demonstriert, daß er nicht eigennützig und eigensüchtig handelte, sondern um braver, benachteiligter Menschen willen; das Delikt wird rückschauend in eine unter den sozialen Umständen nicht nur entschuldbare, vielmehr förmlich gerechtfertigte Handlung umgemünzt. Je belangloser der Vorfall, desto schreiender die Ungerechtigkeit der Ausweisung. Und desto berechtigter der Haß auf den Direktor.

   (2) Das auslösende Moment zur Tat lag nicht in Karl, sondern ›außer ihm‹, in einem anderen Ich - das aber dennoch zu ihm selbst in einer höchst innigen Beziehung stand (ein Lieblingsausdruck des Autors). Ein Mensch aus seinem ureigenen Lebenskreis, mit denselben Erbanlagen, denselben Betrübnissen und Sehnsüchten. Nicht Karl - und doch auch Karl. Die Lieblingsschwester Christiane. . . . K-r - C-r - Chr- a - . . . Symbiose. Trennung. Trennung - Symbiose. Zwei Ich, die zueinander gehören seit je, die ineinander hineinragen -: Der in sich gespaltene Karl May. Der nötigenfalls ein anderes Ich, ebenso wie das eigene Ich, verantwortlich machen kann. Der Karl May, der, weil er männliche und weibliche Züge in seinem Wesen vereinigt und weil er zur Großmutter und zur Schwester Christiane diese höchst innigen, dem seelischen Verschmelzungsprozeß nahekommenden Beziehungen unterhält (die die Mutter ihm zu seinem Schmerz verwehrt), mühelos und legitim zu einer Frauensperson Zuflucht nehmen darf. Aus dem Weiblichen fließt dem Mann die Rettung ebenso zu wie die Sünde. Rettung wie Sünde -: Die Sünde von Waldenburg. In Waldenburg lauschte er erstmals der ›Stimme‹. Der Stimme, die von innen und von außen, von außen wie von innen kam. In Waldenburg begann das Grauen . . .


Die späte Rettung verschaffte er sich, indem er einem anderen Ich die ›Stimme‹ lieh.



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Und wie elegant hat Karl May schon viel früher das Grauen und die Demütigung in der Fiktion ins Gegenteil verkehrt, indem er den vor Staunen geschüttelten Direktor in ›»Weihnacht!«‹ nach dreimaligem gedonnerten »May!« und einem herausgewürgten »Sie - - sind - - ja - - ein - - ganz - - -« (W 7) zum Verkünder der Freudenbotschaft des Preisgewinnes macht!38 Triumph statt Niederlage. Der gefürchtete An-



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staltsdirektor in Hochachtung vor dem geringgeschätzten Schüler, statt des Bannspruchs des Unangreifbaren über den schuldigen Bösewicht.39

   Und wie subtil und folgerichtig spinnt Karl May dann in der Erzählhandlung gerade diesen Faden fort, um endlich und ein für allemal von dem Drohbild des ihm ein Leben lang verhaßten Seminardirektors Friedrich Wilhelm Schütze loszukommen und die Rollen endgültig zu tauschen. Wegen der Auffälligkeit dieses einen Fadens - und Bogens - von den ersten Seiten der Erzählung bis hin zu ihrem Schluß wollen wir ihn hier den weiteren Betrachtungen über die Bewältigung des Kerzendiebstahls voranstellen. Das Prinzip der Spannungssteigerung, dem Karl May selber folgte, ist für die Analyse nicht unbedingt Richtschnur, wenn es um das Offenlegen von Zusammenhängen geht.

   Das vom Schuldirektor - widerstrebend oder aufrichtig - als preiswürdig anerkannte Weihnachtsgedicht des Erzählers (W 8) wird unrechtmäßig von einem scheinheiligen Wanderprediger, einem Prayerman, zu Markte getragen und mit allerlei heuchlerischen Zutaten ausgerechnet seinem eigenen Autor May alias Old Shatterhand angedient (W 144); ein zum Tode verurteilter irischer Pferdedieb soll der Verfasser des Gedichtes sein! (W 146) Ein frommer Mann, der Lügen verbreitet. Wie weiland der Mübarek, wie Abd Asl, wie der Llano-Geier Burton. Aber diese drei unterscheidet ein wesentliches Moment von dem Prayer-man: Sie sind keine Deutschen. Der Prayer-man wird hingegen ausdrücklich als Landsmann, als Deutscher bezeichnet (W 141, 147) - ein einmaliges Phänomen bei Karl May, denn Deutsche in den Reise-Erzählungen sind keine Schurken!40 Hier aber ist Karl May zum Urgrund seiner verpfuschten Lebensgeschichte vorgedrungen - und dazu gehören sowohl sein eigener Name (Karl, W 297; May, W 7; beide Namen W 18) als auch die (Beinahe-)Preisgabe der Identität des Ur-Schuldigen, der ein Deutscher war und seinen hochfahrenden Dünkel und seine heimliche Tücke hinter viel zur Schau getragener Frömmigkeit versteckte - anders bot das Bild sich Karl May nicht dar. Friedrich Wilhelm Schütze hieß er, dem die Seminaristen anvertraut waren und der über ihre erfreuliche Entwicklung wachen sollte wie ein guter christlicher Hirte - und der dabei durch seine Schroffheit so viele der guten Ansätze im Keim erstickte und die Halbwüchsigen vor den Kopf stieß und sie wegen Geringfügigkeiten unnachsichtig relegierte . . . Der fromme Seminardirektor (LuS 112), der noch zur Straftäterzeit Mays zu den ihn bedrängenden häßlichen Gestalten seiner schizoiden Zustände zählte (LuS 112) . . . und der den seelisch gepeinigten Karl May noch zur Zeit der gellenden Stimmen der Jahre 1868/1869 als Verfolger



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Nummer Eins heimsuchte (Voran der fromme Seminardirektor . . . LuS 163) . . . und dem er nie verzieh.34 Und der Schurke in der Erzählung, dessen Frömmigkeit reinste Heuchelei ist, heißt Frank Sheppard (W 292) - zu deutsch Schäfer, Hirte. Nicht nur in den Initialen tut Karl May es kund, wen er meint, auch in den zutageliegenden Assoziationen. Und in Anpassung an die sehr dünne ›Maskerade‹, die er dem Schurken überwirft, hat er den eigenen Namen in der Erzählung leichthin in den ähnlich klingenden Meier abgeändert (W 152).

   Obendrein wird gerade dieser Prayer-man als Schütze herausgestellt. Fordert er doch jeden zum Wettschießen heraus - dieser tückische Frömmling (W 242, 247). Fürwahr ein passender Zeitvertreib für einen Prediger, dem jedes Leben heilig sein sollte. Aber auch Direktor Schütze ›schoß scharf‹, sobald er einen Anlaß witterte, jemand als tatsächliches oder vorgebliches ›räudiges Schaf‹ auszumerzen, und ließ die eigene Überlegenheit sehr gern unangemessen spüren. Der Direktor bediente sich unlauterer Mittel - und der Prayer-man hantiert mit einer ihm nicht zustehenden Waffe:

   Old Shatterhand-May-Meier erkennt in Sheppards Gewehr das des redlichen früheren Gefährten Amos Sannel. Die Identifizierung des Gewehrs ist anhand der geschickt eingeätzten Initialen »A« und »S« möglich. (W 244). Dieses Gewehr ist eine Ralling-Büchse, gefertigt in Shelbyville, Tenn. (W 243). (Der Ort existiert.) Jeder andere Hersteller und Fabrikationsort hätte es auch getan - aber die Wortwahl »Ralling« beruht auf dem Assoziationsprozeß ›Ralliement‹ bzw. ›ralliieren‹, damals geläufigen Bezeichnungen für die ›Wiederversammlung von Schützen‹ - Termini, die Karl May von seinen ›Soldatenspielen‹ mit dem Vater und von der Vogelwiese her wohl vertraut waren. Und Shelbyville weist auf das Seminar, wo ein Schütze regierte. Die Aneinanderreihung »-ville, Tenn.« mag außerdem eine Andeutung in Richtung ›Walden-(burg)‹ sein. (›Tenn.‹ ist die offizielle Abkürzung für den Staat Tennessee.)41

   May-Meier verdächtigt Sheppard einer ruchlosen Tat, die er ihm mit provozierendem Beiwerk (»Sie frommer Mann?« W 254; ». . . Sie frommgesalbter Mann!« W 257) auch auf den Kopf zusagt. Und damit hat er den Stier bei den Hörnern gepackt: In Umkehrung der Niederlage von Waldenburg ist es hier in Weston (W 125, passim) der falsche Hirte und betrügerische Schütze, der sich als Lügner entlarvt sieht, als er fremdes Eigentum, nämlich das wertvolle Gewehr (alias die wertvollen Kerzen) für sich reklamiert, und der im Wettschießen unterlegen ist. Old Shatterhand weiß mit ihm umzugehen.


Sagen wir es immer noch einmal: Karl May hat damals sechs Kerzen



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entwendet. Er wußte, daß es unehrlich war, aber er sah darin kein Verbrechen, nicht einmal ein Vergehen, denn er plante eine gute Tat: die Verschönerung, die Dekoration des kargen heimischen Weihnachtsleuchters, die Erhellung des ansonsten dunklen Lebens. Dem Seminar entstand durch den Verlust von sechs Kerzen kein nennenswerter Schaden. Der blendende Schein besiegte die Zweifel.

   Der Direktor sah das anders. Die Motive für die Tat, der psychologische Hintergrund waren belanglos. Für ihn war Karl May nicht ein armes Seelenpflänzchen, das behutsamer Pflege bedurfte und das unter gütiger Leitung aufs schönste erblüht wäre, sondern nur ein infernalischer Charakter, von dem die Anstalt schleunigst befreit werden mußte. Für die schimpfliche Tat des Diebstahls gab es keinen Pardon. Und darum - darum - ist es nach den Worten des Prayer-man in der Erzählung ein zum Tode verurteilter Pferdedieb, der angeblich das Gedicht schrieb: Im Wilden Westen war Pferdediebstahl eine unverzeihliche Tat, die die höchste Strafe nach sich zog!42 Nur ganz dünn bleibt die Maskierung des autobiographischen Bezuges, und unmittelbar dahinter beseitigt Karl May vor sich selbst die letzte Schranke: Denn immerhin geht es bei dem Reuegedicht des in Haft einsitzenden Schuldigen (W 145, 146) um das Weihnachtsgedicht des einstigen Häftlings Karl May! Ein erstaunlicher psychischer Prozeß, der da auf dem Papier abrollt und die Realität unmittelbar in den Dienst der Fiktion, die Fiktion formend in den Dienst der Realität stellt.

   In einem Kraftakt zwingt Old Shatterhand den Prayer-man zur Herausgabe aller Exemplare des Gedichts, um sie zu verbrennen (W 148, 149). Und wiederum bewirkt Karl May in seinem Innern damit mindestens zweierlei zur Auflhellung seines Weihnachtsbildes:

   (1) Sein Gedicht kann nicht mehr als das eines zum Tode verurteilten Pferdediebs vorgewiesen werden - die Behauptungen des Prayer-man, sprich: des Direktors Schütze, sind haltlos, sind infame falsche Anschuldigungen; Karl May hat das Delikt des Beiseiteschaffens von Kerzen aus seinem Gedächtnis gestrichen und es durch ein viel harmloseres Bild - das Auskratzen von Talgresten - ersetzt; den Vorwurf des Anstaltsdirektors wird er stets als empörende Ungerechtigkeit betrachten.

   (2) Durch die Vernichtung mittels Feuer werden die Gedichtzeilen noch einmal hell beleuchtet - und damit die Erinnerung an ihre tatsächliche Entstehung, nämlich eben zur Weihnachtszeit während der Gefängnishaft in Zwickau, noch einmal kurz und scharf zurückgerufen. Aber dann versinkt alles in Asche und Dunkel - und Karl May kann auch hierunter einen Schlußstrich ziehen. So wenig das Gedicht



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jetzt noch unrechtmäßig vertrieben werden kann, so wenig darf gewispert werden, der Verfasser habe es im Gefängnis zu Papier gebracht - sonst wäre man einer ehrenrührigen Behauptung schuldig. Dem kommt insoweit Bedeutung zu, als Karl May infolge seines öffentlichen Auftretens als Old Shatterhand neugierigen Nachforschungen über seine Vergangenheit Tür und Tor öffnete und immerhin mit zumindest vagen Gerüchten über ›dunkle Zeiten‹ zu rechnen hatte. Das Weihnachtsgedicht wollte er von jedem Odium freihalten.43

   Gewiß hatte er Konkretes dabei im Sinn. Als Schriftsteller Karl May der sich in dieser Erzählung offen unter seinem Namen als den Verfasser des Gedichts bezeichnet, symbolisierte er seine Entschlossenheit, unnachsichtig gegen die unrechtmäßige Verbreitung seines geistigen Eigentums einzuschreiten. Hatte er doch Teile des Weihnachtsgedichtes in seinen anonym publizierten Kolportageromanen ›Das Waldröschen‹ und ›Der verlorene Sohn‹44 veröffentlicht45 - und im Hintergrund lauerte die Gefahr, Münchmeyers Erben seien zum Mißbrauch der May-Texte bereit! Da galt es, reinen Tisch zu machen. Wie hatte er doch, leicht großspurig, am 16. Juli 1897 an die Redaktion des ›Deutschen Hausschatz‹ geschrieben -: Ich werde die Münchmeyersche Verlagsbuchhandlung gerichtlich belangen - 46 Karl May fühlte sich stark.47 Das von der Weihnacht vieler Jahre ausgehende Dunkel und die von der Seelenspaltung ausgehenden Schatten begannen zu schwinden.



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Den Prayer-man vor Zeugen als Schwindler zu bezeichnen (W 147), ihn im Wettschießen zu besiegen (W 253) und ihn des Gewehrraubes zu bezichtigen (W 255f.), genügt nicht im Zuge der Abrechnung des Autors mit seinem ersten bösen Feind, Direktor Schütze. Zunächst wird der Ich-Erzähler aufgrund vorherrschender Umstände des Golddiebstahls bezichtigt (W 260), und da es sich bei ihm scheinbar um einen reine(n) Garnichts (W 180ff. und passim) handelt, traut die örtliche Polizeigewalt ihm die Tat auch sofort zu - wie damals in Ernstthal, gegen Weihnachten 1868, die Ortspolizei jede vorkommende kriminelle Tat Karl May zur Last legte (LuS 161, 162). Der wahre Täter aber ist der heuchlerische Prayer-man (W 270), der schon früher am selben Ort mindestens zwei ähnliche Lumpereien beging (W 140, 323) und der auch jetzt wieder mitsamt dem geraubten Golde - und mit dem kostbaren Gewehr - entkommt. May-Meier hat ihm das Gewehr leider lassen müssen (und auch Sheppards gehässige Bezeichnung »Schwindler« ge-



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lassen eingesteckt: »Den ›Schwindler‹ bleibe ich Ihnen für zwei Augenblicke schuldig und lasse Sie aus guten Gründen auch in Beziehung auf das Gewehr einstweilen laufen . . .« (W 256): Mochten die Kerzen auch nicht das persönliche Eigentum des Seminardirektors sein, so hatte dieser doch immerhin noch eher Anspruch auf ihren Besitz als der reine Garnichts Karl May, der elende Bube aus Ernstthal, der dem allmächtigen Herrn Direktor nicht gewachsen war und sich alles bieten lassen mußte. Dieser May aus Ernstthal hatte ja wohl auch Kameraden um Geld bestohlen.32 Nachweisen konnte man ihm das zwar leider nicht - aber was verschlug's, wenn man als Direktor auch wider besseres Wissen alles diesem infernalischen Charakter May anhängte? Dann war man ihn auf jeden Fall los . . . Ja, ja, aber als dann dieser relegierte Karl May, in die Ecke gedrängt, lauthals protestierte und sich beim Ministerium beschwerte und Autoritätspersonen mit der Angelegenheit befaßte, da trat der Herr Direktor - der der Anstalt Waldenburg mit fester Hand sechs schöne Wachskerzen erhalten hatte - den Rückzug an . . . (Es bleibt, wie noch einmal zu erwähnen ist, sehr fraglich, ob Karl May sich bewußt war, daß er seine Zulassung zum Lehrerseminar in Plauen nicht zuletzt der - vielleicht halb widerwilligen - Fürsprache des insoweit ›bußfertigen‹ Direktors Schütze zu verdanken hatte.) Und so tritt der Prayer-man ›den Rückzug an‹ - unter Mitnahme des dekorativen Gewehres Amos Sannels - und hält sich wohlweislich fern, als der reine Garnichts inmitten der feindseligen Stimmung plötzlich den Spieß umdreht und sich als ernstzunehmende Persönlichkeit entpuppt, die man nicht ungestraft verleumdet (W 273ff.) und die die Unterstützung einer allseits geachteten Autoritätsperson genießt: Winnetou erscheint48 (W 274) - und sofort hat alles ein anderes Aussehen . . .

   Die Phantasie des Schriftstellers schafft also wieder einmal die Lage, in der Karl May sich im Leben immer gern gesehen hätte - und die er zur Zeit der Niederschrift der Erzählung auch als etwas durchaus Zutreffendes unterstellen darf: Inzwischen ist er ja in aller Öffentlichkeit als Old Shatterhand berühmt, und allein schon dieser Name würde ihn vor jedem Anwurf schützen, wenn er jetzt z. B. auf einer seiner Ferienreisen aus irgendeinem Grunde in eine unangenehme Situation hineingeriete. Und ganz anders als in seinen Erzählungen, wo er, wie gerade auch in ›»Weihnacht!«‹, ängstlich bemüht ist, in größeren Orten ein Inkognito aufzubauen und nicht als der berühmte Westmann von gaffenden Neugierigen umlagert zu sein, genießt er in der Realität den selbstgeschaffenen Nimbus des »Dr. Karl May genannt Old Shatterhand« und die Anbetung der Massen wie eine nur allzu selbstverständliche Ehrung. Diese Gegensätzlichkeit im Verhalten des Ich ist Ausdruck



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der Persönlichkeitsspaltung. In ›»Weihnacht!«‹ - wir erkennen es mehr und mehr - ist der Autor sich voll dessen bewußt, was er sichtbar macht und was er bekämpft und erdrückt: Zwischen den Zeilen der Erzählung ist deutlich zu lesen, daß »Old Shatterhand« - wiewohl er es nicht zugibt - in Weston den Ansturm der Menschenmengen (W 296, 297, 304) genau so genossen hat wie Karl May z. B. die Szenen im Hotel Trefler in München49. . .

   Und mit Hilfe der Phantasie führt Karl May dann den entscheidenden Schlag gegen den frommen Seminardirektor, um endgültig von ihm loszukommen: Der Schurke Frank Sheppard wird durch ein Naturereignis verschüttet und von niederstürzenden Felsmassen zermalmt. Aber nicht bevor Old Shatterhand ihn noch als Mörder des von Sheppard betrogenen Guy Finnell entlarvt hat (W 598). Nun hat Seminardirektor Friedrich Wilhelm Schütze natürlich nie einen Mord begangen - aber ebenso unbarmherzig wie gegen Karl May 1859 war er ein Jahr zuvor gegen den Seminarschüler Gustav Fiedler vorgegangen (Jb-KMG 1976 S. 101), den er nicht näher spezifizierter Ordnungsverstöße und allgemein rüden Wesens bezichtigte und als für den Lehrerberuf ungeeignet befand. Und so wie der Zögling Karl May in der Relegierung eine Art Todesurteil sah, so übertrug er das auf den Fall Gustav Fiedler/Guy Finnell. Finnell ist ein Jahr vor den erzählten Ereignissen (W 292) beim Gesang einer Spottdrossel, die von Sheppard als Schußziel bezeichnet worden war, ermordet worden (W 601, 602) - ein makabrer Hinweis auf die von Karl May dem Direktor unterstellte heimlich-hämische Freude an Ausweisungsverfahren. Finnell war, wie Fiedler, schuldloses Opfer einer widerwärtigen Intrige. Diesen Hieb gegen Direktor Schütze führte Karl May, um sich vollends von dem Vorwurf zu entlasten, er selbst nehme in der Erinnerung die falsche Haltung ein und sei zu Recht gemaßregelt worden und Schütze habe niemals unrecht gehandelt. Wenn Karl May auch nur einen zweiten Fall zitieren konnte, in dem Böswilligkeit und vorsätzliches Tun unterstellt werden durfte, erschien sein eigener Fall, der des beschuldigten Karl May, in einem wesentlichen besseren Licht.50

   In Waldenburg, wo Direktor Schütze herrschte, sollte Karl May auf den Lehrerberuf vorbereitet werden. Dieser Beruf hatte es ihm auch angetan. Es gibt keinen höheren Stand als den Lehrerstand, bekennt Karl May in der Selbstbiographie (LuS 94), und ». . . ein Lehrer zu sein, ist ein hochwichtiger, ein heiliger Beruf!« betont er 1893 in ›Winnetou I‹, S. 153. Schon in seinem Gesuch an das Kultusministerium im März 1860 hatte er ausgeführt, es sei der Beruf, welchem mich ganz hinzugeben, ich mir zur Lebensaufgabe gemacht hatte. ... die Vorliebe



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für den Lehrerberuf (ist) so groß, daß es mir unmöglich ist, denselben aufzugeben. (Jb-KMG 1976, S. 101-102). Direktor Schütze warf ihn aus der vorgezeichneten Bahn - und wurde somit in Karl Mays Augen zum Urheber aller späteren Schläge. Ohne Relegierung aus Waldenburg notwendigerweise kein Plauen; ohne Plauen kein Glauchau und ohne Glauchau kein Altchemnitz und keine Buchhalter-Uhr. Ein Verbleib in Waldenburg mit regulärer Beendigung der Ausbildung dort hätte andere Folgen hinsichtlich des Verlaufes der Lehrerkarriere gehabt. Und während die Fratze, die mich soeben noch so spöttisch angegrinst hatte (W 598), aus des Autors innerem Gesichtskreis entschwindet, widmet er dem toten Feinde51 den Epitaph: Wer mit dem Heiligsten, was der Mensch besitzt, in der Weise, wie er es gethan hatte, Lästerung treibt, begeht eine Sünde, die ihm hier nicht vergeben werden kann (W 598). Das zielt auf die Scheinheiligkeit des Seminardirektors und darauf, daß er die ihm anvertrauten jungen Leute, die er zu tüchtigen Repräsentanten in einem »hochwichtigen, heiligen Beruf« heranbilden sollte, völlig falsch behandelte und ihnen durch sein Verhalten das Fundament zur freudigen Erfüllung der gewählten Aufgabe raubte - eine Sünde wider Geist und Seele und eine Lästerung der eigenen Tätigkeit zugleich.



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Die Geschichte des Kerzendiebstahls und der Begleitumstände ist damit nicht erschöpft. Karl May erzählt sie in mehreren, voneinander unabhängigen und doch natürlich sehr geschickt ineinandergewobenen Varianten. Er war ein Meister in dieser Art der Behandlung autobiographisch relevanter Themen.31 In dem Fall hatten ja neben dem Seminardirektor auch besonders einige Mitschüler wichtige Rollen gespielt. Die ›Entkleidung‹ ergibt sich gewissermaßen von selber - doch lassen sich infolge der Überschneidungen der Erzählstränge bei Karl May und wegen der immer wieder wechselnden Blickwinkel Wiederholungen bestimmter Aussagen und Deutungen in einer Analyse wie der hier vorliegenden nicht vermeiden.

   Der Goldsucher Watter (W 174) und sein Kumpan Welley (W 180, 184, 186, passim) haben in einem abgelegenen Placer im Staate Idaho einen bedeutenden Goldfund gemacht (W 177, 179-182) und haben Zeit gehabt, es bis zum letzten Körnchen auszubeuten (W 179). May-Meier schätzt den Wert einiger ihm vorgezeigter Nuggets absichtlich sehr niedrig ein, um als unwissend dazustehen (W 176, 177), und muß



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sich auslachen lassen. Der geschwätzige Watter bewahrt sein Gold in einem Kasten auf und hält sein Versteck für absolut sicher. Dennoch werden die Nuggets gestohlen (W 260) - und May-Meier wird als der Dieb bezeichnet (W 270). Im zurückgebliebenen Koffer des wahren Diebes - des Prayer-man - findet sich ein Sortiment Diebes- und Einbruchswerkzeuge (W 288), und es finden sich darin einige bedeutsame Schriftstücke, darunter ein Mordgeständnis (W 292), das einen gewissen Emil Reiter als Mörder des oben bereits erwähnten Guy Finnell belastet und das sich später als erpreßt erweist (W 602). Mit diesem Emil Reiter und auch mit Watters »Kumpan« Welley trifft Old Shatterhand im weiteren Verlauf der Story zusammen: Durch Umstände bedingt, sind Welley und Emil Reiter - als Opfer von Missetaten des Prayer-man - zu Verbündeten geworden und tauchen gemeinsam - und gleichzeitig - im Gesichtskreis des Ich-Erzählers (Old Shatterhand) auf (W 558, 559ff.). Reiter erweist sich als der Sohn des ehemaligen Kantors des Ich-Erzählers und überdies als guter Kenner des Gedichtes »Ich verkünde große Freude« (W 600).

   Die gedanklichen Vorgänge sind unschwer zu rekonstruieren. Mit dem zur (äußeren) Gesamthandlung passenden Handlungsmotiv ›Raub von Goldkörnern‹ verband sich im Autor die Reminiszenz an sein Wagestück beim Bäckermeister Wappler, wo er 1869 echte gediegene Taler mitgehen ließ.52 Die Verschränkung von Ereignissen aus dem Jahre 1869 mit dem zehn Jahre davor liegenden Kerzendiebstahl vollzieht sich, wie wir sehen werden, noch an anderen Stellen in der im Jahre 1897 niedergeschriebenen Erzählung; darüber wird aber seitens des Autors das Vorkommnis von Waldenburg nie aus dem Auge verloren. - »Wappler« formt sich zu »Watter« - aber das scheint in eine Sackgasse zu führen. Karl May benötigt nämlich im Hinblick auf Waldenburg ein alliterierendes Namenspaar, weil damals eben die alliterierenden Namen Ilisch und Illing im Vordergrund standen. Und schon gesellt sich »Welley« zu Watter, dem Kumpan.

   Welley - man hört das »Illing« förmlich heraus. Und die abschätzige Bezeichnung »Kumpan« ist so deutlich: Was Ilisch und Illing damals taten - in Mays Koffer umherzuschnüffeln und dann ihn zu verraten - , war in Mays Augen Kumpanei, Verschwörung, Intrige. Die beiden waren mehr durch ihr heimliches Wissen um eine andere Heimlichkeit als durch Freundschaft miteinander verbunden. Und so nennt auch Watter selbst, nicht nur der Ich-Erzähler, den anderen Beteiligten, Welley, Kumpan.

   Watter und Welley teilen sich in das heimliche Wissen um einen verborgenen Goldschatz in Idaho. Es hätte genausogut Kalifornien oder



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Oregon sein können - aber nur Idaho enthält das maßgebende Initial ›I‹: Ilisch und Illing entdeckten in einer abgelegenen Kammer in Karl Mays Koffer die Kerzen und nutzten dies Wissen bis zum letzten Körnchen aus, nachdem sie es wochenlang verschwiegen hatten. Vielleicht gab es Anzeichen, daß Ilisch damals Karl May ganz gern einen Wink gegeben hätte - - denn immerhin setzt Watter sich quasi ungebeten an May-Meiers Tisch (W 173-174) und brüstet sich alsbald mit dem Goldfund und läßt Proben sehen. Die absichtlich falsche Einschätzung des Fundwertes - der Nuggets/der Kerzen - durch May-Meier beschreibt die von ihm innerlich vorgenommene schützende Verwandlung der sechs ungebrauchten Kerzen in Talgreste - nicht drei Pfennige wert. - Watter blinzelte zuweilen sehnsüchtig zu mir herüber (W 173) - - - Ein anderer Seminarist stand dabei und warnte mich nicht etwa - Die halbe Wahrheit genügt ja manchmal, wenn Karl May offen - halb-offen - wohlverpackt - über Wahres spricht; es war ja auch ein mir übelwollender Mitschüler, der die ›Motette‹ aus dem Kasten nahm. Mag sein, daß sich einer der beiden ›glücklichen Finder‹ von Waldenburg als der Tonangebende zeigte, der andere als Mitläufer. Jedenfalls war dabei letzten Endes einer des anderen zweites Ich (W 191).

   Im folgerichtigen Fortgang der Erzählung wird Watter zum Bestohlenen, nachdem er auch dem Prayer-man gegenüber den Mund voll genommen und von seinen Nuggets erzählt hat (W 224ff.). Das ist die bedrängte Lage, in der Ilisch/Illing sich unversehens befanden, als andere Seminarschüler Gelddiebstähle meldeten und die beiden sich dem Direktor offenbarten. Der geschwätzige Watter konnte sein Wissen nicht für sich behalten - Ilisch/Illing ebensowenig. Der Raub der Nuggets wird natürlich dem armen May-Meier als dem reinen Garnichts zur Last gelegt - wie der Kerzendiebstahl und das Abhandenkommen von Bargeld im Seminar. Ebenso natürlich darf aber May-Meier in der Erzählung nicht der Täter sein, muß vielmehr den wahren Täter nennen können - und tut das auch. Die Schuld liegt bei dem »falschen Frommen«. Und doch ist auch das nur die halbe Wahrheit. Zwischendrein, implizit und instrumental, liefert Karl May den Hinweis, der in bezug auf die Biographie zum Täter weist - auf seine Person: So wie damals in Waldenburg Karl Mays (des Täters) Koffer Diebesgut enthielt (die Kerzen), so birgt der Koffer des in Weston entlarvten Diebes (des Täters!) lichtscheues Werkzeug . . . (Zudem birgt die durchsichtige Maysche Verschleierungstechnik hier einen weiteren Hinweis auf 1869: Die Nachschlüssel im Koffer des Diebes [W 288] entsprechen dem Bund Dietriche, das Karl May beim Schmied Weißpflog, seinem Paten, entwendete.53)



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   Das »Geständnis« Emil Reiters (W 292) im Koffer des Diebes legt die weitere kaum verhüllte Spur: In der Erzählung gehört der Koffer dem als wahrer Schuldiger gebrandmarkten Prayer-man - alias Direktor Schütze -; er gehört aber auch dem ›wirklichen‹ Täter - dem geständigen Karl May. Und zwischen Direktor Schütze und Karl May stand damals in Waldenburg außer Gustav Adolf Ilisch auch Erwin Maximilian Illing - ein Name, der sich in »E-m-i-l« noch klarer abzeichnet als in »Welley«. Illing wurde, wie Ilisch, zum Geständnis - über den Kerzenfund - »gepreßt« und konnte es sich nicht leisten, die Absichten des Direktors zu durchkreuzen (Jb-KMG 1976 S. 96). Die »gemeinschaftliche Identität« Emil Reiters mit Welley, die Deckung der beiden Figuren in der Erzählung wird verdeutlicht durch Welleys und Reiters gemeinsames Auftauchen und gemeinsames Handeln - als Gegner des Prayer-man.

   Emil Reiters Kenntnis des Weihnachtsgedichtes rückt ihn ebenfalls in den Umkreis der Geschehnisse von Waldenburg - denn diesen lagen ja »weihnachtliche Motive« zugrunde. Und der Name Guy Finnell als der des »Mordopfers« Emil Reiters schließt die Kette, die Emil Reiter an das Seminar in Waldenburg und an dessen Direktor bindet: Guy Finnell weist außer auf den von Direktor Schütze relegierten Schüler Gustav Fiedler auch auf Gustav Adolf Ilisch hin - »Guy« ist phonetisch »G-a-i«. Illing hatte, bildlich gesprochen, Ilisch »auf dem Gewissen«. Im übrigen wird durch den Tatort Steelvrille in »Reiters Geständnis« noch ein besonderer »Schuß abgefeuert« in Richtung auf den Schütze(n) im Hintergrund: Das Initial »S« weist auf »Seminar« - und »Steelsville« auf dieses Seminar als eine Stätte, in der »stählern« regiert wurde.

   »Reiter« will als Familienname freilich, vordergründig gesehen, nicht in diesen Rahmen passen. Der zugrundeliegende Assoziationsprozeß läßt sich aber wohl doch erkennen, wenn wir Karl May zubilligen, daß mit dem ›geistigen Rückruf‹ der Seminarzeit unwillkürlich auch Reminiszenzen an pubertäres Gehabe und krude Schülerausdrucksweise geweckt wurden. Soweit nun der halbwüchsige Karl May jemals Gewissensbisse wegen »ungebührlicher« Gedanken oder Aussprüche hegte, wird er sie - wenn überhaupt - am ehesten mit seinem gütigen Pfarrer erörtert haben. Dieser Pfarrer nun (der in ›»Weihnacht!«‹ in der Gestalt des Kantors auftritt) hieß, wie erwähnt, Hermann Schmidt. In Waldenburg war ein Seminarist namens Julius Louis Schmidt 1858, wie Gustav Fiedler, als »Opfer« Direktor Schützes ausgewiesen worden, nachdem er sich dem Verdacht ausgesetzt hatte, »einigen Schulmädchen unsittlich begegnet zu sein« (Jb-KMG 1976



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S. 101), das heißt, salopp ausgedrückt, sie auf sexuelle Handlungen »(vor-zu-)be-reiten«. Damit wird jener Julius Louis Schmidt, ein weiterer zweifelhafter Relegierungsfall, in die Person des Emil Reiter integriert. Emil Reiter ist ja in der Erzählung der Sohn des früheren Kantors des Ich-Erzählers.

   Karl Mays innere »Abrechnung« mit den einstigen Seminaristen Ilisch und Illing endet versöhnlich: Watter und Welley erhalten alle ihnen gestohlenen Nuggets zurück (W 608), und Reiter erfährt, daß er kein Mörder ist. Old Shatterhand ist wieder einmal der Rettungsengel. Mit anderen Worten: Die Kerzenangelegenheit ist vergeben und vergessen, und Karl May hat den seinerzeitigen Tiefschlag erstaunlich überlebt. Insoweit also brachte der damalige Delinquent Karl May dem seinerzeitigen Verhalten der »Denunzianten« doch letzten Endes ein gewisses Verständnis entgegen - und nicht den anhaltenden Groll, mit dem er den Direktor bedachte.



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Ein weiterer dem Kerzendiebstahl gewidmeter Erzählstrang zeigt sich in der Beziehung des Ich-Erzählers zu Amos Sannel und zu dessen Gewehr, das Old Shatterhand in den Händen des Prayer-man lassen mußte.

   Wie der dem Ich-Erzähler beigelegte Name »Sappho« (W 30, passim), so taucht auch der Name Amos Sannel (W 244, passim) nur in der Erzählung ›»Weihnacht!«‹ auf, weil beide nur hier ihren sinnvollen Platz haben.

   Wenn es schon ein biblischer Vorname sein mußte, so stand dem bibelfesten Karl May eine ungewöhnlich reiche Auswahl zur Verfügung. Aber: Es war der ›kleine‹ Prophet Amos, der sich dadurch auszeichnete, daß er gegen soziale Ungerechtigkeit und gegen falsche, heuchlerische Frömmigkeit zu Felde zog und daß er mit der Richtigkeit seiner Visionen überzeugte. Die ›Visionen‹ des kleinen Karl May waren das beispiellos erfolgreiche Umsetzen seiner autobiographischen Seelenbilder in bewegte Abenteuerhandlung - und dabei trat er auch, ebenso erfolgreich, für sozial Unterdrückte und für wahres Christentum ein. In »Amos Sannel« begegnen wir dem May'schen »M« - und begegnen in »A« und »o« dem May'schen »A und O«, dem Sinnbild aller Traumata des Autors, dem in seelischer Spaltung begründeten verdunkelten Weihnachtsbild. Düsternis und Spaltung, die ihren Anfang im Seminar nahmen . . .



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   »Sannel«? Nun - mag Karl Mays Englisch auch lückenhaft und im Einzelfall sogar komisch gewesen sein, so waren ihm die alltäglichen Wörter ›sane‹ für ›gesund‹ im Sinne von ›geistig, seelisch gesund‹ und ›sanable‹, ›heilbar‹, zweifelsohne geläufig.

   Karl May läßt Amos Sannel, den alten biederen Pelzjäger (W 244), zusammen mit dem anderen Pelzjäger Hiller auftreten (W 517/519) - eine nicht unwichtige Parallele zum gemeinsamen Erscheinen Welley/ Reiter. Hiller ist mit dem zentralen Thema ›Weihnacht‹ unlöslich verbunden - er ist Angelpunkt eines Teils der Gesamthandlung. Über ihn wird im weiteren Verlaufe unserer Analyse noch etliches zu sagen sein. Vorderhand genügt der Hinweis, daß Hiller seinen Glauben verloren hat und Verschlossenheit und Härte im Gesicht trägt (W 521). Er porträtiert den zeitweiligen Gotteszweifler May - eines der vielen verstörten Teil-Ichs. Hiller, der sich, wie Karl May, manchen Gefahren ausgesetzt hat, verharrt in Ablehnung gegenüber dem Gedanken an eine allumfassende liebevolle Schöpferhand, zählt aber doch nicht zu den völlig verlorenen Seelen, denn auch er hat sich - wie Reiter - über Jahrzehnte hinweg eine gute Kenntnis des Weihnachtsgedichtes »Ich verkünde große Freude« (hier: unter dem Aspekt der Trostbotschaft) bewahrt. Und eben dieser Hiller, den zu retten Old Shatterhand von Weston ausgezogen ist, hat als Gefährten ein weiteres Teil-lch Karl Mays bei sich: Den Pelzjäger Amos Sannel - alias den einstigen Straftäter und psychisch geschüttelten Karl May, der aber schon seit geraumer Zeit gesund ist und im wesentlichen nur noch den Kerzendiebstahl überwinden muß, um entsühnt zu sein.

   Pelzjagden, Bärenjagden sind für Karl May ein Verarbeiten der Pelzschwindel und Kleiderschwindel, deren er sich 1864 schuldig machte.54 Denken wir nur an das hervorstechende Beispiel der Jagd des verkleideten (!) Lindsay auf eine Bärin in der Erzählung ›Durchs wilde Kurdistan‹ (dort S. 446-447) - eine nahezu ›klassische‹ Spiegelung des von Karl May am 16. Dezember 1864 in Chemnitz unter dem Namen ›Seminarlehrer (!) Lohse‹ ausgeführten Schwindelmanövers, bei dem er unter anderem einige Damenpelze erbeutete - und sich einigen Gefahren aussetzte. Der »Pelzjäger« Sannel ist der Schwindler Karl May von 1864,55 gibt aber - alt, bieder und wacker (W 520) - keinerlei Anlaß zu der Befürchtung, er könne etwas anderes als rechtschaffen sein. Nein - dieser Mann ist ›sane‹ durch und durch und genießt mit Recht die Achtung Old Shatterhands.

   Amos Sannel hat sein Gewehr verloren, die Ralling-Büchse, die - wenn auch nur für den Kenner (nämlich für den intimen Kenner der Fakten) ersichtlich - mit den Buchstaben »A« und »S« versehen ist.



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Der Prayer-man hat dieses Gewehr an sich genommen und sich diesbezüglich Old Shatterhands Vorwürfe anhören müssen. Die Begegnung Old Shatterhands mit Hiller und Amos Sannel ereignet sich im unmittelbaren Verlauf der Verfolgung des Prayer-man durch Old Shatterhand-May-Meier. Und kaum haben sie die ersten Worte miteinander gewechselt, sagt Old Shatterhand schon halb im Scherz, halb im Ernst zu Amos Sannel, er müsse »hinauf nach dem Fremonts Peak . . ., um Euer Gewehr zu holen« (W 518).

   Damit tritt die innere Bewältigung des Kerzendiebstahls in ein entscheidendes Stadium - weil Amos Sannel natürlich sofort mitreitet. Das »A und O« und das »A« und »S« werden jetzt hingeführt zu jenem Punkt der (inneren) Höhe, von dem aus die weite Sicht auf (innere) Freiheit gewährt wird, dem ›peak‹, Gipfel, des ›free mont‹, des frei stehenden Berges.56

   Das Gewehr symbolisiert in seiner Form die Kerzen und den Weihnachtsleuchter und, in seiner Eigenschaft als Waffe, den sich mit beiden dumpf assoziierenden Begriff des Drohenden. In falscher Hand wird das Gewehr mißbraucht. Untadeligen Zwecken dient es nur in der Hand des Untadeligen.

   Und so wird das Gewehr in einer Weise zurückgewonnen, die im Lichte der bisher zutagegetretenen Erkenntnisse nicht mehr überraschen kann: Welley und Reiter haben - von Old Shatterhand und Amos Sannel dabei beobachtet - Sheppard überrascht und gefangengenommen. Da sagte Welley: ». . . Sheppard aber hat eine gute Rallingbüchse; die werde ich für mich behalten . . .« Er hob sie von der Erde auf. Das war für meinen alten Amos Sannel zuviel. Er sprang . . . hinüber, riß ihm das Gewehr aus der Hand und sagte: »Bitte sehr, Mr. Welley oder wie Ihr heißt, diese Büchse ist mein Eigentum! Sheppard hat sie mir gestohlen!« (W 561f.).

   Illing hat die Kerzen entdeckt, darf sie aber nicht für sich nehmen, da auch dies Diebstahl wäre, und darf auch sein Wissen nicht für sich behalten Dem Direktor stehen sie nur unter dem Aspekt zu, daß dieser Macht und Druck ausübt - wie der Prayer-man. Das einzig wirkliche Recht darauf hat der Mensch, dem durch den ursprünglichen ›Verlust‹ der Kerzen bitteres Unrecht geschah und für den jetzt, da er sie, kurz vor Weihnachten!, gerettet hat,57 die Welt endlich wieder in Ordnung ist: Der wackere Alte, der Gesunde! Karl May - aber selbstverständlich nicht als Ich-Erzähler May-Meier oder gar als ›höheres Ich‹ Old Shatterhand, sondern notwendigerweise ›nur‹ im Gewande eines der (überwundenen) ›niedrigeren‹ Teil-Ichs. Amos Sannel darf das Gewehr behalten und sich daran erfreuen. Die Rettung des Autors Karl



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May liegt darin, daß er das Geschehen von Waldenburg endlich, endlich ausgesprochen hat und Amos Sannel noch triumphierend zu Frank Sheppard sagen läßt: »Solltet Ihr mir . . . wieder einmal in die Hände laufen, so rechne ich mit Euch ab, Ihr armseliger Gewehrspitzbube. . . . die Rallingbüchse . . . nehme ich mit.« (W 579)

   Das ›niedrigere‹ Teil-Ich hat das Bild zurechtgerückt - und hat dem Autor Karl May den Weg geebnet zum Sieg auch des ›höheren‹ Ich über Direktor Schütze: Old Shatterhand braucht nicht Hand anzulegen an Frank Sheppard, sondern kann Gottes Strafgericht hereinbrechen lassen. Und angesichts der fürchterlichen Strafe, die den Schurken ereilt, darf auch das ›höhere Ich‹ es sich leisten - wie der weiter oben bereits zitierte Epitaph ausweist -, dem Feind diesmal kein Wort der Vergebung zu gönnen.



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So läßt sich Karl Mays Auseinandersetzung mit dem Kerzendiebstahl und dessen Auswirkungen in vielfältiger Erscheinung durchgehend in der Erzählung ablesen. Auch die hier nicht beschriebenen Szenen, in denen innerhalb der Handlungsführung Watter, Welley, Reiter, Amos Sannel agieren, liefern entsprechende bildhafte Hinweise - und einander stützende Belege - zur jeweiligen Rolle, Funktion und Identität.58 Das alles braucht - im Interesse einer übersichtlichen Darstellung und der Beschränkung von Wiederholungen auf Unumgängliches - hier nicht im einzelnen erörtert zu werden. Die bisherigen Darlegungen erhärten zur Genüge, welche »Visionen« Karl May - rückschauend »prophetisch« - heraufbeschwor, um sie als erledigt betrachten zu können. Die Fülle-und-Verzahnung der unterschwelligen Assoziationen ist ebenso erstaunlich wie ihr Wechsel mit dem zeitweiligen offenen Hervorbrechen des noch der Bewältigung harrenden »Innenmaterials«.59 Erzähltechnisch wirkt alles so perfekt, als habe es heutzutage ein Meister des psychologischen Detektiv-und-Action-Thrillers in jeder winzigen Einzelheit mühevoll und bewußt ausgearbeitet. Karl Mays Ergebnisse gründen auf intuitivem und bravourösem Schöpfen aus Seelenbereichen.

   Das gilt nicht nur für das ›Motiv‹ Kerzendiebstahl. Die gleichzeitig in die Geschichte integrierte Verarbeitung anderer schicksalhafter Weihnachten im Leben des Autors und die sowohl kunstvolle als zugleich auch schlichte Bewältigung der Persönlichkeitsspaltung, der wir uns im folgenden zuwenden wollen, sind Zeugnis ganz im Sinne Heinz Stoltes



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und Gerhard Neumanns, daß Karl May bei ›»Weihnacht!«‹ auf der Höhe seiner Schaffenskraft angelangt war - der Fiedler auf dem Dach, der sich endlich sein ersehntes Ich erschrieb.

(Fortsetzung folgt)



1Karl May: »Weihnacht!« 1.-15. Tsd. Freiburg 1897 S. 1. Nach dieser Ausgabe - mit der die Radebeuler Ausgabe nahezu textgleich ist - wird im folgenden zitiert bzw. belegt. Hier als Kürzel W, gefolgt von Seitenangabe. - Die Kenntnis der Erzählung darf beim Leser vorausgesetzt werden.
Die Gesammelten Reiseromane/Reiseerzählungen Karl Mays, Band 1-33, sind im Text der Freiburger Erstausgaben (1892-1910) vom Karl-May-Verlag (KMV) Bamberg als Reprints wieder vorgelegt worden (1982-1984). Anhänge (A) und Nachworte (N) vom Herausgeber Roland Schmid. Auf diese Ausgabe wird hier - im Text und/oder in den Anmerkungen - mit der jeweiligen Angabe Reprint Band . . .. Seite . . . Bezug genommen. (Im übrigen konnte gelegentlich auf bibliographische Angaben zu einzelnen Bänden Karl Mays verzichtet werden.)
2Karl May: Mein Leben und Streben. Band 1. Freiburg 1910, hier zitiert nach der Reprintausgabe, hrsg. und kommentiert von Hainer Plaul, Hildesheim-New York 1975. Kürzel LuS, gefolgt von der Seitenangabe.
3Heinz Stolte: Der Fiedler auf dem Dach. Gehalt und Gestalt des Romans ›»Weihnacht!«‹ In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1986, S. 9-32
4Hartmut Vollmer: »Weihnacht!« - ein »Erlösungswerk« Karl Mays. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 46/1981 S. 3-13
5Die Problematik ist grundlegend bereits von Hans Wollschläger in seinem Essay »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern - ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73 S. 11-92 (hier: S. 35-38), angeschnitten worden. Meine Behandlung des Themas geschieht unter annähernd gleichem Blickwinkel.
6Siehe LuS Anm. 1 (H. Plaul) S. 325*
7Diese Verzweiflungstat des Knaben und viele seiner späteren Mißgriffe und Fehlhandlungen bezeugen Karl Mays lebenslangen Konflikt zwischen Sein und Schein, Imagination und Realität. Diesem Thema ist eine - im Manuskript vorliegende - Spezialarbeit des Verf. gewidmet.
8Zur Entstehung des Gedichtes und seiner Verwendung durch Karl May siehe den Anhang im Reprint Band 24, Seiten A 1 - A 23
9Karl May: Ein Schundverlag. Ein Schundverlag und seine Helfershelfer. Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß. Prozeßschriften Band 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982 S. 302-303
10Karl May hielt das Zerrbild Emmas bis zuletzt aufrecht - 1910 in ›Mein Leben und Streben‹ allerdings wesentlich vager und verschwommener als in der voraufgegangenen Schrift ›Frau Pollmer. eine psychologische Studie‹ (1907) - siehe unten - und als in der späteren umfangreichen Eingabe ›An die 4. Strafkammer‹ (Zweitfassung vom Dezember 1911) - siehe unten. Karl Mays präzise Angaben in ›Frau Pollmer‹, S. 809ff., zeigen das Frühjahr 1877 als die Zeit des Frühstadiums der Beziehung. Diese erreichte zu Pfingsten 1877 (d. h. 20./21. Mai) den maßgebenden Punkt, der Emma veranlaßte, Hohenstein und dem Großvater den Rücken zu kehren und zu Karl nach Dresden umzusiedeln (wo sie freilich zunächst bei einer Pfarrerswitwe untergebracht wurde). So liegt es nahe, das heimliche Einvernehmen der beiden, das nicht sofort zur Verlobung führte. für die Osterzeit 1877 und nicht schon für die Weihnachtszeit 1876 anzunehmen.
-Karl May: Frau Pollmer, eine psychologische Studie. Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß. Prozeßschriften Band 1. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982
-Karl May: An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichts III in Berlin. Erstveröffentlichung aus dem Nachlaß. Prozeßschriften Band 3. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982.



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11Entgegen den übrigen Haftstrafen erwähnt Karl May diese dreiwöchige Haft vom September 1879 in keiner seiner Bekenntnisschriften - ein Indiz dafür, daß er sie damals ohne jede schädigende Einwirkung überstand und sie praktisch sogar aus seinem (bewußten) Gedächtnis strich. Im Erzählwerk wird dieser Lebensausschnitt häufig maskiert und vom Unterbewußten her, behandelt. Vgl. hierzu Heinz Stolte: Die Affäre Stollberg. Ein denkwürdiges Ereignis im Leben Karl Mays. In: Jb-KMG 1976 S. 171-190. Vgl. auch die in Anm. 23 erwähnten Beiträge des Verf.
12Karl May: Giölgeda padishanün. Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche. In: Deutscher Hausschatz in Wort und Bild (DH) VII. Jg. 1880/1881. Regensburg (ab Januar 1881). Buchausgabe: Durch Wüste und Harem, später: Durch die Wüste. Freiburg 1892. (Dort S. 1ff.)
13Siehe bei Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Bamberg 1973 S. 62. (Maschkes Buch wird, wegen seiner begütigenden Art der Darstellung, den vielerlei - und in mancher Hinsicht erschreckenden - Aspekten der Verbindung Karl May/Emma Pollmer nicht gerecht, ist aber wegen der Sicherung der äußeren Daten und vieler dokumentarischer Belege eine unverzichtbare Fundgrube.)
14Karl May: Im Lande des Mahdi. Band III. Freiburg 1896. Die in den voraufgehenden Bänden I und II erzählte Geschichte endet bei Seite 152 des Bandes III, und Karl May schrieb die beiden genannten Kapitel hinzu, um einen dritten Band zu füllen.
15Karl May: Freuden und Leiden eines Vielgelesenen. In: DH XXIII. Jg. 1896/1897 Nrn. 1 und 2. Faksimilenachdruck der KMG und der Buchhandlung Pustet in dem Sammelband ›Kleinere Hausschatz-Erzählungen‹. Hamburg 1982
16Karl May: Old Surehand. Freiburg 1894 (Band I), 1895 (Band II), 1896 (Band III). Die Handlung des dritten Bandes, worin der Titelheld erst gegen Schluß - und keineswegs heldenhaft - auftritt, kann nur bedingt als ›richtige Fortsetzung‹ der im ersten Band abrollenden Handlung gelten. Der zweite Band enthält eine Zusammenstellung früherer Geschichten (Karl Mays), die von Gästen im Lokal der ›Mutter Thick‹ erzählt werden. - Bemerkenswert jedoch: Die Handlung führt, wie oft bei Karl May, aus Wüstenstrichen (Llano estacado im Band I) zu Bergeshöhen (Rocky Mountains im Band III).
17Eine Spezialarbeit des Verf. zu diesem Thema liegt im Manuskript vor. Im übrigen siehe einstweilen den Beitrag ›Sichere Hand auf wackligen Füßen‹. In: M-KMG 29/ 1976. - Vgl. aber auch Karl Serden: Old Surehand - Roman der Erfüllung? In: M-KMG 66/1985 S. 41-43
18Faksimilewiedergabe im Nachwort zum Reprint Band 14, S. N 11
19Freilich lief es doch nur auf eine Interims-Lösung hinaus. Karl May konnte 1896/1897 nicht die Entwicklung voraussehen, die ihn unnachsichtig von Emma weg- und zu Klara hintrieb. Die lange Trennung von Emma während der Orientreise, 1899/1900, war insoweit der Entfremdung förderlich. In jenen Monaten wurde Emma im Herzen Karl Mays entthront und Klara dort unverrückbar verankert.
20Siehe Hartmut Vollmer: Die Schrecken des ›Alten‹: Old Wabble. Betrachtung einer literarischen Figur Karl Mays. In: Jb-KMG 1986 S. 155-184
21Siehe Seite A 40 im Anhang zum Reprint Band 23. - Die Erzählung bildet die wesentlichen Orientteile der Bände 26 und 27 der Ges. Reiseerzählungen, ›Im Reiche des silbernen Löwen‹, Band I und II, in der Freiburger Ausgabe.
22Siehe die Werksgeschichte zu Band 24, S. N 5 - N 13 im Nachwort zum Reprint Band 25 (›Am Jenseits‹). May war schon kurz nach dem Beginn der Niederschrift der Überzeugung, der Band werde alle vorhergehenden übertreffen. (Seite N 9)
23Siehe Heinz Stolte: Die Reise ins Innere. Dichtung und Wahrheit in den Reiseerzählungen Karl Mays. In: Jb-KMG 1975 S. 11-33. - Siehe ferner die Beiträge des Verf. in den Jb-KMG 1979, 1982, 1984, 1985. - Ein für Karl May offenbar schmerzlicher Bezug zu Uhren läßt sich bis in seine frühe Kindheit zurückverfolgen: Siehe Ralf Harder: Die Erblindung - eine entscheidende Phase im Leben Karl Mays. In: M-KMG 68/1986 S. 35-38
24(Karl May): Das Waldröschen oder Die Verfolgung rund um die Erde. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Dresden 1882-1884. (Vorwort und Nachwort von



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Klaus Hoffmann.) 6 Bände. Hildesheim New York 1970-1971. Band I, S. 190ff. - Karl May, der ›Waldröschen‹ etwa Ende Oktober 1882 begann, hat diese Szenen mutmaßlich gerade zur Weihnachtszeit niedergeschrieben. In den Super-Helden Dr. Karl Sternau hat Karl May mehr noch als in (den bis dahin einmal erschienenen) Old Shatterhand und als in Kara Ben Nemsi alles an Wunscherfüllung hineingepackt, was das Leben ihm selbst versagt hatte. Eben dieser Traumheld Karl Sternau (von Barcelona) kann aber ebensowenig wie der Traumheld Karl May (von Waldenburg) das Weihnachtsfest seiner Lieben zum Jubelfest gestalten.
25Siehe Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. In: Jb-KMG 1978 S. 37-59. Siehe auch insbes. die Beiträge des Verf. in den Jb-KMG 1984 u. 1985.
26Vgl. die grundsätzlichen Ausführungen von Hans Wollschläger, s. Anm. 5, und meine eigenen bei Anm. 23 genannten Beiträge.
27- sozusagen als Voraussetzung zu dem von Gerhard Neumann festgestellten »erschriebenen Ich«.
28Zu diesem Phänomen siehe die grundlegende Arbeit von Claus Roxin: »Dr. Karl May genannt Old Shatterhand.« Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: Jb-KMG 1974 S. 15-73
29In diesem Zusammenhang erscheint es denkbar, daß das von Karl May in LuS S.177, in Verbindung mit seinem Seelenretter Kochta erwähnte »Buch« mit dem Titel »Die so genannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«, deshalb nie aufgetaucht ist, weil es die Quintessenz der auf Mays psychische Gesundung abzielenden Therapie bildet, nämlich sich durch Schreiben von seinen Qualen zu befreien, mit anderen Worten, »ein Buch daraus zu machen«. - Im übrigen ist es, nachdem Hainer Plaul in seinem Beitrag ›Resozialisierung durch »progressiven Strafvollzug«. Über Karl Mays Aufenthalt im Zuchthaus zu Waldheim von Mai 1870 bis Mai 1874‹ (Jb-KMG 1976 S.105- 170; hier bes. S.137) auf den in Waldheim tätigen, der praktischen Psychiatrie zugewandten Arzt Dr. Knecht aufmerksam gemacht hat, zumindest denkbar, daß sich in Mays Lebenserinnerungen die Bilder-und-Verdienste beider Menschen, denen er die seelische Kräftigung verdankte, mischen. Das Initial »K« ist soweit indikativ. Vermuten läßt sich dabei, daß Dr. Knecht, im Erkennen der seelischen wie geistlichen Bedürfnisse seines Patienten Karl May, dem religiösen Moment besondere Aufmerksamkeit geschenkt, die Bedeutung der Gottesbindung und deren Bewährung im Weltlichen - wie sie durch den Laienprediger Kochta repräsentiert wurde - in die Behandlung einbezogen und Mays Dankbarkeit auf Kochta hingelenkt und von sich selbst abgelenkt hatte. Mays dennoch tiefverwurzelte Dankbarkeit Dr. Knecht gegenüber findet sich dementsprechend wieder in dem Motiv des unfehlbaren, auf jedem medizinischen Fachgebiet Unglaubliches vollbringenden Arztes - wie z. B. Dr. Karl Sternau und sogar des ›Nicht-Fachmannes‹ Kara Ben Nemsi.
30Stolte wie Anm. 3 S. 23. - Allerdings nennt Karl May schon in der vom DH-Redakteur Heinrich Keiter 1894 unterdrückten »Heimat Episode« innerhalb der dreibändigen Erzählung ›Satan und Ischariot‹ an einer Stelle seinen Ich-Erzähler May, den früheren Studenten. Zur Entwicklung der ›Demaskierung‹ siehe auch Walther Ilmer: Einführung zu ›Krüger Bei/Die Jagd auf den Millionendieb‹. Faksimilenachdruck aus DH, XXI. und XXII. Jg., 1894/1895 und 1895/1896. Hamburg 1980
31Auch hierzu die in Anm. 23 genannten Beiträge des Verf.
32Klaus Hoffmann: Der »Lichtwochner« am Seminar Waldenburg. Eine Dokumentation über Karl Mays erstes Delikt (1859). In: Jb-KMG 1976 S. 92-104. - Diese Dokumentation, für die Klaus Hoffmann größter Dank gebührt, hat mir die entscheidenden Stützen zur Untermauerung meiner bis in die 50er Jahre zurückgehenden Thesen über »Weihnacht!« und den Kerzendiebstahl geliefert.
33Karl May kannte natürlich die Unterschiede zwischen Motette und Kantate. Im breiten (Lese-)Publikum brauchte dieses Spezialwissen nicht vorausgesetzt zu werden. Da gerade in der evangelischen Kirchenmusik die Kantate seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert die Motette mehr und mehr abgelöst hatte, wäre der Begriff ›Kantate‹ von der Leserschaft wohl nicht als unpassend angesehen worden. Karl May aber mußte das ›verräterische‹ Wort ›Motette‹ verwenden.



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34Klaus Hoffmann beschreibt im Jahrbuch 1976, daß Direktor Schütze selber anscheinend seine Härte gegen May bedauerte und dem Ministerium empfahl, May die weitere Ausbildung woanders zu ermöglichen. Diese - späte, zu späte - Änderung in der Haltung des Seminardirektors ist Karl May entweder verborgen geblieben oder wurde von ihm als Heuchelei betrachtet - oder aber verdrängt.
35Claus Roxin: Einführung zum Faksimilenachdruck ›Durch das Land der Skipetaren‹. DH XIV. Jg., 1887/1888. Hamburg 1978. S. 3 re. oben
36An dieser dem Ablauf der Dinge gedanklich genau entsprechenden Stelle sagt May in ›»Weihnacht!«‹, S.3: Wie gedacht, so getan! - Die zweimalige fiktionale und getarnte Schilderung folgt zweifelsfrei dem Ablauf der Ereignisse in der Realität.
37Das zeigt sich durchgehend in ›Mein Leben und Streben‹. Wohl gibt Karl May unumwunden zu, strafbare Handlungen begangen zu haben und im Gefängnis und im Zuchtbaus gewesen zu sein, aber er vermeidet jede Erörterung einzelner Delikte. Darüber ›zu sprechen‹, d.h. sie im Erzählwerk verfremdet zu schildern, vermochte er nur, solange er noch darunter litt. Bei der Niederschrift der Selbstbiographie hingegen litt er nicht mehr unter den Qualen seiner kriminellen Vergangenheit, sondern daran, daß diese bekanntgeworden war und daß dies von seinen Widersachern gewissenlos ausgenutzt und darüber hinaus maßlos entstellt präsentiert wurde.
38Hierzu auch Heinz Stolte wie Anm. 3 S. 24
39Das für den Erzählhergang belanglose Datum »6. November«, das May in die Feder floß (W 6), mag ein Hinweis auf den Tag seiner Bestallung als »Lichtwochner« oder auf den Tag der Entwendung der Kerzen sein. Die Entdeckung der Kerzen in Mays Koffer wurde mehrere Wochen lang verschwiegen und kam erst kurz vor der darauf hin veranlaßten Lehrerkonferenz - 21./22. Dezember 1859 - zur Kenntnis des Direktors.
40Deutsche in den Reise-Erzählungen dürfen ihrem Vaterland keine Unehre machen (Der Barbier aus Jüterbogk, den May in ›Durch die Wüste‹ und ›Von Bagdad nach Stambul‹ auftreten läßt - ein Teil-Selbstporträt -, ist ein Schwächling, aber kein Lump, und stirbt entsühnt.) Nur in den in Deutschland spielenden Dorfgeschichten und Kolportageromanen (›Der verlorene Sohn‹, ›Der Weg zum Glück‹) gibt es (konsequenterweise) deutsche Verbrecher.
41Sannels Büchse ist ein Einläufer (W 244), keine Doppelbüchse. Es sei dahingestellt, ob sich damit eine Anspielung Mays verbindet, daß die sechs Kerzen zusammen »ein Pfund« wogen (Jb-KMG 1976 S. 95).
42Daß Karl May im Sommer 1869 tatsächlich ein Pferd stahl, kann bei dieser Argumentation sowohl einbezogen werden als auch außer Betracht bleiben.
43Karl May konnte 1897 nicht im entferntesten damit rechnen, seine Strafakten würden im einzelnen öffentlich bekannt!
44(Karl May): Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends. Vom Verfasser des ›Waldröschen‹. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Dresden 1883-1885. Mit einem Vorwort von Klaus Hoffmann. 6 Bände. Hildesheim-New York 1970-1971
45Wie Anm. 8
46Siehe Maschke wie Anm. 13 S. 80. Siehe auch die Wiedergabe im Jb-KMG 1982 S. 216
47Zu diesem Aspekt auch Heinz Stolte: wie Anm. 3 S. 28, und Hartmut Vollmer: wie Anm. 4 S. 5-7. (Auf Vollmer verweist Stolte: wie Anm. 3, auf S. 32 in Anm. 19a)
48Die vielerlei Funktionen Winnetous in »Weihnacht!« - an der genannten Textstelle, S. 274, z. B. ›Pfarrer‹ und ›Ministerium‹ in einer Person, gleichsam als Deus ex machina - können im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur angedeutet werden; sie verdienen einen gesonderten Beitrag.
49Siehe Maschke: wie Anm. 13 S. 69 und 238. Siehe auch Siegfried Augustin: Karl May in München. In: Karl-May-Jahrbuch 1978. Bamberg/Braunschweig 1978. Weitere Beispiele liefert Erich Heinemann: Dr. Karl May in Gartow. In: Jb-KMG 1971 S. 259-268
50Auch die erwähnten beiden früheren Verbrechen des Prayer-man in Weston (W 140 323) zielen auf die vor 1859 verfügten Ausweisungen aus Waldenburg.



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51Friedrich Wilhelm Schütze war 1888 verstorben. Siehe Anm. 101 (H. Plaul) in LuS S. 368*. Es ist freilich nicht gesichert, daß Karl May davon wußte.
52Siehe Klaus Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann« oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870. 1. Teil. In: Jb-KMG 1972/73 S. 215-247 (S. 229-230)
53Hoffmann wie Anm. 52 S. 226
54Siehe Hainer Plaul: Alte Spuren. Über Karl Mays Aufenthalt zwischen Mitte Dezember 1864 und Anfang Juni 1865. In: Jb-KMG 1972/73. S. 195-214 (S. 195-196)
55Eine andere Reminiszenz an den Pelzschwindel ist der Satz: Meine Stube hing durch eine Thür mit der nebenan liegenden zusammen; der Schlüssel steckte auf meiner Seite (W 197). Karl May hatte damals zwei miteinander verbundene Zimmer gemietet. Innerhalb der Erzählung ›»Weihnacht!«‹ leitet dieser Satz unmittelbar über zu dem Aufbruch des Ich Erzählers zum Hause Hillers, des anderen Pelzjägers: ein Ineinandergreifen der in Rede stehenden beiden Teil Ich.
56Diese sprachliche Mischung aus Englisch und Französisch und die ›freie‹ Ausdeutung von »fre(e)« sind selbstverständlich nur aus der Sicht der Allegorie zulässig. - Vgl. hierzu die meisterliche ›sprachliche Fehlleistung‹ Dschebel Winnetou in ›Winnetou IV‹, Freiburg 1910 S. 56, die eben alles andere als eine Fehlleistung ist. Hinweis von mir am Schluß meines Beitrages ›Der Bruch im Bau - kein Bruch im lch‹ in: M-KMG 36/1978 S. 26-33
57Bedeutsam mit Blick auf den für Weihnachten 1897 vorgesehenen Erscheinungstermin des Buches!
58So sind z. B. am Ausklang der Erzählung Watter, Welley und Reiter Partner in einem gemeinsamen Unternehmen, dem auch Sannel angehörte, aber aus (dem) nur Sannel durch den Tod geschieden ist (W 620): Karl May hat sich endgültig innerlich von den Schatten des Pelzdiebstahls gelöst und hat Abstand gewonnen von allem, was ihn an die Vorkommnisse in Waldenburg band.
59Wollschläger wie Anm. 5 S. 13: »Mays schöpferische Arbeit bestand nicht in der Komposition von mit höchster geistiger Anstrengung und Geduld erarbeiteten Mikrodetails, sondern in der Kanalisierung ausbrechenden, strukturell vordeterminierten Innenmaterials.«





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