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DIETER SUDHOFF

Karl Mays Großer Traum
Erneute Annäherung an den "Silbernen Löwen"



Ganz von selber versteht es sich, daß die unverlöschlich tiefen Bilder, welche ich mit nach Hause gebracht hatte, mich noch auf das Lebhafteste beschäftigten, als ich mich . . . zur Ruhe legte. Der Schlaf wollte nicht kommen, und als er sich endlich doch einstellte, nahm er sie mit in jenes seelische Gebiet hinein, welches für uns noch im Geheimen liegt und mit dem Verlegenheitsnamen Traumwelt bezeichnet wird. Ich träumte, und zwar mit einer Lebhaftigkeit und Deutlichkeit, als ob ich nicht schlafe, sondern wache. Und ich träumte sonderbarer Weise, daß ich nicht ich, sondern der Ustad sei. Ich war völlig identisch mit ihm und kannte jede verflossene Minute seines Lebens und jedes Wort, welches er geschrieben hatte. Und das verwischte sich nicht; das blieb auch nach dem Traume.(1)

   Mit diesen Sätzen, die in all ihrer Kürze ein sicheres Ahnen des Autors um die geheime Psychologie des Traumes verraten, nimmt Karl May den Leser seines Altersromans "Im Reiche des silbernen Löwen III/IV" (1902/1903), der eben mit dem Protagonisten Kara Ben Nemsi und dessen jüngerem Alter ego Kara Ben Halef die dumpfe und bedrückende Atmosphäre in der Unterwelt des im Tal der Dschamikun ragenden Ruinenbaus erlebt hat und sich dort unverlöschlich tiefe Bilder phantasierte, in eine grandiose Traumwelt hinein, in den "Großen Traum"(2), ein Stück fiktiver Prosa, dessen Bilderfülle und Gedankenreichtum in der deutschen Literatur nur wenig seinesgleichen hat und das wohl gerade deshalb noch der interpretatorischen Erschließung harrt. Denn wenngleich »Texte wie dieser die Kenner des Mayschen Spätwerkes besonders angezogen haben«,(3) schreckte die vermeintliche Unergründbarkeit des "Großen Traums" bislang doch so, daß es allenfalls zu zaghaften Ansätzen von Deutungen kam, am Rande von Arbeiten, deren eigentliches Erkenntnisziel ein anderes war.(4) Tatsächlich berechtigt die strukturelle und semantische Mehrdimensionalität des "Silberlöwen" und der in ihm gebundenen "Traum"-Sequenz zu einiger Scheu vor eindeutigen Bedeutungszuordnungen, zumal die facettenreiche Bildwelt Mays sich dort zum Teil traumähnlich aus Quellen des Unbewußten speist und sich so mitunter gegen den bewußten Zugriff des Analysierenden sperrt. Aus gutem Grund wurde daher für den Untertitel dieses Aufsatzes Hans Wollschlägers Wort von der "Annäherung" aufgegriffen:(5) mehr ist von einem Forscher allein schwerlich zu


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leisten. Sinnvoll ist der Untertitel aber noch in anderem Sinne: ein Analyseversuch des "Großen Traums", eines bei aller Abgerundetheit doch in mehrerlei Beziehung mit dem Romanganzen verflochtenen Teilstücks, könnte einen Weg eröffnen für eine spätere Gesamtanalyse des "Silbernen Löwen", die ja noch ebenso aussteht wie eine umfassende Arbeit über das zweite Großwerk Karl Mays, "Ardistan und Dschinnistan" (1909).

   Vor dem Wagnis einer "Traum"-Analyse ist in gebotener Kürze einiges zur Werkgeschichte des "Silberlöwen", zur bisherigen Wertung des "Großen Traums" und übers Träumen bei Karl May zu sagen.


A. ZUR GESCHICHTE DES "SILBERNEN LÖWEN", MIT BLICK AUF DEN "GROSSEN TRAUM"

Wenn hier und im folgenden die Rede vom "Silberlöwen" ist, so sind stets nur die zum Spätwerk zählenden Bände III und IV der Tetralogie gemeint, nicht etwa auch die ersten beiden Bände (1898), die sich nur bei sehr tiefschürfendem Besehen von Mays sonstigen abenteuerlichen Reiseerzählungen vor der Alterswende abheben und mit dem in sich geschlossenen Spätkomplex eher fadenscheinig verknüpft sind. Daß May überhaupt auf die unglückliche Idee verfiel, Verleger Fehsenfeld und Lesern zu Gefallen längst fallengelassene Erzählfäden im "eigentlichen Werk" weiterzuspinnen, erklärt sich wohl nur aus dem – durchaus vergeblichen – Bemühen, ungebrochene literarische Kontinuität zu behaupten.

   Dank den positivistischen Mühen Hans Wollschlägers ist die bisweilen verwirrende Entstehungsgeschichte des "Silbernen Löwen" inzwischen wohlerforscht – wenn auch nicht in jeder Einzelheit dokumentarisch gesichert –, so daß es an dieser Stelle und für unseren Zweck genügt, dem Werden des Werks (und seiner Textgeschichte) in großen Schritten nachzugehen und nur dort mäßig zu verweilen, wo Eckpunkte zum Thema zu finden sind.(6)

   Wie auch die meisten übrigen Handschriften des Spätwerks ist das Manuskript zum "Silberlöwen" vollständig erhalten und liegt im Archiv des Bamberger Karl-May-Verlags. Es besteht aus fünf gesondert paginierten Teilen, die von Wollschläger mit Majuskeln (A–E) bezeichnet werden; der "Große Traum" gehört danach zum umfangreichen Schlußteil E (639 Seiten; vgl. Bd. IV: S. 177–644).(7)

   "Im Reiche des silbernen Löwen III/IV" entstand in einer Zeit arger Bedrängnisse und spiegelt manches davon wider. Nach den unvermittelten Angriffen des Redakteurs Fedor Mamroth in der "Frankfurter Zeitung", die ihn 1899 während seiner Orientreise überfallen hatten, war May 1901 in Hermann Cardauns, dem Chefredakteur der "Kölni-


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schen [Kölnischen] Volkszeitung", an einen nichts weniger als zimperlichen Gegner geraten, der sich nicht scheute, mit einem diffamierenden, "entlarvenden" Vortrag über das »literarische Curiosum« Karl May und dessen »abgrundtief unsittliche« Kolportageromane im Rheinland hausieren zu gehen. Mays Versuch, das widerrechtliche Erscheinen der alten Münchmeyer-Romane unter seinem Namen zu verhindern, war kläglich gescheitert,(8) so daß er, der inzwischen weit andere, "hehre" Ziele verfolgte und literarische Gipfel zu erklimmen suchte, sich nun vor aller Welt als Schundschriftsteller gebrandmarkt sah. Zur Abwehr und Rechtfertigung schrieb er darauf anonym die polemische Broschüre "Der dankbare Leser" (1902),(9) aus gleichem Grund und zu seiner literarischen Legitimation begann er in der Nacht auf den 9.2.1902 mit der Niederschrift der verschlüsselten Reiseerzählung "Am Tode". Der Anfang April abgeschlossene Text wurde vom 15.2. bis 29.4. an wirksamer Stelle, im Koblenzer "Rhein- und Mosel-Boten", in 55 Folgen vorabgedruckt und bildet den eigentlichen Beginn des Spätwerk-"Löwen".(10)

   Vor diesem kürzest skizzierten Entstehenshintergrund erhellt sich das immer erstaunliche Phänomen der Polyphonie des "Silberlöwen", des Neben- und Ineinanders von Außen- und Innenbiographie und philosophisch-religiöser Botschaft, dem wir (in Grenzen) auch bei der Analyse des "Großen Traums" begegnen werden: um sich der Gegner zu erwehren, machte May sie zu Spielfiguren seiner Phantasie, erträumte ihre Entlarvung und Bestrafung; um sich nach außen, mehr noch sich selbst gegenüber, zu rechtfertigen – die lange verdrängten "Schatten der Vergangenheit" gewannen beängstigend an Gestalt und Leben –, thematisierte er bewußt sein Ich, stellte es vor einen inneren Gerichtshof und legte Zeugnis ab über sein Sein – gerade in dieser Dimension wurden dann auch autarke Bildkräfte des Unbewußten wirksam; um sein Schicksal zu überhöhen und sich literarisch zu legitimieren, stilisierte er sich zum Vertreter der Menschheit und wandte sich forciert Menschheitsproblemen zu, die er symbolisch-allegorisch kleidete, dabei bemüht um eine möglichst dichterische Sprache.

   Am 4.4.1902 war ein älteres Manuskript, "In Basra" (Bd. III: S. 1–66), an Fehsenfelds Stuttgarter Druckerei gegangen; in zwei Etappen, am 5.4. und Anfang Mai, erhielt Felix Krais dann auch den Koblenzer Zeitungstext "Am Tode" (Bd. III: S. 67–266): die Buchausgabe war in die Wege geleitet. Im Bewußtsein einer großen Aufgabe arbeitete May trotz physischer Erschöpfung und seelischer Belastung »in kurzen, intensiven Arbeitswellen«(11) an der Fortsetzung des "Am Tode"-Textes, konnte am 8.7. das "Bluträcher"-Kapitel abschließen (Bd. III: S. 266–533) und bereits Mitte Juli das Schlußkapitel "Ahriman Mirza" (Bd. III: S. 534–636), das im Manuskript noch "Ein At jaryschy" (= Pferderennen) heißt.(12) Schon Anfang August erschien dann


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bei Fehsenfeld die Buchausgabe "Im Reiche des silbernen Löwen. 3. Band" als Band XXVIII der Reihe "Karl May's gesammelte Reiseerzählungen" (636 S.).

   Zur gleichen Zeit kam es zur so gefürchteten wie erhofften Entscheidung im jahrelangen Dilemma der Ehe mit Emma Pollmer. Seit seiner Orientreise, auf deren zweiter Etappe (1900) ihn seine Frau und das Ehepaar Richard und Klara Plöhn begleitet hatten, hatte May sich innerlich immer mehr der Frau seines Freundes genähert; nun, über ein Jahr nach dessen Tod, nach einer quälenden Reise (begonnen am 21.7.), die ihn und die beiden um ihn gierenden Frauen quer durch Deutschland nach Bozen und hinauf zur Mendel führte – in eine Landschaft, deren Topographie im "Tal der Dschamikun" wiederkehrt –, trennte sich May endgültig von Emma und reiste allein mit Klara nach Radebeul zurück – ohne dort die ersehnte Ruhe zu finden. Das folgende »hektische Reisen, das wie eine panisch bewegte Flucht anmutet, mündete am 13.10.1902 in die Ruhe eines Erholungsurlaubs in Riva am Gardasee, wo May mit Klara Plöhn bis zum 15.12. blieb und auch wie Hansotto Hatzig festgestellt hat, für die Topographie des Dschamikun-Tals ein neues Modell fand.«(13) Aller Wahrscheinlichkeit nach empfing May hier auch Anregungen für die nächtliche Szenerie des "Großen Traums": der mond- und sternenüberstrahlte See, in den die Geister dort hinausschwimmen, um dann vom Ufer zum Rosentempel hinaufzuwandeln, ließe sich leicht als Gardasee bei Riva denken. Anders als die Unterwelt der Ruinen wirken See, Berge und Duar auch im "Traum" naturalistisch, wirken "gesehen". Waren vor Riva nur die Notizen-Konvolute "Auf der Reise", "Die Schetana", "Weib" und "Wüste" entstanden, skizzenhafte Verarbeitungen der jüngsten Ereignisse, fand May am Gardasee Mitte November die nötige Ruhe zur Fortsetzung des "Silbernen Löwen", zum Beginn des IV. Bandes, in dem die aktuellen Ereignisse teilweise zum untergründigen Handlungsmovens werden.

   Am 15.11. konnte May an Krais aus Trient schreiben, er trete nun in größter Frische und voller Lust an den Schluß des »Löwen«,(14) am 26.11. schickte er aus dem Städtchen Mori die 3 ersten Bogen (= 48 Druckseiten) an die Druckerei,(15) am 6.12. weitere drei Bogen, ehe er wenige Zeit später nach Radebeul zurückkehrte. »Bis zum Jahresende entstand der Text noch weiterer 5 Druckbogen, der auch gesetzt und umbrochen wurde; Mitte Januar lagen die ersten beiden Lieferungen (zu je 4 Bogen) fertig vor . . . Dann wurde die Niederschrift abgebrochen.«(16) (Bd. IV: S. 1–176)

   Ursachen der langen Unterbrechung waren der immer fataler ausufernde, zeitraubende Münchmeyer-Prozeß, die Querelen um die Ehescheidung und die schließliche Heirat mit Klara Plöhn (am 30.3.1903), vor allem aber der Entschluß, seinem Kontrahenten Adalbert


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Fischer, der das Münchmeyer-Geschäft gekauft hatte und mit dem es im Februar zu einem Vergleich kam, die "Erzgebirgischen Dorfgeschichten" als "Karl Mays Erstlingswerke" in Verlag zu geben. Für diesen Band schrieb May nun Ende Februar/Anfang März und im April 1903 in aller Heimlichkeit zwei neue, symbolisch-allegorische Erzählungen, "Sonnenscheinchen" und "Das Geldmännle", um mit ihnen der zweifelnden Leserwelt vorzugaukeln, er habe schon immer symbolisch geschrieben.

   Im Mai oder Juni setzte May seine Arbeit am "Silberlöwen" fort, am 17.7. ging endlich eine weitere Manuskriptsendung (272 Seiten = 13 Bogen) an den Drucker Felix Krais, die für uns interessanteste, denn sie enthielt auch den "Großen Traum" (Bd. IV: S. 177–376; darin "Der Große Traum": S. 314–352). Wahrscheinliche Entstehungszeit des "Traums" dürfte mithin Ende Juni/Anfang Juli 1903 sein, eine Datierung, die dadurch bedeutsam wird, daß May Anfang Juni erstmals mit dem Maler Sascha Schneider zusammengekommen war, dessen an Klinger erinnernde Symbolkunst ihn schon im Jahr zuvor nachhaltig beeindruckt hatte.(17) Die Mutmaßung, daß diese Begegnung, die May in seinen späten Jahren den vielleicht einzigen echten, gleichrangigen und kritikfähigen Freund schenkte, auch auslösend, zumindest aber anregend war für die symbolistische Bildwelt des "Großen Traums", liegt nahe und wird noch zu prüfen sein. Das lang vermißte Bewußtsein, einen sowohl verständigen wie andersdenkenden (zu "bekehrenden"), aufmerksam sein Schreiben verfolgenden Freund gefunden zu haben, beflügelte May jedenfalls nicht wenig: schon am 29.7. ging das ganze 3. Kapitel, "Vor dem Rennen" (Bd. IV: S. 377–489), nach Stuttgart, am 10.9.1903 – nach einem August, in dem er sich Ruhe gegönnt hatte – schrieb er den letzten Satz des "Silberlöwen". Wenig später lag die erste Freiburger Buchausgabe von "Im Reiche des silbernen Löwen. 4. Band" als Band XXIX der Reihe "Karl May's gesammelte Reiseerzählungen" vor (644 S.).

   Der Drucksatz der Erstausgabe wurde auch für die Bände "Im Reiche des silbernen Löwen III/IV" der Reihe "Karl May's Illustrierte Reiseerzählungen" verwendet, die im Juni 1912, also nach Mays Tod, erschienen, mit farbigem Bild zwischen den Titelblättern und schwarzweißen Einschalttafeln von Claus Bergen.

   Nahezu unverändert blieb der Text auch in der Radebeuler Reihe "Karl May's Gesammelte Werke" des Karl-May-Verlags (636, 644 S.; letzte Auflagen 1939),(18) während die Bände in der heutigen Bamberger Reihe des Verlags (1957) nicht nur neue Einzeltitel tragen und einen gemeinsamen Untertitel, der sie – was noch einigermaßen sinnvoll ist – abtrennt vom abenteuerlichen "Silberlöwen I/II", sondern dort auch nicht unwesentlich bearbeitet sind – »behutsam revidiert«, heißt es euphemistisch in einer Vorbemerkung zu dieser Ausgabe, die für die For-


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schung [Forschung] aller Tauglichkeit entbehrt ("Die Schatten des Ahriman I/II": Band 28, "Im Reiche des silbernen Löwen", 562 S.; Band 29, "Das versteinerte Gebet", 571 S. – darin "Der Große Traum": S. 282–317).

   Durchaus brauchbar für die Textarbeit ist hingegen die Ausgabe von "Im Reiche des silbernen Löwen. Band 3/4" in der Reihe "Reiseerzählungen in Einzelausgaben" des Pawlak-Verlags Herrsching, die 1977 erschien (Band 22, 427 S.; Band 23, 430 S. – darin "Der Große Traum": S. 216-241).

   Gewicht und relative Eigenständigkeit des "Großen Traums" zeigt die Tatsache, daß dieser Text unter eben diesem Titel 1974 in einer May-Anthologie Aufnahme fand und ihr auch gleich den Namen gab (vgl. Anm. 3). Der Fehsenfeld-Text wurde dort lediglich orthographisch der heutigen Schreibweise angeglichen.


B. BISHERIGE WERTUNGEN

Das Problem der Leseraufnahme des "Silberlöwen III/IV" ist ein Problem der Lesererwartung. Das zeitgenössische Publikum, das sich abenteuerhungrig und gespannt durch die beiden ersten Bände der Tetralogie gelesen hatte, mußte zwangsläufig verstört bis ablehnend auf ein Werk reagieren, in dem die einstmals so aktive Identifikationsfigur über weite Strecken kränkelnd darniederliegt oder überlange tiefsinnige Gespräche über Gott und die Welt führt. Noch heute gelangen ja die wenigsten Leser wirklich "über die Grenze", bewältigen ohne Anfechtung von Langeweile den "Sprung über die Vergangenheit". Mays Enttäuschung über die unerwartete Reaktion auf sein "eigentliches Werk" muß groß gewesen sein, schließlich war er seinen früheren, naiven Lesern mit dem Aufgreifen alter Handlungsstränge und dem Beibehalten alter Muster genügend entgegengekommen, schließlich wurde sein ganzes didaktisch motiviertes Wollen sinnlos, wenn er kein großes Publikum mehr erreichte. Nicht weniger niederdrückend war es für den nun um literarische Anerkennung Bemühten, daß die kompetente literarische Kritik seinen "Silberlöwen" allenfalls am Rande wahrnahm, den Autor May von vornherein als Kolportageschriftsteller abtat – trotz aller Bemühungen der letzten Jahre geistern noch heute ähnliche Vorurteile durch Literaturkritik und -wissenschaft.

   Auch May sonst wohlgesonnene Kritiker wie Lorenz Krapp zeigten sich gegenüber dem "Silberlöwen" verständnislos: dem späteren Mitarbeiter des Karl-May-Verlags war »das mystische Dunkel vieler Partien aus dem "Reich des silbernen Löwen" geradezu körperlich peinlich«, und er gab »um die Gestalt Winnetous einige hundert jener Schemen und Traumgestalten aus den "Grotten des versteinerten Gebets"« und dem Autor den wohlgemeinten Rat: »Bilde, Künstler, rede nicht;


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schaffe Gestalten, nicht Schemen; gib Leben, nicht Klügelei und Traum!«(19) Das schroffe Urteil Krapps ist symptomatisch für die zeitgenössische Aufnahme, symptomatisch auch seine besondere Abwertung des "Großen Traums". Anders konnte es auch kaum sein, setzt doch gerade dieser Textteil dem Leserverständnis die größten Schwierigkeiten entgegen. Selbst Adolf Droop, neben Amand von Ozoróczy einer der ersten ernsthaften Exegeten des Mayschen Spätwerks und der erste, der Ansätze zu einer "Traum"-Interpretation wagte, sah sich in seiner Analyse der Reiseerzählungen (1909) genötigt, seine insgesamt sehr positive Einschätzung des "Traums" einzuschränken: »Der Traum stellt in mystisch-spiritistischer, aber doch gedankentiefer und ergreifender Weise das Ringen Mays um den Glauben dar.« »Dieses Bild, das "ein Menschenleben, ein Geistesleben, und aber doch das ganze Menschheitsleben" darstellen soll, ist mit dramatischer Kraft gezeichnet und mit reichen lyrischen Farben ausgemalt. Es wäre noch interessanter und würde noch wuchtiger wirken, wenn es nicht gar so . . . schattenhaft wäre . . . «(20) Ohne Einschränkung enthusiastisch werteten allein Max Dittrich und Heinrich Wagner in ihren Studien (1904 bzw. 1907) den "Großen Traum", doch bezeugt ihr Urteil wohl zuallererst Mays Selbstverständnis – deren Zier nicht eben Bescheidenheit war –, denn beide Schriften sind stark von ihm beeinflußt und wurden von ihm vor Drucklegung abgesegnet. Dittrichs und Wagners Wertungen haben gleichwohl mehr Anrecht auf Geltung als die allgemeiner verbreitete Ablehnung oder Ignoranz der Verstand- oder Verständnislosen. Dittrich schreibt: »Die Schilderung jener "Heut ist die Nacht des neuen Mondes"(21) ist ganz unbestreitbar etwas, was noch niemand je gelesen hat! . . . Diese und ähnliche Szenen sind nach meinem Empfinden geradezu ideal geschrieben und man darf sich also nicht wundern, wenn ihre Wirkung eine dementsprechende ist.«(22) Und Heinrich Wagner, ähnlich begeistert: »Als er [May] vor drei Jahren in dem vierbändigen Werke "Im Reiche des silbernen Löwen" erzählte, wie das "verzauberte Gebet" im Innern des Berges entdeckt wird und die verkalkten Geister früherer Jahrtausende hinaus in die helle Mondnacht schwimmen und dann empor zum christlichen Tempel steigen, da hat sich mancher Leser gesagt, daß so etwas Gewaltiges seit langer Zeit wohl nicht gedichtet worden sei.«(23) Herbe Kritik an der »Durchallegorisierung der Welt« im IV. Band des "Silberlöwen" übte dagegen 1918 Werner Mahrholz, bezog aber erstaunlicherweise gerade den "Großen Traum" nicht in seine Schelte mit ein: »Aber selbst innerhalb dieser etwas tollen Allegorik gibt es Ruhepunkte, in denen der Dichter bedeutende Gedanken in klare Allegorien zu hüllen weiß – als an ein Beispiel erinnern wir nur an den merkwürdigen Traum im vierten Bande von "Im Reiche des silbernen Löwen", worin in Strindbergs allegorisierender Art mit typischen Personen merkwürdige Seelengeschehnisse berichtet werden.«(24)


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   In der Zeit des Radebeuler Karl-May-Verlags geriet das Spätwerk Mays zunehmend in Vergessenheit; der Verlag selbst hatte wenig Interesse, die ungeliebten und also unprofitablen Bücher herauszustellen und damit das angezielte naive Stammpublikum zu verunsichern. Das 1916 im Band »Ich« veröffentlichte Kapitel "Der Schlüssel" von E. A. Schmid(25) blieb – von wenigen Ausnahmen in den "Karl-May-Jahrbüchern" abgesehen – jahrzehntelang der einzige Versuch einer interpretatorischen Erschließung des Spätwerks von dieser Seite, ein, wie anzuerkennen ist, interessanter und trotz seines allgemein gehaltenen Charakters auch heute noch wichtiger Text, zumal er sich zum Teil direkt auf mündliche Mitteilungen Mays stützt. Eine Wertung des "Traums" wurde aber vermieden. Eigentlich kennzeichnend für die Spätwerk-Rezeption in diesen Jahren ist die rigorose Ablehnung durch Otto Forst-Battaglia in der 1931 erschienenen Erstfassung seiner May-Biographie(26) sowie Otto Eickes verquere Theorie vom "Bruch im Bau" und seine abwegige Idee, den "Silberlöwen" der ersten beiden Bände in abenteuerlicher Manier fortzusetzen.(27)

   So blieb es dem später seines "Sitara"-Buches wegen mißverstandenen und vielgescholtenen Arno Schmidt vorbehalten, 1956 mit seinem Funkessay "Der vorletzte Großmystiker"(28) auf die literarische Bedeutsamkeit des "Silberlöwen" (und des anderen Großwerks "Ardistan und Dschinnistan") aufmerksam zu machen. Als »Auto- und Psychobiographie einziger Art« wertet Schmidt dort die beiden letzten Bände des "Silbernen Löwen" und den "Traum" als »höchst bedeutsam«.(29) Deutlicher noch heißt es in einem Aufsatz von 1961: »Diese beiden Bände sind . . . nur scheinbar ein "Reiseroman"; "im polarisierten Lichte gelesen" ist es vielmehr nichts als eine, wunderlich verlarvte, Selbstbiografie, mit schön-nomadischen und recht bedeutenden Einzelzügen. Und die Sprache ist, wie mit einem Zauberschlage, "angehoben"; zuweilen kann man, zehn Seiten hintereinanderweg, jambenwellende Prosa lesen; und Einlagen, wie die im IV. Bande, Seite 314 bis 352, vom "SPRUNG IN DIE VERGANGENHEIT", könnte jeder Schriftsteller (und die meisten gar gern!) in SEINEN Büchern sehen wollen.«(30) In "Sitara" schreibt Schmidt 1963: »Eine Sondererwähnung für sich verdient der Große Traum, IV 314–352; jedem Zögernden zur ersten Anregung empfohlen.«(31) Und er versucht eine Analyse, gewichtig wie irregehend, da allzusehr aufs Autobiographische fixiert.

   Seit Schmidt ist "Der Große Traum" "entdeckt" (nur leider gar nicht "aufgedeckt"); einige wenige wertende Stimmen können hier als Beispiele genügen: Hans Wollschläger, einzig legitimer literarischer Erbe Arno Schmidts, spricht vom »tiefsinnigen Höhlentraum des Effendi, wo es nicht nur ins Sou-Terrain der Lehrgebäude, sondern tief in die Untergeschosse des May'schen Bewußtseins hinabgeht«,(32) Heinz Stolte sieht den Passus als »kein in sich abgeschlossenes Erzählwerk, aber


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ein in sich gerundetes Einzelstück, an dem die aufbrechende Hintergründigkeit und das Hereinspielen allegorischer und symbolistischer Verfremdungen, auch das eigentümliche Umschlagen der Prosa in rhythmisierte Pseudo-Verse bemerkenswert erscheinen«,(33) Dorothea Rothenburg redet von einer »gigantischen Vision«,(34) Hartmut Wörner von einer »der besten, dichtesten Stellen, die May je geschrieben hat«,(35) und Christoph F. Lorenz meint, ehe er eine der wichtigsten Anregungen zur Interpretation liefert – wichtig, weil nicht einäugig biographisch wie die meisten sonstigen Deutungsansätze der neueren May-Forschung –, daß man dem "Großen Traum" »in seiner grandiosen Bilderfülle dringend eine eingehende Studie widmen müßte.«(36)

   Der Versuch ist gewagt.


C. ÜBERS TRÄUMEN

Mit gutem Grund wird Karl May in der Sekundärliteratur oft als "Traumschreiber" bezeichnet, sind dort Wortzusammensetzungen wie "Traumliteratur", "Traumwelt", "Traumraum" beliebt. Ist der Traum ohnehin schon als Quelle bildhafter Kreativität anzusehen – er zeigt seine Wirksamkeit entsprechend gerade in der bildenden Kunst –, so fällt bei May (Tag-)Träumen und Schreiben beinahe zusammen: unfähig zur Abstraktion, gerann bei ihm alles Geistige, alles Seelische zum Bild; wie beim Traum diente ihm sein Schreiben zur Wunscherfüllung, setzten sich latente Bedürfnisse nach Anerkennung, Liebe und Macht schreibend in manifeste Bilder um, geriet er mitunter – als hätte die Traumzensur versagt – in archaische Angstträume hinein. So unbewußt dieser Vorgang auch ablief, scheint May doch eine Ahnung davon gehabt zu haben, wie schon dem Eingangszitat abzulesen ist, wo May nicht nur die Tagesreste als traumauslösend beschreibt, sondern auch auffallend die Empfindung der Wachheit betont und die Lebhaftigkeit und Deutlichkeit des Erlebens – ein Phänomen, das nicht dem Schlaftraum entspricht, aber natürlich dem tagträumenden Schreiben. Dieser Hinweis Mays kann als Indiz dafür gelten, daß der "Große Traum" keineswegs – wie man naiv vermuten könnte – tatsächlich schlafgeträumtes Erleben spiegelt (mithin auch nicht nach C. G. Jung zu den "großen Träumen" gehört), sondern erst in tagträumendem Bewußtsein konstruiert wurde. Dafür spricht auch die ganze Erzählhaltung des Textes: zwar hat er, wie Sibylle Becker bemerkt, »im Verhältnis zur übrigen Fiktionsebene irrealen Charakter« und führt »in eine ganz selbständige Szenerie«, doch wird sie »dem Leser so vermittelt . . . , daß er sie als reale Handlung erlebt, wodurch die Aussagen ein größeres Gewicht erhalten, als es bei einem Traum sonst der Fall wäre.«(37) Vor allem entbehrt die Fabel des "Traums", wie die Analyse zeigen wird, bei


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allen strukturell bedingten Widersprüchen und gelegentlichen Wirksamkeiten des Unbewußten durchaus der typischen, durch die zensierende Traumarbeit entstehenden Wirrnis, Unverständlichkeit und scheinbaren Zusammenhanglosigkeit von Schlafträumen. Dennoch mag der "Traum" nicht nur am Schreibtisch geboren sein: die archaischen Bilder – unterirdische Wasserbecken, Felsengewölbe, Finsternis, Skelette usw. – gehören dem kollektiven Unterbewußten an, und das nächtliche Erträumen dieser Archetypen könnte für May Anlaß gewesen sein, sie in eine symbolisch-allegorische Handlung hineinzuspinnen. Mays Behauptung: Was mich betrifft, so lasse ich keinen meiner Träume ohne den Versuch, ihn festzuhalten, vorüberziehen,(38) ist ja durchaus glaubhaft, und so könnte es im Juni 1903 wirklich einen Morgen in der Villa "Shatterhand" gegeben haben wie den im Anschluß an den "Traum" beschriebenen: »Geträumt, geträumt! . . . Und aber wie geträumt! . . . Ich werde es mir rekapitulieren. Dann setze ich mich her, es zu Papier zu bringen. Man kann nicht wissen, ob –––– . . . « Infolge dieser Arbeit war es ziemlich spät, als ich mein Frühstück nahm. Dann ging ich hinab, um zunächst mit Schakara [Klara!] zu sprechen. Sie saß in der Halle, ganz allein, sich einen Schleier säumend. (352)(39) Dieser mögliche auslösende Hintergrund berührt aber allenfalls am Rande die Feststellung, daß der "Große Traum" nicht Dokument psychischen Nachtwandelns ist, sondern ein mit großer Bewußtheit durchformtes artifizielles Stück symbolisch-allegorischer Prosa. Bewußt stellt May sich mit seinem Text in die alte Tradition der – meist allegorischen – Traumdichtungen aus Altertum, Bibel und Mittelalter, die im Traum einen Schlüssel zu Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit sahen, eine Verbindung zu höheren Wirklichkeiten, zum Göttlichen. Für May besaß der (nicht-profane) Traum als Fingerzeig Gottes größere Wahrheit als die Wirklichkeit, eröffnete sowohl das Wissen um die Menschheitsgeschichte wie den Blick in die (erhoffte) Zukunft – und da es ihm im Spätwerk um die göttliche Wahrheit zu tun war, ist es nur schlüssig, daß sich Traumschilderungen dort häufen. Zwar finden sich auch in den früheren Reiseerzählungen Träume, doch sind dies oft Alpträume, momentanen Krisen entwachsen, oder auch Träume, die lediglich erzähltechnische Funktion haben (indem sie etwa den Protagonisten vor einer akuten Gefahr warnen).(40) Soweit diese Träume – wie im Spätwerk fast immer – zukünftiges Geschehen phantasierend vorwegnehmen, sind sie auch Belege für Mays zwar zweifelnden, aber untergründig doch bis zuletzt bestehenden Hang zum Spiritismus. Nicht zufällig spielen Träume gerade im "spiritistischsten" seiner Bücher, in "Am Jenseits" (1899), eine besondere Rolle; dort gibt May auch eine interessante Unterscheidung: »Es giebt Träume, welche einfach nur die Fortsetzung der letzten Gedanken sind, mit denen man sich vor dem wirklichen Einschlafen beschäftigt; diese haben nichts zu


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bedeuten. Und es giebt noch andere, welche eingegeben worden sind.«(41) Zu diesen anderen, im "Silberlöwen IV" "Wahrheitsträume" genannt (vgl. 352), gehört auch der "Große Traum", als eigenartigste all dieser spiritistisch angehauchten Visionen, dieser "Gesichte". Ihn deswegen als Zeugnis Mayschen Aberglaubens zu nehmen, wäre allerdings verfehlt: mit Geisterhumbug hat Mays Spiritismus wenig gemein, er erklärt sich aus seiner christlichen Überzeugung, daß der väterliche Gott das Weltgeschehen lenkt, um jedes seiner Kinder weiß und im Traum die Verbindung zu ihnen findet, um ihnen den rechten Weg zu weisen.(42) Ausgehend von der Erfahrung fehlenden Körperbewußtseins im Tiefschlaf, folgert May, daß die seiner Ansicht nach gottgeschenkte und daher notwendig gute Seele während des Schlafes dem Gefängnis des menschlichen Körpers entflieht und zu Gott heimkehrt, um für den morgenden Tag neue Aufgaben und neue Kräfte zu empfangen.(43) Indem May also seine philosophisch-religiösen Ansichten in die Form des Traumes kleidete, verlieh er ihnen aus seiner Sicht göttliche Autorität unbedingten Wahrheitscharakter, und entzog sie menschlicher Gegenargumentation, ein natürlich sehr irrealer und verstiegener Gedanke. Andere – weitere – Gründe für Mays Entscheidung, einen langen Traumpassus in seinen persischen Roman einzubauen, sind eher mit Händen zu greifen: das Genre bietet – ähnlich wie das verwandte Märchen – erzählerische Möglichkeiten, die im vordergründig realistischen Handlungsgeschehen nicht oder doch nur unglaubhaft zu verwirklichen wären. Der "Silberlöwe" leidet ja nicht zuletzt deswegen anders als die späteren Großromane "Ardistan und Dschinnistan" und "Winnetou IV" (1910) – unter einer manchmal auch den Einsichtigen ermüdenden Handlungsarmut, weil es May hier noch nicht im späteren Umfang gelang, seine Weltanschauung in eine symbolisch-allegorische Fabel umzusetzen, in den Mythos von Ardistan und Dschinnistan zu binden, in dem menschliche Entwicklung (von Ardistan nach Dschinnistan) und Reisebewegung (z. B. von Trinidad zum Mount Winnetou) zusammenfallen. Statt dessen tritt der "Silberlöwe" im Tal der Dschamikun auf der Stelle, stellt May seine Ansichten statisch in überlangen Gesprächen und Reflexionen vor, offenbar aus Scheu, die Wahrscheinlichkeit der Handlungsebene zu verletzen. Interessanterweise ändert sich dies nach dem "Großen Traum": Schilderungen wie die Begegnung Ahriman Mirzas mit seinem "Chodem" (= "ich selbst", Doppelgänger), die Aussetzung des Aschyk oder gar der furiose, wenn auch (aus Umfangsgründen) allzu abgekürzte Schluß setzen sich selbstbewußt über realistische Grenzen hinweg. Es scheint also, daß auch May während des Schreibens das allzu Karge seines Romans aufgefallen war und er nun – angeregt vielleicht durch Motive eines selbsterlebten Traums, vielleicht auch durch die Bildwelt Sascha Schneiders – auf  d i e  Genres auswich, Traum und Märchen, die der symbolischen Phan-


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tastik [Phantastik] offen sind, und daß der so geweckte Mut zur Phantastik auch späterhin auf der grundlegenden Fiktionsebene nicht verlorenging. Hinzu kommt noch, daß der Traum, auch hier dem Märchen verwandt, im Zeitlichen nicht gebunden ist,(44) und daher die Darstellung Jahrtausende übergreifender Menschheitsprobleme erlaubt, deren Lösungen ebenso in keiner Zeitlichkeit zu fixieren sind. Durch solche Grenzenlosigkeit war es May möglich, wesentliches Gedankengut, das sonst nur metaphorisch indirekt in Dialogen oder Reflexionen erscheint, in kühnen Bildern zu verlebendigen und in einer Fabel so auf den dramatischen Kern zu bringen, daß diese – ähnlich wie später "Das Märchen von Sitara" – als Folie zum Verständnis des Gesamtromans dienen könnte.


D. WERKANALYSE

I. Struktur

1. Innere Struktur

Über das erstaunliche Phänomen der inneren Polyphonie des Mayschen Alterswerks ist schon viel geschrieben worden, so daß wir uns hier kurz fassen können. Um verschiedenste, teils bewußte, teils unbewußte Intentionen zu verwirklichen, fand May zu einer Technik der Synchronisation mehrerer Leseebenen: »nicht nur die Handlungsebenen werden dauernd eng verschränkt, auch die Figuren verwandeln sich, zerlegen sich in verschiedenste Modelle, um diese sogleich wieder zusammenzuraffen, oft auf kleinstem Raum, so daß, aus einigem Abstand besehen, der Eindruck förmlich eines vierdimensionalen Gebildes sich gewinnen läßt«.(45) Neben der vordergründigen Handlungsebene, die weiterhin Manier und Stoffe der früheren Reiseerzählungen transportiert – eine Konzession an den naiven Leser –, kann man eine autobiographische und eine symbolisch-allegorische Ebene ausmachen. Auf letzterer vermittelt May – in der irrigen Ansicht, sie so anschaulich machen zu können – verschlüsselt seine Botschaft, seine philosophisch-religiösen Überzeugungen: hier hat sich inzwischen der Terminus "Philosophisch-religiöse Ebene" eingebürgert. Die autobiographische Ebene läßt sich ein weiteres Mal unterteilen, in drei Schichten: in eine (nahezu) unverstellte bewußte Darstellung von Teilen seiner Biographie (siehe etwa einige Passagen des langen Nachtgesprächs zwischen Kara Ben Nemsi und dem Ustad zu Beginn von "Silberlöwe IV"); in eine Schicht der bewußten Verschlüsselung von Ereignissen aus dem zeitlichen Umfeld der Niederschrift (hierhin gehören zum Beispiel im "Silberlöwen" die Verschlüsselungen der Ehescheidung oder


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der Auseinandersetzungen mit Feinden und Gegnern); in eine Schicht zum Teil unbewußt gestalteter Spiegelungen seiner Gesamtbiographie (vorrangig Versuche der Schuldbewältigung und Rechtfertigung). Alle drei biographischen Schichten hängen so eng miteinander zusammen, daß ihre Isolierung sich für das Textverständnis des "Großen Traums" erübrigt – ohnehin sind sie dort nur von sekundärer Bedeutung. Auch die zwei Hauptebenen sind engstens miteinander verschränkt, lösen sich nicht nur ab, sondern fallen oft auch in eins zusammen, so daß Fabelteile, Figuren, Bilder Mehrfachbedeutungen erhalten – was eine Interpretation natürlich ungemein erschwert. Die Analyse kann nicht umhin, diese Ebenen in gewisser Willkürlichkeit zu trennen, um zu gültigen Deutungen zu kommen.

   Selbstverständlich ist, daß man dem "Silberlöwen" (und dem ganzen Spätwerk) nur dann gerecht werden kann, wenn man sowohl seinen autobiographischen als auch seinen philosophisch-religiösen Gehalt erschließt. Der bisherigen May-Forschung kann leider der Vorwurf von Einseitigkeiten nicht erspart werden. Während frühe Exegeten wie Droop oder E. A. Schmid dazu neigten, die autobiographische Dimension beiseitezuschieben und die weltanschauliche zu betonen (wohl, um nicht auf unangenehme Wahrheiten zu stoßen), vernachlässigt Hans Wollschläger die Ebene des »psychodramatischen Mysterienspiels«(46) – nicht zuletzt wohl, weil sein eigenes Weltdenken zu den Ansichten Mays in vielem konträr steht – und nähert sich dem "Silberlöwen" allein aus psychologisch-biographischer Richtung, verkennend, daß er dadurch den Anschein weckt, es handele sich in erster Linie um einen Schlüsselroman und einen psychoanalytischen Musterfall. Er reduziert so den literarischen Wert des Romans, jedenfalls für solche Leser, deren Interesse nicht zuerst der Biographie des Dichters gilt.

   Wenn nun auch in der vorliegenden Untersuchung die Ebenen nicht gleichwertig behandelt werden, liegt dies am besonderen Fall des "Großen Traums".

2. Äußere Struktur

Arno Schmidt gliedert den "Großen Traum" äußerlich in drei Teile,(47) und wir wollen ihm hierin der Übersichtlichkeit halber folgen,(48) obgleich sich auch die Möglichkeit einer Zweiteilung, nämlich nach den Protagonisten (Ustad – Kara Ben Nemsi) anbietet, und natürlich auch noch weitere, weniger grobe Strukturierungen denkbar sind. Die Dreiteilung ergibt sich durch die drei Kontrahenten (-gruppen), mit denen sich das träumende Ich (Ustad/Kara Ben Nemsi) auseinanderzusetzen hat. Im ersten Teil (314–322) bewährt sich der Ustad im Kampf mit seinem Schatten, im zweiten Teil (322–328), in dem sich der Ustad zu Kara Ben Nemsi wandelt, kommt es zu einem zweiten, aber andern Kampf


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(323) mit dem Herrn der Schatten, dem "Zauberer", und im dritten, längsten und »am schwierigsten entzifferbare(n)«(49) Teil, der durch den Sprung in den Abgrund deutlich vom vorangegangenen getrennt ist (328–352), kommt es zum geistig-seelischen Disput mit den Skeletten und – hier könnte man leicht eine weitere Zäsur setzen – zur Erlösung dieser "verkalkten Geister".

   Im folgenden wird den drei Etappen des Träumers im einzelnen nachgegangen, wobei jeweils zunächst die philosophisch-religiöse Ebene erschlossen wird, da sie es ist, die dem Inhalt des "Großen Traums" das durchdachte Gerüst gibt. (Im Gesamtroman verhält es sich oft umgekehrt.) Das Autobiographische wird erst im jeweiligen Anschluß thematisiert, es ist nur bruchstückhaft und assoziativ, mitunter auch nur unbewußt in die Fabel eingebaut. Der "Große Traum" ist zuallererst als Parabel zu begreifen, in der sich Mays Denken anschaulich kristallisiert.


II. Deutung

1. Der Schatten

Philosophisch-religiöse Ebene

Es gehört zu den Eigenheiten des Spätwerks, daß May dort die Teilphänomene des Menschseins – Körper, Anima, Seele, Geist – personifiziert und miteinander agieren läßt, wobei es sich auf der autobiographischen Ebene um Phänomene des Menschen May, auf der philosophisch-religiösen Ebene um solche des Menschen schlechthin handelt. Im "Silberlöwen" – aber auch sonst meist – treten diese Personifikationen verdoppelt auf, geschieden durch den Dualismus von Gut und Böse, der hier – angelehnt an die im Avesta niedergelegte Lehre Zarathustras – durch den Konflikt zwischen dem Reich des Lichts und dem Reich der Finsternis symbolisiert wird. Von den Ebenen ganz abgesehen (auf der autobiographischen Ebene stehen die meisten Figuren noch für reale Personen aus Mays Leben), wird das Personenverständnis dadurch erschwert, daß auf der Licht-Seite zwei Konfigurationen des Guten auftreten, die für unterschiedliche Entwicklungsstufen des (strebenden) Menschen stehen. Während sich das Menschenbild des Bösen relativ einfach aufspaltet in den bösen Geist Ahriman Mirza der sich mit dem Scheik ul Islam, dem Geist der frömmelnden Heuchelei, verbunden hat –, in die lasterhafte Seele Gul-i-Schiras und den henkenden Körper Ghulam el Multasim, repräsentiert – jedenfalls vom Grundgedanken her – Kara Ben Nemsi als Geist zusammen mit seiner "Animaseele" Hanneh und seinem Körper/seiner Anima Halef den werdenden und der Ustad als geläuterter Geist mit seiner gottge-


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sandten [gottgesandten] "Geistesseele"(50) Schakara und seinem vom Animahaften weitgehend freien Körper, dem Pedehr, den gewordenen Edelmenschen.(51) Diese Gleichungen sind aber einzuschränken, da ihre Gültigkeit sich nicht über den ganzen Roman erstreckt. Die biographischen Bedrängnisse zur Zeit der Niederschrift zwangen May zur literarischen Bewältigung, bei der dieses anfängliche Figurenkonzept nicht unberührt blieb. So läßt sich die hier nicht einpaßbare Hinwendung Schakaras zum Ich dadurch erklären, daß sie im Romanverlauf zur Spiegelung Klara Plöhns geworden ist, und das animahafte Fehlverhalten des Pedehr ("Da' wa 'l Ihana", 189f. ) ist durch seine Funktion als Fehsenfeld-Spiegelung verständlich. Am überraschendsten ist die Wandlung im Verhältnis zwischen Kara Ben Nemsi und dem Ustad, deutlich ablesbar dem großen Nachtgespräch zu Beginn des IV. Bandes. Die bisherige erzväterliche Idealgestalt des Ustad wird dort zum fehlerbehafteten, zweifelnden und um Selbsterkenntnis ringenden Abbild des Karl May der Niederschrift, während der bislang siechende und suchende Kara Ben Nemsi über sich hinauswachsend zum Prinzip wird, zum Gewissen und zur Menschheitsfrage. Dieser Rollentausch – der erst gegen Schluß des "Silberlöwen" etwas zurückgenommen wird – ist inkonsequent und destruiert das ursprüngliche Konzept, ist aber einleuchtend erklärbar: aufgestört von den Angriffen, in seinem bisherigen Sein verunsichert und zur innerlichen Konfrontation mit der trüben Vergangenheit gezwungen, suchte May sich durch eine literarische Beichte zu erlösen, eine Beichte vor sich selbst, vor der Öffentlichkeit und vor Gott. Da die Identität des Autors im III. Band am weitesten vom Ich, von Kara Ben Nemsi, abgedeckt wird, hätte dieser auch die Beichte ablegen müssen, und tatsächlich hat May zunächst versucht, das Ich ein Geständnis sprechen zu lassen, eine psychologisch äußerst interessante Szene, die hier nur kürzest aufgegriffen werden kann. Sie findet sich am Schluß des III. Bandes, also kurz vor dem Nachtgespräch, von dem es aber bezeichnenderweise durch mehrere Monate Schreibpause getrennt ist. Da wird der Pedehr, der "Vater" der Dschamikun, zu Mays eigenem Vater und Kara Ben Nemsi zu seinem schuldbeladenen, um Verzeihung bittenden Sohn. »Ehrlich« und »offen« will May hier »in einem (seiner) Bücher« beichten, aber er wagt sich nicht über Andeutungen hinaus, abstrahiert ins Allgemein-Menschliche, spricht nur vage von »Trotz und Unbedachtsamkeit«, von seinem Eigensinn, dem »Forschen nach Bestätigung«, von Kämpfen und Niederlagen, »von seinen Fehlern«, von der Pflicht, »nachzusühnen«. Denn der Satz des Pedehr, von Kara Ben Nemsi leichthin begegnet, wiegt schwer für den angefochtenen May selbst: »Diese deine Menschheit wird dir gern verzeihen; aber alle, alle, die ihr Ganzes bilden, werden einzeln vortreten, um dich zu verdammen!«(52) Im Wissen, daß jeder seiner Leser ihn mit dem Ich Kara Ben Nemsi identifizierte, blieb May in der Furcht vor dieser Ver-


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dammung [Verdammung] nur, die Beichte auf das geheime Ich, den Ustad, zu delegieren. So wird der Ustad zum vielverfolgten, ausgestoßenen Karl May, Kara Ben Nemsi zur Menschheitsfrage . . . , welche die Aufgabe hat, den Menschheitsrätseln nachzugehen, um sie zu ergründen.(53) Unter dem Aspekt der Beichte ist das Nachtgespräch der autobiographisch wichtigste Textpassus des "Silberlöwen", und man müßte diesem verschleierten Vorläufer der Lebensbeichte von 1910 dringend eine eingehende Studie widmen.

   Für uns ist die Umkehrung der Charaktere von zentraler Bedeutung, weil sie auch noch im "Großen Traum" gültig ist, wo die Handlung erst vom Ustad, dann von Kara Ben Nemsi getragen wird. Konsequent schwächt dort der autobiographische Gehalt nach der Wandlung ab; er ist aber auch zuvor nicht bestimmend. Zur Aufhellung des ersten "Traum"-Teils:

   Nicht als »Beherrscher der Geisterwelt« also,(54) sondern als Wahrheitssucher und nach Selbsterkenntnis Strebender kommt der Ustad in das Land der Dschamikun und sieht den in Jahrtausenden gewachsenen Ruinentempel am Berge liegen (314). Dieser "Traum"-Einstieg greift zurück auf den kurzen Bericht des Ustad von seiner realen Ankunft im Tal – der "Traum" beginnt also vordergründig in unbestimmter Vergangenheit (und wächst von hier aus in die Utopie) –, als auch die Dschamikun noch in der Gewalt Ahrimans, des Schattenfürsten, standen, als das Tal noch Geisteswüste war, »ein flaches, ödes, wüstes Schemenland! Der Stumpfsinn kroch im tiefen Bodenstaube. Der Groll schlich zähneknirschend nachts umher. Der arbeitsscheue Müßiggang schlug frömmelnd sich die Brust und schnappte gierig nach der Dummheit Brocken. Stumm lag der ausgenutzte Fleiß in dürrem Sande.« (143f.) Das Tal ist als Erdental, als Jammertal zu verstehen,(55) meint unsere gegenwärtige Welt, die Dschamikun (die damaligen) sind ihre vom Bösen überschatteten Menschen. In diesem Tal sind über die Jahrtausende hin Tempelbauten übereinandergetürmt worden, philosophisch-religiöse Gedankengebäude, ein steinernes Kalenderwerk von Anbeginn bis auf die Gegenwart, mit Raum auch noch für die zukünftige Zeit.(56) Jede Religion hat behauptet (oder behauptet noch), im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit zu sein, und doch hat jede nur auf der vorangegangenen gebaut, die sie zugleich verwarf.(57) Der Ustad, der als Fremder, mit einer Schuld aus der Vergangenheit,(58) in diese Welt tritt – es liegt nah, hierin philosophisch-religiös seine erbsündebeladene Geburt zu sehen – und noch geistig Mündel (350) ist, will auf der Suche nach der ihn und die Menschheit erlösenden Wahrheit (er selbst sieht sich als wahrhaftiger und ehrlicher Mensch, 321) das Innere der Religionen ergründen, will prüfen, was sich hinter ihren Äußerlichkeiten, ihren Fassaden verbirgt, ob ihre Verheißungen Lüge oder Wahrheit sind.


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   Am Eingang zu den Lehrgebäuden steht ein Türhüter – eine Situation, die zwanglos an eine berühmtere Parabel erinnert und den "Märchen aus 1001 Nacht" entlehnt scheint –, der "Warnende", der sich zum Ende als "anderes Ich" des "Zauberers" erweist (vgl. 350). Er ist kein Mensch (»Ich bin kein Dschamiki«), sondern »der Geist, der jeden Nahenden vor der Versuchung warnt, den kühnen Schritt in diesen Bau zu lenken.« (314) Die Deutung dieses "Warnenden" ist unsicher, da Mays Hinweise allzu spärlich sind. Er bezeichnet ihn als Vormund für den, der geistig Mündel ist – wie eben hier der Ustad –, nennt seine freundlich ernsten Züge und seinen weichen, väterlichen Blick (350). An dieser Stelle mag uns genügen, in diesem väterlichen Über-Ich das "andere Ich" des "Zauberers", des Vertreters von Irrtum und Lüge, zu sehen, das zu umschreiben ist mit Begriffen wie "Wahrheit" oder "Erkenntnis". Da der "Zauberer" auch mit dem gefallenen Engel Luzifer zu identifizieren ist, läßt sich im "Warnenden" konkreter noch der Schutzengel sehen, der jedem Menschen beigegeben ist.(59) "Warnender" (Wahrheit/ Engel) und "Zauberer" (Lüge/Teufel) sind  e i n  Beispiel für die vielen Doppelgesichtigkeiten des Romans, für seinen allgegenwärtigen ethischen Dualismus. Bei der Wandlung des "Zauberers" werden wir auf den "Warnenden" zurückkommen, hier sei nur gesagt, daß die Autorität dieser warnenden Wahrheit/dieses Engels gering ist – der "Warnende" hat »nur zu warnen, nicht zu zwingen« (314f.), er kann den Ustad nicht hindern, den Ruinenbau zu betreten –, weil es keine selbsterkämpfte, über den Irrtum erstrittene Wahrheit ist, keine erfahrene Erkenntnis, keine Selbsterkenntnis. Der Mensch, der sich zur Wahrheit durchringen will, darf sich nicht geistig bevormunden lassen und muß, ungeachtet aller geistigen Risiken, den kühnen Schritt ins Ungewisse wagen. Der wahrsprechende "Warnende" weiß um die unselige Beschaffenheit der bisherigen und gegenwärtigen Geistesgebäude: in ihnen haust kein geistiges Leben; sondern sie sind bevölkert von den Schatten, geistig nichtigen Chimären des Bösen, die das wahre Sein, die wahren Gedanken nur vortäuschen, indem sie sie nachahmen – aber in schattenschwarzer, also böser Verkehrung. Dies Fälschen dient der materiellen Bereicherung, und es besteht kein Zweifel, daß Mays Kritik hier zuerst der christlichen Gegenwartskirche gilt, doch darüber hinaus aufs Prinzipielle zielt. Auch hierauf wird an gegebener Stelle näher einzugehen sein. Ein Mensch mit schwachem Geist, ohne autarken Willen, läßt sich von der schattenhaften Nichtigkeit täuschen und wird selbst zum Schatten-Nichts: »Wer ihn [den Bau] betritt, der hat für alle Ewigkeit auf sich, auf Leib und Geist und Seele zu verzichten.« (314) Diese dem Irrtum/der Lüge Verfallenen, Geistesschwachen, werden selbst zu geistigen Verderbern, die »vampyrgleich der Menschen Blut . . . saugen.« (315)

   Aber auch die starken Geister sind verloren, weil sie in ihrem – zu-


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meist [zumeist] atheistischen – Eigendünkel unfähig sind, die göttliche Wahrheit hinter dem kirchlich-religiösen Irrtum zu suchen; unfähig zur erlösenden Liebe und Verzeihung, ersterben, verkalken sie. Während aber ein Schatten in seiner Nichtigkeit unrettbar verloren ist, bleibt ihnen die Möglichkeit der Erlösung, da es einen endgültigen Tod für May nicht gibt. Der Ustad, obgleich noch "geistig Mündel", fühlt sich wirkliche Persönlichkeit genug, um den Kampf mit der mächtige(n) Persönlichkeit aufzunehmen, »die Jeden, der ihr dunkles Reich betritt, zum Schatten macht, verzaubert oder tötet« (314). Das Selbstvertrauen wird ihm durch das Bewußtsein gegeben, als geistige Potenz nicht zum Schatten werden zu können; sein Gottesglaube sagt ihm, daß er den Tod nicht zu fürchten hat, da er nichts ist als eine Lüge des "Zauberers" (»Was Zauber heißt, ist Lüge. Nur wer die Lüge glaubt, ist ihr verfallen«, 315), mit der dieser die Geister zwingend überreden will, zu seinen Schatten zu werden. Der eigentliche Schutz vor der Macht des Irrtums und vor dem geistigen Tod aber liegt im rettenden Gebet, in der direkten Hinwendung zu Gott, und so fragt der "Warnende", besorgt und doch voll Hoffnung (350): »Kannst du beten?« (315) Als der Ustad dies bejaht, wagt es der "Warnende", dem Erste(n), dem Einzige(n) einen Wink zu geben, kann er doch hoffen, der Ustad könne sich betend bewahren/bewähren und vage mag im "Warnenden" der Gedanke sein, dieser wäre fähig, den Menschen das "Verzauberte Gebet", die zur Lüge gewordene Gottesbindung, zurückzugeben. Der Rat allerdings ist einigermaßen müßig, sagt er doch nichts anderes als die Selbstverständlichkeit, daß der Geist sich nicht von der Lüge verführen lassen, sondern nur sich selbst trauen soll: »Such dir den Rückweg selbst; laß ihn dir ja nicht zeigen!« (315)

   Der Weg, den der Ustad nun durch die Ruinenbauten hinaufschreitet, ist nachvollziehend der geistige Weg der Menschheit in ihrem Verhältnis zu Gott. Zunächst gelangt er in jenen Urzeitbau, der auf dem festen Felsengrunde steht, dessen Maueröffnungen ein falbes Dämmerlicht (315) geben. Er steht für die früheste aller Religionen, die noch direkt auf die Begegnung mit Gott fußen konnte, deren Fundament nicht Glaube, sondern Wissen (fester Felsengrund) war. Aus dieser Urzeit stammt die "Sage von Chodeh [= Gott], dem Eingemauerten", die zusammen mit der ganz dasselbe meinen(den) (644) "Sage vom verzauberten Gebet" den Hintergrund des Geschehens im "Großen Traum" bildet. Nach dieser Sage herrschte anfangs Menschheitsfrieden, »die Eifersucht auf Gott und auf die Seligkeit« war den Menschen unbekannt, Gott »saß so gern bei ihnen, licht und hehr, im offnen Alabasterberg, sich seiner Sonne freuend« (= Paradies, Garten Eden) – bis es dem Teufel einfiel, den Neid der Hölle zu verbreiten und Wahrheit in Schein umzukehren (= Paradiesschlange, Kain und Abel). Um Gott allein für sich zu haben, verfielen die Menschen darauf, ihn einzumauern, schu-


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fen [schufen] Kirchen/ d i e  Kirche – Mays Kritik gilt hier ganz allgemein der Idee, man könne Gott in Gotteshäuser und in menschliche Systeme zwingen –, verloren ihn aber durch eben diese Eifersucht: »Da neigte er das Haupt und ging betrübt von dannen. Er sprach den Segen nicht, sprach überhaupt kein Wort.« (213) An die Stelle Gottes, der die Liebe und die Wahrheit ist, trat der verführende Teufel, die Lüge, gab vor, Gott zu sein und ließ sich in der Alabasternische des Berges scheinbar einmauern, entkam aber als »dunkler Flederhäuter . . . aus der letzten Oeffnung und flatterte in das Verschwundensein.« (214) Das Gute also wurde durch das Böse verdrängt, durch die Riesenquader töricht das Licht in eigendünkelhafte Finsternis verwandelt. Dabei ist für später festzuhalten, daß Licht sich (auch physikalisch) nicht wirklich verdrängen läßt, sondern in der Finsternis latent vorhanden bleibt: die Finsternis kann sich wieder in Licht zurückverwandeln. Dies Märchen vom eingemauerten Herrgott(60) wurde dem Geist (Kara Ben Nemsi) von seiner Seele (Schakara) eingegeben. Sie  a h n t  auch (nur der Geist  w e i ß ), daß die Alabastergrotte, obwohl »weder Gott noch Teufel eingemauert« wurde, nicht leer sein kann, ahnt die Latenz des Lichts: »Wo Gott von dem Teufel verdrängt wurde, da kann das Resultat doch wohl in keinem Nichts bestehen.« (217) Und der Geist ergänzt: »Wenn der Teufel Schein auf Schein getürmt hat [Hinweis, daß auch die späteren Bauten Teufelswerk sind], so liegt hinter diesem Scheine sicher etwas Wahres verborgen. Was das ist, das können wir nicht wissen. Gelänge es aber, den Berg zu finden und die Grotte zu öffnen, so würde es sich zeigen.« (218) Das Wahre wird sich zuerst visionär im "Großen Traum" offenbaren, auf der Realebene erst am Schluß des Romans, wenn der Ruinentempel zusammenbricht und das "Verzauberte Gebet" freigibt.

   Der Ustad entdeckt, daß der Innenraum des Urzeitbaus völlig leer ist, vollständig ausgeraubt, wie man zum Beispiel hier und da mit gottesdienstlichen und philosophischen Systemen tat. Da werden die Gedanken fortgeschleppt wie Möbelgegenstände, die man, gehörig ausgeklopft und wieder neu poliert, in eine neue Wohnung stellt und auch als neu bezeichnet! (315f.) Das Bild bedarf kaum eines Kommentars: die religiösen und philosophischen Ideen der Ursprungsreligion wurden von der ihr nachfolgenden zwar nach außen hin verdammt, in Wahrheit aber übernommen und den eignen Zwecke(n) dienstbar (gemacht) (316). Diese eigennützige Fälschung von Gedanken, die ursprünglich einmal richtig waren, ist der einzige Weg, der geistigen Nichtsen bleibt, um sich scheinbar geistige Autorität zu schaffen: Schatten waren es, die die Urreligion ausraubten und ihre Gedanken verfälschten, und wie der Ustad bald sieht, sind sie über alle Religionen, über alle Zeiten hin bis in die Gegenwart in dieser Weise betriebsam gewesen und sind es noch. Geboren wurden die Schatten, als die Menschheit sich vom Teufel verführen ließ und in ihrem Sonderstolz (215) wähnte, Gott einmauern zu


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können – Schatten sind ja Geschöpfe der Finsternis; geboren wurde mit ihnen auch der Abgrund, die Todes-Lüge, ihre Erfindung, um die Menschengeister zum Schattendasein zu zwingen: nach Süden zu war der Urzeitbau einst offen, dort war der Ort des Sturzes in das Wasser (316), wo die Schatten all die, welche sich nicht fügten, in den (nur scheinbar endgültigen) Tod stießen. Die nachfolgende Religion – begründet von den schwachen Geistern, die den "Vampyren" der ersten zum Opfer fielen und selbst zu Schatten wurden – hat diesen Ort zwar zugeschüttet, aber doch den Gedanken des Todes weitergeschleppt. So findet der weitersteigende Ustad im zweiten Bau, dem der erste als Fundament dient und der ihn von außen an Altiranisches, an Zarathustra mahnte, der also wohl den Parsismus meint, nicht nur erneut völlige Leere vor, sondern auch einen gleichen Schluß nach Süden, von der wiederum nächsten Religion vermauert. Zugleich stellt er fest: Kein Mensch, kein andres Wesen ließ sich sehen. (316) Ebenso wie die Urreligion, hat sich der Parsismus (jedenfalls in Persien) überlebt, hat keine Anhänger mehr.(61) Anders verhält es sich mit dem nächsthöheren Bau, dem doppelte(n) Geschoß mit den zersprungenen Tafeln, das für das Judentum steht. Der Mosaismus ist  n i c h t  ganz ausgeraubt, Spuren verraten, daß Menschen hier zuweilen noch (verkehren), und der letzte Raum nach Süden (ist) verschüttet, doch nicht bis an die Decke. Das Judentum ist noch aktuell, wenn auch lang nicht wie in biblischen Zeiten, und folglich regen sich in ihm auch noch die Schatten; soweit der jüdische Glaube Lüge, Irrtum ist, lauert in ihm für Fremde, die hier die Wahrheit, die hier einen Ausgang (suchen), die Gefahr, denn jenseits (geht) der Sturz jäh ins Bassin hinab. (316) Während auf der Realebene des Romans die verbrecherischen "Sillan" (Schatten) im Doppelgeschoß ihr Unwesen treiben (genauer, im "Allerheiligsten"), sieht der wahrheitssuchende Ustad im "Traum" dort erstmals den Herrn der Schatten, den "Zauberer", der darauf lauert, daß ein Andrer stürzt (317), beachtet ihn aber nicht. Die Beschreibung signalisiert das Alter (aus der Urzeit) und die teuflische Bosheit der Lüge/des Irrtums: Das Haar war weiß wie Schnee, der Blick spitz wie die Klinge eines Dolches. (316f.)

   Zum Konflikt zwischen dem Ustad und den Schatten wie mit ihrem Fürsten kommt es erst in den Bezirken der nächsten Etage, in den Gewölben des vielgestaltigen Obergeschosses, das die gegenwärtige Sektenvielfalt des (Namens-)Christentums meint – erst hier findet Mays Auseinandersetzung mit Glaubensdingen den aktuellen Gegenstand. Eine dunkle Schattenhaftigkeit . . . mit gedämpfter, hohler Stimme (317) macht sich an den Ustad heran, nicht »die moderne Weltanschauung« oder »der Materialismus«, wie Adolf Droop mutmaßt(62) – und irre geht auch die enge Katholizismus-Deutung, wie sie zuerst Arno Schmidt vorgebracht hat (und die dann viel nachgeredet wurde)(63) –, sondern


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eine exemplarische Personifikation scheinmenschlicher, scheinchristlicher, scheinbarer Geistigkeit, ein Vertreter der Lüge, der Finsternis, des Bösen, einer von denen, die aus materiellen Gelüsten das wahre Wesen des Christentums pervertieren. Individueller deutbar ist dieser Schatten erst auf der autobiographischen Ebene.

   Bemerkenswert an der nun beschriebenen Auseinandersetzung des Ustad mit dem Schatten ist die deutliche Affinität zu zwei Bildern Sascha Schneiders, zum frühen Karton "Gefühl der Abhängigkeit" (1893) und zum später "Lichtsieg" genannten Deckelbild zu Mays "Am Rio de la Plata/In den Cordilleren" von 1904, eindringlichen Dokumenten gegenseitiger künstlerischer Befruchtung.(64) "Das Gefühl der Abhängigkeit" hatte 1894,(65) zusammen mit weiteren gedankenmalerischen Kartons, den Namen Sascha Schneider in der Kunstwelt bekannt und umstritten gemacht; zumindest durch Zeitungsabbildungen könnte May schon damals das Bild kennengelernt haben, noch ohne daß es auf ihn, der sich in seiner Abenteuerwelt sicher wähnte, sonderlichen Eindruck gemacht haben wird. Bei der ersten persönlichen Begegnung mit Schneider in dessen Meißener Atelier (Juni 1903) sah er es vermutlich wieder und nun mit anderen Augen. Im Dualismus von Licht und Schatten, der für Schneiders Bilder immer wieder grundlegend ist, erkannte er sein eigenes lichtsymbolisches Denken; unter dem quälenden Gefühl der Abhängigkeit litt der von seiner Vergangenheit Eingeholte (die Ketten des Abhängigen mahnten May an Osterstein und Waldheim) ebenso wie der sich (anfangs) gegen seine Homosexualität auflehnende Maler. Die Begegnung mit Schneider und dem "Gefühl der Abhängigkeit" könnte auslösend für May gewesen sein, aus dem Realistischen des "Silberlöwen" ins Surrealistische aufzubrechen und den "Großen Traum" zu gestalten, in jedem Fall aber war sie inspirativ für dessen ersten Teil, die Konfrontation des Ustad mit dem Schatten.(66) Umgekehrt hat der Fackelsieg des Ustad (s. u.) Schneider (der in einem Brief an May den "Traum" einmal eine »großartige Szene« nannte(67)) zu seinem Bild "Lichtsieg" bewegt. Nach E. A. Schmid soll Schneider Jahre nach Mays Tod den "Lichtsieg" als das »umgekehrte "Gefühl der Abhängigkeit"« bezeichnet haben. E. A. Schmid: »Sascha Schneider fragte mich: "Aber wer hat ihm die Fackel in die Hand gegeben?" Ich erwiderte: "Karl May?" – "Vielleicht!" lautete seine Antwort.«(68)

   Die dunkle Schattenhaftigkeit, die man sich wie den Schatten-Dämon bei Schneider zu denken hat, als schwammiges Gespenst von unersättlicher Porosität (319), versucht, den Ustad in die Abhängigkeit zu locken, zum Schatten, zum geistigen Nichts zu machen, indem er ihm zeigt, welche materiellen Reichtümer es den Schein-Christen bringt, wenn sie die »Schätze alle (aufspeichern), die sich der Mensch seit Anbeginn [seit der Urzeit] erdacht«, und diese Ideen und Gedanken fälschen. Resultat von Raub und Fälschung des Wahren ist die gegenwär-


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tige [gegenwärtige] christliche Kirche, die so stein- und ziegelweis entstand (317). Mays Kirchenkritik ist, wie auch seine späteren Texte immer wieder zeigen, radikal, sie nimmt niemanden aus und beschränkt sich erst recht nicht – wie viele Exegeten meinen – auf eine Kritik am Katholizismus. Als utopisches Ziel sah er eine völlige Umbildung und weitgehende Entinstitutionalisierung der christlichen Kirche im Zeichen der Liebe, die Aufhebung aller Konfessionen, das Gebot einer umfassenden Toleranz gegenüber Andersgläubigen, den Verzicht auf priesterliche Mittler, auf die "Einmauerung" Gottes in Gotteshäuser, auf alle nicht neutestamentlich beglaubigten Dogmen, auf den Dreifaltigkeitsglauben und vieles mehr.(69) Der Ustad ist noch kein gesicherter Geist und so gibt er dem Schatten das Wort, zu schweigen über die schattenhaften Machenschaften der christlichen Kirche, reicht seine Rechte der Schattenhand, die gegenstandslos weich, so leichenkühl, so gallertglatt und schlangenschlüpfrig (317f.) ist. Das "geistige Mündel" verschreibt sich dem Scheinchristentum – das wandelbar ist (vgl. auch: ganz beliebig dehnbare Gestalt, 318), um sich nutzbringend der Konjunktur anzupassen, das den Tod als Drohung kennt, selbst auch tot und leer ist, das sich gallertartig aller Kritik entzieht und schlüpfrig-böse ist wie die Paradiesesschlange. Immerhin sagt dem Ich ein Etwas (die Seele?): »Gib es [das Wort] ihm nicht, und berühre ihn nicht, sonst bist du ihm verfallen!« (317) Volker Krischel vermutet im Handschlag mit dem Schatten ein Bild der christlichen Taufe,(70) und wir können das Fragezeichen, das er hinter seine These setzt, getrost in ein Ausrufezeichen verwandeln. Die Gegenwartskirche wird von geistigen Nichtsen dirigiert und lebt davon, Leben und Energie ihrer durch die Taufe gebundenen Gläubigen ("Anhänger") auszusaugen, die dadurch ihren individuellen Geist verlieren. Der Schatten macht auch den Ustad zunächst zu seinem »Eigentum in Gott, dem Herrn«, entzieht ihm vampirhaft die geistige Kraft, um sich selbst mit ihr aufzublähen, und nimmt ihm dogmatisch seine geistige Individualität: »Mein ist dein Geist; mein ist auch deine Seele, und nur der Leib bleibt einstweilen dein, bis ich bestimme, wie und wo er uns zu dienen habe.« (318) Tatsächlich ist die Entindividualisierung ihrer Gefolgschaft eine Eigentümlichkeit der christlichen Kirche – was sie nebenbei dem Kommunismus verwandt macht. Entindividualisierung, Abhängigkeit und Willenlosigkeit, also das Schattendasein, wird von kleinen Geistern als höchste(s) Glück erlebt, da sie sich so »frei von jeder Schuld und Sühne« empfinden. Die Kirche, so Mays Kritik, suggeriert wie jeder aufgeblähte diktatorische Machtapparat (»An unsrer Macht geht jeder Feind zu Grunde!«, 318) die perverse Identität von Gehorsam und Freiheit (»Auch ich gehorche nur, um frei zu sein.«, 318), wobei die Freiheit nichts als Verantwortungslosigkeit ist. Obwohl es nur Gott zukommt, zu richten, maßt sie sich die Machtvollkommenheit an, im Auftrag (ihres) Herrn jede Tat zu belohnen, die ihr nützt


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(man denke an die imperialistische Kolonialpolitik im Namen der Kirche) und – in der Kirchenbeichte – jede zu verzeihen, durch die der Gläubige andern schadet, sofern er ihr nur treu bleibt. Die Ketten auf Schneiders Bild von der "Abhängigkeit" spürt nur der individuelle Geist.

   Der Schatten beginnt nun mit dem Ustad, dessen Hand er nicht einen Augenblick losläßt, den Gang durch die Gewölbe; als Vampyr geistiger Natur entzieht er ihm dabei Lebensenergie, Mut, Kraft zum Widerstande (318f.).(71) Wie jedem, der sich aufs Namenschristentum einläßt, in dessen Hand ist, droht dem Ustad der Verlust seiner geistigen Potenz. Nur sein Glaube gibt ihm den Mut, dem schwammige(n) Gespenst . . . die Hand so lange zu lassen, bis (er) gesehen (hat), was (er) sehen (will); er will die Vampyre entlarven, und verstellt sich nun wie weiland Kara Ben Nemsi vor anderen Potentaten. Welch niedrig-finstere Machenschaften in den Gewölben der Kirche, den Augen der Öffentlichkeit entzogen, vor sich gehen, signalisiert schon ihr Äußeres: lang und niedrig sind sie, die wenigen Fackeln in den schmalen Mauernischen geben nicht Licht, sondern sind düsterrot – wenig nur wird hier gefackelt. Die wahren, wertvollen Gedanken aus den untern Etagen, früheren Religionen, und die köstlichsten Schmuggelwaren aus allen Ländern, Zonen und Gedankenreichen werden hier aufgestapelt (319), das Echte . . . der Außenwelt entzogen, das Wahre, Reine, Edle hier versteckt. (320) Schattendämonen, zu keiner eigenen geistigen Leistung fähig, haben alle Hände voller Arbeit (319): Es wurde hier gefälscht, gefälscht und nur gefälscht! . . . Die Täuschung und den Schein, die Falschheit und Entstellung verfertigte man hier und trug sie dann hinaus als ehrliche, rechtschaffne, gute Ware! . . . Ich sah, es war ein glänzendes Geschäft! (320) Das Namenschristentum/die Kirche verfälscht Gedanken früherer Religionen und fremder Kulturen, brüstet sich mit geraubter und gefälschter Geistigkeit, um sich zu bereichern (indem sie etwa die Ausbeutung der Kolonien durch die Ideologie der Missionierung legitimiert). Diese "Geistigkeit" wird von den Schatten natürlich im Oberbau des Ruinentempels aufgestellt – auch wenn May darauf keinen direkten Hinweis gibt.(72)

   Der Wahrheitssucher erkennt, daß ihn die Lüge an der Hand hat, und entreißt bei dem Gedanken, als einz'ge Wahl nur Mitmachen oder Tod (320) zu haben, sich gegen ein Schattendasein und für den (scheinbaren) Tod entscheidend, dem Schatten seine Rechte, kündigt der Kirche, mit der er durch die Taufe verbunden ist, seine Gefolgschaft auf. Damit hat er einen ersten wesentlichen Schritt in seiner geistigen Entwicklung hin zur Wahrheit getan. Doch die Erkenntnis der Falschheit und der Entschluß zur Abkehr vom Bösen genügen nicht; das Böse muß besiegt, entlarvt werden – es kommt zum Kampf zwischen Ustad und Schatten, Wahrheit gegen Lüge, Person gegen Schatten, Individua-


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lität [Individualität] gegen Scheinmenschlichkeit, Licht gegen Finsternis. Mit einer brennenden Fackel, Symbol des entlarvenden Lichts und des Guten, sind die Schatten, die sich nicht von des Ustad Geistigkeit nährten, schnell hinter ihre Gegenstände getrieben, wohin sie, bei Licht betrachtet, als geistlose Materialisten gehören. Nur der Eine (bleibt), der den Mut des Ustad in seine wesenlose Schwammigkeit hinübergesaugt (hat). Der Kampf mit ihm vollzieht sich still und – spiritistisch-exorzistisch über die Augen; schließlich kann der Schatten dem festen Geisteswillen und dem entlarvenden Fackellicht nicht mehr standhalten und muß die Augen senken. Sascha Schneiders späterer "Lichtsieg" illustriert recht präzis die Szene: Ich stand still, fest, unbewegt; er begann zu wanken, zu zittern, endlich gar zu flackern wie die Flamme meiner Fackel. Dann wurde er kleiner, immer kleiner, sank nieder, bis er auf dem Boden lag, und kroch da langsam an mir vorüber, um nach hinten zu kommen. (321) Der Schatten, dem es gelungen war, sich durch den Diebstahl fremder Charakterhaftigkeit das Ansehen zu geben, daß er auch eine Art von Person . . . sei, ist nun nichts als ein entlarvter Lügner und Betrüger, ein ohnmächtiger, nichtiger, bedeutungsloser Schatten (321f.).

   Der Ustad, durch diesen ersten Sieg gereift, beginnt den Rundgang durch die Gewölbe von Neuem; jetzt, wo er nicht mehr "geistiges Mündel" ist, kann er besser und tiefer . . . sehen, als (er) vorhergesehen (hat). Es war ein Sieg des Geistes über die Geistlosigkeit; der Ausdruck "Leuchte", umgangssprachlich auch üblich für "Geist, Intelligenz", zeigt es an: Wo ich mit meiner Leuchte erschien, verkroch sich jeder Schatten augenblicklich. (322) Allein der besiegte Schatten schleicht hinter dem Ustad her – nicht nur physikalischer Richtigkeit halber, sondern auch, weil er damit etwas Autobiographisches zu demonstrieren hat.

Autobiographische Ebene

Daß es nicht angeht, den "Großen Traum" ein-deutig zu deuten, ist gesagt. Wir können uns aber bei der autobiographischen Interpretation kürzer fassen als bei der philosophisch-religiösen; einmal, weil das Biographische nicht textstrukturierend ist, sondern eher assoziativ miteingegangen, dann, weil sein Ursprung großteils im Unbewußten liegt und es sich daher in seiner Alogik dem bewußten Zugriff weithin entzieht.

   Der Ustad ist autobiographisch der Karl May der Niederschrift, der nach wahren Idealen strebt, aber noch "geistiges Mündel" ist, das nur langsam der väterlichen Warnung, dem väterlichen Leitbild (der "Warnende"!) zu entbehren lernt (um an seine Stelle, wie wir seit Wollschläger wissen, ein mütterliches Liebes-Ideal zu setzen); er ist aber auch der Mensch May, in dessen Vergangenheit eine große Schuld liegt, ein Schatten, mit dem er sich jetzt, nach Jahrzehnten des Verdrängens, vielleicht Vergessens, erneut konfrontiert sieht.

   Der Weg des schuldig gewordenen Ustad ins Land der Dschamikun


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ist der Weg Mays aus der "Abgrund"-Zeit zu seinem Spätwerk,(73) sein Eindringen ins Innere des von vergangenen Epochen geschichteten Ruinenbaus meint das Eindringen in seine eigenen Vergangenheiten, von der Geburt bis zum "Tod", »in die Untergeschosse des May'schen Bewußtseins«.(74) Details lassen sich psychoanalytisch erschließen: so symbolisiert das überwölbte unterirdische Wasserbassin aus der Urzeit die Gebärmutter, läßt nicht nur die Geburt menschlichen Gottesglaubens und Frevels, sondern auch Mays eigene Geburt assoziieren – auf dieser Geburtsstufe steht auch der Urzeitbau.(75) Als Eingang in diesen Bau öffnet sich dem Ustad die Erde (vgl. 315), seit jeher Muttersymbol. Von dieser Geburt an geht es aufwärts durch verschiedene Entwicklungsstufen (Treppen!), die aber autobiographisch wenig konkretisiert sind: das Fälschertum etwa erlaubt Assoziationen zu Mays kriminellen Täuschungsmanövern ebenso wie zur Täuschungspraxis des Kolportageverlags Münchmeyer; das Dunkle, die kerkerhaften Mauerungen der Bauten lassen an die Gefängnisse Schloß Osterstein und Waldheim denken,(76) wären aber auch als Geisteshaltungen aus der Zeit des "Abgrunds" begreifbar.

   Kaum einfacher verhält es sich mit der biographischen Deutung des Schattens. Von Arno Schmidt wird er als Vertreter des Katholizismus gesehen, genauer, als Heinrich Keiter, Redakteur Pustets, und in diesem engen Sinn will er dann auch den ganzen ersten "Traum"-Teil verstanden wissen: »Dieser 1. Teil des Traumes, Ss. 314–322, verdichtet die Beziehungen MAY's zum "Deutschen Hausschatz"«.(77) Das ist nicht nur einseitig in der Reduzierung aufs Biographische und beschränkt in der Engführung auf den Katholizismus, die Deutung kann sich auch lediglich auf die Häufung einiger Sprachsplitter wie " . . . keit", "Mut" oder "Kampf" stützen,(78) als Beweis nun nicht eben triftig. Dennoch ist nicht auszuschließen, daß May bei der schwammigen Schattengestalt tatsächlich eine konkrete Person vorschwebte, vielleicht Münchmeyer oder Fischer, vielleicht einer seiner Gegner oder Feinde. Anhaltspunkte dafür dürften aber schwer beizubringen sein, am ehesten aus den scheinbar realen Teilen des "Silberlöwen", wo May wirklich immer wieder die Sillan/Schatten mit seinen Kontrahenten identifiziert, so im großen Nachtgespräch oder in einer Nachbetrachtung zum "Traum", in der er die Büberei unverhohlen mit seiner "Leuchte" bedroht (vgl. 356). Im "Traum", für sich betrachtet, scheint es hingegen am weittragendsten, im Schatten den Schatten von Mays Vergangenheit, den Schatten des Bösen zu sehen. Diese Deutung ist nicht nur einigermaßen stringent, sie steht auch im geringsten Widerspruch zur Interpretation auf der philosophisch-religiösen Ebene. Die Begegnung des Ustad mit dem Schatten wäre dann die durch seine Gegner provozierte Wiederbegegnung Mays mit seiner Vergangenheit, damit zugleich ein zeitliches Zurückfallen in


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die Phase seiner Delikte – zwei Zeitebenen verwischen sich, werden traumtypisch undifferenzierbar.

   Die dunkle Schattenhaftigkeit mit der gedämpfte(n), hohle(n) Stimme wird in vergegenwärtigter Vergangenheit zur dämonisch-bösen Gestalt der "Abgrund"-Zeit, zur finstere(n), höhnische(n) Hauptgestalt aus dem heimatlichen Sumpf und den Hohensteiner Schundromanen,(79) von der May in seiner Selbstbiographie "Mein Leben und Streben" schreibt: Diese natürlich nicht körperliche, sondern seelische Gestalt, war mir direkt widerlich. Fatal, häßlich, höhnisch, abstoßend, stets finster und drohend; anders habe ich sie nie gesehen, und anders habe ich sie nie gehört. Denn ich sah sie nicht nur, sondern ich hörte sie auch; sie sprach. . . . Und sie wollte nie das Gute, sondern stets nur das, was bös und ungesetzlich war.(80) Wie der Schatten im "Traum" nur "Hauptgestalt" aus der Masse anderer Chimären ist, schreibt May auch in der Autobiographie von unzählbaren schmutzige(n) Dämone(n), übererbten Gedanken des Sumpfes, Miasmen einer vergifteten Kinder- und Jugendzeit, dunkeln Gestalten, die ihn innerlich gequält und mit Zurufen belästigt hatten.(81) Der Konflikt damals war der gleiche wie im Roman: die Lüge gegen die Wahrheit, das Laster gegen die Tugend, die eingeborene menschliche Bestie gegen die Wiedergeburt, nach der jeder Sterbliche zu streben hat, um zum Edelmenschen zu werden.(82) (vgl. 321) In der Wirklichkeit unterlag das Gute, beging May seine Straftaten, fälschte gleich den "Traum"-Schatten (z. B. hochstapelnd seine Identität), innerlich motiviert durch irrationale Rachegedanken,(83) aber wohl auch – analog den Schatten-Verheißungen im "Traum" – durch die Erwartung reichen materiellen Lohns. (vgl. 317) Er verschrieb sich dem Bösen, überließ sich wie der Ustad trotz innerer Skrupel dämonischer Führung: Das dunkle Wesen führte mich an der Hand. Es ging immerfort am Abgrund hin. Bald sollte ich dies, bald jenes tun, was doch verboten war. Ich wehrte mich zuletzt nur noch wie im Traum.(84) Das dämonisch Böse entzog ihm mehr und mehr die geistige und moralische Kraft zum Widerstande (319), in triebhaftem Zwang (in höchst bestimmter, gebieterischer Weise zwingt der Schatten den Ustad zur Gefolgschaft, vgl. 318) beging er immer unsinnigere Betrügereien und Hochstapeleien. Nach außen hin, etwa in seiner Selbstbiographie, entlastete sich May später von Schuld, indem er sich diese Willenlosigkeit, diesen dämonischen Zwang entschuldigend zuschrieb. Innerlich gelang diese Entlastung nicht wirklich – das bezeugt die beharrliche literarische Thematisierung des Schuldigwerdens bis zuletzt und die Tatsache, daß er die scheinbare Entschuldigung im "Traum" dem Schatten, also einem Vertreter der Lüge, in den Mund legt: »Aus meiner Hand strömt dir das höchste Glück, das es für Menschen gibt in Zeit und Ewigkeit: Du bist vollständig willenlos und folglich frei von jeder Schuld und Sühne! Tu Alles, was ich sage, ob Gutes oder Böses, der Rechenschaft bist du fortan


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enthoben, denn ich bin es, der sie zu leisten hat.« (318) In der "Abgrund"-Zeit mag diese Schatten-Ansicht dennoch Mays Bewußtsein bestimmt haben – ihre Entlastungsqualität wurde ihm erst später fragwürdig.

   Der Ustad befreit sich vom Bösen durch seinen festen Willen und durch die Fackelflamme, gewinnt so seine geistige und moralische Kraft und Energie zurück. (vgl. 312f.) Auch Mays Befreiung wäre ohne festen Willen nicht möglich gewesen. Daneben aber verdankt sie sich mehr noch dem Waldheimer Einfluß des katholischen Anstaltskatecheten Kochta, der in ihm Glauben und Zuversicht weckte, und dem etwa gleichzeitigen Entschluß, Schriftsteller zu werden. Beides – Glauben und Schreiben – wird im Lichtsymbol der Fackel umgriffen.(85) Der Schatten des Bösen fällt hinter den Ustad auf den Boden zurück – Das war der Sieg, in aller Stille, ohne jeden Zorn und ohne alle Worte! –, wird zum Schatten der Vergangenheit. Ich war allein. Es getraute sich nichts mehr an mich heran. (322) "Leben und Streben": Nun wußte ich . . . , woran ich mit mir war! Nun mochten sie wiederkommen, diese Stimmen; ich hatte sie nicht mehr zu fürchten!(86) Zwar verfolgte seine Vergangenheit May auch nach Waldheim durch sein neues Leben, das Böse konnte ihn aber nicht mehr beherrschen: Der meinige [Schatten] schlich zwar beständig hinter mir her, wagte aber nicht, sich wieder zu erheben. (322)


2. Der Zauberer

Philosophisch-religiöse Ebene

Bei seinem selbständigen Rundgang durch die Kellergewölbe des Namenschristentums bemerkt der gereifte Ustad, daß die Eingangstür nicht mehr vorhanden ist – starke, dicke, undurchdringliche Mauer (322) versperrt ihm den Rückweg, aber auch den Weg ins eigentliche Namenschristentum: Es gibt in der Geschichte keinen Weg zurück zu früheren Religionen, und es gibt für den, der die Fälschung des Wahren durchschaut hat und sich weigert, selbst zum Schatten, zum Fälscher zu werden, keinen Weg hinaus an die christliche Öffentlichkeit, denn »die Schatten dulden nicht, daß sie verraten werden.« (314)(87) Der einzige Ausgang liegt am Südende der Gewölbe und führt zum jähen Sturz hinunter in das Bassin: Er war weder vermauert noch verschüttet, sondern bestand aus einer hölzernen, unverschlossenen und unverriegelten Tür . . . Das sah so unschuldig aus . . . ; aber wehe dem, der diesem Betruge traute! . . . Gleich hinter der Schwelle hörte der Fußboden auf. Der Abgrund gähnte aus dem tiefen Wasser herauf, und eine kalte, feuchte Luft roch nach Verwesungsgasen. (322) Anders als bei den überlebten Religionen – mit beschränkter Ausnahme des Mosaismus, wo das Südende nicht ganz verschüttet ist – ist die Todes-Lüge im Namenschristentum


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noch höchst aktuell, ist sie teuflisches Mittel, die Menschen zu geist- und seelenlosen Schatten zu zwingen, die ihr Heil allein in diesseitiger Bereicherung sehen. Der Ustad ahnt nun, weshalb die Starken niemals wiederkehrten: sie hatten zwar widerstanden, waren aber nicht auf den Gedanken gekommen, nach einer Fackel zu greifen, um die Schatten von sich abzuweisen. Nach einem Ausgange suchend, waren sie von ihnen zu dieser Tür gewiesen worden und hierauf ahnungslos hinabgestürzt. (323) Zwar hatten die starken Geister – man ahnt, daß May bei ihnen auch an Nietzsche und dessen Schicksal gedacht hat – sich nicht durch eine falsche Kirchen-Wahrheit täuschen lassen, hatten ihre Zuflucht aber auch nicht bei Gott, im Glauben, im Gebet gesucht und waren so, ohne festen Halt, bei der Suche nach Antwort auf die letzten Weltfragen (»in selbstbewundernder Vermessenheit . . . auch noch die letzte Türe zu durchschreiten«) ins Geistesdunkel (337), in den Wahnsinn (vgl. 338) gestürzt,(88) wo sie verkalkten. Unmittelbar in den Wahn gestürzt, getrieben hat sie der "Zauberer", ihre Furcht, dem Irrtum (vgl. 343) anheimzufallen, ihre in Überheblichkeit gewachsene Unfähigkeit, sich der Möglichkeit eigenen Irrens zu stellen. (vgl. 338)

   Auch der Ustad, durch seinen Lichtsieg gereift, begegnet dem "Zauberer", begegnet Lüge und Irrtum, doch gibt ihm der Glaube – die Fackel – den Mut, sich ihm zu stellen, gibt die Zuversicht, von ihm nicht in den Wahn getrieben werden zu können. Der "Zauberer" tritt auf als "Herr der Finsternis", als "Schattenfürst" (Hinter ihm eine so große und so dicht zusammengedrängte Menge von Schatten, daß sie gar nicht einzeln unterschieden werden konnten, sondern zusammen eine kompakte Finsternis bildeten, 323. Der "Zauberer" selbst ist kein Schatten!) – May identifiziert Lüge/Irrtum mit der alten christlichen Idee vom gefallenen Engel Luzifer, eine Rolle, die auf der Realebene Ahriman Mirza einnimmt.(89) Anders als der Ahriman des Parsismus ist Luzifer keine Gegen-Gottheit, sondern der gestürzte Engel ist ein Geschöpf Gottes; als solches ist er erlösbar: der Irrtum kann in Wahrheit verwandelt werden, ein Gedanke, der für die Deutung des dritten "Traum"-Teils festzuhalten ist. Der Ustad, weil er die Wahrheit sucht und den Irrtum/die Lüge vernichten will, ist der größte Feind, den der "Zauberer" (Luzifer) auf dieser Erde (hat). Es gilt nun einen zweiten, aber andern Kampf (323), nicht mehr gegen einen niedrigen Vertreter des Bösen und des Irrtums/der Lüge – der noch konkret als Kirchenvertreter oder (autobiographisch) als persönlicher Dämon aus der "Abgrund"-Zeit begreifbar war –, sondern, in Rangordnung und Abstraktionsgrad auf einer höheren Stufe, gegen das Prinzip des Bösen und von Lüge/Irrtum schlechthin, gegen den Teufel. Dessen Macht ist, ähnlich wie die seines Schattenheeres, keine autarke, aus sich selbst gewachsene, vielmehr ist sie abhängig davon, wieviel Raum ihr der Menschengeist gibt, wie ihm begegnet wird. Der Ustad geriert sich auch Luzifer


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gegenüber ruhig-überlegen wie zuvor gegenüber dessen Gefolgs-Schatten und wie früher Kara Ben Nemsi vor anmaßenden orientalischen Obrigkeiten. Die anfängliche Macht Luzifers (er (wurde) höher und immer höher. Nun überragte er mich um Kopfeslänge und auch um eine ganze Schulterbreite. Seine Stimme klang fest, stark, keinen Widerspruch erwartend, 323) schwindet rasch auf geringeres Maß. (Seine Höhe nahm wieder ab, auch seine Breite. Und seine Stimme klang nicht so voll und so gebieterisch wie vorher, 324) Da seine andere Identität der "Warnende" ist, weiß der "Zauberer" um das Geschehen am Eingang zum Ruinentempel und mahnt den Ustad an die Wahl zwischen Schatten oder Tod, vor die er nun gestellt sei. Der akzeptiert zwar diese Wahl nicht und münzt sie in alter Heldenherrlichkeit in die Wahl »Du oder ich« um (324), entscheidet sich aber indirekt doch für den Tod, denn er hat das Schatten-Werden als Geist- und Seelenmord durchschaut, der allein ihn, den Geist, wirklich vernichten würde, sieht im Tod hingegen nichts als eine von des Teufels größten Lügen, ein luziferisches Hirngespinst, einen lächerlichen Schatten zur Knechtung von schwachen Köpfe(n): »Indem sie ihren Leib vor dieser Vogelscheuche retten wollten, verfielen sie dem Geist- und Seelenmorde.« (325) Der Gedanke an den Tod, an den Verlust des Körpers, ließ die schwachen Geister, die von ihm, vom Materiellen dirigiert werden und nur materielle Befriedigung kennen, sich aufs Diesseits werfen, uneingedenk, daß sie damit ihre eigentliche Identität, die nur in Geist und Seele liegt, zum Sterben preisgaben. Indem sie sich gegen den körperlichen Tod entschieden, fanden sie den wirklichen, geistigen und seelischen Tod. Der Ustad hingegen blickt dem Leibestod furchtlos ins kalte, feuchte Antlitz, reißt selbst die Tür zum Abgrund, zum Wasserbassin auf, und provoziert den "Zauberer" mit der Aufforderung, voranzugehen, »zu zeigen, wo er [der Tod] steht«: »Hast du den Mut? Ich laß nicht auf mich warten!« War der Ustad anfangs noch "geistig Mündel" – was impliziert, daß er dem Leib und seinen Trieben, der Anima, noch ein Maß an Wichtigkeit gab – und drang er durch den Lichtsieg über den Schatten nur zu einem höheren, noch nicht zum höchsten Grad der Geistigkeit vor, so faßt er jetzt an der Schwelle des "Todes", einen Entschluß, der ihn zu reiner Geistigkeit führen, von allen Animaschlacken befreien wird: Freiwillig will er den (leiblichen) Tod auf sich nehmen, um ihn als Lüge zu entlarven und Erlösung zu finden/zu schenken. Der Entschluß, dessen Herkunft der Ustad nicht weiß (aber natürlich ist es eine göttliche Eingebung), der ein Sieg über den "alten Adam" ist, wandelt ihn von Grund auf: Ich fühlte, daß seine Kühnheit mir die Wangen rötete und meine Augen leuchten ließ. Und während ich dies empfand, kam mir im Traume das Bewußtsein, daß ich träume und daß ich ich und nicht der Ustad sei. Sonderbar! (325) Der Ustad wandelt sich zu Kara Ben Nemsi; aus dem in Graden noch individuellen Wahrheitssucher, dem Streber nach Selbst-


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erkenntnis [Selbsterkenntnis], der spürbaren Ich-Spiegelung des Autors, wird der reine Geist (durch den Sprung in den "Tod" werden),(90) wird – auf gleicher Abstraktionsebene, auf der auch der "Zauberer" steht – die Menschheitsfrage, der geistige Repräsentant der Menschheit. Als solcher kann er durch sein Handeln nicht nur sich selbst befreien und die Wahrheit entdecken, sondern die Menschheit erlösen – er wird zu Christus, zum Heiland, zum Erlöser. May beginnt an dieser Stelle, eine grandiose Hoffnung zu spinnen, die nur einen, im Zitat deutlich ausgesprochenen Fehler hat: sie ist nicht Teil der Wirklichkeit, sondern des Traums.

   Die Haltung des "Zauberers", Luzifers, zur Wandlung seines Feindes ist zwiespältig: War es ein Wehe- oder ein Jubelruf, den ich hierauf von seinen Lippen hörte? (325) Der "Zauberer" hat Grund zum Zwiespalt von Angst und Hoffnung, zum Zweifel, was zu tun ist (»Was soll geschehn; was habe ich zu tun! Ich weiß es nicht; ich weiß es wahrlich nicht!«, 326): als Repräsentant der Menschheit kann Kara Ben Nemsi sein Schattenreich zerstören und die von ihm gestürzten Geister erlösen, er kann durch sein Tun aber auch die Menschheit und ihn, den gestürzten Engel, vom Fluch befreien und Irrtum in Wahrheit wandeln. Soweit er der "Zauberer" ist, hat er Angst vor Entlarvung, soweit er der "Warnende" ist, hat er Hoffnung auf Erlösung. Als "Zauberer" sieht er sich und sein Reich bedroht und drängt verzweifelt darauf, die Menschheitsfrage aus seiner Welt zu verbannen: »Wach auf; wach auf! Ich öffne dir sofort des Berges Tore! Du sollst nicht Schatten sein und auch nicht sterben! Nur eile fort von hier!« Kara Ben Nemsi begegnet dieser Erregung ruhig, beharrt auf seinem Traum (»Warum soll ich nicht vollenden, was ich begonnen habe? Ich bleibe hier!«, 326) und auf der Entscheidung zwischen Schatten und Tod: »Mach mich zum Schatten, oder töte mich! Tu das, was du von Beiden fertig bringst!« Diese Entschlossenheit des Geistes läßt die Macht Luzifers erneut schrumpfen: Da zog sich seine Gestalt noch weiter zusammen. Nur noch scheinbar hat der Teufel die alte Kraft, die »Macht, Beides [Schatten oder Tod] wahr zu machen«. Daß der "Zauberer" »sämtliche Fackeln hinter (ihm) auslöschen und verbergen (ließ)« (326) und »die einzige in (seiner) Hand . . . kaum noch einige Minuten brennen wird« (326f.), kann Kara Ben Nemsi nicht schrecken, da dies nur den ohnehin gefaßten Entschluß bestärkt, den (leiblichen) Tod auf sich zu nehmen. Es ist wahrscheinlich, daß die Fackeln hier eine zusätzliche Bedeutung haben und das Leben symbolisieren, entsprechend der bildhaften Wendung "Lebenslicht auslöschen": »Verlöscht das Licht, so steht die Tür hier [zu Tod und Erlösung] offen!« (327) Im Verlöschen des Lebens, im Sterben, liegt nicht Gefahr, sondern Hoffnung auf Erlösung, eine alte Vorstellung der christlichen Lehre – wobei Nietzsche, in seltener Übereinstimmung mit May, zu Recht den Christen vorgeworfen hat, daß ihr Leben und Denken dieser Idee nicht entspricht: leicht abzuzählen wären die Chri-


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sten [Christen], die ihre Hoffnung auf den Tod setzen, ohne von einem qualvollen Leben zu diesem Gedanken getrieben zu sein. So ist der "Zauberer" auch erstaunt, die Menschheit – Kara Ben Nemsi – nun so sprechen zu hören. Ihr Mut macht ihn als "Warnenden" froh, während in seinem "andern Ich" die Angst wächst (vgl. 327). Luzifer muß einsehen, daß er dem Menschheitsgeist nicht »den Willen und die Kraft« rauben kann, ihn nicht zu seinem nichtig-bösen Schatten machen kann.  E i n e  mögliche Rettung bleibt dem Irrtum/der Lüge: der "Zauberer" will Kara Ben Nemsi zu einem Gebet vor (seinem) letzten Augenblick verleiten, das er ihm vorbeten will, also zu einem teuflischen, lügnerischen Fluchgebet, das die Verbindung zu Gott lösen anstatt bewirken würde und so die Erlösungstat Kara Ben Nemsis zunichte machte. Letztlich stünde die Lüge dann doch noch als Sieger da. Kara Ben Nemsi, selbst trickgewandt, durchschaut die Absicht: »Meinst du, daß ich dich brauche, dich, dich [die Emphase unterstreicht die Perversion des Gedankens, zum Dialog mit Gott grad den Teufel als Mittler zu nehmen], wenn ich zu beten habe? Für mich ist das Gebet von göttlicher Natur [und nicht von teuflischer!], und darum ist das rechte, wahre Beten wenn nicht die allergrößte, so doch die schwerste und die heiligste der Künste. Hier aber sah ich nichts als Trug und Fälschung, und darum glaube ich, daß du sogar betrügst, indem du betest!« (327)

   In unsinniger Wut – anders als früher bei den gestürzten starken Geistern, die Einzelindividuen und ohne Gottesglauben waren, droht ihm ja durch den "Tod" des gläubigen Menschheitsrepräsentanten die Niederlage – will der Teufel Kara Ben Nemsi in den Abgrund stürzen, gerät dabei aber selbst in die Türöffnung hinein, auf die Todesschwelle, und wird von Kara (alias "Old Shatterhand") mit einem Fausthieb hinaus ins Bodenlose gestoßen . . . ein Schrei und dann ein dumpfer Schlag. Das Menschheits-Ich geht nun, in der geistigen Nachfolge Christi, ans Sterben. Die Leben symbolisierende Fackel steht im letzten Flackern, Kara schleudert sie in die tiefste Finsternis,(91) tritt auf die Schwelle des Todes, gibt sich mit einem einzigen Gebetswort in Gottes Hand und: Dann schnellte ich mich . . . mit weitem Sprung hinaus in das, was mir als "Tod" bezeichnet worden war. (328)

Autobiographische Ebene

Eine autobiographische Deutung läßt der zweite "Traum"-Teil nur bedingt zu, weil May hier mit der Wandlung des Ustad das Ich bewußt auf eine allgemeine Menschheitsebene abstrahiert – eine Feststellung, die erst recht für den großen Schlußteil gilt. So geht auch Arno Schmidts einseitig biographische Deutung erneut fehl (was seine Verdienste um die "Silberlöwen"-Rezeption nicht schmälern soll – er hatte es halt nicht so mit dem "Xen-tum" wie May), nach der im "Zauberer" ein »etwas gewichtigerer Vertreter des Katholikentums« (gewichtiger als der


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zum Schatten gedeutete Keiter) zu erkennen ist, nämlich der »seinerzeit & bei Gesinnungsgenossen vielgeltende "Hochland-MUTH" in seinem Hochmut-Land«, der 1902 in der Wiener "Zeit" gegen May polemisiert hatte.(92) Wenig spricht dafür, vieles dagegen, im "Zauberer" überhaupt einen konkreten Gegner Mays zu sehen. Eine solche Deutung zieht fälschlich Analogieschlüsse von der Realebene des Romans – wo tatsächlich hinter beinahe jedem Kontrahenten verschlüsselt ein Widersacher Mays lauert – auf den "Großen Traum", in dem es zuallererst um die dezidierte Darstellung von Menschheitsproblemen geht. Biographisches findet sich eher als – großteils unbewußte – Innenbiographie denn als – notwendig bewußtere – Außenbiographie und ist meist in der umfassenderen philosophisch-religiösen Textsemantik eingeschlossen, entsprechend Mays Diktum, daß das Karl May-Problem . . . nichts Anderes sei als das große, allgemeine Menschheitsproblem.(93) Einige Exegeseandeutungen können daher genügen.

   Der Ustad/May hat sich durch festen Willen, den Einfluß Kochtas und den Ausweg des Schreibens (Fackel, Lichtsieg) von seinem Dämon der "Abgrund"-Zeit (dem Schatten) befreit und seine Vergangenheit (den Schatten) hinter sich gelassen. Er beginnt nun einen zweiten Rundgang, ein neues Leben, und bemerkt dabei, wenn nicht zu (seinem) Schrecken, so doch zu (seiner) Ueberraschung, daß es keinen Weg zurück ins alte Dasein gibt, daß ihm der Rückweg – zum Lehrerberuf? – mit undurchdringliche(r) Mauer (322) versperrt ist. Die Fackel, die wir u. a. als sein Schreiben deuten, in der Hand, begegnet er nun dem "Zauberer", der – wie sein "anderes Ich", aber in negativer Umkehrung – väterliche Attribute, genauer, Attribute Heinrich August Mays aufweist (weiß(e) Haare; Dolchaugen, die Jähzorn signalisieren; anfängliche Dominanz; Autoritätsgehabe; Lügenhaftigkeit; Schwachheitsha(ß), vgl. 323, 324) und ihn zu seinem Schatten machen, also nach seinem Ebenbild formen will – erinnern wir uns an Heinrich Mays exzessive Erziehungspraxis. Gehen wir davon aus, daß der Einstieg des Ustad in die Erde Mays Geburt und der Aufstieg durch die Etagen seine Lebensetappen meint, und denken daran, daß das Ich den "Zauberer" erst auf einer späteren dieser Stufen  s a h  – nämlich auf  d e r  Religionsstufe, die mehr als alle früheren vom Patriarchalischen geprägt ist, eine Koinzidenz, die auch kein Zufall sein muß –, ließe sich hier eine Anspielung darauf vermuten, daß der in seinen ersten Lebensjahren blinde May seinen Vater wirklich erst auf einer späteren Lebensstufe  g e s e h e n  hat. Als  H e r r  der Schatten ist der "Zauberer"/der Vater dann auf einer folgenden Stufe verantwortlich für deren Machenschaften, verantwortlich mithin für Mays Straffälligwerden. May ahnte, daß es Erbteil und Einfluß des Vaters waren, des "Lügners", die in ihm den ungebärdigen Drang nach gesellschaftlicher Macht und Anerkennung geweckt hatten, der ihn zu seinen aberwitzigen Hochstape-


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leien [Hochstapeleien] und Amtsanmaßungen, zu seinen "Lügen" in der Krisenzeit bewogen hatten. Der zweite "Traum"-Teil läßt vermuten, daß er ebenso ahnte, welch große Bedeutung das verinnerlichte Vater-Ideal auch danach noch hatte, für sein Schreiben – der Ustad begegnet dem "Zauberer" ja mit der Fackel in der Hand. Nach der Jahrhundertwende empfand May seine jahrelange Selbststilisierung als Überheld väterlicher Provenienz, als omnipotenter Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi, nur noch als "Lüge". Während im "Traum" der Ustad sich des väterlichen "Zauberers", der Lügen erwehren kann, wurde May in der Wirklichkeit zum "Lügner", wurde das Ich seiner Reiseerzählungen zum "Schatten" des Vaters. Autobiographisch ist der zweite "Traum"-Teil also in der Zeit nach Waldheim bis zur Orientreise zu fixieren – realitätsnahe Spiegelungen sucht man aber vergeblich. Wichtig ist, daß der Ustad hier nicht mehr als "geistiges Mündel" auftritt, sondern durch seinen "Lichtsieg" zum "Erwachsenen" gereift ist, den nur »des Irrtums eigne, andre Stimme (warnt), die stets die volle reine Wahrheit spricht«. (350) May kommt zur Erkenntnis seines Irrtums, zur Erkenntnis der Lüge seines Schreibens, durchschaut den väterlichen "Zauberer", und entscheidet sich bei der Wahl zwischen Schatten und Tod, zwischen Vater-Ideal und dessen Abbau, für den Tod, die Wandlung, den Neubeginn auf geistiger Ebene – fürs neue Schreiben im neuen Geist. Schon vor der Jahrhundertwende wurde das Ideal mehr und mehr abgebaut und begann einem mütterlich bestimmten Liebes-Ideal zu weichen.(94) Literarische Dokumente dieses einsetzenden Umbruchs in Leben und Werk sind bereits die Kalendergeschichte "Mutterliebe" (1898/1899, entstanden 1897)(95) und die Romane "»Weihnacht!«" (1897) und "Am Jenseits" (1899, entstanden 1898/1899).(96) Am Jenseits, an der Schwelle zum Tod – der aber Erlösung und neues Leben schenkt und Irrtum in Wahrheit wandelt – steht auch der Ustad während des Disputs mit dem "Zauberer", dem negativen Vaterbild. Zur eigentlichen – sehr schmerzhaften Wandlung Mays kam es während der Orientreise 1899/1900; da wurde der neues Bewußtsein schaffende Entschluß geboren, den alten Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi sterben und als Menschheitsfrage auferstehen zu lassen: Ich fühlte, daß seine [des Entschlusses] Kühnheit mir die Wangen rötete und meine Augen leuchten ließ. (325) Im "Silberlöwen" kann May dann das Ich auf die Fragen des Ustad im Nachtgespräch, ob er Old Shatterhand, ob er Kara Ben Nemsi sei, antworten lassen: »Ich war es« (67).(97) Aus dem Ustad, dem alten May, wurde der Menschheitsvertreter, wird im "Traum" Kara Ben Nemsi, »der fremde Effendi, der jetzt . . . im hohen Hause wohnt« (326). Das neue Ich stürzt das lügnerische Vaterbild, den "Zauberer", in den Abgrund und schleudert ihm das alte Leben und Schreiben, die Fackel, nach. Der Neubeginn war für May ein Wagnis, ein Sprung ins Ungewisse, aber auch der einzige Weg, sich Willen und Kraft zu bewahren und der Lüge und


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Nichtigkeit zu entkommen: Vor mir die tiefste Finsternis und hinter mir das Grausen aller Schatten! (328)


3. Die verkalkten Geister

Philosophisch-religiöse Ebene

In der real-geschilderten Erkundung des unterweltlichen Wasserbassins durch Kara Ben Nemsi und Kara Ben Halef, die dem "Großen Traum" vorausgeht, hatte May das unheimlich-eindringliche Terrain des dritten "Traum"-Teils genau beschrieben und so mit Kalkül eine Exposition von Bildern geschaffen, die er nun mit phantastischem Leben erfüllen konnte, ohne die Handlungsstringenz durch Beschreibungsballast zu stören. (vgl. 300–313) Anzunehmen ist, daß er sich dabei wie sein Roman-Ich mit einer Zeichnung der Unterwelt-Topographie half. (vgl. 313) Ein Leser, der sich die gleiche Mühe machte, würde zum Erstaunen bemerken, daß seine Skizze den weiblichen Fortpflanzungsorganen nicht eben unähnlich sähe: Die Maueröffnung hinter dem Gestrüpp, in das Kara seinen Kahn mit kräftige(n) Ruderschläge(n) (300) hineintreibt, ist schon als äußeres Genital angesprochen worden; der stetig geradeaus (gehende) Eingangskanal – Zu- oder Abfluß . . . in der Verborgenheit, der am Anfange . . . sehr schmal (301) ist, sich dann aber bald erweitert, läßt leicht eine Vagina phantasieren; das vordere Wasserbecken, eine natürliche Höhlung (304), läßt, wie ebenfalls schon angedeutet, Uterus-Assoziationen zu. Über allem liegt tiefste Finsternis, wesentliches Element ist allerorten das Wasser, das »weltweit die Symbol-Bedeutung der Geburt (hat).«(98) Natürlich ist diese Sexualsymbolik kaum bewußt gestaltet – und die vier Nebenkanäle wie das hintere Wasserbecken geben in solch psychoanalytischer Sicht wenig Sinn –, aber sie läßt doch interessante Mutmaßungen zu. Die Faszination, die seit jeher dem empfindsamen Leser bei der Imagination dieser düster-archaischen Katakomben erfüllt (und auch May erfüllt haben wird), läßt sich möglicherweise am ehesten durch das Gefühl des déjà-vu erklären, durch sein unbewußtes Rückerinnern angesichts der archaischen Bildwelt in die Vorgeburtlichkeit, in Abhängigkeit und in den Schutz der Mutter – in eine Geborgenheit, die aber in ambivalenter Weise auch als bedrohlich und angsteinflößend erinnert wird. May selbst spricht diese Ambivalenz deutlich an, wenn er dem Ich die innere Frage eingibt, ob dieses Wasser wohl als lebenspendendes Element oder aber als verschwiegener, düsterer Helfer des Todes betrachtet worden sei. (302) Ähnlich ambivalent ist ja auch das Muttersymbol "Erde": Bild der Geburt und Bild des Todes (Gräber!) zugleich. Die Sexualsymbolik nimmt vorweg, daß die Unterwelt, der scheinbare Tod, zum Ort der Geburt werden wird. Todesort ist sie durch die schauerliche Verbindung (307) der Nebenkanäle mit dem Ruinenbau.


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Bringt man zeichnend die Grundebene mit der Neigung des äußern Terrains in Einklang (313), ergibt sich, daß die Seitenkanäle . . . genau unter den sich amphitheatralisch erhebenden einzelnen Stockwerken (liegen). (377) Jeder dieser nach und nach auf den jeweiligen Religionsstufen von Menschenhand gemauerten Kanäle endet in einer dunkel gähnende(n) Oeffnung oben (305), durch welche die starken Geister jeweiliger Zeit, die Lüge und Irrtum der Kirchen, die Machenschaften der Religionen entlarven wollten, vom "Zauberer" und den Schatten in (vermeintlichen) Tod und in Wahnsinn gestürzt wurden. Nur im hinteren Bassin, wo die Wahrheit, der wahre Glauben geboren werden wird, findet sich kein solcher Kanal, fand niemals jemand sein Grab. Genau über der Nische des hintern Bassins (377) steht keine Etage des Ruinentempels mehr, sondern das Alabasterzelt, Bild der "reinen Gottesidee". Das hintere Becken wird so zum Ort der Utopie, der letzte Nebenkanal aber, über dem die Etage des jetzigen Namenschristentums ragt, ist Menschenwerk – besser: Schattenwerk – der gegenwärtigen Religionsform. Aus frühester Zeit, der Zeit der Urreligion und der Sagen vom "eingemauerten Chodeh" und "verzauberten Gebet" stammt andere Menschen-/Schattenarbeit: Es gab eine breite Mauer von gewaltigen, unbehauenen Blöcken, welche auf kompaktem Fels errichtet worden war. Es schien, als ob man durch diese Mauer das hintere Bassin habe vollständig verschließen und verbergen wollen. Warum wohl das? (309) Durch diese Mauer sollte der Menschheit das "Verzauberte Gebet" verschlossen werden, die Möglichkeit der wahren Bindung an Gott, zur Erlösung des "Gebets". May erzählt zwar die Sage vom "Gebet" nicht, deutet aber am Schluß des Romans an, daß sie »wohl ganz dasselbe (meint)« wie die Sage von Chodeh, dem eingemauerten. (vgl. 644) An diese fühlt sich Kara Ben Nemsi auch bei der realen Erkundung des hinteren Beckens erinnert: Es bildete einen Halbkreis, dessen schnurgerade gebauter Durchmesser die Mauer war. Der Bogen bestand aus lückenlosem Fels, der sich hoch oben nischenförmig [kapellenartig?] zusammenzuneigen schien. Als ich dies bemerkte, fiel mir die Sage von »Chodeh, dem eingemauerten« ein, welche Schakara mir erzählt hatte. Fast unbegreiflicher Weise war dieser Fels fast glänzend schwarz, so ungefähr wie recht dunkler, polierter Serpentin. Wie das wohl kam? (310) Das hintere Becken ist der Ort, wo Gott einst, »licht und hehr, im offnen Alabasterberg, sich seiner Sonne (freute).« (213) Aus dem hellen Alabaster wurde dunkler Serpentin, aus dem lichten Ort Gottes wurde der finstere, vermauerte Ort des Teufels, des Bösen, dessen eines Symbol die Schlange ist (lat. serpens = die Schlange). Einst fand sich hier die Menschheit im Gebet/in der Bindung an Gott: »Da kamen sie herbei, die er geschaffen, sie alle, groß und klein, von seiner eignen Hand den Segen zu empfangen.« (213) Symbol dieser frühen Gottesbindung ist eine riesige Figur, die im alabasternen Gebete (kniet) (311). Der Teu-


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fel [Teufel] zerstörte diese Bindung und ließ sich als Gott im Heiligtume an gleicher Stelle einmauern. »Und betend lag dabei die Andacht auf den Knieen!« (214)

Aus dem wahren, Segen bringenden Gebet wurde der "tausendjährige Fluch", das Gebet wurde "verzaubert" und auch noch vermauert, um seine Erlösung unmöglich zu machen. Utopisches Ziel Mays war es, der Menschheit wieder den wahren Glaubensweg zu zeigen, ihr die Gottesbindung wiederzugeben, die sie durch ihren Egoismus verloren hat. In einem Brief an die junge Lu Fritsch schrieb er 1905: Mein höchstes Bestreben ist, der Menschheit das "versteinerte Gebet" zurückzugeben, von dem Sie in Bd. IV des "Silberlöwen" gelesen haben. Vielleicht gelingt es mir.(99) Im Roman gelingt dies erst am Schluß, doch nimmt der "Große Traum" die Erlösung des "Gebets" in abgewandelter Form vorweg. Die Zeit scheint reif dafür, denn die Schatten, die nichtigen Helfer des Teufels, bauten ihre Mauer, die der Menschheit den Weg zu Gott versperren sollte, wenn nicht auf Sand, so auf kalkigen Felsen, die Lüge kann sich nicht ewig halten: Das Wasser – Element der Reinheit, steter Tropfen höhlt den Stein – hatte . . . hier so auflösend und zerstörend gewirkt, daß nur noch die allerhärtesten Teile von ihm [dem Kalkfelsen] vorhanden waren. (309)

   Diese topographischen Andeutungen können genügen zur Erschließung des dritten "Traum"-Teils.

   Durch seinen freiwilligen Sprung in den gelogenen Tod des Namenschristentums der Gegenwart entlarvt der Heilsbringer Kara Ben Nemsi diesen als "Vogelscheuche"; zugleich wird er durch seine Heilstat (eigentlich schon durch den Entschluß zu ihr) selbst zum reinen Menschheitsgeist, so zu neuem Leben erweckt: Es war mir, als ob ich in eine Flut der Kraft, des Lebens tauche, die nur im ersten Augenblick [im Moment des Sterbens] erschrecke, dann aber grad das Gegenteil von der Erstarrung [nämlich Verlebendigung] bewirke. (328) Aufgabe der Geistesmenschlichkeit ist es, Irrtum in Wahrheit zu wandeln, den – nun in anderem Sinn gestürzten – Engel Luzifer zu erlösen. Kara Ben Nemsi also hat den "Zauberer" zu retten. (Später wird er den Skeletten sagen, aus diesem Grund – »ihn vielleicht zu retten«, 341 – sei er ihm hinterhergesprungen.) Die Bedingungen dieser Rettung nennt die "Sage vom verzauberten Gebet"; einige hat Kara Ben Nemsi bereits erfüllt: das Menschheits-Ich darf sich nicht in Eigendünkel über die Schatten erheben und sie, die notwendiges Äquivalent des Lichts sind, vernichten wollen; es darf nicht vor dem Irrtum zurückschrecken und so darauf verzichten, die Wahrheit hinter ihm aufzudecken; es muß auf Gott und aufs Gebet vertrauen; es darf sich nicht vom leiblichen Tod schrecken lassen, sondern muß ihn auf sich nehmen, um so zur reinen Geistigkeit zu gelangen und ewiges Leben zu gewinnen. (vgl. 341) Dadurch, daß Kara Ben Nemsi den Teufel aus den Gewölben der Fälschung stürzte


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(der zweite Engelsturz) und den Tod durch den eigenen Sprung als dessen Lüge entlarvte, so die teuflische Macht brach, hat er die Grundlage zur Erkenntnis der Wahrheit geschaffen, zur Erlösung Luzifers. Dieser ist schon jetzt ein Verwandelter, der zwischen Angst und Hoffnung auf Erlösung harrt, nicht nur auf die eigene, sondern auch auf die der ganzen irrenden Menschheit. Es wird deutlich, daß er kein autarker Satan ist, sondern Geschöpf Gottes, das nun zu ihm zurückfinden will: der "Zauberer" hat sich schwimmend ins innere Bassin gerettet und den Sockel des Riesenpostaments mit dem einst von ihm "verzauberten" "Gebet" erklommen. Dort, zu Füßen des verfinsterten, zum Fluch gefälschten "Gebets", spricht der bisherige Antipode Gottes kein angelerntes sondern eingegebenes Gebet für Kara Ben Nemsi, für die Menschheit: »Mein Gott und Herr, laß ihn doch leben! Erhalte ihn, den Ersten, den Allerersten und den Einzigen, der über unsre "Vogelscheuche" lachte!« (329) Er, der bisher voller Furcht war, das von ihm initiierte Schattenreich könnte zerstört werden, setzt jetzt nach dem Sturz, als innerlich seine andere Identität als Schutzengel, als "Warnender" durchscheint, seine ganze Hoffnung auf diesen Ersten, der kraft seiner Persönlichkeit fähig scheint, die Menschheit von ihm, vom Irrtum zu befreien und ihn selbst damit zur Wahrheit hin zu erlösen. »Komm, rette mich!« (330), ruft er Kara zu, als der seinen Sieg über den Tod verkündet: »Ich lebe, denn es gibt ja keinen Tod!« (329) Kara schwingt sich auf den Sockel und hockt sich ebenfalls, aber auf der anderen Seite, zu Füßen des "Verzauberten Gebets".

   Was nun beginnt, ist als mystisch phantasiertes, in einer Utopie vorweggenommenes "Jüngstes Gericht", als Stunde des Gerichtes zu begreifen, in der über Segen oder Fluch? Seligkeit oder Verdammnis! (333) entschieden wird. Schon durch seine Läuterungsfunktion als Purgatorio (später bei May privatmythologisiert als "Geisterschmiede") erkennbar, wird die katakombische Finsterwelt jetzt auch als Ort des Gerichts zum Fegefeuer. Nur assoziativ erinnert dabei die Dreiergruppe – der betende Gigant (311), Kara Ben Nemsi als Menschheitsfrage, der "Zauberer" als zu erlösender Irrtum – an die gerichthaltende göttliche Trinität. Im vorderen Becken erstarben im Kalk seit Jahrtausenden die Geister, die zwar den schattenhaften Lügen der Religionen widerstanden, dem "Zauberer", dem Irrtum, in ihrer Überheblichkeit aber in anderer Weise verfielen. Der Todessieg, der Siegesruf Kara Ben Nemsis hallt bis zu ihnen hinaus und beginnt sie zu wecken: Die Schallwellen fluteten unter der hängenden Mauer hinaus in das vordere Bassin, und da hörte ich es von Säule zu Säule durch die Finsternis weiter und weiter klingen: »Keinen Tod –– keinen Tod . . . « (330) Die starken Geister standen/stehen den jeweiligen Religionsformen der Jahrtausende (seit dem Aufkommen religiösen "Sonderstolzes" bis hin zum gegenwärtigen Namenschristentum) feindlich gegenüber, schlossen/


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schließen von ihren Vertretern und Fälschern, den Schatten, auf die Nichtigkeit Gottes und konnten/können daher auch keine Hoffnung auf göttliche Erlösung setzen. Ihre Verkalkung gilt ihnen als endgültig, als Tod, und sie ahnen nicht, daß es nur ihr eigener Wahn ist, in dem sie als Geister erstorben sind. Karas Todesleugnung muß ihnen unerhört scheinen. Sie, die zum Teil seit Jahrtausenden als verkalkte Leichen in der eiseskalte(n) Flut (307), auf dem Grund ihres Wahns liegen, und nur jeweils am "ersten Tag des neuen Mondes" für kurze Zeit rege werden können, bewegen sich verlebendigt zur Wasserfläche: von weitem war es, als ob es draußen im vordern Bassin ein leises, leises Flüstern gebe, wie Gedanken, welche aus dem Wasser steigen und lebendig zu werden beginnen. (330f.) In der sich dabei zeigenden Veränderung, "Wandlung" des Wassers und der auf ihm liegende(n), dichte(n) Finsternis nimmt May das spätere Geschehen der Erlösung in einem konzentrierten, dem Alten Testament entlehnten Bild vorweg. So wie übergroße Kälte als Wärme empfunden wird, kann die Finsternis verdichtet werden, so verdichtet, daß sie die Wirkung des Lichtes bekommt. Ist in der Kälte latent Wärme vorhanden, so in der Finsternis (im Bösen, im Irrtum oder Wahn) latentes Licht (das Gute, die Wahrheit, der Glaube), das erlöst werden kann. Das Nichts, der Tod kann zum Leben erweckt werden, durch die Gnade Gottes, ganz wie es die Genesis vom ersten Schöpfungstag berichtet: »Die Erde war wüst und leer, Finsternis lag über der Urflut, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Da sprach Gott: "Es werde Licht!" Und es ward Licht. Gott sah, daß das Licht gut war. Da trennte Gott Licht von Finsternis.« (Genesis, 1. Buch Moses, 1, 2–4) May: Das war hier nur so im ganz, ganz Kleinen. Aber so wie hier konnte es, freilich im unendlich Großen, gewesen sein, als sich einst am Anfange das Licht von der Finsternis zu scheiden begann. Das Licht wurde aus seiner Gefangenschaft errettet, aus seiner Latenz befreit, aus seiner Verzauberung erlöst und schwamm zunächst als Phosphoreszenz, so fast wie Wasserleuchten, auf dem Dunkel. Dann zog es Fäden, erst feine, doch immer deutlicher werdende Fäden, die nach und nach Maschen bildeten, in denen es wie von geschliffenen Perlen strahlte."(100) Und in gewisser Höhe darüber erzitterte es von märchenzarten, orangebunten Wölkchen, in denen es von Liliputelektrizitäten beständig wetterleuchtete, bis sich die Luft von aller Finsternis gereinigt hatte und eine Schicht entstanden war, in der man endlich, endlich das, was sich in ihr bewegte, sehen konnte. (331)

   Auf derart ausgeleuchteter Bühne, deren Lichteffekte Geburt und Erlösung ankündigen, erscheint als exemplarischer Protagonist der verkalkten Geister und zuständiger Dialogpartner des reinen Menschheitsgeistes das Gerippe von dem Säulensteine am zweiten Seitenkanale (332) und schwimmt ins innere Bassin vors "Verzauberte Gebet": es lag nicht wie die anderen im Wasser – ist also möglicherweise nicht ganz so


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von Wahn befallen wie diese –, konnte daher den Ruf Kara Ben Nemsis am deutlichsten vernehmen. Bei der realen Erkundung der Unterwelt hat May es bereits in seiner Totenstarre beschrieben: Es war feucht, aber hart wie Stein, von Kalk ganz durch- und überzogen. Ein ausgewachsener Mann in den kräftigsten Jahren. Eine hohe, breite Stirn. Im Leben wohl ein schöner, kluger Denkerkopf. Der erste Gedanke seines Lebens ein Segen für die Mutter, der letzte eine Verwünschung seiner Geburt! (306)(101) Ein großer Denker, ein starker Geist, von den Schatten der altiranischen Religion (zweiter Seitenkanal!), die er kritisierte und vernichten wollte (letztlich aber durch seine eigene Überheblichkeit), in den Tod geschleudert. Die Skelettgestalt besagt lapidar, daß er als Mensch den leiblichen Tod fand, spricht aber auch von seiner geistigen Verknöcherung; wichtiger noch ist sein Durch- und Überzogensein mit Kalk. Zu den vielen Dualismen des "Silberlöwen" gehört auch der von Kalk und Alabaster. Dabei steht der Alabaster, der weiße Rucham (Marmor),(102) für das Edle, Reine, Wahre (Alabasterberg, Alabasterzelt, Alabasterfigur: 426: edle(r) Alabaster), der Kalk für das Unedle, Gemeine, Unreine, Falsche, Versündete (Kalkhöhlen, verkalkte Geister; 426: gemeinverkalkt). Beides, Kalk und Alabaster, kann sich zueinander wandeln: So waren die starken Geister nicht von Anbeginn verkalkt – May spricht bei der Entdeckung der verkalkten Skelette von aufgelöste(m) [!], weiße(m) Ruchamstein (307) –, und sie können, wie der Aschyk sagt, »aus dem Kalk erlöst« (426), von ihren Sünden befreit werden zu reiner Geistigkeit.(103) Über das Genannte hinaus steht die Verkalkung – entsprechend volkstümlicher Metaphorik – für das (reversible) geistige Abgestorbensein, den Geistestod, der mit der "Verhärtung" in Sündhaftigkeit einhergeht. (vgl. 426) Daß May gerade ein Kalkgerippe vom zweiten Seitenkanal zum Redner der sündigen Geister erkor, hat seinen simplen Grund darin, daß der Lokalhintergrund Persien ist, ein alter Iraner ihm daher am besten in die Romanlandschaft zu passen schien. Diese Rücksicht ist allerdings nicht nur überflüssig – weil der Traumdialog örtlich nicht gebunden ist und umfassende Menschheits-/Weltprobleme thematisiert –, er führt auch zu dem unnötigen Fehler, daß nun ein gestürzter Geist der  z w e i t e n  Religionengeneration verkündet: »Ich bin der  e r s t e  [Hervorhebung D. S.] Fluch, der hier erschallte.« (332) Ist für May das Gebet die Hinwendung zu Gott, so ist der Fluch ihm Gotteslästerung, Abkehr von Gott.(104) Die Positionen des Dialogs zwischen Kara Ben Nemsi und den Verkalkten – hier der (utopische) reine Menschheitsgeist mit seinem Gottesglauben, dort der in seinen Sünden abgestorbene Geist der Vergangenheit in seinem Unglauben – sind geklärt durch Karas Entgegnung: »Ich bin vielleicht, vielleicht der erste Segen.« (332) Das zaghafte vielleicht deutet an, daß Segen und Gnade letztlich in Gottes Hand liegen, der Geist zwar den erlösenden Weg zeigen, aber nicht selbst die Erlösung aussprechen kann.


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   Alle bisherigen Geister haben das Gebot der Nächstenliebe, selbst die Feinde – hier die Schatten – zu segnen, zu lieben, mißachtet und an seine Stelle in ihrem Wahn den Fluch gesetzt. Die Haltung des neuen Menschen ist ihnen unverständlich – das Erstaunen des iranischen Skeletts dringt bis in das vordere Bassin hinaus, wo es von Säule zu Säule (ertönt), wie ein Befehl für die Toten, zu erwachen. (332) (»Denn solches Wort ist hier noch nicht erklungen!«, 333). Und sie kamen, Viele, Viele, Viele! Unhörbar, vollständig unhörbar! Kopf an Kopf versammelten sie sich hinter ihm! Kopf an Kopf zog ihre Menge sich unter der Hängemauer in die Unsichtbarkeit hinaus. . . . Still war es, still. Keiner der Köpfe regte sich und keines der Wasser bewegte sich mehr. Nur der »Zauberer« hier oben bei mir bebte; denn alle, all die leeren Augenhöhlen waren starr herauf nach uns gerichtet. Und das Gerippe sprach: »Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag, an dem wir stets aus unserm Schlaf erwachen, um zu vollenden, was wir einst beschlossen. Der Tag der Arbeit an dem Werk der Rache!« (333) Die Angst des "Zauberers" ist doppelt begründet: einmal ist er es mit seinen Schatten, der die Rache der Geister, seiner Opfer, zu fürchten hat; dann zittert er als Gottesgeschöpf um das Gelingen des Erlösungswerkes, das ihn, die Geister und das "Verzauberte Gebet" befreien soll – einmal ist es eine vordergründige, dann eine hintergründige Angst. Erstere ist eher unecht und sinngebend allein auf der Handlungsebene, denn gerade durch ihr gottloses Rachestreben befinden sich die Geister immer noch in der Hand des "Zauberers". Das Rachewerk der Geister, zu dem sie an jedem ersten Mondestag erwachen – auch dies ein Bild der Geburt –, verfolgt zwei Ziele: die Zerstörung des lügnerischen Ruinentempels, der bisherigen Religionen durch das Auswaschen ihrer Grundlagen, der kalkigen, also falschen Säulen (»Wir wuschen seit Jahrtausenden sie aus, zernagten ihre Stärke und kratzten an dem alten Gleichgewicht, bis von ihm nur so viel noch übrig war, daß es verschwinden wird, sobald wir wollen! Das ist die Hälfte unsers Werkes, die Zerstörung!«, 333f.), dann die Vollendung des "Verzauberten Gebets" zum Bild des Fluches, der ihnen in ihrer Verblendung, eigenen "Verzauberung", als "Wahrheit" erscheint: »Doch wir zerstören nur, um zu erzeugen. Vernichten wir da draußen allen Trug, so fördern wir in diesem Raum die Wahrheit. Sinkt dort der Fels zertrümmert in den Tod [ins Wasser/ins Bassin], so geben wir ihm hier Gestalt und Leben. . . . Es ist der Fluch, an dessen Fuß ihr hockt! Der Fluch, der Fluch, der hier so oft erklungen, daß er des Steines Seele werden mußte! Wir wuschen diesen Stein mit unsern Tränen aus. Wir meißelten mit unsern Fingernägeln. . . . Nun ist es bald vollbracht. Nur noch zwei Mondestage, den heut und dann noch einen, so sinkt der falsche Segen in die Nacht, und unser Fluch, die Wahrheit, tritt zu Tage!« (334) An Stellen wie diesen wird deutlich, daß May im "Traum" Kritik übt an Geisteshaltungen, die zwar mit allem Recht


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die Lügengebäude überlebter und falscher Weltanschauungen – besonders das (Namens-)Christentum – destruieren (wollen), an ihre Stelle aber nicht das (seiner Ansicht nach) wahre Christentum der Nächstenliebe und Verzeihung, den wahren Gottesglauben setzen, sondern den Haß, die Verfluchung alles Falschen, Minderwertigen und schließlich gar den Fluch – in falschem Schluß von seinen Anhängern auf ihn selbst – auf Gott, auf Christus werfen. Als Hauptvertreter solchen im Ende atheistischen Denkens lernte May zur Zeit des "Silberlöwen" Friedrich Nietzsche kennen, und so ist in den Reden des persischen Gerippes unschwer dessen Philosophie erkennbar. Reichte der Raum, ließen sich analoge Nietzsche-Zitate häufen: »ich heiße das Christentum den einen großen Fluch . . . «, »Der Gott am Kreuze ist ein Fluch für das Leben . . . « und viele weitere.(105) Die Ableitung, das Skelett sei eine Nietzsche-Spiegelung, griffe aber zu weit – gemeint ist die Denkhaltung Nietzsches, die nicht erst seit ihm in der Welt ist (deren hervorragendster Vertreter er aber möglicherweise – und jedenfalls in den Augen Mays – war). Für May ist sie "Irrtum", "Wahn" – ohne es zu ahnen, sind die Geister in der Hand des "Zauberers".(106)

   Der utopische reine Menschheitsgeist, so will es May, soll den falschen Zeitgeist wieder zum Glauben und zu Gott hin erlösen. Umgekehrt wollen die Geister Kara Ben Nemsi bewegen, das zum Fluch "verzauberte" "Gebet" durch eine Sockelinschrift der Öffentlichkeit und Nachwelt als Wahrheit zu predigen, wohlwissend, daß ihr Zerstörungswerk auch sie selbst treffen wird: »Doch fehlt uns noch das Wort für seinen Sockel, die Zeilen, welche droben sagen sollen, was wir dann nicht mehr selber sagen können, weil wir da draußen mit zerschmettert werden.« (334) Erst durch dieses Wort ist das Werk vollendet, da Geist und Seele sich vereinen müssen, um ein Ganzes zu bilden: »Die Seele dieses Bildes ist der Fluch; die Unterschrift wird ihm den Geist verleihen.« (335)(107)

   Kara Ben Nemsi, Reinkarnation des Heilands, bereit, in anderm Sinne als erwartet seinen Geist zum Werk zu geben, beginnt sein Gericht über die Verkalkten, das Bekehrung will und Erlösung bringen soll: »Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag, an dem er aus dem dunkeln Schatten der Erde tritt, um wieder ihr zu leuchten. Und dieser Tag, so hoffe ich, soll auch für Euch das wiederbringen, was Euch der Schatten dieser Erde nahm –– der Sonne goldnes Licht!« (335) Es ist der Tag der Neugeburt, der Erlösung; vom Schatten, dem Bösen der Welt, in Finsternis und Tod gestoßen, sollen die Geister nun zum Guten bekehrt, zum Licht und ewigen Leben hin erlöst werden. Die Erwartung Karas gründet sich auf den wahren Gottesglauben und sein Gottvertrauen; in ihnen liegt die Potenz, das Lügengebäude des Pseudoglaubens zu zerstören. Das Wort vom Licht, vom Prinzip des Guten und der Liebe, erschüttert die morschen Säulen (335) und bewirkt ein


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tiefes Rollen am Gewölbe hin, das das Nahen schwerer Wetter (336) ankündigt – den Zusammenbruch der Lüge, der sich am Ende des Romans endgültig ereignen wird. In der Notwendigkeit dieses Zusammenbruchs sind sich der reine Menschheitsgeist und die unreinen gottfernen Geister einig (der Konflikt liegt in der unterschiedlichen Ansicht, welche "Wahrheit" – Fluch oder Segen/Gebet, Haß oder Liebe – die "Lüge" ersetzen soll), aber die Kraft der Liebe/des Lichts ist der von Haß und Finsternis überlegen – »Wenn schon mein Wort [das Predigen der Liebe] um so viel stärker wirkt, um wieviel mehr wird erst die Kraft [Liebe als Tun] Euch überlegen sein!« (336) – und sie bringt dem Liebenden Erlösung, wo der Haß nicht nur die Lüge, sondern auch den Hassenden selbst vernichtet: »Ihr selbst gestandet ein, daß Euer Wort Euch mit zerschmettern werde. Glaubt an das meinige [glaubt an die Liebe], so werdet Ihr von ihm hinaus zur Sonne und an das goldne Tageslicht [zur Erlösung] geführt!« (336) Die verkalkten Geister, überzeugt von Todes-Endgültigkeit, können an diese Erlösung nicht glauben, sind ganz in Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit, Wahn und Wahnsinn gefangen. Kara verweist auf die Licht-Latenz der Finsternis (»Ihr gebt ja mir schon Licht!«, 336) und auf die Kraft des reinen Geistes (»Um wieviel mehr kann ich nun Euch es bringen!«, 336). Er sieht in Sonnenklarheit, daß die Geister aus ihrer Schuld, die sie den (geistigen) Tod finden ließ, erlösbar sind, daß sie ent-schuldigt werden können, da nur die Hoffnungslosigkeit und Verblendung durch den Irrtum sie den Fluch ersinnen (ließ).

   Dennoch geht das lichte Menschheits-Ich scharf und nachdrücklich mit den armen, armen Geister(n) (336) ins Gericht, soll es sie doch zur Selbsterkenntnis und Wandlung/geistigen Erweckung – Grundvoraussetzung der Erlösung – bewegen. Die Geschichte der starken Geister seit den Jahrtausenden verlogener Religionen, seit der "Einmauerung Chodehs": Während Kara Ben Nemsi in das drohende Gemäuer kam, um das "Gebet" aus seiner "Verzauberung" zu erretten (338), gingen die starken Geister zum Berg, mit Schatten (sich) zu streiten.(108) Die Stärke ihres Geistes hatte sie die Täuschungen der religiösen Systeme, das Böse in der Welt überhaupt, durchschauen lassen. Ihr Frevel ist, daß sie die Balken in ihren eigenen Augen nicht sahen, sich in Eigendünkel und Überheblichkeit selbst für unfehlbar und fehlerfrei hielten, ihr Wahn (ein noch viel größrer Wahn als der Materialismus der Schatten), daß sie es für möglich hielten, »daß es auf Erden Strahlung ohne Schatten und Wahrheit ohne Täuschung geben könne!«. (336) May, sein eigenes schattiges Ich vor Augen, wußte sehr wohl, daß auch das Böse wesensmäßig zum irdischen Menschen gehört und erst im Jenseits überwunden werden kann: Ohne solche »ethischen Fäulnisstoffe . . . (wären) wir Sterbliche nicht mehr Menschen sondern Götter«.(109) Schakara, die Seele, findet später, als ihr Kara Ben Nemsi von seinem


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Traum erzählt, ein gültiges Bild für den notwendigen moralischen Dualismus von Gut und Böse im Menschen: »Ich sehe eine Linie, von rechts nach links gezogen. Am Ende rechts gibt's eine Sonnenglut, die Alles, was da lebt, verbrennen würde, wenn es so unbesonnen wäre, sich ihr zu weit zu nähern. Das linke Ende taucht in eine Finsternis, die jeder Kreatur mit augenblicklicher Vernichtung droht. Die Linie ist unser Menschenleben. Zu weit nach rechts, zu weit nach links bringt sicheres Verderben. Grad in der Mitte liegt die Unverletzlichkeit und auch die Durchschnittslänge der geworfnen Schatten. Wer diesen Durchschnitt haßt, der wendet sich nach einer von den Seiten.« (354). Der Mensch lebt diesseitig in der "Vermählung" von Finsternis und Licht, im Zwielicht = Erdenleben (vgl. 354). Seine Moralität definiert sich durch seine Stellung auf der Lebenslinie, durch das jeweilige Maß an Finsternis. Gäbe es das Böse nicht, ließe sich auch das Gute nicht definieren, alles verschwämme in einem vagen Immoralismus, der auch Jenseitsvorstellungen, den Dualismus von Himmel und Hölle unsinnig machte. Nietzsche! Die Schatten haben von daher göttliche Existenzberechtigung. Der Mensch aber, der sich das Paradies (May später: Dschinnistan) verdienen will, hat schon im Diesseits von der Finsternis zum Licht zu streben, sich nach der rechten (richtigen) Seite zu wenden. (Im Gespräch mit Schakara hofft Kara Ben Nemsi, nicht in der Mitte der Lebenslinie zu stehen, nicht Durchschnitt zu sein, vgl. 354. ) Zum reinen Geist, zum Engel, kann er aber erst nach dem leiblichen Tod in der Sonnenglut werden. Umgekehrt wird auch der sich in die Finsternis wendende Mensch erst im Jenseitigen zum Teufel – falls er nicht göttliche Erlösung findet. Schakaras Bild erklärt die Wahl zwischen Schatten und Tod als Wahl zwischen Leben/Zwielicht und Tod/Licht (resp. Finsternis). Wir haben darauf zurückzukommen. Den Gedanken Schakaras, daß die Vernichtung der Schatten, des Bösen, zugleich Leben und Welt vernichten würde, damit auch das Licht, das Gute in ihr, wirft schon Kara Ben Nemsi den Verkalkten entgegen: »Ihr hättet alle Wesen töten und jedes Licht im All verlöschen müssen, und damit nur erreicht, daß dieses All in Finsternis versank. Dann freilich gab es keine Schatten mehr; an ihre Stelle war der eine, einzige, der ewige getreten!« (336) So ist es Wahnsinn, daß die Geister »den Schemen (fluchen), anstatt der eignen Torheit« (336f.), dem Bösen fluchen und nicht ihrem Wahn, eigendünkelhaft die Welt diesseitig vom Bösen befreien zu können. Die Idee einer diesseitigen Erlösung läßt Gott außen vor, ohne Gott aber mußten die Geister beim Angehen der letzten Weltfragen (vgl. 337) in die Bodenlosigkeit (338), ins Geistesdunkel, in die Fluten (ihres) Irrsinns (337) stürzen. Nietzsche! In ihrer Ueberhebung mißachteten die erhabne(n) Geister den einzig wahren Weg ins Freie, zur Erkenntnis der Wahrheit, nämlich die Hinwendung zu Gott, das Gebet. (»Ist das Gebet für so erhabne Geister, die wir waren?« – »Für so erhabne Geister! Ach


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so! Entschuldigt mich! Verzeiht, daß ich, der arme, kleine Mensch, es wage, zu Euch zu sprechen, die Ihr so erhaben seid, daß Ihr nicht einmal mehr mit Gott, dem Höchsten, redet!«, 337) Auch noch in ihrem Purgatorio hätte ihnen das Gebet, auf das sie der "Warnende", ihr guter Engel, verwies, sofort das Licht gebracht (337) – sie im Gegenteil fluchten den Schatten, bauten und bauen noch am Bild des Fluchs, statt das "Gebet" aus seiner "Verzauberung" zu erlösen. Doch noch ist Zeit zur Umkehr, das Geisterwerk noch nicht vollendet.

   Als Kara Ben Nemsi den Geistern von seinem Weg zu ihnen berichtet – von seinem Verzicht, die Schatten zu vernichten, seinem Widerstand gegen den "Zauberer", seinem Glauben ans Gebet, seiner Todesfurchtlosigkeit und seinem freiwilligen Sprung in den leiblichen Tod –, beginnen die Verkalkten zu ahnen, daß die Möglichkeit ihrer "Entkalkung" (und der "Entzauberung" des "Gebets") nicht verloren ist: sie erkennen, daß der neue Menschheitsgeist die ersten Bedingungen erfüllt hat, welche die "Sage vom verzauberten Gebet" fordert. Von dieser Sage – May spricht mit größerem Recht auch von einem Märchen (341) erzählte ihnen vor Zeiten einer der letzten durch eigne Schuld (340) herabgestürzten Geister. Sie weckte in ihnen leise Hoffnung auf Erlösung (»Das war für uns der erste Mondestag, nach welchem wir, still hoffend, schlafen gingen. Was wir bisher für ganz undenkbar hielten, das war nach dieser Sage Möglichkeit!«, 340), doch eine allzu leise, um sie vom Werk der Rache abzubringen, denn  » e i n  [Hervorhebung D. S.] Mensch«,  e i n  Erlöser(110) »war vorgeschrieben, ein Einziger, der aber Alles tat«, »ohne Ahnung«, und an die Erlösung »soviel Bedingungen geknüpft, daß sie ein Mensch fast nicht erfüllen konnte.« (340) Kara Ben Nemsis Tun im Geist der Sage hat nun die Hoffnung so wachsen lassen daß das Gerippe schon mit (seinen) Worten von der Erlösung spricht und verkündet: »Vielleicht geschieht es noch, daß wir nach diesen Worten handeln.« (339) Der Fremde, der das Märchen erzählte, ist neben dem iranischen Geist der einzige Gestürzte, der ein wenig Kontur gewinnt, tritt aber im "Traum" nicht personal in Erscheinung. Vor seinem schuldhaften Sturz war er »drüben in dem Land gewesen [genau: im Dorfe Ohtian des Stammes Bulanuh, 352], wo seit fast ungezählten, vielen Jahren ein wunderbarer Geist in tiefer Höhle wohnt. Man nennt ihn darum Ruh-y-Kulian ["Geist der Höhle"], doch, steigt er einmal zu den Menschen nieder, so naht er sich in weiblicher Gestalt, trägt weißes Haar, fast bis zur Erde nieder, und führt den Namen Marah Durimeh. Er traf auf sie in ärmlich kleiner Hütte und sprach mit ihr vom großen Menschheitsweh.« (340) Marah Durimeh, die weise kurdische Greisin, steht in Mays Alterswerk bekanntlich für die Menschheitsseele, der er die Gestalt seiner märchenerzählenden Großmutter gab. In seiner "Ueberhebung" war dem "erhabnen Geist" jüngerer Zeit die Rede der Menschheitsseele nicht begreiflich, klang sie ihm wirr und falsch; er


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mißachtete ihre Lehre vom einzig wahren Christentum der Nächstenliebe und verwarf ihre Wahrheit auch in der zur Anschaulichkeit gewählten Form des Märchens: »Sie gab ihm, als er ging, die Sage vom verzauberten Gebete auf den Weg. Doch er, der sich für klug und weise hielt, warf sie von sich, als lächerliches Märchen.« (340) Im späteren Gespräch mit Schakara erfährt Kara Ben Nemsi zwar nichts Näheres über die Sage, aber über das Zusammentreffen des Fremden mit Marah Durimeh, vor der elenden Hütte einer verachteten und eben gestorbenen Thomaschristin. (vgl. 352f.) Schakara betont seine "Gelehrtheit" (ein "starker Geist") und vor allem seinen "Hochmut" (ein "erhabner Geist"), die Attribute also, die allen verkalkten Geistern eigen sind und ihnen zum Verhängnis wurden – der Fremde ist nur einer von diesen vielen. Seine Verachtung des Christentums war so groß, daß er vor der Leiche der Thomaschristin ausspuckte.(111) Die weitere Geschichte des Fremden hat May schon im III. Band des "Silberlöwen" berichtet: Trotz der Ahnung . . . , daß er im Irrtum sei (340), letztlich unbelehrt, kam der Fremde ins Tal der Dschamikun, um diesen seine Religion [gemeint sein kann auch: Weltanschauung](112) zu bringen.(113) Im Dünkel, selbst im Besitz der Wahrheit zu sein, verwarf er nicht nur das gedankenlose, häßliche Gebäude des Ruinentempels, sondern auch das wahre, gelebte Christentum der vom Ustad geschulten Dschamikun. Diese hingegen erkannten bald, »daß sein Himmel, wenn alle Seligen darin ihm glichen, . . . eine Hölle sein würde. Er mußte wieder gehen.«(114) Er ging, wie all die andern "erhabnen Geister", die Gedankengebäude der Religionen zu zerstören und die in ihnen wirkenden Schatten zu vernichten, fand dabei wie sie den geistigen Tod. Auch er soll nun Erlösung finden.

   Während die Worte Kara Ben Nemsis allein die verkalkten Geister wohl niemals überführt, niemals überzeugt hätten, daß sie »durch Jahrtausende hindurch nur (ihrem) Wahn und Hirngespinste dienten« (342), während also das Wort allein nicht retten kann, sehen sich die Geister in dem Moment besiegt und von ihrem Irrtum befreit, als sie erfahren, daß das Menschheits-Ich den "Zauberer", den Irrtum, der sie herabstürzte, besiegt und in den Abgrund gestoßen hat, nicht um ihn zu vernichten, sondern um ihn nach dem Gebot christlicher Nächstenliebe vielleicht zu retten (341), um Irrtum durch Liebe und Verzeihung in Wahrheit zu wandeln, ganz so, wie die wichtigste Bedingung der Sage Marah Durimehs es vorschreibt. Durch seine Heilstat hat der Vertreter der neuen Menschheit die Geister von ihrem Irrtum und ihrer Schuld befreit – ganz ebenso, wie es einst Christus durch seinen leiblichen Tod am Kreuze tat –, doch steht der Irrtum »unter Menschenschutz und ist . . . der Menschlichkeit, der früheren, empfohlen« (342), d. h. die Geister finden erst dann wirkliche Erlösung, wenn auch sie sich nun gläubig Gott anvertrauen und Menschlichkeit, Nächstenliebe selbst gegen-


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über [gegenüber] dem "Zauberer", gegenüber Luzifer üben, dem wie sie gestürzten Gottesgeschöpf. Durch den Sieg über den "Zauberer" und durch die Erkenntnis eigenen Wahns ist die Hälfte (des) Werkes, die Zerstörung der Lüge, getan; wesentlicher ist, zu erzeugen (334): Glauben, Gebet, Liebe, Verzeihung . . . Erst dieses wahrhaft christliche Tun bringt endgültige Erlösung. Die Geister zögern nicht: Ihre Selbsterkenntnis, daß es Frevel war, sich über Schatten und Irrtum erhaben zu dünken und diese vernichten zu wollen, führt sie zum Bekenntnis ihrer Schuld und damit zu Gott und zum Gebet: »Vergib uns unsre Schuld ––– vergib uns unsre Schuld!« klang es von Kopf zu Kopf und auch hinaus ins vordere Bassin. Da bog ich mich in großer, großer Freude so weit wie möglich vor und sprach: »Was habe ich gehört? Das war ja ein Gebet! Die Seele naht, die Seele Eures Bildes. Der Fluch kann niemals, niemals Seele sein. Und soll der Stein an Gottes Stelle reden, der nichts und nichts und nichts als segnen kann, so gebt ihm Hände, welche benedeien!« (342f.). Das Zitat macht deutlich, daß die Alabasterfigur nicht nur das Verhältnis der Geister zu Gott (Fluch/Gebet) symbolisiert, sondern auch umgekehrt, als Hinwendung Gottes bildkräftig werden kann. Der Stein steht ja tatsächlich "an Gottes Stelle", am Ort, wo Gott in Urzeiten in der Nische des Alabasterbergs saß. Durch die "Entzauberung" des fluchgewordenen "Gebets" wird Gott wieder zu den Menschen zurückkehren, um ihnen den Segen zu bringen. Diesen Segen sollen dann auch die Menschen ihren Nächsten schenken, sie sollen zu Gottes Werkzeug werden, ihm »Hände (geben), welche benedeien«.

   Es ist sicher: die Geister werden den Fluch in Segen münzen und durch dieses harte Tun(115) ihre Schuld bis zum Ende büßen. (vgl. 348) Sie werden dies im reinen Geist der neuen Menschheit tun, im Sinn der Worte, die Kara Ben Nemsi für den Sockel gibt:

    »Gesegnet sei, wer nach der Wahrheit suchte
    Und ihr zu Füßen auch den Irrtum fand.
    Drum leg ich ihn, den ich bisher verfluchte,
    Mein Gott und Herr, in deine Gnadenhand!«
(343)

Die Verse brauchen kaum übersetzt [zu] werden. Schlicht meinen sie, daß jeder gottgesegnet ist, in Gottes Schutz steht, der – wie der Ustad nach der Wahrheit sucht. Da die reine Wahrheit bei Gott liegt (Gott die Wahrheit ist), kann sie erst im Jenseits gefunden werden; der Wahrheitssucher hat im Diesseits also den eigenen wie fremden Irrtum zu akzeptieren, denn wie im Erdenleben das Licht nicht ohne Schatten, das Gute nicht ohne das Böse denkbar ist, so auch die Wahrheit nicht ohne den Irrtum. Niemand darf sich daher im Besitz der alleinseligmachenden Wahrheit wähnen und selbstgefällig dem Irrtum und der Fälschung anderer fluchen, wie es die starken Geister bislang taten. Er darf aber auch Irrtum und Täuschung nicht segnen, sondern hat sie "in Gottes


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Hand" zu geben. Gottes Gnade wird sie, wird den "Zauberer" erlösen.

   Mit der Überantwortung des Irrtums an Gott hat Kara Ben Nemsi die vorletzte Bedingung der "Sage vom verzauberten Gebet" erfüllt; befreit und selig atmet der "Zauberer" auf: »Nun nur noch Eins, noch Eins!« (343) Die letzte Bedingung ist es, dem Irrtum, dem "Zauberer" in christlicher Nächstenliebe zu verzeihen: »Hier halt ich ihn, den unbedacht Verfluchten. Was er an Andern tat, ist nicht von mir zu richten. Daß er auch mich bedrohte, verzeihe ich ihm gern. Denn ich will ihn aus seiner Finsternis hinaus zum Lichte leiten! Er sei von dieser Schuld erlöst, sei von ihr ––– frei!« (344) Dieser Vergebung durch Kara Ben Nemsi, den reinen Geist, schließt sich das Gerippe mit seinen Wahngefährten (344) unisono an, eine letzte Torheit, wie der nun offenbar erlöste "Zauberer" hell, rein, klar und selbstbewußt verkündet, haben sich die Geister dadurch doch nur selbst verziehen. Nicht der Irrtum, nicht Luzifer hat sie ins Geistesdunkel gestürzt, sondern ihre Angst zu irren, die Furcht vor dem Gespenste, dem "Zauberer", ihre Anmaßung, groß und erhaben zu sein, und der Stolz, der sich zu beten schämte. Sie wußten nicht das erlösend wahre Wort, daß jeder Diesseitige durch seine Leiblichkeit notwendig fehlerhaft ist: »Wer keinen Schatten wirft, der kann kein Wesen sein und wird vom Menschheitskörper nicht empfunden.« (345) Da sie nicht wagten, dem "Zauberer" ins Auge zu blicken (vgl. 338), konnte er ihnen nicht sagen, daß er nichts als ihr eigener Irrtum war. Erst nach und nach können die Geister zu dieser Selbsterkenntnis kommen, »weil Geisterwahn nicht schnell, nicht plötzlich heilt«. Gerade dadurch aber, daß die Geister nicht wußten, daß ihre Verzeihung nur ihnen selbst gilt, ihre Ent-Schuldigung die eigene ist, handelten sie in christlicher Selbstlosigkeit und Nächstenliebe, als sie dem "Zauberer" verziehen, und haben sich das Licht verdient. Der erlöste Teufel, der nun – noch bei alter Gestalt – als "Warnender", als Engel Gottes, spricht, will »(ihren) Wahn und (ihren) Selbstbetrug nicht länger strafen«: »Ihr habt gesühnt; so geb ich Euch denn Eure Schatten wieder: Es werde also Licht!« (345) Der einst gestürzte Engel Luzifer kann als Erlöster wieder seines göttlichen Amtes als Lichtträger walten und der Menschheit das Licht des "Verzauberten Gebets" zurückgeben. In den Licht-Ruf, in die Anrufung des Guten und der Liebe, stimmen alle ein – und alle Säulen des Lügentempels zittern und beben bei seinem Widerhall. (vgl. 345)

   Die Lichtwerdung lehnt sich erneut an die Schöpfungsgeschichte an; was sich nun vollzieht, ist ein neuer, von Gott geschenkter Anfang: im Bild des sich "entzaubernden" "Gebets" offenbart sich Gott selbst und kündigt Verzeihung und Erlösung an. Zunächst herrscht wieder Finsternis, Bild auch der ehemaligen Finsternis der Geister: Da plötzlich war die lichte Schicht verschwunden, die auf der dunkeln Flut gelegen


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hatte, und Finsternis lag wieder um uns her. (345) (Genesis 1, 2: »Die Erde war wüst und leer, Finsternis lag über der Urflut«) Dann gibt May ein Bild der Schöpfungsworte Gottes:(116) Doch es erklang ein Ton, so weich und doch so hell, so lind und mild und doch so siegreich klar. Wo kam er her, und wo ließ er sich nieder? Aus einer andern Welt ––– im Bilde neben mir. Erst war er nur zu hören, doch bald dann auch zu sehen, ein wunderbarer, heilger Farbenton! Wie Sonnengold, vermählt mit Himmelsblau! Wo seine Quelle lag? Im Alabaster! (345f.) Daß mit dem heilgen Farbenton das Gotteswort gemeint ist, läßt sich den musikphilosophischen Überlegungen des Chodj-y-Dschuna aus dem III. "Silberlöwen"-Band ablesen. Der setzt seine Theorie dort Nietzsches "Tönender Weltidee"(117) entgegen: »So haben sich die Schöpfungsworte Gottes zu Welten verkörpert und zu allem, was sich auf diesen Welten befindet. Jedes dieser Worte hatte seinen eigenen Ton, und alle diese Töne sind auf die Verkörperungen der Worte übergegangen. . . . Die Verkörperung des Wortes löst sich in demselben Ton auf, in welchem das Schöpfungswort erklungen ist. . . . alle [Töne] vereinen sich zum Klange des einen großen Wortes, welches vom Munde Chodehs ausging und wieder zu ihm zurückkehrt. Das ist das Wort der Liebe.«(118) So symbolisiert der Ton des "Gebets" das Wort Gottes, das den Geistern neues Leben, Liebe und Verzeihung schenkt; Leben, Liebe, Verzeihung selbst sind durch das Eigenlicht des Alabasters (353) symbolisiert: Das Bild ward nicht von außen her beschienen. Es trug das Licht in sich und warf darum auch keine Spur von Schatten. Erst leise, wie ein Morgenhauch beginnend, entwickelte die reine, keusche Klarheit sich nach und nach zum tageshellen Glanze, so daß es war, als leuchte uns die Sonne. (346)

   Nach Schakaras Bild von der Lebenslinie mit ihren Polen "Sonnenglut" und "Finsternis" ist das reine Licht des Gebets auch Symbol des Paradieses und damit des ewigen Lebens. Christlicher Logik folgend, müßten die Geister nun, da sie von ihrer Schuld befreit sind, in dieses ewige Licht eingehen, tatsächlich aber fliehen sie vor dem wachsenden Leuchten und suchen den Schutz des Schattens, um nicht verbrannt, nicht verzehrt zu werden (vgl. 346). Durch Gottes Gnade erhalten sie ihre Schatten zurück, bewegen sich wieder auf zwielichtiger Lebenslinie. Die gottgeschenkte Geistergeburt ist daher nicht – wie vielleicht zu erwarten – als eine zum ewigen Leben zu verstehen, sondern als eine Wiedergeburt ins Erdendasein. Aus Purgatorio und Geistestod werden die Geister zurück in Welt und in Geistigkeit entlassen, um sich dort in einem zweiten Leben für die Ewigkeit zu bewähren.(119) Diese Idee entspricht ganz theosophischen und anthroposophischen Weltdeutungen, wonach der Mensch in immer neuen Phasen der Reinkarnation die ehemals von Gott als rein geistig geschaffene und dann in mehreren Stufen zunehmend verstofflichte Welt in ihren ursprünglichen Zustand zurückführen soll. Menschliche und weltliche Entwick-


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lung [Entwicklung], so die Vorstellung, bedingen einander in besonderer Weise; nach biblischem Zeugnis verfiel der Mensch zu sehr dem Stoff und seinem Eigengewicht; Christus dann wies den Menschen durch seinen Tod und seine Auferstehung, durch den Sieg des Geistes über den Stoff, den Stufenweg vom Stoff zum Geist, der am Ende die Welt wieder zum Paradies machen wird. Diese Theorie, die eklektisch genährt ist von hinduistischen, buddhistischen und anderen Seelenwanderungsvorstellungen, läßt sich mit gutem Willen leicht in der Fabel des "Großen Traums" erkennen – dennoch wäre es vorschnell, May deshalb zum Anthroposophen zu stilisieren. Nicht nur fehlt es an theoretisierenden Textbelegen einiger Eindeutigkeit, es ließen sich auch genügend solche beibringen, die dazu in krassem Widerspruch stehen. Als Eklektiker amalgamierte May ja die verschiedensten religiösen und philosophischen Ideen aus Vergangenheit wie Gegenwart zu einem individuellen und in sich halbwegs schlüssigen Weltbild auf christlicher Grundlage; dabei fanden gerade aktuelle Zeitströmungen der Jahrhundertwende bei ihm ein fruchtbares Feld, so der Neue Idealismus, Nietzsche, die aufkommende Psychoanalyse und eben auch: die Theosophie und die Anthroposophie Rudolf Steiners, deren unvermittelter Anteil an Mays Spätwerkphilosophie analytisch aber kaum ermeßbar ist – zumal diese Denkrichtungen eben selbst schon entschieden eklektisch strukturiert sind. So können wir hier nur feststellen, daß die Reinkarnation der Geister im "Traum" der zeittypischen theosophischen und anthroposophischen Denkhaltung entspricht, diese als direkte Quelle aber bezweifelbar ist.

   Kara Ben Nemsi, der reine Geist, Sieger über den Stoff, erweist sich nach seinem Todessieg ein zweites Mal als Heiland und Wegweiser in Christi Nachfolge: er allein weiß den vor dem Licht rettenden Weg ins Freie, er ist diese(r) Eine, der nach der Sage den Schlüssel Hephata besitz(t), dem auch die Felsen und Gigantenmauern (346) der verlogenen Religionen nicht widerstehen können. (Schon dröhnen die Säulen und löst sich Stein um Stein vom Gewölbe, vgl. 347) Einsehbar schreibt Christoph F. Lorenz dazu: »Die Erlösung kann nur von dem gebracht werden, der den "Schlüssel Hephata" besitzt. Das ist aber nur einer: der Christus, der dem Taubstummen den Mund auftat mit dem heilenden "Epphata" [= Tu dich auf/Öffne dich!; folgt Zitat Markus 7, 33–35; D. S.] . . . Es ist gewiß kein Zufall, daß Karl May hier an das Markus-Evangelium anknüpft. Der einzige Weg heraus . . . führt über ein neuverstandenes Christentum . . . , nur dem verpflichtet, der den Schlüssel "Epphata" besitzt.«(120)

   Die Wiedergeburt der Geister ist – wohl unbewußt – mit konkreten Geburtsassoziationen, mit Sexualsymbolik belegt: Kara Ben Nemsi springt in das Wasser, der "Zauberer" folgt ihm darin und hält sich dann schwimmend an seiner Seite – Indiz, daß er nun als Schutzengel be-


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greifbar [begreifbar] ist –, beide schwimmen den Geistern voran und zeigen den Weg, durch die Wasserflut der Lichtflut zu entgehen. Wasser symbolisiert die Geburt (Fruchtwasser!) – die Psychoanalyse sieht in ihm daher auch ein Symbol des Weiblichen –, tritt in zahlreichen Schöpfungsmythen (z. B. der Genesis) als Symbol des Uranfangs alles Seins auf, als "materia prima", gilt zugleich auch in vielen Kulturen als Symbol der geistigen Reinigung (Taufe). Das Hineintauchen des Heilbringers Kara Ben Nemsi ins Wasser vollzieht die Taufe Christi, seine spirituelle Reinigung nach, meint auch die christliche Taufe überhaupt, die nach Paulus Symbol für Sterben und Auferstehen in Christus ist. Ihr Schwimmweg führt die Geister aus dem hinteren in das vordere Wasserbecken, in den Uterus, und von dort gleich nach dem Hauptkanale, wo der letzte Lichtreflex verloren (geht), in die steinerne, sich verengende Vagina. Der in tiefster Finsternis liegende Weg ist durch die engen Seitenmauern vorgeschrieben: Wir konnten weder rechts noch links abweichen, sondern nur immer vorwärts, vorwärts, vorwärts, und daß die Andern folgten, das hörten wir an ihrem Schwimmgeräusch, welches in dieser steinernen Röhre wie dumpfes Meeresbrausen rauschte. . . . durch das Gestrüpp hinaus geht es ins Freie, in den See. (347) Mit dem "Zauberer" zusammen schwimmt Kara Ben Nemsi eine Strecke weit hinaus und beobachtet den Auszug der Geister,(121) deren Zahl erst jetzt im Sternen- und Mondlicht – also im Zwielicht des Lebens – überschaubar wird: War es möglich, daß alle, alle diese Vielen, die ich erblickte und die noch immer nachdrängten, sich da drin im Berg befunden hatten? Kann es wirklich eine solche Menge von Geistern gegeben haben, die von ihrer Gedankenhöhe stürzten, weil ihnen plötzlich dort der feste Boden schwand? (348) Genau datiert May die Stunde der Wiedergeburt: grad über den Geistern am Himmel steht die schmale Sichel des ersten Viertels – es ist der erste Tag des neuen Mondes –, »Adan, der Stern der Erdenmitternacht, erglüht grad über (ihnen) am Firmamente«, es ist »heilge Geisterstunde«.(122) Das iranische Skelett entschlüsselt selbst das Himmelsbild: »Heut ist der erste Tag des neuen Lebens, der Tag, an dem das Licht uns wiederkehrte.« (Licht = Leben) Im Namen aller, deren »Hochmut einst (Gott) nicht anerkannte«, spricht er von »Dank«, von »Lob und Preis«, also vom Beten, das sie Gott nun schuldig sind, dem »einzig Einen«, dem sie jetzt im Beit-y-Chodeh, im ihm geweihten, von Rosensäulen getragenen Tempel, sagen wollen, »daß (sie) wieder beten werden«. Rosen – christlich auch Bild der mystischen Wiedergeburt – symbolisieren bei May u. a. das Gebet,(123) die Hinwendung zu Gott, aber ebenso Gottes Gnade, sich den Menschen zuzuwenden;(124) so ist der Rosentempel Ort der wahren Gottesbegegnung. Die Geister, bekennt das Skelett, haben ihren Irrtum zwar »gebüßt, jedoch nicht bis zum Ende«. Ihr Lebenswerk muß nunmehr sein, büßend den bisherigen Fluch in Segen zu verwandeln, im Geist der Nächstenliebe,


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im Geist Christi: »Wir haben nun den Schlüssel Hephata.« Die Umbildung der Alabasterfigur ist möglich, weil die Lügenmauern der Religionen noch bestehen und das nötige Zwielicht des Lebens verbreiten: »was uns tödlich war, des Bildes Eigenlicht, wird sich im Bergesdunkel schnell verlieren. Dann kehren wir zurück und lassen jene Faust, die sich im Grimm des Fluches ballen sollte, zur offnen Hand des Fürgebetes werden.« (348) Wenn das Werk und die Buße der Geister vollendet sind, wird die Kraft des Lichtes die Säulen zusammenbrechen lassen, werden die Geister ins Paradies eingehen. Als Zeichen wahrer Gottes- und Nächstenliebe wird durch das Wirken der bekehrten Menschengeister das endlich aus der Finsternis erlöste "Verzauberte Gebet" "entzaubert" unter dem Alabasterzelt/der Alabasterkrone, dem Bild "reiner Gottesidee", sichtbar werden: Dann wird es seine emporgehobenen Arme dem Aufgange der Sonne entgegen(strecken), um mit offenen Händen den Segen zu nehmen und zu spenden, in den der tausendjährige Fluch verwandelt worden (ist). (630)

   Die Geister schwimmen ans Ufer und wandeln den Berg hinauf zum Beit-y-Chodeh,(125) der Mensch Kara Ben Nemsi wendet sich mit seinem Schutzengel, dem "Zauberer", zur Landestelle; von dort gehen sie durch den nachtschlafenden Duar zum "Hohen Haus" des Ustad, in die stille Denkerklause, in deren Schlafraum der schlafend entseelte (richtiger: entgeistigte) Leib Kara Ben Nemsis ruht. Auf dem übersternten Dach will der erlöste Teufel erklären, »warum es Schatten gibt und Fehler bei den Menschen«. (349) Von dort blicken sie zum Beit-y-Chodeh hinüber: Der Sterne Glanz lag auf dem ganzen Tal; der Tempel aber stand in jenem Lichte, das aus dem Alabaster hell ertönte ––– im Sonnengold, mit Himmelsblau vermählt. Die Geister lagen alle auf den Knieen. Ein süßer Rosenduft umwehte uns. Kam er von drüben? Sollte er es sein, der uns die leise, leise Strophe brachte:

    »In allen Himmeln leuchten heut die Sonnen;
    Auf allen Erden wird zum Tag die Nacht,
    Denn was der Wahn im blinden Haß begonnen,
    Wird von der Wahrheit segensreich vollbracht!«
(349f.)

Die Geister sprechen mit Gott und begegnen ihm im Gebet (Rosen, Licht und Ton des Alabasters). Der "Zauberer" meint, Kara Ben Nemsi das Gebet der Geister erklären zu müssen, obgleich die Worte ganz unverstellt vom Wandel der Finsternis zum Licht, von Wahn in Wahrheit und von Haß in Segen künden. Der bislang dominierende Heiland Kara ist wieder auf menschliches Maß reduziert, kann in "menschlicher Bescheidenheit" das Kyrie der Geister nicht verstehn (vgl. 349) und bedarf der dolmetschenden Aufklärung durch den Engel Gottes. Kara soll die Erklärung »nicht nur hören, sondern auch sehen«, soll erkennen, daß sich der Irrtum nun in Wahrheit gewandelt hat und aus dem


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Teufel Luzifer, dem Vertreter des Bösen und der Lüge, der warnende Engel, der Vertreter des Guten und der Wahrheit, geworden ist: Innerlich längst vollzogen, wandelt sich der "Zauberer" in einer Szene märchenhafter Phantastik(126) endlich auch äußerlich vor dem Menschenauge in den "Warnenden": Seine Gestalt begann, zu verschwinden, sich wie in Nebel zu verwandeln. Doch nahm dieser Nebel sehr rasch wieder Formen an, und wer, wer stand da vor mir? Nicht mehr er, der »Zauberer«, sondern der »Warnende«, mit dem ich gesprochen hatte, ehe ich in den Berg gestiegen war. Ich sah nicht mehr den weißbehaarten Kopf mit stechend scharfen, kalten Feindesaugen, nein, sondern jene freundlich ernsten Züge und jenen weichen, väterlichen Blick, der bei der Frage, ob ich beten könne, besorgt und doch voll Hoffnung auf mir ruhte. (350) Von hoher Warte resümierend stellt der "Warnende" fest: »Du hast dein Wort gehalten. Bist weder meinem andern Ich [Irrtum, Lüge, Schattenfürst, Luzifer] noch jenem Wahn verfallen, der aller Welt den Schatten rauben will, weil er sich selbst für ohne Schatten [die geistige Überhebung] hält.« Nicht als "Warnender", als "Zauberer" sieht er sich besiegt: »Du hast mich nicht besiegt und aber doch besiegt.« (350) Der zum Engel erlöste Teufel fühlt sich dem Menschen Kara Ben Nemsi verschuldet und führt ihn zum Dank in das – später von Schakara aufgegriffene – Geheimnis ein, »daß Beide, Licht und Finsternis, den Tod bedeuten würden, wenn sie sich nicht versöhnt die Hände reichten, grad ihn in ewges Leben zu verwandeln. Darum die Wahl, die keine Lüge war, obgleich es Tod nicht gibt und doch kein Schatten lebt: Tod oder Schatten!« (350f.) Der Mensch hat die Aufgabe, im Zwielicht des Lebens zum Licht zu streben, sich im Diesseits zwischen den Polen Gut (Geist) und Böse (Materie) zu bewähren, um, den Tod besiegend, jenseitig ins Licht, ins ewige Leben einzugehen. Die Wahl zwischen Schatten und Tod ist so faßbar als die Wahl zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Materie und Geist, eine Wahl, vor der jeder Mensch im Erdenleben steht.

   In langer Nacht bis zum Morgen erzählt der Engel exemplarisch vom bisherigen Weg der Menschheit, ein Menschenleben, ein Geistesleben, und aber doch das ganze Menschheitsleben (351). May berichtet nicht mehr davon, doch gilt ja sein ganzes Schreiben nun der Schilderung der Menschheitsentwicklung, mit sich als Exempel. Beim erste(n) Sonnenstrahl verabschiedet sich der "Zauberer" und gibt dem "Traum"-Geist Kara Ben Nemsi einen »Kuß für den, der drinnen schläft«, für den realen leiblichen, nur für die kurze Zeit des Schlafes entgeistigten Menschen, der die Lehre des Traums nun im Leben zu verwirklichen hat. (So sagt Kara Ben Nemsi dann später auch über den Traum zu Schakara: »Er hat mich viel gelehrt und handelt in mir weiter«, 355) »Du wirst gebraucht«, sagt folglich auch der "Zauberer" zum erkenntnisgeschwängerten Geist, und gibt ihm die Weisung: »Sobald du dich ihm


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[dem Schlafenden] nahst, wird er zu träumen haben, was du bei mir erlebtest. Geh langsam, langsam hin, und gib ihm meinen Kuß! Nicht übereilt sei deine Wiederkehr, weil er des Traumes sich nach dem Erwachen genau erinnern soll. Kein Wort sei ihm verloren!« (351) Der Traum war Utopie – noch innerhalb der ohnehin utopischen Dimension des Romans –, so daß das Wort des "Zauberers", er werde »wohl noch viel mehr« als der Geist Kara Ben Nemsis gebraucht (vgl. 351), sich nicht nur auf seine Existenz als warnender Schutzengel, sondern auch wieder auf sein luziferisches Sein bezieht, auf das im Diesseits notwendige Äquivalent des Bösen und des Irrtums/der Lüge zum Guten und zur Wahrheit, auf die Legitimation der Schatten.

   Märchenhaft endet der "Traum" mit einem langsamen Traum-Gang und einem weckenden Dornröschen-Kuß, der dem Leib Kara Ben Nemsis den prinzlichen Geistes-Odem der Erkenntnis einbläst: Ich . . . ging nur Schritt um Schritt quer durch das Mittelzimmer, dann durch die offne Tür ins Schlafgemach, in welches grad mit mir der Sonne Licht auch trat. [Bild der geistigen Wiedergeburt des realen Menschen Kara Ben Nemsi] Sein Angesicht begann, sich geistig zu beleben, und dieses Leben ward um so bewegter, je näher ich ihm kam. Nun war ich dort und bog mich zu ihm nieder, gab ihm den Gruß des »Zauberers«, der an der Tür noch stand, und –––––––––– und erwachte aus dem Schlafe, riß beide Augen auf, sah mich aber schon nicht mehr stehen, sprang eiligst aus dem Bett und dann schnell durch die Tür hinaus ins Mittelzimmer. Der Zauberer war fort, das Zimmer leer und auch das platte Dach! – »Geträumt, geträumt!« rief ich. »Und aber wie geträumt!« (351f .)

Autobiographische Ebene

Sind schon bei einer autobiographischen Entschlüsselung der ersten beiden "Traum"-Phasen Skepsis und Scheu angebracht, so entzieht sich der unterweltliche Geisterdisput und die Befreiung aus Finsternis zum Licht, die Erlösungseuphorie des dritten "Traum"-Teils erst recht einem solchen Versuch. Das Persönliche der Befreiung ist am ehesten zu fixieren in der dreistufigen  B e f r e i u n g  v o m  P e r s ö n l i c h e n :  im "Großen Traum" gelingt May der fiktive Sieg über die quälenden Schatten der Vergangenheit, das auch real erstrittene Niederringen der Vater-Imago und die erträumte, von allen Qualen und Schuldgefühlen erlösende Entindividualisierung zum reinen Menschheitsgeist, zum Heiland, dessen subjektive Leiden notwendig zu erleben waren, um (als pädagogischer Schriftsteller) wegweisend für die ganze Menschheit (hier für die Geister) zu wirken. Die Idee – Klaus Jeziorkowski hat da nicht so unrecht(127) – zeugt von einigem Größenwahn (Nietzsche und sein Widersacher May können sich hier als "Gekreuzigte" die Hände reichen), ist aber zu begreifen und zu entschuldigen vor dem Hinter-


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grund [Hintergrund] in der neueren Literaturgeschichte beispielloser, Leben wie Werk betreffender Legitimationsnot vor einem nahezu unmenschlichen Presse- und Gerichtstribunal.

   Das Ich der dritten "Traum"-Phase ist bis zum Dominanzgewinnen des "Zauberers"/"Warnenden" gegen "Traum"-Ende ein utopisches Wunsch-Ich, das sich daher realbiographischer Hineinklügelei weithin entzieht. Andererseits weiß auch ein naiver Leser, daß Literatur, sofern sie nicht wie in mancher Trivialliteratur aufgepfropften Schablonen gehorcht, ihre Bausteine dem Steinbruch persönlicher Erfahrungen dankt. Aus dem Unbewußten kommend, können diese sich gar gegen die bewußte Textintention sperren, und geben auch unter sich nicht immer ein logisches Gefüge. So auch hier: Folgen wir unseren Andeutungen zum zweiten "Traum"-Teil, so findet das Ich durch seinen Sprung in den Abgrund – analog zur Regression und Wandlung Mays während der Orientreise – zu erlösender Wiedergeburt in neuem Geist: deutlich genug erscheint das unterweltliche Wasserbecken mit seiner Flut der Kraft, des Lebens (328) als uteraler Ort der Geburt, als Ort ursprünglicher und nun wiedergewonnener Reinheit (Symbol "Wasser"!). Nur als Wunsch-Ich reflektiert das abstrahierte und entindividualisierte Ich hier noch die Subjektivität Mays: durch seine Geisteskraft, durch das Vorbild seines Lebens (sein Verhalten im Konflikt mit Schatten und "Zauberer") und durch sein Schreiben (die Worte für den Sockel, 343) gelingt Kara Ben Nemsi die Bekehrung/Erlösung des "Zauberers" und der ungläubigen, in ihrem Irrtum verkalkten Geister. Dem "Traum"-Ich ist die Unterwelt daher ein guter Ort, an dem es ungefährdet, in übermenschlicher Integrität die Triumphe Mayschen Wunschdenkens auslebt. Obwohl dieser mit Ausnahme der Geburtssymbolik eher bewußten Gestaltung widersprechend, hat aber auch Arno Schmidt recht, wenn er im unterweltlichen »Totenhause« – die Parallele zum Maha-Lama-See aus "Ardistan und Dschinnistan" ziehend – eine unterbewußte »Gefängnisabbildung vom Typ Osterstein« mutmaßt,(128) und in seiner Folge auch Hans Wollschläger: »das "Hohe Haus" ist eine späte, geisterhaft vergrößerte Schatten-Projektion der Gefängnisse Schloß Osterstein und Waldheim, in deren Zellen May einst sieben Jahre harte Strafe abbüßte. So tief versteckt, so heimlich vor sich selbst geheim gehalten blieb lebenslänglich dieser dunkelste Punkt, daß May sein ganzes Werk hindurch in ungezählten Konnotationen daran herumbewältigt hat: von den Wildnis-Festungen der ersten Reiseerzählungen bis hin zur Totenstadt des späten Romans von "Ardistan und Dschinnistan" sind seine Großbauten allesamt Signalmarken eines Lebens, das sich selber vergeblich zu entrinnen suchte.«(129) Die Bewältigung seiner finstersten Lebensphase  k o n n t e  May nicht gelingen, weil sich sein Bewußtsein aus gutem Grund bis zuletzt gegen eine öffentliche, literarische Aufarbeitung dieser Leidenszeit


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wehrte, die ihn innerlich entlastet hätte. Selbst unbewußte Versuche solcher Aufarbeitung, wie hier im "Großen Traum", dokumentieren eher die Mühen der Verdrängung als der Bewältigung: die finsterkalten, mit Riesenquadern vermauerten Kerkerhallen werden vom eigentlichen Identifikations-Ich gar nicht als solche erlebt, sondern sie sind ihm Geburtsort – und er hat den Schlüssel Hephata. Gefängnis ist diese Unterwelt nur den verkalkten Geistern: wie auch sonst oft delegiert May problematische Ich-Erfahrungen auf Außenfiguren und setzt das offizielle Ich in Distanz zu ihnen. Da nicht einmal das "vorzüglich schwimmende und viel sprechende Gerippe" (373) Kontur gewinnt, der Fremde – der in seiner Beziehung zu Marah Durimeh möglicherweise Ich-Qualitäten besitzt – im "Traum" nicht skeletthaftig auftritt, und alles Geistertun von philosophisch-religiösen Ideen gesteuert ist, kommt es im "Traum" nur sehr vage zu einer bescheidenen Konfrontation mit der erlittenen Gefängnisperiode, so vage, daß sich eine Detailinterpretation nicht lohnt. Vielleicht war es aber diese Unterlassung, die May insgeheim nicht ruhen ließ und ihn dazu drängte, im späteren Handlungsverlauf des "Silberlöwen" das Thema der Gefangenschaft (seiner Gefangenschaft!) zu individualisieren: so eindeutig der Aschyk in seinem Verhältnis zu Pekala den wahrscheinlichen Liebhaber seiner Frau Emma, Max Welte, abgibt, so deutlich spiegelt sich in seiner Gefangenschaft das subjektive, nie verwundene Leiden des Sträflings Karl May. Für diese Spiegelung, die Thema eines eigenen Aufsatzes sein müßte (der Aschyk tritt auch sonst im Roman mehrfach als Konterfei des Autors auf), können hier Andeutungen genügen. Sie gehören zu unserem Thema, weil May selbst die Parallelen zum "Traum" herausstellt.

   Schon die Vergangenheit des Aschyk (»ein Dieb, ein Fälscher, ein Betrüger«, 431) erinnert an Mays eigene Verstrickungen im kriminellen Dickicht – dabei blinkt heimlicher Stolz auf die Raffinesse der Hochstapeleien und Betrugsdelikte durch: als den »beste(n) Muzabirdschi [Anmerkung: Wegfuchsler, Taschenspieler] . . . im Lande« läßt May den Aschyk, Pekalas "Geliebten",(130) betiteln, der »wegen schwerer und sehr pfiffiger [!] Diebstähle zu mehreren Jahren Gefängnis bestraft (wurde)« (285). May selbst fand in Waldheim zu einem neuen Anfang, der vermeintliche Abgrund war ihm später ganz und gar kein Abgrund,(131) es waren ihm vier Jahre der ungestörten Einsamkeit und konzentrierten Sammlung, die ihn sehr, sehr weit vorwärts gebracht hatten.(132) Das mag ein Versuch sein, verlorenen Jahren nachträglichen Sinn zu geben, in jedem Fall hatte May diese Idee so verinnerlicht, daß er von der Resozialisationskraft der Gefangenschaft überzeugt war und sie im Werk auch aus diesem Grund manch wandelfähigem Bösewicht angedeihen ließ – der ihm dann zum seelischen Ebenbild vergangener Zeiten geriet. Kara Ben Nemsi gibt dem schuldbeladenen Aschyk »ein


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Gefängnis, wo er sich zu entscheiden hat: Wahnsinn oder Reue.« » Unten im Bassin, im finstern Bergesinnern« (363), wird der Wandelbare auf dem Stein mit dem Gerippe ausgesetzt, um dort »den Ausweg aus der innern Hölle . . . durch die äußre Hölle (zu finden)« (364). Nur vordergründig »unerbittlich kalt und streng« (363), ist diese Isolationshaft – wie May aus eigener Waldheim-Erfahrung meint – der einzig richtige Weg zur Rettung, zur Wandlung durch Selbstbesinnung und Reue. Das Skelett – im "Traum" Vertreter der Geister – ist dem Gefangenen nun Symbol des eigenen Todes, dem er schaudernd ins Auge sehen muß (vgl. 375), und solche Todesangst, Angst vor dem Unabwendbaren, das Zurückgeworfensein auf die ganz existentielle Not, mag auch den Waldheimer Gefangenen »in der schrecklichsten aller Finsternisse, in der innerlich laut heulenden tiefen Stille« (500) überfallen und gequält haben: »Erbarmen . . . Erbarmen! Hier gehe ich zu Grunde!« (375) May fand durch den Einfluß Kochtas zu tiefer Religiosität, fand durch den Glauben zu neuer Lebenskraft: der Aschyk lernt im Elend seiner Gefangenschaft, in dem ihm »das rechte, wahre Licht« (500) aufgeht, das Beten. Bewußt assoziiert May den "Großen Traum", als er Kara Ben Nemsi mit Kara Ben Halef den Aschyk nach zwei Tagen befreien läßt: Mußte sich hier, in dieser tiefen, dunkeln Verlassenheit, denn Alles, Alles, selbst die ärgste Verkalkung und Verhärtung, schließlich doch und doch noch zum Gebet verwandeln? Nicht nur im Traume, sondern auch in der Wirklichkeit? (425)

   Das philosophisch-religiös besetzte "Traum"-Thema der "Verkalkten Geister" wird unter autobiographischem Aspekt erneut aufgegriffen, ein Versäumnis in paralleler Handlungsschaltung aufgeholt. Der Gefangene berichtet von einem Traum, einer Vision, in der ihm die Geister (seiner) Lebenstage (429) erschienen: »ich schlief hier ein, ermüdet vom Rufen, Schreien, Brüllen. Da kam ein Traum –– ein Traum! Ich hatte tausend Jahre, tausend Jahre lang(133) hier im Wasser gelegen, verhärtet und verkalkt in meinen Sünden. Niemand wollte mich retten, und ich selbst konnte es nicht. Da kam ein Ruf von oben, einmal – zweimal –– dreimal; der weckte mich.« (426) Der Ruf kam von Kara Ben Nemsi, der so während seiner mit Schakara unternommenen Erforschung des Ruineninnern ein Lebenszeichen des Aschyk provozieren wollte. (vgl. 395) Über den Inhalt ist nichts gesagt, doch ist er, von der Handlungsebene abgehoben, sicher als Auf-Ruf zur Umkehr zu verstehen – damit bieten sich autobiographisch zwei Deutungen an, die sich nicht ausschließen müssen: Kara Ben Nemsi handelte hier in der Rolle Kochtas oder als göttlicher Mahner. Durch solchen Ruf fand May jedenfalls in Waldheim zur Selbstbesinnung, zum inneren Gericht mit seiner Vergangenheit: »in mir, in mir, tief unten, da wurde es laut und laut und immer lauter! Da kamen die Tage meines Lebens, einzeln, furchtbar einzeln, einer nach dem andern! Sie klagten mich nicht an, nein nein, nein


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nein! Das tat ich ja schon selbst! Sie gaben gute Worte! Ein jeder, jeder, jeder von ihnen kniete im Büßergewande neben mir nieder, griff nach meiner Hand und drang in mich, mit ihm zu beten, zu beten, zu beten! Und als sie alle um mich lagen, alle, alle, vom ersten bis zum letzten, da kniete ich inmitten meines Lebens und faltete die Hände wie sie alle.« (426f.) Die im "Traum" als individuelle Geistesgrößen zu begreifenden Skelette sind autobiographisch hier die Repräsentanten des individuellen Lebens von Karl May geworden; im Gefühl des Lebens-Endes – wenn auch nicht des realen Todes – lief vor dem Auge des Waldheimer Gefangenen quälend langsam und chronologisch der Film seines verfehlten Lebens ab. Die Konfrontation mit seiner Vergangenheit, die Idee des Gottesrufes (»Hier . . . griff er in die Finsternis und stellte meine Seele vor mich hin, die ich mir aus der Brust gerissen und weggeworfen hatte.«, 428), ließ May zu neuem Selbstverständnis, zu neuem Lebenswillen finden. Der Aschyk bei seiner Befreiung aus der Unterwelt: »Dort laß ich das Gerippe! Mir ist, als ob es mein eigenes Skelett sei, mein früheres. Ich habe jetzt ein neues. Das ist nicht starres Knochenwerk, aus dem mir das Vergangene, die Zähne fletschend, in die Augen grinst, sondern ein fester, froher Wille, der vor Freude jauchzt, gutmachen zu können, was ich verbrochen habe.« (428) Gestalt fand dieser Wille bei May im Schreiben.

   Analog zum "Traum"-Geschehen folgt dem Aschyk bei der Befreiung aus dem Unterwelt-Gefängnis die Geisterschar seiner Lebenstage in den helle(n) Mondschein (vgl. 429): »Die Tage meines Lebens sollen mit mir hinauf zum Tempel steigen. Sie, meine Ankläger, sollen mit mir beten und werden dann verschwinden; so hoffe ich!« (429) Eine trügerische Hoffnung des Autors, die Vergangenheit durch neues Tun auswischen zu können! Die "Traum"-Geburt in der (scheinbaren) Handlungsrealität in autobiographischer Dimension wiederholend, lenkt Kara Ben Nemsi das Boot mit dem Aschyk (das Lebensschiff?) den bekannten Weg hinaus in den See und gibt dem Fahrzeuge die Richtung nach dem südlichen Ufer, nach derselben Stelle, wo die erlösten Geister an das Land gestiegen waren. (430) Allein geht der Aschyk, der aus dem Zuchthaus entlassene May, hinauf zum Beit-y-Chodeh, dort Zwiegespräch mit Gott zu halten.(134) Später begleitet er, den Weg des "Zauberers" nachschreitend, Kara Ben Nemsi zum "Hohen Haus": die Erfahrungen des Sträflings May sollen dort dem Schreibenden zur Erkenntnis und zur Entlarvung seiner Feinde aus kirchlichem und weltlichem Lager dienen. (vgl. 434f.) Aber auch Verbitterung über sein Schicksal und das Gefühl, Unrecht erlitten zu haben, folgten May bis ins Alter: »Warum gibt es so viele Verlorene? Sie müssen verloren gehen, weil man ihnen schon den ersten, kleinen Fehltritt nicht verzeiht. [Bei May: Uhrendiebstahl, 6 Wochen Gefängnis] Warum spricht man nur von Gerechten und nur von Ungerechten? Weil in der Mitte zwischen


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ihnen Diejenigen fehlen, welche Menschen sein würden, wenn es welche gäbe! Ich meine die Menschen, welche ihrer Natur nach zuweilen sündigen dürfen, ohne sofort ausgestoßen zu werden!« (433) May ging verloren, weil er 1862 keinen verständigen Richter fand, der die besondere "Natur" des Delinquenten entlastend berücksichtigt hätte.

   Auf der Plattform des "Hohen Hauses" beichtet der Aschyk dem "Menschentum" (436) seine Vergangenheit, ein Menschenleben nur, und aber doch ein Menschheitsleben. May deutet den Inhalt nur an wie in der Parallelszene mit dem "Zauberer" –, aus Erzählökonomie, aber auch aus Furcht, sich zu entblößen und im Wissen, daß diese autobiographische Dimension nur in großen Handlungsgefügen aufzuarbeiten ist: Vom »Zauberer« hatte ich erfahren, warum es Schatten geben muß. Heut nun erfuhr ich, wie diese Schatten wirken und wie man sich verhalten sollte, um sie so klein wie möglich zu machen. (435) Dies ist das große Thema des Mayschen Spätwerks: das Niederringen der Schatten der Vergangenheit (autobiographische Ebene) und der Schatten des Bösen (philosophisch-religiöse Ebene), die persönliche und die allgemeine Entwicklung zur Edelmenschlichkeit, von Ardistan nach Dschinnistan.


E. ZUM SCHLUSS

Daß Träume Schäume sind, ist ein gedankenloser Allgemeinplatz – dem Schriftsteller Karl May wurde sein Träumen zum Leben, sein Leben zum Traum. Immense Phantasiekraft, anfangs Medium seiner Kriminalisierung, ließ ihn später Lebensohnmacht in Macht- und Durchsetzungsträumen kompensieren – hier hat er manche Gemeinsamkeit mit sonstigen Autoren der Abenteuerliteratur –, bis er im Alter seine überlebens-wichtige Traumwelt zu einem einmaligen mythischen Kosmos erweiterte, der die Realisierung von Menschheitsträumen provozieren sollte. In der Durchdringung autobiographischer und philosophisch-religiöser Intentionen gelangen ihm dabei hochartifizielle Werke ganz eigenartiger Prägung, deren Höhepunkte die Romane "Im Reiche des silbernen Löwen III/IV" und "Ardistan und Dschinnistan" bilden. Struktur und Inhalt sind derart komplex, daß Analyseversuche eines Einzelnen notwendig an Grenzen stoßen und in mancher Sackgasse enden müssen. So kann auch das vorliegende Analysewagnis, trotz seiner Beschränkung auf einen Text a u s s c h n i t t  des "Silberlöwen", nicht Anspruch auf Endgültigkeit und Wahrheit erheben und eben allenfalls als "Annäherung" gelten. Insonderheit über Detailinterpretationen wäre noch genugsam zu streiten: es gehören viele Augen dazu, Durchblicke zu gewinnen. Manches auch konnte aus Raumgründen nur in Ansätzen dargestellt werden und bildet eine Fragmentarik, die zu ergänzen


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wäre. Das betrifft vor allem die Einbindung des "Großen Traums" ins Gesamtgefüge des "Silbernen Löwen", die Stränge etwa, die den "Zauberer" mit Ahriman Mirza verbinden. Dennoch wurde dem Einsichtigen wohl erkennbar, inwieweit der "Traum" eine Folie des Gesamtromans abgibt, inwieweit er Mays Gedankenwelt episodisch zusammenrafft. Für den "Großen Traum" gilt dabei die Dominanz der Weltanschauung, des Mythos, über die biographische Verschlüsselung. So ist sein literarischer Wert denn auch weniger strukturell, als inhaltlich und gehaltlich greifbar: seine archaische Bildwelt, seine imaginative Radikalität, die den Text am ehesten mit Dante oder Nietzsche in Vergleich bringen läßt, erhebt ihn nicht nur über manche Literatur seiner Zeit, sondern letztlich über die Zeit schlechthin. Man mag über den Aberwitz Karl Mays, sich zum neuen Heiland, zum ersten neuen Menschen zu stilisieren, hohnlächeln, über seine Phantasmagorie der Erlösung im Denken an zwei Weltkriege und andere Greuel einigen Sarkasmus aufbringen: Mays Ansprüche waren und sind illusionär, aber es gehört zu den Aufgaben der Literatur, solche Utopien zu entwickeln, und sei es nur, um das Elend der Wirklichkeit fühlbar zu machen. Mays "Großer Traum" von der Erlösung blieb ihm und blieb der Menschheit nur ein Traum – doch er war zu träumen, um die Hoffnung nicht zu verlieren.



1 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903 S. 313f. (künftig durch in Klammern () nachgestellte Seitenangaben zitiert)

2 Der Begriff "Der Große Traum" wurde von Arno Schmidt geprägt, in seiner 1963 erstveröffentlichten "Sitara"-Studie, möglicherweise in Anspielung auf C. G. Jungs "große Träume". Vgl. Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Frankfurt a. M. 1974 S. 211. Der eigentliche "Große Traum" – ohne seine Ausläufer – umfaßt in der Erstausgabe des "Silberlöwen IV" die Seiten 314 bis 352.

3 Heinz Stolte: Karl May literarisch. Vorwort zu Karl May: Der Große Traum. Erzählungen. Hrsg. v. Heinz Stolte und Erich Heinemann. München 1974 S. 22 (dtv-Taschenbuch)

4 Erwähnens-, bisweilen bemerkenswert sind hier folgende Arbeiten: Adolf Droop: Karl May. Eine Analyse seiner Reise-Erzählungen. Cöln–Weiden 1909 S. 92–95; Euchar Albrecht Schmid: Der Schlüssel. In: Karl May's Gesammelte Werke Bd. 34: »Ich«. Radebeul 1916 S. 569ff. (heute in von Roland Schmid veränderter Form ins Kapitel "Gestalt und Idee", Abschnitt "Symbolik", eingegangen: Karl Mays Gesammelte Werke Bd. 34: »Ich«. Bamberg 301976 S. 390–405; zum "Großen Traum" dort S. 400f. Nach Hans Wollschlager – Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976 S.199, Anm. 209 – stammt schon der "Schlüssel"-Text nicht von E. A. Schmid, sondern von Wilhelm Koch.); Schmidt: Sitara wie Anm. 2 (hier S. 211–215); Sibylle Becker: Karl Mays Philosophie im Spätwerk. Ubstadt 1977 S. 24f. und S.70f.; Hartmut Vollmer: Traumbedeutungen in Karl Mays Werken. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 42/1979 S. 15–24 (S. 16f.); Dorothea Rothenburg: Eine Betrachtung der Marah Durimeh in den Abenteuererzählungen Karl Mays, unter besonderer Berücksichtigung der Thesen Wollschlägers. (Masch.) Mag. Arbeit. Berlin 1980 S. 21f.; Volker Krischel: Karl Mays »Schattenroman«. Gesichtspunkte zu einer »Weltdeutungs-Dichtung«. Sonderheft Nr. 37 der Karl-May-Gesell-


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schaft [Karl-May-Gesellschaft]. Hamburg 1982 S. 9f. und S. 18–20; Hartmut Wörner: Ezechiel 37, 1–14. Das Grundmotiv des »Grossen Traums«? In: M-KMG 51/1982 S.13–16; Christoph F. Lorenz: »Das ist der Baum El Dscharanil«. Gleichnisse, Märchen und Träume in Karl Mays "Im Reiche des silbernen Löwen III und IV". In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1984. Husum 1984 S.139–166 (S. 161f.); Ernst Seybold: Aspekte christlichen Glaubens bei Karl May. Sonderheft Nr. 55 der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1985 S. 41–43, Oskar Sahlberg: Therapeut Kara Ben Nemsi. In: Karl May – Der sächsische Phantast. Studien zu Leben und Werk. Hrsg. von Harald Eggebrecht. Frankfurt a. M. 1987 S. 189–212 (S. 192–195).

5 Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den "Silbernen Löwen". Zur Symbolik und Entstehung. In: Jb-KMG 1979. Hamburg 1979 S. 99–136. Auch in: protokolle 1. Wien–München 1982 S. 3–34 und in: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt a. M. 1983 S. 188–228

6 Der aufs Detail neugierige Leser sei auf folgende, auseinander hervorgegangene Texte Hans Wollschlägers verwiesen, denen auch meine Übersicht verpflichtet ist: »Herr Karl May von der anderen Seite«. Zur Textsituation des »Silbernen Löwen«. In: Konkret 9. Hamburg. September 1962 S. 18f.; Karl May wie Anm. 4 S. 116–127; Erste Annäherung an den "Silbernen Löwen". Wie Anm. 5. S. 119–130. Vgl. aber auch Roland Schmid: Nachwort (zu "Im Reiche des silbernen Löwen III"). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben. Bd. XXVIII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984 N2–N12.

7 Das Manuskript des "Traums" beginnt mit Seite 187 und weist nur wenige, inhaltlich nicht relevante Korrekturen auf, einige Wortersetzungen, Einfügungen und Überklebungen. Die Varianten zur Buchausgabe sind unerheblich.

8 Im März 1901 lag "Die Liebe des Ulanen" komplett vor, die andern Romane folgten.

9 Dieser Kurztitel hat sich in der Forschung eingebürgert. Der vollständige Titel der Broschüre lautet (pseudon.): »Karl May als Erzieher« und »Die Wahrheit über Karl May« oder "Die Gegner Karl Mays in ihrem eigenen Lichte" von einem dankbaren May-Leser. Freiburg 1902. Reprint: Materialien zur Karl May-Forschung Bd. 1. Ubstadt 1974.

10 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902 S. 67–266. Das Eingangskapitel "In Basra", S. 1–66, noch ganz im Abenteuer-Ton der früheren Reiseerzählungen, ist ein 1898 liegengebliebener Texttorso, den May lediglich mit einem neuen Schluß versah, um die eben erst exponierte Figur des skurrilen Sir David Lindsay, die nicht mehr in sein Alterskonzept einzupassen war, wieder aus der Fabel zu entlassen.

11 Wollschläger: Annäherung wie Anm. 5 S. 125

12 Vgl. hierzu Schmid: Nachwort "Silberlöwe III" wie Anm. 6 N6f.

13 Wollschläger: Annäherung wie Anm. 5 S. 126. Vgl. Hansotto Hatzig: Begegnungen in Italien. An einem Tag in Riva. In: Hausfreund 1957, 30. März, und ders.: Mays letzte Reise nach Tirol. In: M-KMG 34/1977 S. 2f.

14 Mays Brief bei Roland Schmid: Nachwort "Silberlöwe III" wie Anm. 6 N7f.

15 Mays Brief ebd. S. N8

16 Wollschläger: Annäherung wie Anm. 5 S. 126f.

17 Am 5.3.1902 hatte May zusammen mit Emma und Klara "Richters Kunstausstellung" in Dresden besucht und dort Schneiders zehnteiliges Wandbild "Um die Wahrheit" (1902) gesehen, das in der Folge einige Wirksamkeit auf den "Silbernen Löwen" ausübte. Vgl. dazu Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft. Bamberg 1967 S. 36f. und S. 49f., Abbildung ebd., Bildteil S. 40 und als Falttafel in: Felix Zimmermann: Sascha Schneider. Dresden o. J. (1923), zwischen S. 68 und S. 69.

18 Vgl. hierzu Walther Ilmer/Annelotte Pielenz: »Kaum merklich geändert« oder Wie »original« sind Radebeuler Ausgaben? Sonderheft Nr. 5 der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1976 S. 32f.

19 Lorenz Krapp: Ein Schlußwort zum Problem Karl May. In: Augsburger Postzeitung, Literarische Beilage Nr. 44 vom 2.10.1908, S. 347

20 Droop: Karl May wie Anm. 4 S. 92 und S. 95


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21 Hansotto Hatzig hat darauf aufmerksam gemacht, daß Dittrich hier falsch zitiert. Vgl. sein Nachwort zu: Schriften zu Karl May. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 2. Hrsg. von Karl Serden. Ubstadt 1975 S. 239f. Tatsächlich heißt es im "Silberlöwen IV", S. 333, 335, 339: »Heut ist der erste Tag des neuen Mondes«. Hatzig folgert daraus, daß die Behauptung von Rudolf Lebius, May habe die Dittrich-Broschüre selbst geschrieben, falsch ist, und hat in der Schlußfolgerung sicher recht. Er übersieht aber, daß dies fehlerhafte Zitat allein wenig beweiskräftig ist. Gröbere Schnitzer hat May sich immer wieder geleistet, man denke nur an die Namenswandlungen "Santer" ("Winnetou I–III") in "Sander" ("Winnetou IV") oder "Kolma puschi" ("Old Surehand III") in "Kolma putschi" ("Winnetou IV")

22 Max Dittrich: Karl May und seine Schriften. Eine literarisch-psychologische Studie für Mayfreunde und Mayfeinde. Dresden 21904 S. 96. Repr. in: Schriften zu Karl May wie Anm. 21 S. 1–127 (S. 96)

23 Heinrich Wagner: Karl May und seine Werke. Eine kritische Studie. Passau 1907 S. 47. Repr. in: Schriften zu Karl May wie Anm. 21 S. 129–179 (S. 175)

24 Werner Mahrholz: Karl May. In: Das literarische Echo 21, H. 3 vom 1.11.1918, Sp. 138. Faksimile in: Bernhard Kosciuszko: Das Literarische Echo und Karl May. Eine Dokumentation. Sonderheft Nr. 7 der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1977 S. 30–48 (S. 44)

25 Schmid wie Anm. 4 S. 569ff.

26 Otto Forst-Battaglia: Karl May – ein Leben, ein Traum. Zürich–Leipzig–Wien 1931

27 Vgl. Otto Eicke: Der Bruch im Bau. In: Karl–May–Jahrbuch 1930. Radebeul 1930 S. 77–126.

28 Erstsendung: 25.5.1956; Erstpublikation 1958 unter dem Titel "Abu Kital. Vom neuen Großmystiker". In: Dya Na Sore. Gespräche in einer Bibliothek. Karlsruhe 1958 S. 150–193. Auch in: ders.: Der sanfte Unmensch. Unverbindliche Betrachtungen eines Überflüssigen. Frankfurt a. M. 1963 S. 44–74 und in: Schmiedt wie Anm. 5 S. 45–74, nach letzterem im folgenden zitiert

29 Ebd. S. 68; vgl. ebd. S. 66.

30 Arno Schmidt: Gesammelte Werke in 70 Bänden. Startschuß zu Beginn der Karl-May-Forschung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 72 vom 25.3.1961

31 Schmidt: Sitara wie Anm. 2 S. 211

32 Hans Wollschläger: Das »Hohe Haus«. Karl May und das Reich des Silbernen Löwen. In: Jb-KMG 1970. Hamburg 1970 S.132

33 Stolte wie Anm. 3 S. 22

34 Rothenburg wie Anm. 4 S. 21

35 Wörner wie Anm. 4 S. 14

36 Lorenz wie Anm. 4 S. 162

37 Becker wie Anm. 4 S. 24f.

38 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXI: Ardistan und Dschinnistan I. Freiburg 1909 S. 226

39 Die These, daß May hier Wirklichkeit beschreibt, wird dadurch bestärkt, daß die Raumverteilung und die Innenarchitektur des "Hohen Hauses" (vgl. 1–7) den Verhältnissen in der Villa "Shatterhand" (Obergeschoß) entspricht. Vgl. Jb-KMG 1981. Hamburg 1981 S. 312/313 (Grundriß Villa "Shatterhand").

40 Einen Überblick über die Träume bei May gibt Vollmer wie Anm. 4.

41 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXV: Am Jenseits. Freiburg 1899 S. 360

42 Mitunter wird diese Verbindung durch Mittler, durch Engel geschaffen (Ben Nur im "Jenseits"-Roman): im romantischen Christentum Mays leben viele katholische Vorstellungen.

43 May: Im Reiche des silbernen Löwen III wie Anm. 10 S. 329

44 Er ist natürlich auch örtlich nicht begrenzt, doch nutzt May diese Möglichkeit nicht. Er war sich aber der Zeit und Raumfreiheit des Traumes sehr bewußt. Im "Surehand" beschreibt er den Wachzustand nach dem Träumen: Dann lag ich nach dem Erwachen noch lange geschlossenen Auges da, um mich langsam zu besinnen, daß es nur ein Traum gewesen und ich ein ohnmächtiger Knecht der Zeit und des Raumes sei. Karl


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May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894 S. 396; vgl. auch Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. V: Durch das Land der Skipetaren. Freiburg 1892 S. 561.

45 Wollschläger: Karl May wie Anm. 4 S. 117

46 Ebd. S. 118

47 Vgl. Schmidt: Sitara wie Anm. 2 S. 211–215

48 Die Dreigliedrigkeit ist ein typisches Merkmal des mit dem Traum verwandten Märchens und könnte von May in diesem Bewußtsein geschaffen sein.

49 Schmidt: Sitara wie Anm. 2 S. 214

50 Die Begriffe "Animaseele" und "Geistesseele" finden sich in: Karl May: Auch »über den Wassern«. In: Die Freistatt 2, Nr. 17, Wien 1910. Neudruck in: Jb-KMG 1976. Hamburg 1976 S. 236–242 (S. 239).

51 Ein weiteres Persönlichkeitsbild (auf niedriger Stufe), das hier aber nicht wichtig ist, bildet die Konstellation Aschyk–Pekala–Tifl.

52 Vgl. May: Im Reiche des silbernen Löwen III wie Anm. 10 S. 623–627.

53 Vgl. May: Auch »über den Wassern« wie Anm. 50 S. 239.

54 So bei Lorenz wie Anm. 4 S. 162

55 Vgl. May: Im Reiche des silbernen Löwen III wie Anm. 10 S. 496: »Die Erde ist diesem Thale gleich«. "Thal" erinnert natürlich auch an "Ernst t h a l ".

56 Ebd. S. 502

57 Vgl. ebd. S. 497. Vgl. zur Deutung des Ruinenbaus etwa Krischel wie Anm. 4 S. 21–23.

58 Siehe die Beichte des Nachtgesprächs.

59 Die naheliegende Vermutung, er meine den Erzengel Michael, ist allerdings nicht sehr wahrscheinlich: der Schluß des "Traums" sperrt sich gegen diese Deutung.

60 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910) S. 212. (Repr. Hildesheim–New York 1975, hrsg. von Hainer Plaul)

61 Der Parsismus wurde in Persien durch den Islam (Schia) beinahe ganz verdrängt; in Indien, vorwiegend in der Gegend von Bombay, leben noch heute etwa 100000 Parsen, die aber den ursprünglichen, auf Zarathustra zurückgehenden Dualismus von Ahuramazda und Ahriman aufgegeben haben und in Ormuzd den alleinigen, monotheistischen Gott erkennen.

62 Vgl. Droop wie Anm. 4 S. 92.

63 Vgl. Schmidt: Sitara wie Anm. 2 S. 211f.

64 Die Schwarzweiß-Zeichnung "Das Gefühl der Abhängigkeit" von 1893 ist abgebildet im Anhang zu "Winnetou IV". In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XXXIII. Hrsg. v. Roland Schmid. Bamberg 1984 A13. Auf Bitten Klara Mays malte Schneider 1920 das Bild in Öl für die Villa "Shatterhand". Schwarzweiß-Abbildung im Bildteil von Hatzig: Sascha Schneider wie Anm. 17 S. 37. Eine letzte Fassung als Ölgemälde entstand 1921. Farbige Abbildung in: Zimmermann wie Anm. 17 vor dem Titel. Eine Abbildung des Deckelbildes zu "Am Rio de la Plata/In den Cordilleren" von 1904 ist im Bildteil von Hatzigs Schneider-Monographie, S. 12, zu sehen, im Bildteil des Anhangs zur Reprint-Ausgabe "Winnetou IV", A19 – ein möglicher Entwurf zur Zeichnung ebd. A18 – und im Bildteil zu: The Turn of the Century. German Literature and Art 1890–1915. Edited by Gerald Chapple and Hans H. Schulte. Bonn 1981, wie auf der letzten Tafel im Bildteil von: Anton Kaiser: Geächteter Hakawati. Die Tragödie Karl May. Kehl am Rhein 1967. Auch von dieser Zeichnung, der er den Titel "Lichtsieg" gab, fertigte Schneider später zwei Fassungen in Öl an (1921), eine wiederum für Klara May. Farbige Abbildung in: Zimmermann wie Anm. 17, vor S. 49

65 September 1894, Ausstellung im Dresdner "Kunstsalon Lichtenberg"

66 Hartmut Wörner hat versucht, durch eine Gegenüberstellung des 37. Kapitels aus dem Prophetenbuch "Ezechiel" mit "Traum"-Stellen eine motivische Abhängigkeit zu beweisen. (Wie Anm. 4 S. 13–16) Ich kann mich dieser These nicht anschließen, sollte sie gleichwohl richtig sein, könnte Sascha Schneider auch hier Anreger gewesen sein: 1895 hatte er ein Ölgemälde "Vision des Ezechiel" geschaffen, eine Illustration der Prophetenberufung Ezechiels. Abbildung in: Zimmermann wie Anm. 17 S. 71 (Fassung von 1921).


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67 Brief vom 14.11.1904. In: Hatzig: Sascha Schneider wie Anm. 17 S. 67

68 E. A. Schmid: Das 4. Jahrbuch. In: Karl-May-Jahrbuch (KMJB) 1921. Radebeul 1920 S. 10 sowie ders.: Aus Sascha Schneiders Werkstatt. In: KMJB 1928. Radebeul 1928 S. 16; jetzt auch im Anhang zur Reprint-Ausgabe von "Winnetou IV" wie Anm. 64 A14

69 Diese Zielvorstellungen Mays sind nie zu einer klaren Theorie gediehen, abgesehen von seiner Unfähigkeit zum theoretischen Denken wohl nicht zuletzt deshalb, weil er als romantischer Geist fasziniert blieb von Erscheinungen wie dem katholischen Marienkult oder von der Idyllik beschaulicher Gebirgskapellen – letzteres auch ein Topos des "Silbernen Löwen".

70 Vgl. Krischel wie Anm. 4 S. 18.

71 Interessant ist das außergewöhnliche Bild, das May für den Abfluß (der) Lebensenergie zu diesem Schatten hinüber verwendet: Es war mir, als ob ich mit ihr [der Schattengestalt] durch ein unsichtbares Röhrchen verbunden sei (319). Es entstammt der seinerzeit aufkommenden Elektronik. 1897 hatte Karl Ferdinand Braun die nach ihm benannte Braunsche Röhre entwickelt, die bald als Elektronenröhre bekannt wurde. Solche Modernismen sind selten beim "romantischen" May, begegnen aber im Spätwerk immer häufiger: Höhepunkt wird hier "Winnetou IV". Mays Spätwerk ist nicht mehr Weltflucht, sondern Verlängerung der Gegenwart in die Utopie.

72 Es stellt sich die Frage, warum May darauf verzichtet hat, den Ustad auch den Oberbau erkunden zu lassen und sich mit den Kellergewölben der Kirche begnügte. Fürchtete er, seine Kritik könnte zu direkt ausfallen?

73 May hat mehrfach die Dschamikun als die Leser bezeichnet, die seinem Spätwerk – im Gegensatz zu den Naiven, den Haddedihn – verständig begegnen. Vgl. etwa May: Auch »über den Wassern« wie Anm. 50 S. 239 und den Beginn des "Abu Kital"-Fragments in: Hatzig: Sascha Schneider wie Anm. 17 S. 152.

74 Wollschläger: Das »Hohe Haus« wie Anm. 32 S. 132

75 In diesem Zusammenhang ist die Bildlichkeit der ersten Unterwelt-Erkundung – auf der Realebene des Romans – von Interesse: das Eindringen mit einem langgestreckten Kahn in den gestrüppüberwucherten versteckten Kanal assoziiert derart deutlich den Zeugungsakt, ist derart beladen mit Phallus- und Vagina-Symbolik, daß beinahe an eine bewußte Gestaltung zu denken wäre (vgl. 300–302).

76 Vgl. Schmidt: Sitara wie Anm. 2 S. 214 und Wollschläger: Das »Hohe Haus« wie Anm. 32 S. 125ff.

77 Vgl. Schmidt: Sitara wie Anm. 2 S. 211f.

78 Keiter bediente sich gelegentlich des Pseudonyms "Kampfmuth".

79 May: Leben und Streben wie Anm. 60 S. 117

80 Ebd. S. 112

81 Ebd. S. 114, 176

82 Ebd. S. 114

83 Vgl. ebd. S. 118.

84 Ebd. S. 119

85 Die Fackel als Symbol des Glaubens vermutete schon Droop. Vgl. Droop wie Anm. 4 S. 92f.

86 May: Leben und Streben wie Anm. 60 S. 177

87 Seit der Inquisition hat die Kirche subtilere Mittel gefunden, sich der "Ketzer", Zweifler und Entlarver zu erwehren, Exkommunizierung, Lehrverbot, im Falle Mays: Rufmord.

88 Es zeigt sich, daß Abgrund und Bassin je nach Perspektive andere, sich keineswegs ausschließende Bedeutungen haben: Tod, Wahnsinn, Erdenweh . . .

89 Einigen Einfluß auf die Porträtierung Ahriman Mirzas hat das Figurenbild "Loge" (= Loki) von Sascha Schneider gehabt, Teil des mehrteiligen Wandgemäldes "Baldurs Sieg über die Mächte der Finsternis" (1898–1901). Abbildung bei Zimmermann wie Anm. 17 S. 60 und bei Hatzig: Sascha Schneider wie Anm. 17 Bildteil S. 42 links. May weist in "Silberlöwe III", S. 587, direkt auf Schneiders Bild hin. Aber nicht nur Ahriman Mirza, sondern auch – und eher noch – den "Zauberer" hat man sich wie Schneiders "Loge" zu denken: man achte auf die weißen Haare und Dolchaugen (323,


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ähnlich 316f.). Allerdings wollte May im "Zauberer" wohl kaum über das Erscheinungsbild hinaus eine Loki-Darstellung geben. Die germanische Mythologie blieb ihm zeitlebens fremd.

90 Später, zuerst im Drama "Babel und Bibel" (1906), wird May von der "Geisterschmiede" sprechen.

91 Wie kalkuliert May manche Details setzt, ist verblüffend: Verlöschte die Fackel von selbst und würde nicht, erst dort verlöschend, von Kara in den Abgrund geworfen, hieße das in der Übersetzung, das Ich hätte nicht freiwillig das leibliche Leben aufgegeben, sondern unfreiwillig den Tod gefunden.

92 Karl Muth: Ein entlarvter Jugendschriftsteller, in der Wiener "Zeit" vom 14.6.1902. Es ist unwahrscheinlich, daß May diesem Artikel solch große Bedeutung beimaß, daß er ein Jahr später (!) Muth im "Zauberer" konterfeite. Schmidt (auch Wollschläger) identifiziert Karl Muth im übrigen auf der Realebene des "Silberlöwen" auch mit dem Scheik ul Islam (ob zu Recht oder Unrecht, sei dahingestellt) und impliziert so Verwandtschaft bis Identität zwischen diesem und dem "Zauberer". Tatsächlich hat der "Zauberer" aber, wie angedeutet, weit eher Korrespondenzen mit Ahriman Mirza. Schmidts Deutung in: Sitara wie Anm. 2 S. 212–214 ("Xentum": bei Schmidt = Christentum); entgegnend dazu: Franz Cornaro: Karl Muth: Karl May und dessen Schlüsselpolemik. In: Jb-KMG 1975. Hamburg 1974 S. 200–219 (S. 209–214)

93 May: Leben und Streben wie Anm. 60 S. 212

94 Vgl. hierzu den grundlegenden Aufsatz von Hans Wollschlager: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972 S. 11–92.

95 Vgl. Dieter Sudhoff: Auf dem Weg – Karl Mays "Mutterliebe". Eine Werkanalyse. In: Jb-KMG 1985. Husum 1985 S. 218–262.

96 Vgl. Hartmut Vollmer: Karl Mays »Am Jenseits«. Exemplarische Untersuchung zum »Bruch« im Werk. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 7. Ubstadt 1983.

97 An gleicher Stelle versucht May aber auch, gegen seine eigene Überzeugung, nachträglich diese beiden Namen zu rechtfertigen: »In diesen zwei Namen habe ich denen, die es lösen wollen, ein Rätsel aufgegeben, aus dessen Thür das von seinen psychologischen Fesseln befreite Menschheits-Ich wie ein im Freudenglanze strahlender Jüngling hervorzutreten hat.« Die Parallelen im Zitat zur "Traum"-Wandlung des Ustad und zum Sprung Kara Ben Nemsis sind augenfällig, von den psychologischen Fesseln (der Schatten-Abhängigkeit) bis zur Thür, aus der das Menschheits-Ich Kara Ben Nemsi hervortritt.

98 Wollschläger: Annäherung wie Anm. 5 S. 131

99 Brief vom 8.11.1905. In: M-KMG 35/1978 S. 4. Auch andernorts hat May den weniger aussagekräftigen Ausdruck  v e r s t e i n e r t e s  G e b e t  benutzt – der dann vom Karl-May-Verlag kolportiert wurde –, so in einer Selbstrezension (1909) von "Ardistan und Dschinnistan", die auch aufschlußreich für sein künstlerisches Selbstverständnis ist: Er [May] kann nur im Großen schaffen. Er bricht gewaltige, zentnerschwere Blöcke aus dem Gestein, giebt ihnen die ersten, charakteristischen Konturen, um sie in Sujets zu verwandeln, und rollt sie dann den Zukünftigen zur feineren Ausmeißelung und künstlerischen Vollendung zu. Er liefert granitene, marmorene, alabasterne und goldene Kolossalgedanken; aber er verschmäht die Raspel, die Feile und das Schmirgelpapier, um Zeit für Größeres zu sparen. . . . In dieser Weise entstand die Mehrzahl seiner Figuren, vor allen Dingen die Riesengestalt des "Eingemauerten Herrgotts", das "Alabasterzelt", das "Versteinerte Gebet", die "Verkalkten Seelen", die "Wage der Gerechtigkeit" und viele Andere mehr. Faksimile der Rezension in: Jb-KMG 1977. Hamburg 1977 S. 66f. Auch der Ausdruck Verkalkte  S e e l e n  ist ein Beispiel dafür, wie fahrlässig May in der Erinnerung mitunter mit seinem Werk umging, wie wenig präzis das Gedächtnis des Traumschreibers die Träume festhielt. Vgl. auch May: Leben und Streben wie Anm. 60 S. 212.

100 Nach persischem Mythos steht die Perle in Zusammenhang mit der uranfänglichen Formung der Materie durch den Geist. Gnosis und Christentum betonen die Perle


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als Sinnbild des in die Finsternis scheinenden Lichtes; zudem findet sich oft die Vorstellung, daß Perlen aus Lichtkeimen oder Tautropfen entstanden sind, die vom Himmel stammen.

101 Die Beschreibung, vor allem die hohe, breite Stirn, erinnert an May selbst.

102 May: Im Reiche des silbernen Löwen III wie Anm. 10 S. 511

103 Vgl. ebd.: Das reinigende Wasser – Symbol der Geburt! – »löst den Kalk wie Zucker auf und setzt ihn in den Felsenzwischenräumen als festen Rucham wieder an.« Das Bild der Verkalkung findet sich übrigens auch sonst öfter bei May. Vgl. etwa: Aphorismen über Karl May (1909). In: Jb-KMG 1983. Husum 1983 S. 66 (Blatt 17).

104 Diese Haltung zieht sich durch Mays Gesamtwerk. Vgl. etwa die Marienkalendergeschichten.

105 Mays Nietzsche-Rezeption wurde entscheidend von Sascha Schneider gefördert, der in manchen Vorstellungen Nietzsche sehr nah stand. Auch May war bald vom Denker Nietzsche fasziniert – im "Silberlöwen III", S. 484, nennt er ihn »eine(n) der größten Weltweisen in Dschermanistan« – , begriff sich aber natürlich als dessen Antipoden, als Anti-Antichrist, und versuchte, auch in Schneider Distanz zu Nietzsche zu wecken. Trügt der Schein, daß auch der dritte "Traum"-Teil ohne Schneider nicht geschrieben wäre? Ist er ein verschlüsselter Versuch, den Freund, der sein Denken in dem des Gerippes wiedererkennen sollte, zu überzeugen? Eine Stelle in einem Brief Schneiders an May vom 7.4.1905 läßt durch das Bild vom Zertrümmern und vom Aufbauen in Marmor vermuten, daß der Maler sich dort ungesagt auf die Metaphorik im "Silberlöwen" bezieht, von der er sich getroffen sah. Sie zeigt aber ebenso, daß Mays "Bekehrung" nicht ganz gelang: »Wir sind Fleisch u. werden es bleiben u. sollen es bleiben, darüber hinaus ist unmöglich. Wollen wir es bleiben! sagt Nietzsche, aber er spricht nur zu Wenigen! Dieser große Zertrümmerer! Wir aber wollen aufbauen! Doch mit neuen Steinen, die wir erst zu brechen haben. Ich sehe aber schon das schöne, neue Marmorgebirge.« Zit. nach Hatzig: Sascha Schneider wie Anm. 17 S. 76

106 Der "Zauberer" nennt sich an einer Stelle den Schwachheitshassenden (324). Der Titel verweist gleichermaßen auf Luzifer wie Nietzsche. Nietzscheanisch wirkt er aber nur sehr begrenzt in seiner Bedeutung als Irrtum der starken Geister. Der ihm auf der Realebene des Romans entsprechende Ahriman Mirza weist da schon eher Parallelen zu Nietzsche auf.

107 Von Interesse und einiger psychologischer Richtigkeit ist hier Mays Theorie, eine Inkompatibilität von Geist und Seele führe zum Wahnsinn: »Gibst du ihm einen Geist, der ihm die Seele stört, so wird das Werk ein Bild des Wahnsinns sein« (335).

108 Anzumerken ist, daß auch das Ich als "geistiges Mündel" Ustad nicht von animahafter Streitbereitschaft frei war. Der Ustad tritt jedoch von Anfang an – anders als die Geister – als Wahrheitssucher auf.

109 May: Im Reiche des silbernen Löwen III wie Anm. 10 S. 491

110 Entsprechend dem christlichen Heiland; der einzelne Erlöser ist aber auch ein typisches Märchenmotiv.

111 Es bleibt unklar, ob seine Verachtung dabei dem wahren Christentum galt oder ob er aufgrund seiner Erfahrungen mit den Schatten des Christentums in der Tumasa eine der lügnerischen Namenschristen sah. Vgl. zur Begegnung des Fremden mit Marah Durimeh die – allerdings interpretatorisch wenig ergiebigen – Ausführungen von Rothenburg wie Anm. 4 S. 21f.

112 Über die Religion/Weltanschauung des Fremden wird wenig ausgesagt, so daß sie sich zweifelsfrei nur ex negativo definieren läßt, als Anti-Christentum o. ä. Immerhin läßt der indirekte Vorwurf des Ustad im letzten Gespräch mit dem Fremden, sein Gast wolle »die Berge in die Thäler stürzen und die ganze Erde in ein einziges großes Feld verwandeln, auf dem es nichts als allgemeine Gleichheit geben würde« (Silberlöwe III S. 496), vermuten, daß May bei der "Religion" des Fremden an sozialistische oder kommunistische Ideen dachte. Neben Nietzsche gesellte sich dann auch Marx zu den "Verkalkten Geistern". Das Gleichheitsprinzip lehnte May ab: »Durch diese Ausgleichung würde alles Leben auf der Erde bald vernichtet werden.« (ebd. )


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113 May: Im Reiche des silbernen Löwen III wie Anm. 10 S. 495

114 Ebd.

115 Man erinnere sich, daß mit Tränen auszuwaschen, mit Fingernägeln zu meißeln ist (334).

116 May: Im Reiche des silbernen Löwen III wie Anm. 10 S. 485

117 Ebd. S. 484

118 Ebd. S. 485

119 Eine Inkonsequenz liegt allerdings darin, daß sie nicht auch fleischlich erweckt werden, sondern Gerippe bleiben. Sie erklärt sich möglicherweise dadurch, daß May fürchtete, eine solche Fleischwerdung würde selbst im Freiraum seines phantastischen "Traums" allzu unwirklich und grotesk wirken.

120 Lorenz wie Anm. 4 S. 162. Zwanglos erinnert der "Schlüssel Hephata" auch ans "Sesam", zumal sich May im "Silberlöwen" mehrfach ausdrücklich auf die Märchensammlung "Tausend und eine Nacht" bezieht. Die Assoziation unterstreicht den Märchencharakter des "Großen Traums", die Ähnlichkeit von Märchen und Traum.

121 May spricht davon, daß die Scharen . . . so zahlreich waren, als ob der Kanal sich gar nicht entleeren könne. (348) Die Formulierung ist innerhalb der Sexualsymbolik sinnfällig: der Kanal erscheint als Teil eines lebendigen Organismus, der die Geister aktiv (her)austreibt.

122 Der werdende Mond ist den Geistern genau zugeordnet, bezieht sich also gezielt als Symbol auf ihre Wiedergeburt. Ob er als werdender und vergehender in anthroposophischem Sinn hier auch meint, daß die Geister noch mehrere Phasen der Reinkarnation durchleben werden, muß offen bleiben, so schlüssig die Deutung wäre.

123 Vgl. hierzu vor allem das "Rosenlied", "Silberlöwe III" S. 538f., wo es zum Schluß heißt: »Brich auf, mein Herz, der Rose gleich, / In der sich alle Düfte regen. / Es naht sich dir das Himmelreich; / Brich auf, und dufte ihm entgegen!« Auf S. 625 ist der dritte Vers ersetzt durch: »Gott ist an Gnade überreich;«. Zum Rosenduft als Gottesgnade vgl. auch S. 436. Rosen sind ein zentrales Symbolmotiv bei May. Die letzten Worte des Rosenliebhabers May sollen gewesen sein: »Sieg! Großer Sieg! Rosen – Rosen – rot!« Vgl. einen Brief Klara Mays an Prinzessin Wiltrud von Bayern vom 6.4.1913. Abgedruckt in: Jb-KMG 1983. Husum 1983 S. 130. Nach Klaras Ansicht beziehen sich diese Sterbeworte direkt auf die Gedankenwelt des "Silbernen Löwen". Vgl. Hartmut Vollmer: Ins Rosenrote. Zur Rosensymbolik bei Karl May. In: Jb-KMG 1987. Husum 1987 S. 20–46.

124 Das doppelte Verständnis des Gebets als "Gespräch" mit Gott hat May in einem Aphorismus ausgedrückt: Weißt du, was unter »Gebet« zu verstehen ist? Nicht allein der Mensch betet; Gott betet auch! (Karl May: Himmelsgedanken. Freiburg 1900 S. 118)

125 Der Tempel steht auf halbe(r) Bergeshöhe (348), Bild dafür, daß der Weg der Geister dort noch nicht zu Ende ist.

126 Wenig zuvor schon märchenhaft sonderbar: trocken steigen Kara und der "Zauberer" aus dem Wasser, die Türen des "Hohen Hauses" öffnen sich bei der Berührung von selbst. Vgl. 349. Wie die Sagen Marah Durimehs ist auch die Geschichte vom »erlösten Teufel« ein Märchen. Vgl. May: Leben und Streben wie Anm. 60 S. 212.

127 Vgl. Klaus Jeziorkowski: Gnostizismus und Licht-Symbolik. In: The Turn of the Century wie Anm. 64 S. 171–196 (S. 182). Jeziorkowski zieht dort aus zum Teil richtigen Erkenntnissen völlig falsche Schlußfolgerungen.

128 Vgl. Schmidt: Sitara wie Anm. 2 S. 214.

129 Wollschläger: Das »Hohe Haus« wie Anm. 32 S. 126f.; vgl. ebd. S. 131f.

130 Der Aschyk/May als Pekalas/Emmas Geliebter assoziiert das zeitliche Umfeld von Mays Straftaten.

131 May: Leben und Streben wie Anm. 60 S. 169

132 Ebd. S. 175

133 Die »tausend Jahre« beziehen sich – sieht man von der Analogie zu den verkalkten Geistern ab – auf die Gefangenschaft des Aschyk. May läßt das Ich über diese vom Aschyk subjektiv erlebte Frist reflektieren, dabei erweist er sich nicht nur als überaus fortschrittlich in Sachen Strafrecht – aus dem Bewußtsein eigenen Leidens her-


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aus [heraus] –, sondern unterstreicht auch die Gleichung Bassin = Zuchthaus: Nur zwei Erdentage, für den Geist, die Seele aber tausend, tausend Jahre! Welcher Mensch kann behaupten, gerecht zu richten! Der Buchstabe des Gesetzes behandelt alle gleich. Aber die Gerechtigkeit liegt nicht im gleichen Strafquantum; in diesem ist vielmehr ihr Gegenteil, die Ungerechtigkeit zu suchen. Denselben Tatbestand vorausgesetzt, wird der Eine nicht durch zwanzig Jahre Zuchthaus gebessert, der Andre aber schon durch einen einzigen Tag Gefängnishaft. Hätte für den Letzteren dann nicht die Strafe aufzuhören? (427)

134 Kara Ben Nemsi, das Ich, begründet sein Vertrauen, der Aschyk werde nicht fliehen und sich nicht rächen, auf eine absolute Kenntnis von dessen Innenleben. Allein auf der Handlungsebene besehen, erscheint dies recht vertrauensselig, denn die Gelegenheiten des Kennenlernens waren doch eher spärlich. Karas Vertrauen gründet sich letztlich auf die Ich-Qualität des Aschyk: »Ich kenne dich, wie du früher warst, und ich kenne den, der du jetzt geworden bist.« (431)


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