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WALTHER ILMER

Karl Mays Weihnachten in
Karl Mays "»Weihnacht!«" II
Eine Spurenlese auf der Suche nach Fährten(60)



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Der zweifache Preisträger Karl May tritt seine Weihnachtsreise (W 17, 19)(61) an – aber nicht allein, sondern in Begleitung: . . . ein mir sehr sympathischer Mitschüler . . . kurzweg Carpio genannt, weil Karpfen bekanntlich auch nicht gern viele Worte machen. (W 19) Dieser prächtige Junge . . . mußte mit! (W 20)

   Damit er sich auf unserer Wanderung wohlbefinden solle, gab ich mich ganz so, wie er war; ihm war das nur nicht aufgefallen, weil er keine Spur von Beobachtungsgabe besaß. Der mir liebe, immer ernste und stets fleißige Freund besaß einige Eigenschaften, welche leicht seine ganze Zukunft in Frage stellen konnten. Er war zunächst von einer geradezu kindlichen oder gar kindischen Harmlosigkeit, die keine Thatkraft aufkommen läßt und alles womöglich beim Schwanz anstatt beim Kopfe anfaßte. Dabei liebte er es, der einfachsten Sache eine größere Bedeutung, als sie besaß, beizulegen und besonders auf unsren Wanderungen dem nüchternsten Gegenstand oder Vorkommnis eine romantische Färbung zu erteilen. . . . Eine andere und zwar seine hervorragendste Eigentümlichkeit war eine Zerstreutheit, welcher man bei seinem jetzigen Alter zwar nur die heitere Seite abzugewinnen brauchte, die aber doch schon versprach, später für ihn verhängnisvoll zu werden. Ich hatte mir, soviel es mir möglich war, Mühe gegeben, ihn zur Sammlung anzuspornen, aber leider auch nicht den kleinsten Erfolg gehabt. Im Gegenteile, wenn er auf seine Zerfahrenheit aufmerksam gemacht wurde, steigerte sie sich nur; er wurde ängstlich und beging in dieser seiner Befangenheit noch viel größere Fehler als vorher. Ich gab es also auf, ihn zu ändern; suchte seine Eulenspiegelstreiche soviel wie möglich zu vertuschen und gab mich, wenn ich mit ihm allein war, ebenso kindlich unbeholfen wie er selber. Dadurch hatte ich ihn wahrscheinlich noch fester als früher an mich gekettet. Wir schienen zwei unbedachtsame Kinder zu sein; er war auch eins; ich aber wachte heimlich über ihn und hielt, indem ich mir den Anschein gab ganz in seinem Willen aufzugehen, alle Unannehmlichkeiten möglichst fern von ihm. Er glaubte, selbständig zu handeln; in Wirklichkeit aber war ich es, nach dem er sich richtete, ohne es zu wissen. Zu-


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weilen [zuweilen] aber tauchte doch eine Ahnung in ihm auf, daß ich der Bestimmende und er der Geleitete sei. (W 30–32)

   Hat schon das C-a-r die Tarnkappe fortgenommen von der Identität des sehr sympathische(n) Mitschüler(s) – also des, von der Grundbedeutung des Wortes her, "mitempfindenden, mitleidenden" –, so läßt die außergewöhnlich ausführliche Darstellung der Eigenheiten dieses Carpio gar keinen Zweifel mehr, wer gemeint ist: Nicht das Abbild eines veritablen einstigen Schulkameraden, sondern ein Spiegelbild des bereits in jungen Jahren verstörten Karl May, der einem Verhängnis entgegentrudelte.(62) Jede der im weiteren Verlauf der Erzählhandlung vorkommende Torheit, Verwechslung, Besonderheit des prächtige(n) Junge(n) – also des ursprünglich einmal zu großen Hoffnungen berechtigenden jugendlichen Karl May – belegt es.

   Ich war seelenkrank, aber nicht geisteskrank . . . war seelisch verrückt, sagt Karl May sehr richtig in der Selbstbiographie (LuS 111, 113), und er schleppte die ihn bedrängenden Erscheinungen stumm mit sich herum, unfähig, sich zu artikulieren (LuS 118, 119), blieb "stumm wie ein Karpfen" damals. So vieles, was er hätte tun sollen, verpatzte er, (faßte es) beim Schwanz anstatt beim Kopfe (an); und die seelischen Zwänge, denen er ausgeliefert war (LuS 109–119), waren ganz dazu angetan, die Dinge übersteigert erscheinen zu lassen, der einfachsten Sache eine größere Bedeutung . . . beizulegen, die Realität zu verfärben und seine ganze Zukunft in Frage zu stellen. Der im Jahre 1897 in geheimem Grauen zurückschauende Autor wie auch der sinnende Greis von 1910 erkennen, wenn er auf seine Zerfahrenheit aufmerksam gemacht wurde, steigerte sie sich nur (W 31), denn Jede Empfindung, jedes Gefühl schien Form annehmen zu wollen (LuS 113–114), als in meinem Innern . . . (die) Spaltung . . . weiter um sich (griff) (LuS 113). Und der Autor von 1897 spricht auch aus, wovor der Greis im Jahre 1910 sich scheut: Ich suchte seine Eulenspiegelstreiche soviel wie möglich zu vertuschen und gab mich . . . ebenso kindlich unbeholfen wie er selber (W 31): Karl May, der das genaue Wissen um seine Straftaten der Jahre 1864 und 1865, die Eulenspiegelstreiche, hinter einer sperrenden Barriere zurückhielt und sowohl dieses Wissen – nach innen hin – wie auch seinerzeit die Taten selber nach Kräften zu vertuschen suchte. (K)indlich unbeholfen, bei aller scheinbaren Raffinesse, war Karl May als Straftäter zu Werke gegangen, und noch in der Selbstbiographie schreibt er treuherzig: Wie ich es angefangen habe, dies fertig zu bringen, das kann ich nicht mehr sagen; ich habe es wahrscheinlich auch schon damals nicht gewußt. Denn für mich ist es sicher und gewiß, daß ich ganz unmöglich bei klarem Bewußtsein gehandelt haben kann. (LuS 119) In der Tat »verhielt er sich« nach seiner Festnahme im März 1865 »zunächst ganz regungslos und anscheinend leblos –«, jedoch später »legte er ein volles Geständnis ab.«(63)


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   Erzähltechnische Gründe nötigen den Autor natürlich, stellenweise flugs die Identität des gestörten Ich mit dem darüber schreibenden Ich zu tauschen: in Wirklichkeit . . . war ich es, nach dem er sich richtete, ohne es zu wissen . . . ich der Bestimmende und er der Geleitete ist natürlich, in bezug auf die Vergangenheit, gerade umgekehrt zu sehen: Das kranke Ich herrschte über das gesunde. In bezug auf die Schreib-Gegenwart freilich trifft der Wortlaut exakt so zu, wie er da steht – denn jetzt beherrscht nicht mehr das kranke, verstörte Ich den der Genesung entgegeneilenden Karl May. Dieser facettenreiche Mann wußte 1897 sehr genau, was er schrieb.


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Gewöhnlich marschierten wir auf dem Gebirge zwischen Sachsen und Böhmen hin. Wir konnten uns da einbilden, die Pyrenäen zwischen Frankreich und Spanien oder gar den Himalaya zwischen Tibet und Indien zu durchwandern. Wir hatten da Städte und Dörfer, Berge und Thäler, Felsen und Wiesen, Flüsse und Bäche, Sonnenschein und Regen, kurz, alles, was unser Herz begehrte. Mehr konnten wir nicht verlangen und auch in keiner andern Gegend finden. Dieser Schauplatz unserer Weltreisen war uns lieb geworden, und es gehörte schon ein ungewöhnlicher Entschluß nach einer vorhergehenden langen Konferenz dazu, wenn wir einmal einen andern wählten. (W 20)

   Wie leichthin sagt er das. Wie beinahe idyllisch wirkt das. Wie belächelt der naive Leser den neuerlich zum Schüler gewordenen gestandenen Mann. Und wie verblüffend zum einen, wie herb zum anderen ist die Wahrheit, die hinter diesen romantisierenden Sätzen steckt. Vor dem geistigen Auge des Schriftstellers Karl May war diese ihm wohl bekannte Landschaft – nicht weniger als die großartige "Sächsische Schweiz"(64) – oft genug zum Hintergrund seiner spannenden Abenteuererzählungen geworden. Auf der Grenze zwischen Wahrheit und Dichtung pilgernd, hat er immer wieder dieses Stück Erde in seiner der Realität verpflichteten und doch vor der Realität flüchtenden Phantasie zum Schauplatz erkoren.

   Wir – Karl May und seine beglückende Phantasie – hatten da . . . alles, was unser Herz begehrte. Und eben dort war er auch dem "Tiefpunkt des Ich" und dem Höhepunkt seiner Kriminellen-Laufbahn entgegengeschritten.

   Und nun geht der im Gesundungsprozeß weit vorangekommene Karl May noch einmal zurück in die Vergangenheit und begleitet sein "verstörtes Ich", sein "krankes Ich" auf dessen Reise; er versetzt sich zurück in den Zustand der schrecklichen Spaltung.

   Da die Sicherheitsplattform, von der wir oben in Abschnitt 8 spra-


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chen [sprachen], einmal gefügt und eingenommen worden ist, kann der Blickwinkel des Autors Karl May sich ändern, können auch die "gewonnenen Preise" sich von ihrer anderen Seite zeigen – als das, was sie Jahrzehnte vorher waren, das genaue Gegenteil: Lasten. Preise hatte dieser Karl May nie gewonnen, aber Lasten hatte er auf sich gehäuft: Vorstrafen.

   Welches Bild entwirft er?

   Zwei Schüler, zwei Studenten (W 27, passim), die die Ferien zu einer längere(n) Fußwanderung (W 19) nutzen. Hinter sich einen Abschnitt des Zwangs, des streng geregelten Anstaltslebens, vor sich einen weiteren Abschnitt ähnlicher Disziplinierungsmaßnahmen. Dazwischen eine kurze Strecke Freiraum – etwa vierzehn Tage – im Grenzgebiet zwischen zwei Ländern:

   Zwei Schüler – also unreife Menschen, zwei Studenten – d. h. Lernende; zwei Länder, vierzehn Tage Ferien – sind vierzehn Tage Ferien (zur Jahreswende 1859/1860) nicht gleichbedeutend hier mit vierzehn Monaten Freiheit – von Anfang November 1868 bis Anfang Januar 1870?

   Karl May, der mit Karl May unterwegs ist, mit sich selbst, seinem dunklen Ich, ein Suchender, Lernender, im Grenzbereich zwischen dem Land der vernunftbetonten Rechtschaffenheit und dem Land der zerstörten Seelen. Der zweimal Vorbestrafte, der nach der Entlassung aus Osterstein im November 1868 vierzehn Monate in Freiheit schlecht genutzt hat. Karl May, in sich gespalten, Ende 1869 auf längere(r) Fußwanderung in Böhmen, grad südlich der Grenze zu Sachsen. Der eine dritte Periode der Haft und Disziplinierungsmaßnahmen auf sich zukommen sehen konnte – für den es keine ersprießliche Arbeit und keine Zukunft geben (konnte) (LuS 168), bevor diese Buße nicht erledigt war . . . (Ebd.) Er kehrte also nach fünf Monaten wieder heim . . . aber leider nicht stracks, wie es richtig gewesen wäre, sondern verfiel jenen inneren Gewalten, die sich wieder einstellten . . . Die Folge davon war . . . , daß ich, anstatt mich freiwillig zu stellen, ergriffen wurde. (Ebd.)

   Von Eger über Falkenau – Karlsbad – Kommotau – Teplitz – Aussig – Tetschen war er gekommen. Ergriffen wurde er in Niederalgersdorf am 4. Januar 1870. Nach der Festnahme verbreitete er die Mär von seiner Identität als Albin Wadenbach, dessen Paß im Besitz des Bruders Franz Friedrich Wadenbach sei, und schrieb flotte Briefe, die seine Robinsonaden-und-Münchhauseniaden untermauern sollten und die ihn am Ende als Schwindler entlarvten.(65) Und was lesen wir in "»Weihnacht!«", gerade als Karl May und Carpio eine Herberge für Handwerksburschen (W 29) ansteuern: . . . da kam ein Gendarm heraus . . . und fragte (nach Namen und Stand, selbstverständlich). Carpio . . . zog seinen Schülerpaß . . . Der Gendarm öffnete den Paß, las ihn und gab ihn mit einem eigentümlichen Lächeln . . . zurück: »Wenn Sie das


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alles sind, was hier verzeichnet steht, so sind Sie ein gemachter Mann, lieber, junger Herr!« (W 27f )

   Freilich war der Plantagenbesitzer Albin Wadenbach ein gemachter Mann! Nur einen Paß konnte er nicht vorweisen. Aber, wieder der Gendarm: » . . . man sieht es Ihnen ja an, daß Sie das sind, wofür Sie sich ausgeben, und wenn es unter besonderen Umständen nötig sein sollte, so wird Ihr Kollege seinen Paß besitzen, welcher Sie dann beide legitimiert.« (W 28)

   Die besonderen Umstände waren damals allerdings gegeben. Nur gab es eben den Franz Friedrich Wadenbach nicht, der beide hätte legitimieren können. So wie es rein körperlich ja auch nur einen Karl May gab, der da vor dem Gendarm und dessen Vorgesetzten stand.

   Albin Wadenbach und  F r a n z  Friedrich Wadenbach sind eine Person – sind »der einstige Schullehrer Karl Friedrich May«, wie die Behörden befriedigt feststellten. Da schlug der Beamte eine breite, behäbige Lache auf . . . : »Der Franzel?« . . . Er ist auch Student gewesen; er hat auf Schulmeister studiert, die Sache aber aufgegeben . . . Nun spricht er von nichts lieber als von seinem Studium.« (W 29)

   Auf knapp zwei Buchseiten komprimiert die ganze Misere: Vom Aufstöbern des Vagabunden (des Handwerksburschen) in seiner Herberge durch den/die Gendarmen, über die mit Skepsis aufgenommene Plantagenbesitzer-Mär, bis hin zur Entlarvung als der von Sachsen her gesuchte Karl May. Die Reise des verstörten, kranken "caro mio" alias Car(p)io alias Car(l)(M)-oi war zu Ende.


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Halten wir einen Augenblick inne. Die Reise Karl Mays 1869 führte über Falkenau und Karlsbad weit hinaus, endete jenseits von Tetschen in Niederalgersdorf. Die beiden Schüler in "»Weihnacht!«" hingegen gelangen nicht einmal bis Karlsbad, geschweige denn bis Tetschen oder noch weiter; sie kommen über Falkenau nicht hinaus. Von dort eilen sie in Richtung Graslitz (W 44, 95, passim) über Gossengrün und Bleistadt an der Zwoda aufwärts (W 107f.) – also immer in Richtung der sächsischen Grenze, der Heimat entgegen.

   Inwiefern decken sich also die reale "Ferienreise" vom Winter 1869 und die erzählte Weihnachtsreise, wenn letztere bereits in Falkenau endet?

   Wie so vieles bei Karl May ist die Antwort verblüffend einfach. In der Entfernung von etwa 20–25 Kilometer Luftlinie nordöstlich von Niederalgersdorf und Bensen, nahe bei Kamnitz und auf dem Wege nach Görlitz in Schlesien – dem angeblichen Ziel des angeblichen Albin Wadenbach Anfang 1870 – liegt das Dorf Falkenau.


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   Damit, glaube ich, reißt ein Schleier. Mag Karl May auf seiner Reise mit Emma im Sommer 1897 in der Stadt Falkenau und dort auch beim Wirt Franz Scholz gewesen sein ––– das Falkenau der Weihnacht 1869, wo das Gewissen ihn rüttelte und zur Heimkehr drängte, war jenes Dorf Falkenau bei Kamnitz. (Wir hatten da Städte und Dörfer heißt es beziehungsvoll im Text der Erzählung.)(66) Von dort lenkte er, entkräftet, hungrig, ein Landstreicher, mit sich im ununterbrochenen Widerstreit, die Füße wieder westwärts – heimwärts – der sächsischen Grenze entgegen –, um mich dem Gericht zu stellen (LuS 168), gelangte nach Niederalgersdorf – und verfiel jenen inneren Gewalten (ebd.). Albin Wadenbach erstand. Noch einmal griff das dunkle Ich nach ihm, ließ ihn blühenden Unsinn erzählen. Unsinn, wie Carpio in der Begegnung mit dem Gendarmen ihn von sich gibt.


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Blühender Unsinn – dahinter versteckt Karl May die Bitterkeit des Geschehens. Und legt doch die Spur in fast schmerzhafter Deutlichkeit. Er läßt den oberschichtig so humorigen, in Wahrheit so vielgesichtigen Gastwirt Franzl – den wir noch betrachten müssen – ein krauses und zur jeweiligen Situation völlig unpassendes Latein daherreden. So wie einst zur Zeit Luthers Menschen ihre schlichten deutschen Eigennamen latinisierten, um sich aus der Masse herauszuheben und vornehm zu erscheinen, so imponiert Franzl mittels lateinischer Brocken den Unbedarften (einschließlich seiner Ehefrau); und so imponiert seit Jahren der flunkernde "Weltläufer" Karl May mit "Jäger-Latein" seinen Lesern (und genießt als mittelbare Folge derzeit auch den Respekt seiner Ehefrau). Die Häufung falsch angewendeter lateinischer Zitate ist eines der heimlichen Eingeständnisse Karl Mays, daß er mit gekünstelten Mitteln die Wahrheit vertuscht. Und das krause Latein Franzls des Gutherzigen, der an Carpio einen Narren gefressen hat und mit ihm gewissermaßen um die Wette raucht, bildet auch die direkte Brücke zu dem insoweit ebenfalls gekünstelten lateinischen Namen Carpio, der dem Autor an einer – unkorrigiert gebliebenen – Stelle zum personalisierten Carpius gerät (W 45). "Carpere", im allgemeinen Sprachgut hierzulande noch gängig durch die Redewendung "carpe diem" (pflücke, genieße den Tag), birgt eine Vielzahl von Bedeutungen in sich, die gerade im Falle Karl Mays alle auf ein und dasselbe hinauslaufen und von ihm auch durchaus bewußt verarbeitet worden sind: zerstückeln, zersplittern, zerrupfen; benagen, schmähen, herabsetzen; schwächen, entkräften; beunruhigen; einen Raum bzw. eine Strecke langsam durchwandern; abfressen, abweiden (in diesem Zusammenhang auch: pflücken); sich etwas auswählen . . . Alles mündet ein in Carpius –


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Carpio – das aufgesplitterte, geschwächte, geschmähte, dahinirrende Ich, von Karl May zum Gegenstand einer Erzählung erwählt.

   Samt dem "a" und "i" von "Mai" steckt in "Carpio", ebenso wie in "Amos Sannel", das "A und O" der May'schen Lebenswanderung. Und so wie bei "Sannel" die Buchstaben "S" und "n" zusätzlich auf das "Seminar" als Beginn der Leiden hinweisen, so ist durch "Car-" = Kar (wie Karfreitag) das "Leiden" des Karl May in dessen Gesamtheit erfaßt. Karl May beschreibt nicht nur die Ich-Spaltung; er setzt sie als handlungsförderndes Moment ein.


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Er vereint aber auch Unvereinbares – ein weiterer Grund für »das Geheimnis seines Erfolges«.(67) Während das kranke Ich den Namen Carpio trägt, erhält das gesunde Ich den Beinamen Sappho (W 30 passim) – also den einer Frau.

   Liegt darin etwa ein Beweis für eine "Zweigeschlechtlichkeit" unseres Autors? Für sexuelle Verirrungen in der Jugend oder gar im vorgeschrittenen Alter? Oder liegt die Erklärung viel tiefer –– und zugleich viel näher?

   Auch "Sappho" enthält, wie "Amos Sannel", das "A und O", das im S-eminar begann (d. h. in der Schule, wo dem Ich-Erzähler der Scherzname Sappho aufgrund des überwältigenden Erfolges seines Weihnachtsgedichtes angehängt wird – der erzähltechnischen Sublimierung der fast existenzvernichtenden Niederlage durch den Kerzendiebstahl im Seminar) – ein nochmaliger Hinweis darauf, welchem Thema Karl May diese Erzählung widmet; und mit der Wahl des Namens Sappho als der einer Dichter i n ,  einer Verkörperung des musischen Weiblichen, manifestiert Karl May die Vereinbarung des sonst miteinander Unvereinbaren:

   Schriftsteller werden, Dichter werden! (LuS 110) – das sind die Ideale, . . . die ich seit meiner Knabenzeit im tiefsten Herzen trug (ebd.) und zu denen May sich unumwunden bekennt. Der harte Weg dorthin wurde ihm nicht zuletzt durch seine Leidensfähigkeit ermöglicht – und Leidensfähigkeit ist ein besonderes Merkmal gerade der weiblichen Psyche. Feminine Züge im Mann sind eine ganz alltägliche Erscheinung, die ihre ausgeprägteste Gegen-Entsprechung im "Mannweib" findet. Karl May war sich seiner eigenen femininen Züge voll bewußt. Sie haben ihn freilich nie davon abgehalten, sich ein Leben lang, als Mann, nach der bergenden Weiblichkeit der Frau – als natürlichem Gegenpol zu eben seiner physiologischen Maskulinität (die dem Psychologen nur allzu vertraute, leicht verletzbare Maskulinität) – zu sehnen. Der erwachsene Karl May suchte, dem natürlichen menschlichen


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Urbedürfnis folgend, das Vertrauensverhältnis zu einer Frau, das der Knabe Karl May zur Großmutter und zur Schwester unterhielt – und das die Mutter ihm verwehrte; aber zu Emma stellte dieses Vertrauensverhältnis sich nicht ein; es blieb ein gewaltiger seelischer Leerraum den dieser psychisch gestörte, innerlich vereinsamte und, auf der Flucht vor Frustrationen, narzißtisch orientierte Karl May mit seinem eigenen vielschillernden Ich und seinen zahlreichen Abspaltungen, in edlen, kauzigen oder schurkischen Gestalten geschildert, ausfüllte – diesem Ich, mit dem er Zwiesprache halten mußte, als er sich selber verfolgte und suchte.(68) Karl May konnte keine Frau sein – und trug auch kein Verlangen danach, eine zu sein –, aber er mußte ein Mittel finden, beängstigende innere Konflikte aus eigener Kraft zu lösen, weil keine Frau bereitstand, zu ihrer Lösung beizutragen.(69) Und er fand es.

   Das erfolgreiche Umsetzen der psychischen Befindlichkeit des Autors Karl May in kreative Vorgänge beruhte darauf, daß er imstande war, sich – rein bildlich ausgedrückt – ein "symbolisch existentes", zwischen Seele und Verstand "angesiedeltes" 0rdnungs-und-Regulans-"Organ" zu schaffen, mittels dessen er die auseinanderklaffenden Fäden seiner Seele kunstvoll ineinanderschlang, ihr jeweiliges – ohne Konsensus mit den anderen Fäden geführtes – Eigenleben in das der anderen integrierte und ihr gemeinschaftliches "Handeln" erzeugte(70) kurz: Unvereinbares vereinbarte. Wenn er sie alle "mit festem Griff" erfaßte, bewirkte er harmonischen Erzählfluß und inneres Behagen. Entzog sich ihm auch nur einer der Fäden, litten Werk und Person. Störungen mochten z. B. von innen hervorgerufen werden durch ein allzu schmerzliches Durchstoßen der schützenden Deckschichten, wenn er während des Schreibprozesses böse Erinnerungen wachrief,(71) oder von außen her, indem Emma ihn während der Arbeit mit Nichtigkeiten behelligte, oder durch ein anderes äußeres Ereignis. Dann stellten sich unweigerlich Unstimmigkeiten und Widersprüche in der im Entstehen begriffenen Erzählung ein. Und so – um Störungen möglichst aus dem Wege zu gehen – flüchtete er, darf es verwundern, während der Entstehung der ihm so viel bedeutenden Erzählung "»Weihnacht!«" in die Abgeschiedenheit, um dort an seinem Buch zu schreiben,(72) um aus der »Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt« "ein Buch zu machen" . . . Ein Buch, das mehr als alle vorausgegangenen dieses Schriftstellers die Vereinbarkeit des Unvereinbaren exemplifiziert.

   So wie aus dem Weiblichen in ihm die Kraft zum Leiden quoll, so auch die Kraft zur Täuschung, zum Verschleiern, zum begütigenden (oder arglistigen) Verdecken. Aus der Synthese, dem Zusammenwirken dieser beiden Quellen erwuchs dem Maskulinum Karl May die Befähigung zur Sublimierung – und damit auch, als Mittel der Katharsis, zum Verwischen der Geschlechtsidentifikation. So bot sich ihm unter


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anderem als ganz wesentlicher Ausweg aus inneren Wirren die Gestalt und Gestaltung des viel-funktionalen Winnetou,(73) der so häufig Emma repräsentiert. Die biologische Vorgabe "Mann" bzw. "Frau" im Bedarfsfalle, d. h. je nach Notwendigkeit der Umsetzung seelischer Vorgänge im Gewande einer abenteuerlichen Reiseerzählung und in Anpassung an den herrschenden Moralkodex, zu "neutralisieren" oder gar zur Irrelevanz zu stempeln, ist eine der bewunderswertesten Leistungen Karl Mays.

   Mit dem Namen Sappho verbinden sich die Begriffe "menschliche Güte" wie "literarische Erfolge". Karl May benötigt lediglich den gar nicht einmal so sonderbaren Gedanken (W 30), die weibliche Komponente in seinem multiplen Ich – die Güte und Versöhnung und Ansporn symbolisiert – ganz ohne scherzhaften Anstrich (W 30) zu mobilisieren, um, das "A und O" seines Lebens mitsamt dem schicksalhaften "S" vor Augen, dem maßgebenden Charakteristikum ganz nahe zu kommen: Sappho gilt als die berühmteste Dichterin des Altertums und ist durch die unübertreffliche Reinheit und Schönheit ihrer Verse ausgezeichnet (W 30) –– ein vortreffliches stützendes Element auf Karl Mays Weg zur Reinheit und Schönheit seiner eigenen Dichter-Seele, zu der er ja eben jetzt, im vorgeschrittenen Alter und jenseits der Torheiten der Jugend, mit dieser seiner Weihnachts-Erzählung und dem sie leitmotivisch durchziehenden Büßergedicht hinzugelangen hofft.


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Bezeichnenderweise verleiht er den weiblichen Beinamen Sappho dem gesunden Ich – als Hinweis darauf, daß dieses sich erhaben fühlt über jedes etwa damit verbundene Odium; dem kranken Ich aber attestiert er zwiespältige Haltung gegenüber dem Weiblichen, das ja nicht nur per se Güte und Versöhnung, sondern auch Buhlschaft und Verlockung, Verleitung und Niedergang des Mannes symbolisiert: Carpio sieht in Sappho sein Heil (»Verlaß mich nicht, Sappho, verlaß mich nicht!«, W 367; »Rette mich, Sappho, rette mich!«, W 390) – womit Karl May sein ungestilltes Sehnen nach der vom Mütterlichen offerierten Geborgenheit eingesteht; die Anrede "Karl" verwendet Carpio nie; vom Mannestum, vom Väterlichen wird die Rettung nicht erwartet; zu seinem Vater vielmehr hat Carpio ein denkbar schlechtes Verhältnis (W 386, 387, 607f.) –, aber die Heilssehnsucht paart sich mit Mißtrauen gegenüber dem Weiblichen. Das kranke, verwirrte Ich Carpio schiebt die Schuld an allem – eigenen – Fehlhandeln der Schwester zu: Es ist die Schwester, die die Landkarten (W 24) und die Papiere (W 28) und alles sonstige zu Carpios Schaden verwechselt, die ihm die Schrauben für ein Sicherheitsschloß vorenthält (W 25), und es sind seine


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Schwestern, (die) eine große, für ihn verhängnisvolle Rolle (spielten), und (er hatte) seine ganze Zeit und alle seine Geisteskräfte nur dazu anzuwenden gehabt, die Gedankenlosigkeit dieser jungen Damen für sich unschädlich zu machen. (W 60, 61)

   Wir brauchen nicht näher darauf einzugehen, daß sich hinter der wehleidig-brüsken Verteufelung der weiblichen Familienmitglieder im weiteren Sinne nicht zuletzt der tiefsitzende, zu Zeiten immer wieder eingeschläferte Vorwurf Karl Mays verbirgt, seine seelische Notlage sei durch Emma nur vergrößert statt behoben worden; eine Negativhaltung, die in späteren Jahren zu Anschuldigungen führte, Emma habe ihn fortlaufend bestohlen und ihn gar vergiften wollen.(74) Im Rahmen der in "»Weihnacht!«" unmittelbar behandelten Thematik bildet das der Schwester Carpios zugeschobene schuldhafte Verhalten im engeren Sinne die Basis für Karl Mays Bewältigung des Kerzendiebstahls von Waldenburg. Scheinbar abseits derjenigen Erzählstränge, die dieser Bewältigung dienen, zurrt Karl May mit vorgetäuschter Belanglosigkeit die Fäden fest, aus denen – mehr als zwölf Jahre später – die in "Mein Leben und Streben" präsentierte Beschönigung des Geschehens und die moralische Rechtfertigung des Kulpanten gewoben wird.

   Erinnern wir uns: Gedankenlos hatte die Schwester in Waldenburg gefragt, ob das Mitnehmen der Talgreste wohl Diebstahl wäre (LuS 101; vgl. Abschnitt 9 dieses Beitrages). Die Folgen der "Gedankenlosigkeit" wären für Karl May um ein Haar vernichtend gewesen. Nur durch sein "wohlkomponiertes" unterthänigste(s) Reueschreiben(75)das Gedicht von 32 . . . Strophen – hatte er den größten Schaden abwenden und einen Erfolg erringen können.

   Ganz zu Recht knüpft Karl May die ursprüngliche Aberration an das kranke Ich, das, der Verwirrung anheimgefallen, geheimen Einflüsterungen erliegt, schuldig wird und seitdem die Schuld loszuwerden sucht. Die Stimme der Verlockung kam aus dem eigenen Innern – aber im Interesse der Rechtfertigung darf es natürlich nicht diese eigene Stimme gewesen sein. Am dichtesten bei der Wahrheit bleibt er, wenn die Stimme dem Menschen gehört, der dem heranwachsenden Karl innerlich am nächsten steht – auch vom Lebensalter her –, ihm am innigsten verbunden ist: der Schwester.(76) Eine Hilfskonstruktion, bei der Geschlechtsidentifikation keine Rolle spielt, jeder der beiden "Akteure" insoweit ein geschlechtsloses Wesen ist, ausschließlich "Seelenträger", und beide Seelen einander spiegeln in ihrem Leid und in ihrem Sehnen nach Glück und sich doch voneinander unterscheiden. Die Schwester Carpios, die Schwester Karls zum Verursacher jeden Fehlgriffs zu erklären, bietet die perfekte Zuflucht, da ja eben das Weibliche sowohl negativen Einfluß wie positiven Einfluß ausstrahlt und der Kulpant den Zwiespalt nach Belieben als aufgelöst betrachten kann. Für Carpio wie für Karl May ist die Schwester die "Ent-Schuldigung".


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Im Falle Carpios wird der Leser, dank der Darbietungsweise des Autors, natürlich sofort gewahr, was er von der Belastung der Schwester zu halten hat. Im Falle des Karl May selber aber weiß der Autor das vorzüglich zu kaschieren. Ihm fließt insgeheim aus der Verquickung, daß das als Ursache des Fehlverhaltens hingestellte Weibliche zugleich doch auch Kraftquell der Seele ist, die Befähigung zu, die Bewältigung des durch das kranke und verwirrte Ich verschuldeten Debakels von Waldenburg dem gesunden – oder doch nahezu gesundeten – Ich innerhalb der Erzählung zu übertragen und zwölf Jahre später in der Selbstbiographie "Mein Leben und Streben" eine erschütternde und für alle – auch ihn – glaubhafte Darstellung der Ereignisse von Waldenburg zu geben (LuS 101, 102).

   Bindeglied bei all dem ist das ansonsten für den Gang der Handlung ganz unwesentliche Sicherheitsschloß, womit Carpio seine und Sapphos Habe vor Entwendung schützen will, dessen Schrauben jedoch durch Verschulden der Schwester (W 25) fehlen. Gerade diesen entscheidenden Mangel lastet Carpio dann jedoch später seinem Freunde Sappho an (W 386f.) –– und damit ist das Bild komplett, die Spur zur Wahrheit und zum wahren Täter gewiesen: Dieses nicht funktionierende Sicherheitsschloß bedeutet Karl Mays nachlässigen Verzicht auf jede Sicherheitsmaßnahme, indem er die gestohlenen Kerzen in seinem "unverschlossenen Koffer" (Jb-KMG 1976, 95) aufbewahrte und sie so der Entdeckung preisgab; so wie die Entfernung der Schrauben es dem Eindringling in Weston (alias Waldenburg) ermöglicht, den Kasten zu öffnen und sich an dem kostbaren Inhalt zu weiden (W 289; vgl. Abschnitt 12 dieses Beitrages). Der Kasten, der die Nuggets enthielt – der die Kerzen enthielt –– der die "Motette" enthielt . . . das "Motiv" enthielt für alles im Leben Karl Mays nachfolgende böse Geschehen.

   Der Kerzendieb wurde im Laufe der Jahre zum fortschreitend seelisch Verstörten, dem durch die unbegreifliche Zerstreutheit anderer Leute die mannigfaltigsten Drangsale bereitet worden waren (W 60), der also als Straftäter die Dinge auf den Kopf stellte, die Gutgläubigkeit der Mitmenschen für seine Delikte ausnutzte, sich dann aber von den Erbosten verfolgt sah und Bewußtseinstrübungen für sein Handeln geltend machte, unter denen er zunehmend litt.


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Die beiläufige Erwähnung des "Sicherheitsschlosses" gehört zu jener verblüffenden Technik Karl Mays, seine Bekenntnisse zu verschlüsseln und dennoch erkennbar zu machen. Seine Eigenart der Darstellung erzeugt immer wieder Formulierungen, die der Kenner der Biographie bewundert (an denen der Nicht-Kenner aber achtlos vorübergeht, weil


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er nur den oberflächlichen Augenschein wahrnimmt). In "»Weihnacht!«" wählt May selber den passenden Terminus romantische Färbung (W 31) dafür. Die gesamte Erzählung ist davon durchzogen. Vorerst mag der Hinweis auf zwei Beispiele genügen – die Aufzählung der Reise-Utensilien Sapphos und Carpios und ein in der Beschreibung Carpios kaum auffallender Satz.

    . . . eine Botanisiertrommel . . . enthielt unser ganzes Reisegepäck nebst allen Toilettenartikeln, welche für uns auszudenken waren; . . . Viele . . . waren es nicht! Zwei Landkarten hatte Carpio auch besorgt, eine von Sachsen und eine von Böhmen . . . Auch Nähzeug war da. . . . Die übrigen Ausrüstungsgegenstände waren mehr intimer Natur . . . : Bindfaden, Feuerschwamm; ein Eissporn . . . , Fischthran . . . , ein Brennglas, . . . ein hölzernes Sicherheitsschloß . . . (W 23–25).(77)

   In der Verknüpfung zweier Teil-Ichs – des insoweit "romantisierenden" Ich-Erzählers und des von ihm distanziert beobachteten Kranken – werden hier scheinbare Nichtigkeiten wie nebenbei aus dem Wege geräumt: die Erinnerung an den unverschlossenen Koffer in Waldenburg, das karge Gepäck des Ende 1869 durch Böhmen flüchtenden und sicherlich mit Landkarten ausgerüsteten Karl May und die Erinnerung an die Mitnahme so vieler unnützer Gegenstände aus Haus und/oder Werkstatt des Schmiedes Weißpflog in Ernstthal Ende Mai 1869.(78)

   Der weiter oben im Zusammenhang mit der Beschreibung Carpios bereits zitierte Satz, (d)abei liebte er es, der einfachsten Sache eine größere Bedeutung, als sie besaß, beizulegen und besonders auf unsern Wanderungen dem nüchternsten Gegenstand oder Vorkommnis eine romantische Färbung zu erteilen (W 31), verdeutlicht die Verschränkung verschiedener Ich-Aspekte auf verschiedenen Ebenen.

   Das hier dem "dunklen Wesen" Carpio, dem vor lauter Zerstreutheit dem Abgrund entgegentrudelnden Ich, zugeschriebene Betragen beschreibt Karl Mays Fehleinschätzungen und "umweltschädigende" Verhaltensweisen während der Straftäterzeit, sein Errichten einer "künstlichen Realität" in seinem Innern: ich (war) . . . seelisch verrückt (LuS 113). Eine romantische Färbung trugen die Maskeraden des Kleiderschwindlers von 1864 alias Seminarlehrer Lohse und Dr. med. Heilig und des angeblichen Polizeileutnants von Wolframsdorf 1869.(79) Aus derselben Wurzel gespeist wie diese einzelnen Abspaltungen wird aber auch das hellere Ich des Karl May; und integriert in denselben Schreibfluß, der dem dunklen Teil des Ich gerecht wird, ist die Beschreibung der Tätigkeit des Schriftstellers, der sich selber in seinen Aufspaltungen und in seiner Phantasiebegabung sieht:(80) Bei der literarischen Umsetzung der wahren Eigenerlebnisse liebte er es, der einfachsten Sache eine größere Bedeutung . . . beizulegen, will sagen, das äußere Abenteuergewand der Geschichte erleichtert dem Erzähler die Beichte und verlockt andere Menschen zum Lesen, zum Immer-Wieder-Lesen. Und


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selbstverständlich gehört dazu auch, besonders auf unsern Wanderungen dem nüchternsten Gegenstand oder Vorkommnis eine romantische Färbung zu erteilen – wenn nämlich das Geschehen, das sich um und in Karl May abspielt, im Wege der Reise-Erzählung, auf Wanderungen, "roman"-tisiert wird. Da reisen z. B. Old Shatterhand und Winnetou nach Afrika, um einen Verschollenen zu suchen, und imponieren den Beduinen – statt daß Karl May im April 1878 nach Niederwürschnitz fährt, wo er als angeblicher hoher Beamter Fragen über das unglückliche Ende Emil Pollmers stellt.(81) Oder Kara Ben Nemsi gerät in der Hütte eines Bettlers in einen Hinterhalt und wird beinahe erschlagen und nur durch Halefs Raffinesse und Loyalität befreit – statt daß Karl May sachlich über seine Kolportage-Fronarbeit für Münchmeyer, etwa 1884/1885, berichtet.(82) Und in "»Weihnacht!«" geht es, wie Figura zeigt, ähnlich zu: Wie wird da der einfachen Sache des Kerzendiebstahls eine größere Bedeutung zugesprochen (in zweierlei Licht, wie wir gesehen haben), und wie wird das "nüchterne Vorkommnis" der Ausweisung des Seminaristen Karl May aus Waldenburg ungewöhnlich "romantisch verfärbt" und in der emotionalen Übersteigerung der wahrhaft schonungslosen literarischen Abrechnung Karl Mays mit Seminardirektor Schütze als tragendes Handlungsmoment förmlich dramatisiert! Welch ein Spannbogen wird da sichtbar!

   Wir werden die romantische Färbung noch anläßlich der nächtlichen Aktionen der beiden Ferien-Reisenden zu untersuchen haben, doch bedarf es zunächst noch weiterer Erhellung, daß Karl Mays Schilderung seiner Ich-Spaltung sich nicht in den Gestalten Sappho und Carpio erschöpft. Die Reise-Erzählungen sind gekennzeichnet durch den Ego-Pluralismus des auktorialen Erzählers und die multiple Identität anderer Figuren. Wie verschiedenartige Schattenbilder, die sich auf hellem Hintergrund voreinander herbewegen und dann erstaunliche Kongruenz annehmen, oder wie drehbare Puppen, deren Bekleidung aus mehreren geschickt aneinandergesetzten verschiedenartigen Kostümen besteht, so daß sie je nach dem Ausschnitt, den sie dem Betrachter zuwenden, z. B. Rotkäppchen oder Königin der Nacht, Torero, Malaie oder gehörnter Siegfried sind, so porträtieren Karl Mays Figuren in ein und derselben (fiktiven) Person mehrere reale Personen seiner Biographie oder erscheinen solche Personen innerhalb ein und derselben Erzählung in mehreren Gestalten. Und das erzählende Ich setzt diesen Kunstgriff souverän ein. In "»Weihnacht!«" wird auf wenigen Seiten ein ganzes Panorama entrollt und werden wie im Zeitraffer dabei verschiedene "Handlungszeiten" des Erzählten und dazugehörige Weihnachtsereignisse ins Licht gerückt.(83) In den nächstfolgenden Abschnitten wollen wir die einzelnen Perspektiven betrachten.


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    . . . ein alter Mann . . . kam mit wankenden Schritten herein und ließ sich vor Ermüdung gleich auf den nächsten Stuhl niederfallen. Da schloß er . . . die tiefliegenden Augen und holte in einer Weise laut und rasselnd Atem, daß ich glaubte, er müsse vollends zusammenbrechen. Der (vielleicht dreizehn Jahre alte) Knabe legte liebevoll und besorgt den Arm um seine Schulter und streichelte ihm . . . die zum Erschrecken hagere Wange. (W 42)

   Nach Amerika will er, der Bedauernswerte: »Es ist keine Lüge«, und »bis nach Bremen hätte es gereicht, wenn . . . (er) nicht krank geworden wäre.« (W 43)

   Da haben wir den zwischen Euphorie und Zermürbung schwankenden Karl May von 1869, der nach Amerika will und bis Bremen kommt und umkehren muß(84) –– und durch Sachsen und Böhmen hetzt und zur Weihnachtszeit sowohl seelisch als auch körperlich dem Ende nahe war. Und in dem wie ein Alp – und doch beinahe verbrämt, Mitgefühl erheischend – die Erinnerung saß an jene Unüberlegtheit, die ihn schon als Dreizehnjährigen in Richtung Spanien trieb, ein Opfer tosender Träume.

   »Wir sind durch Sturm und Schnee und Frost gewandert, als überall in den warmen Stuben die Weihnachtsbäume brannten. Wir mußten weiter, immer weiter, von Ort zu Ort, ohne uns auch mit freuen zu dürfen. Ich habe euch kein Licht anzünden und nichts schenken können . . . und . . . weinte . . . in mich hinein. Hier aber ist mir wohl; . . . hier wollen wir unser Weihnachtsfest feiern!« (W 48)

   Erschöpft schlug er sich durchs Land, damals vor der Jahreswende 1869/1870, auf dem Gewissen die Last, daß er zehn Jahre vorher, 1859, die maßgebliche Torheit begangen hatte, die damit endete, daß er den Lieben daheim kein Licht anzünden konnte. Und mutmaßlich im Dorfe Falkenau fand er vorübergehend eine freundliche Bleibe, wo er sich auf den nächsten Stuhl niederfallen lassen konnte und wo er Hoffnung schöpfte, in seiner Seele doch noch das Weihnachtsfest feiern zu können.

   Zwangsläufig ist es der Ich-Erzähler, der den Alten (und dessen Begleiter) vor der wegwerfenden Bezeichnung Landstreicher! in Schutz nimmt: » . . . sie sind brave, unglückliche Menschen, deren Not man nicht noch vergrößern darf.« (W 95) Und wie ist er darauf bedacht, sie vor polizeilichen Nachstellungen zu bewahren:

   » . . . so blutarmen Leuten, welche von der Mildthätigkeit anderer leben müssen, (ist es) jedenfalls sehr unangenehm . . . , wenn sie mit der Polizei auch nur in Berührung kommen müssen. Man würde sie nach allem ausfragen, und das Ergebnis könnte sein, daß sie als Landstreicher eingesperrt und dann per Schub nach ihrer Heimat transportiert würden, wohin sie, wie wir wissen, nicht wieder wollen.« (W 95)


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   Die aus handlungstechnischen Gründen erforderliche euphemistische Pluralform kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich allein um den Vagabunden Karl May vom Winter 1869 handelt, der kein Verlangen danach trug, wieder heimzukehren, den aber ein weihnachtlich anrührendes Erlebnis im Dorfe Falkenau dann doch den Weg in Richtung der sächsischen Grenze einschlagen ließ –

   Vorweggreifend sei das Bild abgerundet: Der alte Mann schleppt sich von Falkenau aus weiter – der deutschen Grenze entgegen –, hält aber nicht durch, sondern stirbt unterwegs (W 112) in einer alten Schneidemühle(85) (W 109). Die ihm vorübergehend zuteil gewordene Erleuchtung hat zur Bewältigung der sehr irdischen Schwierigkeiten nicht hingereicht: In einem scheunenartigen Schuppen (anstelle einer Schneidemühle) wurde Karl May aufgespürt –– und verfiel jenen inneren Gewalten (LuS 168) und kehrte nicht freiwillig heim.

   Carpio und Sappho aber sind dem Alten bis zur Schneidemühle auf der Spur geblieben (W 95f., 107–109) – erklärlich: Das Ich hat sich ständig selbst verfolgt.


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Die von Karl May geschaffene Identitätsverbindung ist fast gespenstisch. Den drei als Landstreicher verdächtigen Personen wie auch den beiden Studenten wird von dem seinerseits "verkrachten Studenten" Franzl eine unerwartete Weihnachts-Bescherung zuteil. Und immer geht es einzig dabei um die Weihnachts-"Bescherung", die Karl May sich selber veranstaltete.

   Immer wieder ist die Rede vom Christbaum, von Weihnachtskerzen und deren Licht, von neue(n) Lichte(n) (W 49f., 56 passim); der angstvolle Blick [des Greises] kann sich sowohl auf eigene wie auch auf erlittene Missethaten beziehen (W 54); ich war gewohnt, allen seinen [d. i. Carpios] Eigenheiten Rechnung zu tragen (W 63) –: all das, was hier in  F a l k e n a u  ins Blickfeld rückt, war auch damals in  W a l d e n b u r g  maßgebend. Welch fürchterlicher Gleichklang. Und wie verschmelzen jetzt die Jahre:

   Carpius [sic; W 45] . . . sagte . . . leise . . . : » . . . ich kann auch etwas geben . . . ; paß nur auf!« Er bot um Schweigen, stellte sich neben den Baum und begann zu deklamieren:

»Ich verkünde große Freude,
    Die Euch widerfahren ist,
Denn geboren wurde heute
    Euer Heiland Jesus Christ – – – –«

Wie kam es nur, daß mein eigenes Gedicht mir so fremd vorkam, so, als ob es nicht von mir, sondern von einer ganz andern Person, einem ganz


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andern Wesen stamme? Je weiter er sprach, desto fremder kam es mir vor und desto tiefer griff es mir in die Seele hinein. Auch die andern hörten voller Andacht zu. Der Greis verwendete keinen Blick von dem Redner; seine Augen bekamen Glanz; es tauchte ein seltsames Licht in ihnen auf. War das der Reflex des brennenden Weihnachtsbaumes? Oder war es der Schein einer höhern Klarheit, welche jetzt sein Herz erleuchtete? . . . Er hörte fast ohne Atem zu, richtete sich, als Carpio geendet hatte, langsam auf . . . und bat: »Noch einmal das letzte, noch einmal! . . . wo der Priester spricht!« Carpio kam diesem Wunsche nach, und es war mir auch jetzt wieder, als ob es nicht meine, sondern die Worte eines andern seien . . . (W 50–51)

   Wir müssen nicht lange nach einer Erläuterung suchen. Der sprachliche "Ausrutscher" Carpi u s  resultiert aus der gedanklichen Vorbereitung des Autors auf die "Bescherungs-Szene". "Pius" heißt "der Fromme, der Gott Zugewandte", – und das, gerade das, war Karl May in jenen Dezembertagen (1866, 1867?) im Gefängnis Osterstein in Zwickau, wo er, wohl mit fiebrigen Wangen und mit beinahe zitternden Händen, sein Weihnachtsgedicht unter Glockenläuten zu Papier brachte. Und das dunkle Ich zitiert dieses Weihnachtsgedicht, sagt es laut vor sich hin in der einsamen Zelle, während rechts und links im Flur entlang andere Strafgefangene lauschen; und dem als Häftling in sich gespaltenen wie auch dem 1897 sich selbst von fern beobachtenden Karl May kommt das eigene Gedicht fremd vor, als ob es nicht von mir, sondern von einer ganz andern Person, einem ganz andern Wesen stamme. Es war ja auch das verstörte Ich, das es zustandebrachte, und es ist das auf dem Weg zur Gesundung befindliche Ich, das sich jetzt offen als Karl May! – damit identifiziert. Lebendige Rückschau auf eine bedrückende, gottlob für immer versunkene Szenerie – und verhaltener Stolz auf die erbrachte Leistung.

   Und das andere dunkle, verstörte Ich lauscht und lauscht den erlösenden Gedanken, Ende 1869, und weiß, daß seine eigene helle Seite ihm den Weg weist, und erkennt die Rettung im HErrn. . . . seine Augen bekamen Glanz; es tauchte ein seltsames Licht in ihnen auf. Er kehrte also nach fünf Monaten wieder heim, um (sich) dem Gericht zu stellen – (W 50; LuS 168).

   Wir wissen, daß er es nicht tat. Aber es ist ihm zu glauben, daß er kurzzeitig dazu bereit gewesen sein muß. Darauf deutet jener Satz, Carpio war infolge des ungewohnten Weines außerordentlich mitteilsam geworden; er erzählte seinen ganzen Lebenslauf oder vielmehr alles nach seiner Ansicht Merkwürdige, was sich auf demselben zugetragen hatte. Diese Merkwürdigkeiten bestanden meist darin, daß ihm durch die unbegreifliche Zerstreutheit anderer Leute die mannigfaltigsten Drangsale bereitet worden waren (W 60). Da sehen wir diesen Karl May, wie er mit sich selbst zu Rate geht zur Weihnacht 1869, vielleicht


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bei einem mitleidigen Wirte im Dorfe Falkenau sein Schicksal beklagt, sich vielleicht beinahe verplappert. Das eigene Weihnachtsgedicht, das Ende 1869 erst wenige Jahre alt war, mag damals in Böhmen die Sehnsucht nach Loslösung von allen Schatten beflügelt haben, so wie es jetzt die Schreib-Gegenwart Karl Mays beflügelt. Wir sehen aber auch, da ja der "Erzähler" Karl May ebenso wie Carpio dem Wein fleißig zugesprochen hat (Wenn man bedenkt, daß . . . Wein getrunken wurde, so wird man mir glauben, daß ich mich nicht allzusehr nötigen ließ. W 40), in der Überblendung ihn Weihnachten 1864 verzweifelt in einem Lokal ein Glas Wein trinken und mit der Zukunft hadern. Wir sehen ihn Weihnachten 1876 auf Emma einreden – er erzählte seinen ganzen Lebenslauf. Und wir sehen den fleißig "erzählenden" Autor Karl May die Erinnerung an noch eine andere Weihnacht genießen, 1894, als ihm in Form einer ersten umfänglichen Geschenksendung ungewohnten Weines frohe Weihnachtsstimmung beschert wurde.(86) So ist der Erzähler Karl May in seelischer Hochform, als er im Jahre 1897 seinen ganzen Lebenslauf in einigen wenigen prägnanten Bildern zusammenfaßt.


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Er läßt nichts Wesentliches aus. Wir haben da Carpios großspurigen Ausspruch »Wenn es nun der Polizei einmal einfällt, mich mit einem gesuchten Raubmörder oder durchgegangenen Bankdirektor zu verwechseln, so kann ich mich nur ruhig einsperren lassen, bis mich mein lieber Vater wieder holt!« (W 58). Und damit meint er die diversen Geldschwindeleien im Jahre 1869, das Schwenken des Terzerols bei drohender Gefahr – und die Loyalität des Vaters während und nach der Zuchthauszeit 1870–1874 (Vater kam mir entgegen. Es fiel ihm auch dieses Mal nicht ein, mir Vorwürfe zu machen. LuS 178), sodann aber auch die vom Vater Heinrich May beschleunigte Rückkehr Karls "von Spanien" und den dortigen "Räubern" (LuS 79, 92f.).(87) Der "Spanien-Reisende" Karl May war dreizehn Jahre alt – und diesen vielleicht dreizehn Jahre alten Knaben (W 42) samt Mutter bezieht der Autor pointiert in die Weihnachtsszene ein und gibt ihm den Namen Stefan (W 113) in Anpassung an den Heiligen Stephanus, der als Christ das Martyrium erlitt und dem der zweite Weihnachtstag gewidmet ist. Merken wir auf: Carpio erzählte seinen ganzen Lebenslauf oder vielmehr alles nach seiner Ansicht Merkwürdige, was sich auf demselben zugetragen hatte (W 60), während die fremde Frau . . . ihr Kind zärtlich an sich gedrückt, im Glanze des Weihnachtsbaumes mit wehmütigem Lächeln (dasitzt), ohne an unserem Gespräch teilzunehmen. (W 60) Das ist die in stiller Bitterkeit ertragene Erinnerung an die Reaktionen der eigenen Mutter, der er so gern stets nahe gewesen wäre und die ihn doch so


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distanziert behandelte, die den angstvollen und doch so sehr der Hoffnung zugewandten Plänen des Sohnes wie eine Fremde nur wortlos gelauscht hatte, ohne auf seine Seelenpein wahrhaft einzugehen (LuS 160) – damals, vor der von Stimmen verdunkelten Weihnacht 1868. Diese Mutter, über deren Reaktion auf jenes andere wesensprägende Ereignis der Reise nach Spanien (LuS 92) – mit alsbaldiger Heimkehr in Begleitung des besorgten Vaters – Karl May in der Selbstbiographie bezeichnenderweise kein Wort verlauten läßt. Saß die Frau, die ihm "fremd" blieb, wiewohl er bis zum Hinscheiden ihre Liebe ersehnt hatte, die Märtyrerin, die Heilige (LuS 9), zur Weihnacht 1855 wirklich im Glanze des Weihnachtsbaumes mit wehmütigem Lächeln da, ihr Kind, den dreizehnjährigen Karl, zärtlich an sich gedrückt?? Oder ist hier wieder einmal Karl Mays bewährtes Prinzip der "Umkehrung" im Spiel – das Auswechseln einer im Leben erlittenen Schlappe gegen ein Bild des Glücks in der so lebenswahr gestalteten Fiktion?


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So wie schon der Dreizehnjährige sich unrealistischen Träumen hingab, so führt jetzt das kranke Ich Carpio wirre Reden und beschwört einen geheimnisvollen Verwandten (W 62) herauf, den amerikanischen Vetter (W 46), der unaufhörlich die Gedankenwelt des jungen Menschen beherrscht und – sprachliche Anbindung an das im Geiste erschaute Spanien der edlen Räuber – ein wahres Dorado verheißt (W 47, 62, 79, passim). Dieser Geheimnisvolle, von dem seine Eltern zuweilen einen Brief bekamen (W 46), ist der Dämon, der sich Karl Mays in dessen dunklen Jahren bemächtigen wollte – der Anführer der "dunklen Stimmen", (f)atal, häßlich, höhnisch, abstoßend, stets finster und drohend (LuS 112), das dunkle Wesen (LuS 119), eine Gestalt des Unheils, die ihn immerfort am Abgrund hin führte (LuS 119). Der weitere Verlauf der Erzählung, worin dieser Vetter als Gurgelabschneider (W 303) mit dem häßlichen, ganz und gar nicht Vertrauen erweckenden Gesichte (W 334) in Erscheinung tritt, bestätigt, daß dieser Onkel der böse Geist, der Versucher des armen Carpio ist und ihn ins Verhängnis treibt. Ein Verwandter – dem Ich fern und doch nicht fremd und von innen her mit ihm verbunden (die Variante zur gedankenlos handelnden Schwester). Dem Lockruf des vermeintlichen Dorado Amerika war Karl May ja einst wirklich erlegen, wie er im Brief vom 20. April 1869 an seine Eltern bekannte(88) – irrigen Vorstellungen, die sein gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit ihm vorgegaukelt hatte und die binnen kurzem zusammenbrachen.

   Der Schatten dieses Briefes vom 20. April 1869 findet sich in Carpios Empfehlungsschreiben (W 62) an seinen Verwandten in Pittsburg


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(W 302); nach Pittsburg wollte Karl May 1869 mit den Burtons reisen. Zudem ist dieses nutzlos bleibende Empfehlungsschreiben natürlich die Gesamtheit aller hochtrabenden, falschen "Dokumente", die Karl May sich 1869 anfertigte,(89) und der unverschämten Briefe, die er als Albin Wadenbach verfaßte und die ihn als höchst respektable Persönlichkeit ausweisen sollten.(90) Und somit ist wiederum die Verbindung hergestellt zur Jahreswende 1869/1870 und zu jener traurigen, von Gewissensnot beherrschten Weihnacht.

   Und als von Carpio für die fremde Frau verfaßtes Empfehlungsschreiben spiegelt es auch Karl Mays erste glühende Briefe an Emma Pollmer – Briefe, mit denen er, gegen Ende 1876, nach erst flüchtiger Bekanntschaft, um ihre Gunst warb. Emma, verwirrt, aber geschmeichelt, von einem Fast-Mittdreißiger umworben zu werden, ging geschickt auf die brieflichen Annäherungsversuche ein (LuS 190: Welch eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau!) »Ich nahm ihn (den Brief) nur, um den jungen Mann nicht zu kränken«, sagt die Empfängerin später (W 302) – entsprechend der auktorialen Bemerkung, sie ging auf seinen Vorschlag ein, vielleicht nur, um ihn nicht zu beleidigen (W 63); und damit beschreibt Karl May, wie er sich im nachhinein Emmas Verhalten vor dieser bedeutsamen Weihnacht 1876 erklärte. Dazu paßt, daß die fremde Frau sich über die Autorschaft des von Carpio vorgetragenen Gedichtes vergewissert, das »auf mich und ganz besonders auf meinen Vater einen tiefen Eindruck gemacht« hat (W 61): das ist die Reminiszenz an den Respekt des alten Pollmer vor den "Geographischen Predigten" dieses Karl May (LuS 189f. ), der ja immerhin ein paar Jahre im Gefängnis gesessen hatte . . .


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Im Schwenk der Perspektive vollziehen sich bemerkenswerte Verschiebungen der austauschbaren Identitäten, und dabei begegnen wir auch wieder einem jener scheinbaren "Ausrutscher" im Text, die so genaue Fingerzeige liefern.

   Der echte Gastwirt Franz Scholz und seine Ehefrau dürften kaum das Vorbild abgegeben haben für die beiden Wirtsleute in der Erzählung. Der in Böhmen viel gelesene Karl May hätte sich mit der lebenswahren Darstellung eines prominenten Gastwirtsehepaares allerhand Unliebsamkeiten, wenn nicht eine Klage eingehandelt, wenn dieser Gastwirt sich mit albernem Latein lächerlich macht und die Wirtin alles in allem nicht sonderlich sympathisch davonkommt. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß Franzl und Anna (W 35) mit dem wirklichen Wirtsehepaar nicht das geringste zu tun haben – dafür aber umso mehr mit Karl May.


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   Franzl paßt, wir sahen es bereits, allzugut zu Franz Friedrich Wadenbach, dem schattenhaften Bruder des Albin Wadenbach; er hat auf Schulmeister studiert, die Sache aber aufgegeben (W 29); und Anna ist seit den Tagen der ersten, unerfüllt gebliebenen Liebe des Jugendlichen Karl May zu Anna Preßler das Symbol für unzulänglich-leidvolle Liebesbeziehungen. (Besonders ausgeprägt in der Figur der Anna von Adlerhorst in "Deutsche Herzen – Deutsche Helden".) Am ehesten unzulänglich und unerfüllt und leidvoll waren die auf die Mutter und auf Emma gerichteten Sehnsüchte Karl Mays. "Anna" verbirgt sich im Vornamen der Mutter, Christiane; und im Namen Elise Wagner (W 63), den die fremde Frau als den ihren nennt, sehen wir die Lautangleichung an Emma wie auch an Weise, den Geburtsnamen der Mutter. Elise Wagner heißt in Wirklichkeit Hiller(91) (W 143, 154, passim), und vom englischen "hill" (Hügel, Berg) führt die Spur zum obsoleten deutschen "Poll" (von "Wipfel, Baumkrone" im übertragenen Sinne hergeleitet "Erhebung"); wir sind also auch von daher bei Emma angelangt.

   Elise Wagner wird mit Bangigkeit (W 63) Zeugin, wie Anna ihrem Franzl heftige Vorhaltungen macht wegen dessen Aufmerksamkeiten gegenüber der "fremden Frau" (W 64ff.) – und darin finden wir das gespannte Verhältnis zwischen Mutter May, geborene Weise, und Emma Pollmer in den Jahren 1877–1879, eine für Karl May sehr unangenehme Situation.(92) Hierfür revanchiert sich Frau Elise in der Erzählung bei Franzl – d. i. Emma bei Karl – mit der spitzen Bemerkung, sie wolle nicht die Ursache eines bösen Streites sein und ziehe sich zu ihrem (Groß-)Vater zurück (W 67f.) . . .

   Die Blickrichtung verläuft aber auch anders: . . . die Wirtin . . . stand unwillig brummend von ihrem Stuhle auf und verschwand in der Küche, wohin Franzl ihr alsbald folgt und aus welcher dann die . . . Töne eines sehr unregelmäßig komponierten Duettes zu uns drangen. Im ersten Teile hatte der sehr erregte Diskant die Führung, während der Baß nur zuweilen in besänftigender Weise einfiel; dann aber änderte sich die Stimmführung allmählich, bis sich der Baß in sehr kräftigen Kadenzen produzierte und der Sopran seine Existenz in einem verschwindenden Triller aushauchte, dem wir es deutlich anhörten, daß die Wirtin der Küche durch eine zweite Thür Valet sagte. (W45f.). Franzl triumphiert: »Jetzt ist sie wild; aber ich thu doch, was ich will« (W 45) und ist auch um Fairneß gegenüber seiner Ehehälfte bemüht, indem er bemerkt: »Oh, die hat Verstand! Nämlich, was gebildete Menschen, besonders Studenten betrifft, weil ich auch einer gewesen bin. Da schwelgt sie auch gern mit in meinen Erinnerungen und meinen Gefühlen.« (W 55) Aber so ganz geheuer ist ihm nicht zumute, als die Gescholtene-und-Hochgelobte wieder erscheint.

    . . . die Wirtin trat herein. Der liebe Franzl mochte darüber wohl ein


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wenig erschrecken . . . Mein Busenfreund duckte sich zusammen, als ob er der Schuldige sei. Die fremde Frau sah dem Kommenden mit sichtlicher Bangigkeit entgegen. Franzl brannte sich, um sich für den Kampf zu stärken, eine neue Cigarre an. (W 63) Und nun folgt, in Fortsetzung des unregelmäßig komponierten Duettes, eine jener ehelichen Szenen, wie gerade Karl May sie so oft so köstlich geschildert hat (wer denkt nicht spontan an Mersinah und Selim Agha in Amadijah!) – und wie sie sich wohl auch so oft, aber weit weniger köstlich, gerade im Hause May abgespielt hat. Hier hält die Wirtsfrau ihrem Franzl vor, unbedacht und ohne Rücksicht auf sie verschwenderisch mit dem gemeinsamen Eigentum umzugehen und einer Fremden ungebührlich etwas zukommen zu lassen (W 66). Das zielt ab auf Karl Mays übermäßige Großzügigkeit Besuchern wie Fremden gegenüber, auch in Gelddingen, z. B. in Trinkgeldern (»ich . . . gebe gar zu gern, weil ich nämlich früher auch nichts gehabt habe, meine klassische Bildung natürlich abgerechnet«, sagt Franzl leicht großspurig; W 55), und verweist auf die Vorwürfe, die Karl diesbezüglich von der sparsamen Emma anhören mußte.(93) Schon vorher war auf Franzls "Mesalliance" hingewiesen worden: weil ihn die reiche Wirtin zum Mann genommen hat, gab er sein Studium auf (W 29). Emma war keineswegs reich, aber sie besaß beim Tode ihres Großvaters dessen Wohnung und Ersparnisse und hätte vermutlich – trotz ihres nicht gerade sonderlich sittsamen Lebenswandels – auch einen Mann mit wesentlich gesicherterer Existenz als Karl May heiraten können. Die Eheschließung brachte für Karl May zwar eine beträchtliche Stabilisierung seiner persönlichen Verhältnisse, hinderte ihn aber auch an einer ungebundenen Entfaltung. Wie manches Mal mag Karl May unter berechtigten – oder auch unberechtigten Vorhaltungen sich geduckt haben und sich verschüchtert zurückgezogen haben in eine Hülle aus "Scham und Maske"(94) – ein Schatten Carpios.

   Gegen den Umgang mit den vielen gebildete(n) Menschen, die spätestens seit 1896 im Hause verkehrten, hatte Emma – die sich, wie ihre Briefe beweisen, vorzüglich auszudrücken wußte (besser als Klara) und die keineswegs ein "Dummchen" war – natürlich nichts einzuwenden. Insbesondere hatte es ihr wohl der damalige Student Max Welte angetan. Mochte May das mißtrauisch verfolgen oder nicht – er hatte mit "Old Surehand" mühsam seinen inneren Frieden mit Emma hergestellt, war mit ihr von Mai bis Juli 1897 auf ausgedehnter Reise gewesen, um beider Zusammengehörigkeit zu unterstreichen, und beeilt sich daher, den anfälligen Frieden nicht ernsthaft in Gefahr zu bringen, indem Anna ihrem Franzl einen Kuß von solcher Resonanz, daß er eigentlich eine volkstümlichere Bezeichnung verdiente, verabreicht und Franzl schmunzelnd bekennt: »Hab ich's nicht immer gesagt, was für eine kreuzbrave Frau ich hab'?« (W 67) Zwiespalt, Zwiespalt.


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   Und dazwischen sehen wir noch einmal eine andere romantische Färbung, sonderbar konturiert, die einer einfachsten Sache beigegeben wird: Dank des oben erwähnten sprachlichen "Ausrutschers" nämlich vermittelt die so anheimelnd familiär wirkende weihnachtliche Menage, in die sich so herbe Mißtöne mischen, neben dem bisher Beschriebenen auch das Abbild jener Szenen im Hause Münchmeyer, wo Karl May zur Weihnacht 1875 hofiert wurde und wo es in Wahrheit häufig alles andere als gemütlich zuging.(95) Der Kreis der Identitäten wird also noch weiter ausgedehnt(96) – wobei dem die Studenten (d. i. den "Herrn Doktor May") hofierenden Franzl die Rolle des sich – unpassend – patriarchalisch gebärdenden Heinrich Münchmeyer zukommt, der, wie Franzl, eine nicht vorhandene Bildung vorzutäuschen suchte, und Anna wird in die Rolle der Verlegersfrau Pauline Münchmeyer gedrängt: auch sie war zwar ganz entzückt von solchen Gästen (W 36), war aber auch nicht so gutmütig wie er (W 42)(97) und versteckte ihre Hinterhältigkeit gern in einem eigentümlich freundlichen Ton, dessen Bedeutung ich damals noch nicht kannte (W 64). Dieser für die Erzählhandlung ganz unerhebliche Relativsatz liefert die Erklärung, welche aufblitzende Erinnerung sich hier Bahn schuf: Es gibt in der Erzählung keine späteren Begegnungen des Ich-Erzählers mit der Wirtsfrau, die ihn zu einer korrekten Beurteilung des eigentümlich freundlichen Tones hätten führen können; insoweit steht der Halbsatz beziehungslos im Raum und ist für den unbefangenen Leser nicht verständlich.(98) Sobald aber die Biographie des Autors danebengehalten wird, ergibt sich der Sinn des "Ausrutschers", der Anspielung von selbst: Er gilt der vielgesichtigen Pauline Münchmeyer, von der Karl May im Jahre 1897 nichts für sich Gutes erwartete,(99) und er gilt natürlich auch der zungenflinken Emma. Carpios anhaltendes Erschrecken über die Wortgewalt und Stimmgewalt der Wirtsfrau, die ihm »wie eine –– eine Furie!« erschien (W 69), spiegelt Karl Mays eigene Reaktionen auf durchlebte, vordem nicht für möglich gehaltene Auftritte der Verlegersfrau wie auch der Angebeteten. Welch eine Veranlagung zur Schriftstellersfrau hatte er aus der Sicht des Verliebten ihr einst angedichtet . . .


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Die romantische Färbung, mit der wir uns beschäftigt haben, gerät zur meisterhaften Camouflage in jenen Szenen der nächtlichen Aktionen der beiden Ferien-Reisenden, die bei Generationen von Schülern unbändige Heiterkeit hervorgerufen und auch den erwachsenen Lesern so manches Schmunzeln abgenötigt haben. (Und ungeachtet der hier folgenden Betrachtungen möge das so bleiben. Karl May will und soll ja immer – immer wieder – auch nach dem Augenschein gelesen wer-


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den [werden] und genossen werden.) Szenen, in denen Carpio allerlei Capriolen schießt, an deren Folgen er noch geraume Zeit zu tragen hat. Szenen, in denen von Wein und Zigarren, von wohlduftenden Schinken und schmackhaften Würsten, von lieblichen Kuchen und unseliger Naschgier, von Reue und Appetitlosigkeit die Rede ist – und die so ganz und gar das unbesonnene Verhalten eines kecken Schülers wiedergeben. Szenen, die von Arno Schmidt (und, nach dessen Worten, bereits von Paul Elbogen) als unwiderlegliche Beweise für Karl Mays zumindest latente, wenn nicht praktizierte Homosexualität beigezogen worden sind.(100) In ihrem Eifer haben sie sich auf die falsche Fährte locken lassen – die von Karl May so gar nicht gelegt wurde. Old Shatterhand hätte das allerdings kaum geschickter arrangieren können.

   Die gestörte Psyche des Autors Karl May findet ihr Ventil nicht in kaschierten Bekenntnissen eines Päderasten und auch nicht primär in Eingeständnissen einer unausgelebten oder falsch ausgelebten Heterosexualität. Hand in Hand mit der aus Kindheits- und Pubertätstagen herrührenden Disposition zu Halluzinationen und zur Schizoidität ging zwar, erklärlicherweise, ein gespanntes Verhältnis zu sexuellen Problemen einher, und wie jedes Menschen Sexualität wurde auch die des Karl May aus dem psychischen Bereich ebenso bestimmt wie aus dem physischen (die Verschränkung von Psyche und Physis – und ihre Disparität – ist kaum besser zu belegen), und in seiner Ehe mit Emma trug Karl May ein gerüttelt Maß an sexuellem Joch – doch wunderbarerweise räumt die ins Werk eingeflossene Auseinandersetzung mit dem Ich diesem Teil der Lebensbewältigung, dem Sexus, nicht die hervorragende Rolle ein.(101) Im wesentlichen wird der Text beherrscht von dem das Idealbild des Reinen trübenden Fehlverhalten und dessen Folgen, von den anhaltenden Gewissenslasten, von der Schuldzuweisung – an das eigene Ich wie an andere –, von dem Lechzen nach Entsühnung. Die Textanalyse ergibt, wie ich mittlerweile anhand zahlreicher Beispiele aus verschiedenen Reiseerzählungen belegt zu haben glaube, immer wieder, daß sein nach dem Gesetz strafbares Handeln früherer Jahre den Autor Karl May weit mehr belastete als sexuelle Frustrationen; diesen wußte er dank seiner Befähigung zur Sublimierung zumeist geschickt auszuweichen. Seiner geheimen – für die Nachwelt aber durchaus einsichtigen – Vorstellung nach mußte die Befreiung des Ich von drückenden Schlacken zu einem großmütigen, überlegenen, von Weisheit getragenen Karl May führen, mit zwangsläufig rein wohlwollender und protektionistischer Haltung gegenüber Emma; das wiederum würde zu einer Neubelebung, ja Neugeburt der Ehe führen – und damit, weil unter veränderten seelischen Bedingungen, zu einer auch körperlich neu beglückenden Gemeinschaft. Zu einer Gemeinschaft, wie Karl May sie – entgegen Arno Schmidt – keineswegs je mit Carpio erlebt hatte.(102) Hinter den "Bett-Szenen", in die Karl May


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Sappho und Carpio geraten läßt, steckt nicht das geheime Wunschbild eines Menschen mit (verzeihlichen) homosexuellen Neigungen. Nein, dahinter stehen schreckliche Bilder der Ich-Spaltung.


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Zunächst wird von Carpio in launigen Dialogen als einem staatsgefährlichen Menschen (W 70) und Dieb (W 75) gesprochen, dann hält man ihn zu jeder Schandthat fähig (ebd.); zwischendurch wird darauf hingewiesen, daß er den starken Cigarren (W 70)(103) und dem Wein (ebd.) reichlich zugesprochen hat, wozu er noch bemerkt: »Ich habe ja nichts, gar nichts gegessen« (ebd.); und sodann hält Carpio folgenden Monolog:

   »Das Nikotin ist ein Drache, der mich niemals wieder in seine Krallen bekommen soll, und das Alkohol eine Schlange, die ich zähmen werde, weil man doch nicht für immer von ihr loskommen kann . . . Nun ich . . . hier in dieser guten Stube die verloren gegangene Lebensfreude wieder finde und auch fast wieder logisch denken kann, verspreche ich dir bei diesen Schinken und Würsten, . . . daß ich mich niemals wieder von einem heuchlerischen, hinterlistigen Genusse verlocken lassen werde, auf meine Menschenwürde, wenn auch nur für eine Stunde, zu verzichten . . . . Nie wieder soll der Tabak meine Lippen berühren, und jedes Getränk, welches Alkohol enthält, sei mir fortan nur als Arznei erlaubt.« (W 72f.)

   Dazu bemerkt der Erzähler: Der sonst so wortkarge Freund pflegte nur gegen mich, zumal während unsrer Wanderungen, aus seiner Schweigsamkeit herauszutreten; jetzt hatte er gar eine Rede gehalten, was mir als unumstößlicher Beweis dafür diente, daß es ihm völliger Ernst mit seinem Versprechen war. (W 73)

   Ehe der längst fällige Schlummer sich endlich einstellt, wird noch einmal Carpios Verwandter heraufbeschworen, von dem Carpio eindringlich sagt: »Mein Verwandter existirt wirklich, aber nur für solche Leute, für welche ich ihn existiren lassen will.« (W 77) Kein Gleichaltriger soll Näheres über diesen Verwandten erfahren, »(w)eil der Kerl . . . sich für mich ausgeben könnte . . . Halunken giebt's genug! . . . Lügner giebt's genug! . . . Falsche Papiere giebt's genug! . . . Nein, nein, eine solche Erbschaft laß ich mir nicht wegschnappen!« (78f. ) Der Ich-Erzähler kann nur staunend kommentieren: »Carpio, bist du verrückt? . . . Bei dir wird eben alles zum Roman!« (W 78) und hört Carpio – wiederum eindringlich – sagen: »Du bist mir lieber als alle andern Menschen, die ich kenne; aber grad diese Liebe ist der Grund, daß ich dich auch vor der kleinsten Versuchung bewahren will!« (W 80)

   In der Nacht will Carpio zum Wurstdieb werden und bringt sich


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durch akrobatische Verrenkungen in eine schier ausweglose Lage, aus der nur der besonnene Ich-Erzähler ihn retten kann (W 81ff.). Am nächsten Morgen gesteht Carpio in müdem Tone: »Ich sage dir, Sappho, der Geruch dieser Würste und Schinken ist mir jetzt zuwider!« . . . Er sah wirklich ganz elend aus. Seine Wangen waren jetzt aschfahl und eingefallen; die Augen hatten einen stieren, wie abwesenden Blick. (W 89f.)

   Nachdem Carpio den ganzen Tag über immer noch nichts essen will, stellt sich am darauffolgenden Morgen heraus, daß er statt der ihm entgangenen Wurst heimlich einen ganzen Quarkkuchen verzehrt und natürlich an den Folgen laboriert hat (W 104ff.); schon vorher war ihm das Bekenntnis entschlüpft, er sei froh, »wenn ich diesen Quarkkuchen nicht riechen muß, der mir so zuwider ist, wie ich gar nicht sagen kann!« (W 99).(104)

   Diese ganze Szenenfolge, bis zum endgültigen Aufbruch der beiden jungen Reisenden von Falkenau, in humorigen Ton gehüllt und von schülerhaft-albernen Dialogen durchsetzt, ist der reinste Zuckerguß über grausamer Bitterkeit. Die darin enthaltene Spiegelung des zur Zeit der Niederschrift obwaltenden Versuchs Karl Mays, von seiner Sucht des schier unaufhörlichen Zigarrenrauchens loszukommen,(105) ist noch das harmloseste Bild. Der Hinweis des Autors auf unmäßigen Verbrauch von Nikotin und Alkoholika steht ganz allgemein als symbolhafter Ausdruck für die Hinwendung zum Schädlichen, zum Laster, zum Übel. Die "lustige" Szenenfolge beschreibt den Kampf mit der Ich-Spaltung und mit deren Schreckenserscheinungen. Wir wollen das unter Beiziehung der aufschlußreichen Selbstbiographie "Mein Leben und Streben", die in dieser Erzählung in vielem vorweggenommen wird, im einzelnen untersuchen.


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. . . jeder Schandthat fähig hielt man ihn einmal: Es hatte irgendwo einen Einbruch gegeben. Jedermann sprach von ihm. Der Täter war entkommen. Bald gab es wieder einen, in derselben Weise ausgeführt. Dazu kamen einige Schwindeleien, . . . Ich hörte gar nicht hin, als man es erzählte. . . . Es zirkulierte ein Gerücht, ein unfaßbares Gerücht, daß ich jener Einbrecher sei. Wem sollte man es zutrauen, als mir, dem entlassenen Gefangenen? . . . Die Stimmen schrieen mir zu: » . . . Du bist vor der Welt ein Schurke und mußt ein Schurke bleiben, . . . !« . . . Aber es kam schlimmer. Die heimatliche Polizei wollte mir nicht wohl. . . . Jetzt glaubte sie, Veranlassung zu haben, sich mit mir zu beschäftigen. Es kamen einige neue Schelmenstreiche vor, deren Täter ganz unbedingt mit einer gewissen Intelligenz behaftet waren. Man glaubte, dies auf mich deuten zu


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müssen. . . . Der Herr Wachtmeister erkundigte sich unter der Hand, wo ich an dem und dem Tag, zu der und der Zeit gewesen sei. (LuS 161f.)

   Und die Presseorgane hatten Ende Juli 1869 zu berichten gewußt: »Man brachte vor kurzem die Notiz, daß man endlich den berüchtigten ehemaligen Lehrer May in Haft gebracht hatte. Heute(106) ist dieser höchst gefährliche Mensch wieder entsprungen«.(107) Im Februar 1870, als die Wadenbach-Mär zusammengebrochen war, wurde verlautbart: »Unbekannter Verhafteter in Tetschen . . . ist . . . identisch mit dem der öffentlichen Sicherheit höchst gefährlichen . . . May, Carl Friedrich, vormaliger Schullehrer aus Ernstthal. . . . Derselbe . . . hat . . . vielfach Diebstähle und Betrügereien ausgeführt. . . . May ist . . . umso gefährlicher, als ihm eine nicht gewöhnliche Bildung, wie einige wissenschaftliche Kenntnisse den Eintritt in bessere Zirkel der Gesellschaft erleichtern.«(108)

   Der Mann, der Ende 1868, Anfang 1869 unter dem ungerechtfertigten Mißtrauen der Polizei litt, der sich dann erneut den schreienden Stimmen des Bösen überließ, dem dank seiner »nicht gewöhnliche(n) Bildung« einige raffinierte Coups gelangen und der dann in kühnem Handstreich während eines Hafttransportes am 26. Juli 1869 entfloh, ist derselbe Mann, der als Ich-Erzähler und als Student Carpio getarnt, zur Zerstreutheit und zu törichtem Benehmen neigend, aus dem Manuskript der Erzählung "»Weihnacht!«" herauslugt und mit sich selber spricht und trocken kommentiert: Ich wollte Carpio nicht um das Vergnügen bringen, sich für einen staatsgefährlichen Menschen zu halten (W 70), für einen Dieb . . . jeder Schandthat fähig. (W 75)

   Alles andere als ein Vergnügen war es, gehetzt zu werden von den Polizeiorganen und vom eigenen Gewissen. Mit niemand konnte er reden über den Verwandten, der ihn in den Krallen hielt, nämlich das eigene dunkle Ich. Für alle anderen Menschen existiert nur Karl May, nicht aber dessen Seelenspaltung. Niemand erfuhr, was in mir vorging und wie un- oder gar übermenschlich ich kämpfte, weder Vater noch Mutter noch Großmutter noch eine der Schwestern. Und noch viel weniger ein anderer, ein fremder Mensch; man hätte mich ja doch nicht verstanden, sondern mich einfach für übergeschnappt erklärt. (LuS 118f.) »Mein Verwandter existirt wirklich, aber nur für solche Leute, für welche ich ihn existiren lassen will.« (W 77) Es kamen zunächst Tage, dann aber ganze Wochen, in denen es vollständig dunkel in mir wurde; da wußte ich kaum oder oft auch gar nicht, was ich tat. . . . Hätte ich den Eltern oder doch wenigstens Großmutter gesagt, wie es um mich stand, so wäre der tiefe Sturz, dem ich entgegentrieb, gewißlich unterblieben. (LuS 119) Ich aber fühlte mich einsam, einsam wie immer. Denn auch im ganzen Orte gab es keinen einzigen Menschen, der mich hätte verstehen wollen oder gar verstehen können. Und diese Einsamkeit war mir, grad mir, dem innerlich so schwer Angefochtenen, im höchsten Grade


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gefährlich. (LuS 160f. ) Keinen Menschen vermochte er zu überzeugen, daß da zwei, drei, vier Karl May in ein und derselben äußeren Gestalt einherlebten und einander bedrängten. Und ängstlich mußte er zu wohlklingenden Pseudonymen greifen, die vor der Welt den hinter der Straftat steckenden »vormaligen Schullehrer aus Ernstthal« verbergen sollten – Dr. med. Heilig, Kupferstecher Hermes, Seminarlehrer Lohse, Schriftsteller Heichel, Expedient des Advokaten Dr. Schaffrath, Polizeileutnant von Wolframsdorf, Plantagenbesitzer Albin Wadenbach – »Weil der Kerl . . . sich für mich ausgeben könnte.« (W 78) Den Namen KARL MAY beschmutzt zu wissen, ihn vom eigenen Ich mißbraucht zu sehen, tat weh. Aber der Drang, in kühnem Griff zum Unrecht dem Schicksal das abzutrotzen, was auf rechtem Wege nicht erreichbar schien, war immer wieder stärker, immer wieder winkte verlockend ein imaginärer Goldschatz, ein Dorado, ein Finding-Hole – sei es eine aufs lebhafteste imaginierte Wadenbach-Plantage auf Martinique, eine dem Bäckermeister Wappler mittels gefälschter Papiere vorgespiegelte Erbschaft aus Amerika – deren Vortäuschung dem "Herrn Expedienten des Advokaten Dr. Schaffrath" dann immerhin stolze 40 Taler einbrachte (vgl. Abschnitt 12 dieses Beitrages)(109) –, oder auch der Versuch, aus einer wirklichen Erbschaft der Familie Albani im Heimatort etwas für sich, für Karl May abzuzweigen . . . (110)

   » . . . eine solche Erbschaft laß ich mir nicht wegschnappen!« (W 79) sagt Carpio trotzig, und erst nach leidvollen Erfahrungen bekennt er: »Jetzt freilich traue ich der Sache nicht mehr recht . . . und habe dieses schauderhafte Leben . . . so satt, wie ich es dir gar nicht sagen kann!« (W 289) Sein Leben war ein Jammer, ein fortgesetzter Jammer gewesen, ein fortgesetztes Fallen aus einem in den andern Mißerfolg. . . . er war das bewußt- und willenlose Werkzeug seines gewissenlosen Verwandten geworden . . . (W 391) Was der Verwandte zu "vererben" hatte, war die Sucht zum Bösen; und eine der tiefsitzenden Ängste Karl Mays beruhte sicherlich auf dem Gedanken, seine Hinwendung zu unredlichen, unkontrollierten Handlungen und zur Schizoidität könne herrühren aus unerforschtem Erbgut, das den Hang zur Zerstörung einschließlich der Selbstzerstörung begünstige(111) – eine Angst, gegen die das gesundenwollende Ich immer wieder Sturm lief.

   Es war kein gesunder, sondern ein kranker Trieb; das fühlte ich gar wohl, aber er wurde so stark, daß ich die Widerstandskraft verlor und ihm gehorchte. . . . Die Anfechtungen begannen von Neuem. . . . Ich fühlte, daß ich . . . ein höchst gefährlicher Mensch sein werde . . . – Dennoch: Ich halte es hier für nötig, zu konstatieren, daß ich meinen Zustand keineswegs für pathologisch hielt. Alle meine Vorfahren waren, so weit ich sie kannte, sowohl körperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen. Es gab nichts Atavistisches an mir. Was sich in dieser Beziehung mir angeheftet hatte, das war gewiß nicht von innen heraus er-


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zeugt [erzeugt], sondern von außen her an mich herangetreten. Ich arbeitete fleißig . . . – Jedoch: Sobald ich mir aber ein höheres Thema stellte . . . wurden Gewalten in mir rege, die sich dagegen empörten und . . . die . . . verbotensten Gedanken dazwischen warfen. Ich sollte nicht empor; ich sollte unten bleiben. (LuS 158f.) Kein böses Erbgut? Nur äußere Einflüsse als Ursache der schweren Verstörung? Das in sich zerrissene Ich wehrt sich gegen sich selber, mobilisiert seinen narzißtischen Strang und mahnt, den Weg des Übels zu verlassen: »Du bist mir lieber als alle andern Menschen, die ich kenne; aber grad diese Liebe ist der Grund, daß ich dich auch vor der kleinsten Versuchung bewahren will!« (W 80) Aber Wollen und Vollbringen ist zweierlei:

   Es brüllte vom Abend bis zum Morgen in meinem Innern. Die Stimmen schrieen mir zu: »Wehre dich, wie du willst, wir geben dich nicht los!« . . . So klang es bei Nacht. Wenn ich am Tage arbeiten wollte, brachte ich nichts fertig. Ich konnte nichts essen. (LuS 161f.) » . . . ich habe ja nichts, gar nichts gegessen!« (W 70) Seit vielen Stunden nicht. Nur geraucht – und getrunken. Hierzu gesellte sich ein alter, sehr wohlbekannter Hallunke, dem Niemand trauen darf, und wenn er noch so schmeichelt; ich meine den Durst. Der Abscheu vor Branntwein ist mir angeboren; ich genieße ihn höchstens als Arznei. . . . Jetzt aber fühlte ich seltsamer Weise stets großen Durst, wenn ich auf meinen Spaziergängen an einem Wirtshause vorüberging . . . Ich erzähle es nur des psychologischen Interesses wegen, weil es mir höchst sonderbar erscheint, daß dieser . . . mir sonst vollständig fremde Durst nach Spirituosen immer nur dann auftrat, wenn jene Stimmen die Oberhand in mir hatten (LuS 159f.).

   Wie war das doch mit Carpio? Er war infolge des ungewohnten Weines außerordentlich mitteilsam geworden (W 60), aber dann sahen wir, daß seine Wangen bleifarben und seine Augen matt geworden waren. Die Unterlippe hing ihm weit herab. (W 68f.) Und er schwört heilige Eide, » . . . jedes Getränk, welches Alkohol enthält, sei mir fortan nur als Arznei erlaubt.« (W 73)

   Bei dir, Karl May, wird eben alles zum Roman (W 78), erhält die einfachste Sache eine romantische Färbung . . .


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Und dann irrt dieser Carpio nachts umher und sucht eine Wurst zu stehlen und verschlingt, als das nicht gelingt, voller Gier einen ganzen Quarkkuchen und fühlt sich am Morgen wie zerschlagen. »Ich bliebe am liebsten liegen . . . Es liegt mir wie Blei in den Gliedern.« . . . Er sah wirklich ganz elend aus. Seine Wangen waren jetzt aschfahl und eingefallen; die Augen hatten einen stieren, wie abwesenden Blick. (W 90) –


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   Ich war sowohl körperlich als auch geistig ein kräftiger, sogar ein sehr kräftiger Mensch, aber ich wurde dennoch müder und müder. (LuS 119) Das war ein schwerer, ein unglückseliger Tag. Es trieb mich fort, hinaus. Ich lief im Wald herum und kam spät abends todmüd heim und legte mich nieder, ohne gegessen zu haben. Trotz der Müdigkeit fand ich keinen Schlaf. Zehn, fünfzig, ja hundert Stimmen verhöhnten mich in meinem Innern mit unaufhörlichem Gelächter. Ich sprang vom Lager auf und rannte wieder fort, in die Nacht hinein; . . . Als die Sonne aufging fand ich mich im Innern eines . . . Steinbruches emporkletternd. Ich hatte mich verstiegen; ich konnte nicht weiter. Da hatten sie [die Stimmen] mich fest, und da ließen sie mich nicht wieder hinab. Da klebte ich zwischen Himmel und Erde, bis die Arbeiter kamen und mich mit Hilfe einiger Leitern herunterholten. (LuS 163)

   »Er [der Hunger] geht wie ein brüllender Löwe in meinem Bette um!« stöhnt Carpio und ruft angstvoll: »Sappho . . . wach auf! Wach auf, und nimm mich herunter! Schnell, schnell!« Die Stimme kam . . . wie von oben herab . . . »Ich hänge hier oben!« (W 81f. ) Und nur mit Mühe kann er wieder hinunter . . .

   Dann ging es weiter . . . den ganzen Tag, die ganze nächste Nacht; dann brach ich zusammen und schlief ein. . . . Ein Donner weckte mich (LuS 163f.) – »wie ein brüllender Löwe . . . « (W 81) – Ich eilte fort und kam an ein Rübenfeld. Ich hatte Hunger und zog eine Rübe heraus. . . . Hierauf schlief ich wieder ein. Aber ich schlief nicht fest; . . . Die Stimmen weckten mich . . . . »Du . . . frissest Rüben, Rüben, Rüben!« Als der Morgen anbrach, holte ich mir eine zweite Rübe . . . Ich fand einen langen, wenn auch nur oberflächlichen Schlaf, . . . von . . . Traumbildern gequält . . . Dieser Schlaf ermüdete mich nur noch mehr, statt daß er mich stärkte. . . . In mir war auch Alles erloschen. . . . Ich torkelte weiter . . . (LuS 164f.) Dieser Mensch, der da stand, war doch nicht etwa ich? . . . Wer war der Kerl . . . ? (LuS 167)

   Carpio, das kranke Ich, der elend aussieht, mit stiere(m), . . . abwesende(m) Blick, wie Karl May im März 1865 und bei anderen Gelegenheiten. Der angstgeschüttelte Streuner der Straftäterzeit, der ein Menschenalter später ein nur allzu gekünsteltes Lachen über die neu in ihm lebende Szenerie gießt und aus gewonnener Distanz heraus schizoide Verirrungen in Schülerstreiche umwandelt. Und wie exakt hat er doch diese Schreckenszustände beschrieben, wenn wir den Befund des Fachmannes dagegen halten:(112)

– »Chronische Angstzustände . . . Einengung der affektiven Schwingungsfähigkeit, die Karl May umhertreibt, ihn manche sinnlos erscheinende Handlungen begehen läßt«

– »Dissoziative Reaktionen: hysteroide Dämmerzustände mit Amnesie. Etwa, wenn Karl May auf freiem Feld umherirrt«


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– »Zwangssymptome: Die imperativen Stimmen werden häufig als zwanghaft erlebt.«

– »Episodischer Verlust der Impulskontrolle: Dies drückt sich bei Karl May in einer unverständlichen Gier nach Alkohol und in kriminellen Neigungen aus.«

– »Charakterstörungen: Es überwiegt wohl der pathologische Narzißmus, doch kommen insbesondere auch angstneurotische, depressive und hysterische Abwehrstrategien vor.«

Und zu diesen »hysterischen Abwehrstrategien« gehörte es auch, irgendwelchen schlimmen Vorkommnissen in der Vergangenheit der Familie niemals von sich aus nachzuforschen, nie mit zitternder Hand im heimatlichen Begräbnisbuch nachzuschlagen, jegliche vage oder leise oder vernehmliche Erinnerung an etwa irgendwann gerüchtweise, rasch verheimlichte, unversehens ans Licht drängen wollende Mitteilung ("nicht vor dem Kinde!") über peinliche Vorfälle in der Familie der absoluten Vergessenheit anheimzugeben, als eigenes, persönliches Wissen nur die Legende zu bewahren, ein Leben lang die romantische Färbung (W 31): Meine Großväter waren beide tödlich verunglückt (LuS 8), zur unumstößlichen Wahrheit zu erklären und daraus dann, in fester Überzeugung, die Ausgangsbasis herzuleiten: Alle meine Vorfahren waren, so weit ich sie kannte, sowohl körperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen. (LuS 159) Fernab der Legende und der romantischen Färbung aber hatte der Großvater mütterlicherseits in »Trunkenheit und Verzweiflung« Selbstmord durch Erhängen begangen(113) und hatte der andere Großvater (der möglicherweise nicht Karl Mays leiblicher Großvater war)(114) vorzeitig wegen »Unordentlicher Lebensart« den Tod gefunden. Wären Karl May die wahren Umstände jener "tödlichen Unglücksfälle" voll bewußt gewesen, hätte er sich also definitiv als den mit furchtbarer Erbschaft belasteten Nachfahren eines verzweifelten Alkoholikers sehen müssen, so hätte das vermutlich als Sperre gegen jeden Rettungsversuch der Seele gewirkt. Selbst wenn er an der Wahrheit der über die beiden Todesfälle verbreiteten Version zweifelte ( . . . wurden Gewalten in mir rege, die . . . die . . . verbotensten Gedanken dazwischen warfen. LuS 159), mußte er sich an die hilfreiche Lüge klammern. So stirbt Stefans Großvater in der Erzählung zwar in einer Verfassung, die der "Verzweiflung" sehr nahe kommt, aber doch auch in der Überzeugung, Gottes Barmherzigkeit zu finden und also letztlich "gerettet" zu sein. Gerettet wie Karl May.


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Gerettet? Noch ist es nicht soweit, wenngleich er auch Carpio sterben lassen wird, um die Qualen der Vergangenheit damit zu begraben. »Weißt du, wenn ich an meine Jugendzeit zurückdenke, so kommt es mir grad so vor, als ob ich in einen regnerisch trüben Tag hineinsähe; es giebt nichts darin, was mich erfreut, nichts, gar nichts, als nur eine einzige Gestalt, an die ich gern denke und auch gern denken darf, weil sich an sie kein Leid, kein Vorwurf für mich knüpft. Diese Gestalt ist mein guter Sappho, der sich soviel Mühe mit mir gegeben hat, ohne etwas aus mir machen zu können. . . . ich weiß, daß meine Rettung mit dem Augenblicke begonnen hat, an welchem du mich heute zu dir nahmst.« (W 390) »Weißt du, ich habe eigentlich nur dann gelebt, wenn ich bei dir gewesen bin, und darum macht es mich so glücklich, daß ich nun auch bei dir sterben darf.« (W 592) Carpio wird den Winter nicht überleben, wie Albin Wadenbach den einen Winter nicht überlebte, und wird im Erzähler Karl May nur eine trübe, aber keine sehnsuchtsvolle Erinnerung hinterlassen: Die innere Distanz zum kranken Karl May von einst wird größer und größer.

   Doch eines weiß der Autor jetzt noch nicht: Daß Carpio noch einmal, über sein Grab hinaus, schrecklich lebendig werden und ihn, Karl May, das Fürchterliche noch einmal in dessen ganzer Wucht erleben lassen wird –– Zwei Jahre nach dem machtvollen Befreiungsversuch "»Weihnacht!«", als gerade im sich neigenden November die Welt wieder dem nahenden Weihnachtsfest entgegensieht, geschieht es:

»Auch aus Sumatra schrieb K. M. nach Hause, daß er einen Anfall jener schrecklichen, quälenden Beeinflussung durchgemacht habe, die ihn zu seinen unsinnigen Taten zwang. Er habe 8 Tage gegen diesen Anfall kämpfen müssen und sich in dieser Zeit, wie ihm nachträglich klar wurde und wie ihm sein Diener Hassan sagte, wie ein Irrsinniger benommen. Ein Zwang trieb ihn, alle Nahrung in den Abort zu werfen. Er tat es und hungerte bis endlich der Normalzustand siegte.«(115)

Und da haben wir nun doch den häßlichen Schatten des Großvaters, dem Karl May zeitlebens furchtsam ausgewichen war – und haben auch das gallige Quarkkuchen-Erlebnis noch einmal:

»die Suizid-Tendenz, die das Zerbrechen der Panzerung und die damit freiwerdende infantile Angst zeitigte (der Analytiker bekommt es mit Selbstmordneigungen bei der Therapie narzißtischer Affektionen in diesem Stadium häufig zu tun), äußerte sich in ersichtlich infantiler Gestalt: Verweigerung der Nahrungsaufnahme (– die bei May stets mit extremen seelischen Krisen einherging; vgl. etwa Mein Leben und Streben 162 und 299)«(116)


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   Nein, das weiß er noch nicht, daß die im November 1859 in Waldenburg begonnene Spaltung ihn im November 1899 unendlich vergrößert noch einmal heimsuchen wird. Aber einen Mißklang zwischen zwei Saiten seines Tuns spürt er doch, während er das ganze Grauen der durchlebten Ich-Spaltung von einst in "»Weihnacht!«" noch einmal einfängt, um sich im Schaffensprozeß selber darzutun, daß er im Begriff steht, sie zu überwinden: Diesem ins literarische Werk einfließenden Entschlackungsprozeß steht die aberwitzige Behauptung gegenüber, Karl May sei wirklich Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, steht das öffentliche Auftreten in der Pose des Westmannes, des Orient-Abenteurers, stehen die Bildpostkarten, die ihn mit einer Kette aus Bärenzähnen und mit der Silberbüchse zeigen.(117) Nachdem das so lange ungestillt gebliebene Verlangen nach Anerkennung und Liebe, das auch im Narzißmus des innerlich vereinsamten Mannes am Schreibtisch nur eine partielle Kompensation hatte finden können, plötzlich durch die unbändige Verehrung einer nach Millionen zählenden Leserschar in einem für unvorstellbar gehaltenen Maße befriedigt wurde, schwoll folgerichtig der Narzißmus üppig an, erzeugte die Sucht nach dem "Mehr scheinen als sein" eine noch wildere Fabel als damals die vom Albin Wadenbach, die so verhängnisvoll endete; und ebenso folgerichtig ist die Züchtung des übersteigerten Old-Shatterhand-Image – wiederum wie damals – die Jagd des Ichs ins Dunkel der Selbstzerstörung, das ruhelose Spiel mit der ruhelosen Gefahr. Auf dem Wege in die Errettung vor der Spaltung, durch "»Weihnacht!«", ist die gleichzeitige Pflege des Old-Shatterhand-Image, das den Menschen und Autor Karl May eher vernichten als im Fundamentalen festigen kann, Karl Mays waghalsige, unterbewußte Herausforderung an das Schicksal. Der "pathologische Narzißmus" (Kurt Langer) ist erneut ein bedrückendes, unpassendes Bündnis eingegangen mit "hysterischen Abwehrreaktionen" (ders.): Während ein Teil des Ich sich löst von den Erscheinungen der Pseudologia phantastica, treibt ein anderer Teil den Fängen der Megalomanie entgegen. Und erstaunlich klarsichtig bringt das Unterbewußtsein dieses Karl May das zum Ausdruck, als er im Verlaufe der Erzählung in eben der Funktion des Old Shatterhand zu Carpio sagt: »Und sodann bemerke ich, daß der Westmann, der ich bin, nur ein Teil von mir ist. Ich bestehe nämlich noch aus einigen andern Existenzen.« (W 374)

(Wird fortgesetzt)


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60 Im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1987 entfiel dieser Untertitel mit Rücksicht auf den dort abgedruckten Beitrag von Ingmar Winter: Vom Spurenlesen beim Spurenlesen.

   Der erste Teil dieses Beitrages, im Jahrbuch 1987, enthält Gedanken über Karl Mays düstere Bemerkungen in "Mein Leben und Streben" zu der für ihn schicksalhaften Bedeutung des Weihnachtsfestes, bringt eine Übersicht über diejenigen wesentlichen Ereignisse in Mays Leben, die tatsächlich um die Weihnachtszeit herum stattfanden, und verweist auf die 1897 entstandene Reiseerzählung "»Weihnacht!«" als Karl Mays Ringen um Befreiung von den Bildern "dunkler" Weihnachtstage, wobei er mehrere Erzählstränge der inneren Bewältigung des Kerzendiebstahls in Waldenburg – Ende 1859 – widmet. Mit diesem ersten Delikt werden die Erscheinungen seelischer Spaltung in Karl May sichtbar.

61 Das Kürzel W verweist auf: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XXIV: »Weihnacht!«. Freiburg 1897.

Die Bezeichnung »der zweifache Preisträger Karl May« bezieht sich auf den Ich-Erzähler in "»Weihnacht!«", der für eine selbstverfaßte Motette über das Thema "Siehe, ich verkündige Euch große Freude" unerwartet fünfundzwanzig Taler Honorar erhält und mit einem eigenen Gedicht, "Ich verkünde große Freude", erster Preisträger in einem Preisausschreiben wird und dreißig Taler einstreicht.

62 In seinen Ausführungen zu "»Weihnacht!«" weist Roland Schmid: Nachwort (zu "Am Jenseits"). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben. Bd. XXV. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, auf einen tatsächlichen Schulkameraden Karl Mays mit Namen Garbe hin. (N3) Dieser kann in Mays Vorstellungen nicht mit "Carpio" identisch gewesen sein. Allein schon die spätere Anwesenheit des Freundes Carpio in den USA und sein Zusammentreffen mit dem Ich-Erzähler Karl May sowie das ihn dort ereilende böse Schicksal widerlegen die Ansicht, der reale Garbe könne gemeint gewesen sein. Carpio in der Erzählung ist nur scheinbar »liebenswert kauzig« geschildert (N3); in Wahrheit ist er weder wirklich liebenswert noch kauzig (letzteres trifft eher auf das Teil-Selbstporträt Hermann Rost zu), sondern bemitleidenswert und bedenkenerregend. Genau das hatte Karl May auch im Sinn. Der Hinweis seine Zerstreutheit . . . versprach, später für ihn verhängnisvoll zu werden (W 31), ist überdeutlich. Zudem darf Karl Mays Aussage Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen (Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910) S. 53 (Repr. Hildesheim–New York 1975, hrsg. von Hainer Plaul) (künftig: LuS)), nach Lage der Dinge als im wesentlichen zutreffend angesehen werden. Ein vertrauter Wanderkamerad paßt dazu nicht. (Die auf Dr. Pfefferkorn gemünzte Beschreibung: ein sehr lieber, ferner Freund (Karl May: Frau Pollmer, eine psychologische Studie. Prozeßschriften Bd. 1. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982 S. 867), hat durchsichtige psychologische Gründe, die im geistigen Umfeld der Entstehung der "Studie" liegen).

Die von Roland Schmid: Anhang (zu "»Weihnacht!«"). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben. Bd. XXIV. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984 A17, für den Anfang der Erzählung gewählte Bezeichnung »Idylle« erscheint mir nicht zutreffend. Karl May tut zwar so, als lasse er eine Idylle entstehen, zerstört diesen Eindruck jedoch mit Bedacht auf jeder Seite, zwischen den Zeilen steht ein fast grausamer Ernst. Das ergibt sich aus der den Hintergrund bildenden autobiographischen Thematik. Die von ihm selbst assoziierte Spur zu Karl Mays Kerzendiebstahl (ebenfalls A17 unten) hat Roland Schmid dort nicht weiter verfolgt.

Eine wirkliche »Winterreise« Karl Mays »in der Jugend«, wie Schmid (Nachwort "Am Jenseits" wie oben N3) vermutet, dürfte dem 1. Kapitel der Erzählung "»Weihnacht!«" kaum zugrundeliegen. Ungeachtet seiner Hinweise auf den zweiten Band seiner Selbstbiographie (LuS 158, 168), worin seine Reisen eingehend genannt werden sollten, hätte Karl May, im Hinblick auf die beklemmende Schilderung seiner Jugendzeit, seiner Armut und seiner damaligen Ambitionen allen Anlaß gehabt, eine wirkliche Ferienreise (als Schüler oder Seminarist) ausdrücklich zu erwähnen.

63 Hainer Plaul: Alte Spuren. Über Karl Mays Aufenthalt zwischen Mitte Dezember 1864 und Anfang Juni l865. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972 S. 208


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64 Siehe hierzu die erhellenden Ausführungen von Schmid: Nachwort "Am Jenseits" wie Anm. 62 N11–N13.

65 Klaus Hoffmann: Karl May als »Räuberhauptmann« oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870. I. Teil. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972 S. 236–241 – vgl. auch Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. In: Jb-KMG 1978. Hamburg 1978 S. 37–59

66 Eine vorzügliche Landkarte, die alle hier und von Karl May genannten Orte aufweist, befindet sich in Meyers Lexikon. Leipzig 31874–1878 (16 Bände), Band 13 (1878), zwischen den Seiten 960 und 961 (Stichwort: Königreich Sachsen); sie ist wegen der dunklen Farben bedauerlicherweise nicht reproduktionsfähig. – Es entbehrt der Wahrscheinlichkeit, daß Karl May die nahezu 200 Kilometer betragende Strecke von Falkenau (Stadt) – zwischen Eger und Karlsbad – bis Niederalgersdorf innerhalb weniger Tage zurückgelegt haben könnte. – Interessanterweise beträgt die Entfernung (Luftlinie) von Birnai an der Elbe, wo ein Großteil der Erzählung "»Weihnacht!«" entstand, bis Niederalgersdorf ebenso nur etwa 25 Kilometer wie die Entfernung von Niederalgersdorf nach Falkenau bei Kamnitz. Mays Rückkehr in die Nähe der Schauplätze seiner Niederlagen mit Blick auf deren literarische Bewältigung ist ein psychologisch erhellendes Moment.

67 Anleihe bei: Viktor Böhm: Karl May und das Geheimnis seines Erfolges. Ein Beitrag zur Leserpsychologie. Wien 1955. Gütersloh 21979

68 So sind auch die beinahe an "Intim-Szenen" gemahnenden Gespräche zwischen Kara Ben Nemsi und Halef nicht Widerspiegelungen der »Lüste eines Homosexuellen« im Sinne Arno Schmidts (vgl. Anm. 100) – sondern die (rückschauend so betrachtet) "liebevolle" Auseinandersetzung des gesundenden Ich mit seinen Fehlern. – Innerhalb der Erzählung "»Weihnacht!«" wird durch den Ausspruch, der Ich-Erzähler rede wie ein Buch (W 30), bereits der die spätere Erzählung "Am Jenseits" einleitende große Dialog vorbereitet: Dieser dreht sich um Kutub (Bücher) und die angestrebte Distanzierung des "niedrigen Ich" von seiner Ruhmredigkeit. – Im übrigen siehe Anm. 29, erster Satz.

69 Jedenfalls nicht vor dem zielbewußten Eingreifen Klaras, in deren Beziehung zu dem alternden Manne das ersehnte Vertrauensverhältnis sich in ungeahntem Maße erfüllte (und zwar ungeachtet Klaras negativer Charakterzüge). Zur Zeit der Niederschrift von "»Weihnacht!«" bestand zwar bereits die Spannungssituation, die May schließlich in die Arme Klaras trieb, doch glaubte er den Konflikt seit Abschluß der Erzählung "Old Surehand" hinreichend eingedämmt. Mit Rücksicht auf seine freundschaftliche Stellung zu Richard Plöhn erschien ihm ein Einbrechen in dessen Ehe wohl als allzu schimpflich, und die Kraft zur Trennung von Emma traute er sich nicht zu. Tatsächlich brachte er sie ja auch erst unter Klaras massivem Einfluß nach Richard Plöhns Tode auf.

70 Vgl. hierzu: Walther Ilmer: Das Märchen als Wahrheit – die Wahrheit als Märchen. Aus Karl Mays "Reise-Erinnerungen" an den erzgebirgischen Balkan. In: Jb-KMG 1984. Husum 1984 S. 124 und dazu dort S. 137, Anm. 68. – Im übrigen war Karl Mays seit den Jugendjahren gestörte seelische Befindlichkeit die Ursache seines nachmaligen Berufes: Nur die literarische Betätigung (für die zudem keinerlei bestimmte formale Vorbildung oder Unbescholtenheit zur Bedingung gemacht werden konnte) bot ihm die adäquate Möglichkeit, das seelische Elend sogar in einen "verkappten Segen" regelrecht "umzumünzen" und daraus "Kapital zu schlagen".

71 Während seiner Tätigkeit als Kolportageautor für Münchmeyer (1882–1886) war Karl May nicht nur ständigem Termindruck ausgesetzt, sondern auch der Last, daß der Verleger die Verbrechen und Vorstrafen seines Autors kannte und vielleicht im gegebenen Falle skrupellos genug gewesen wäre, dieses Wissen an unrechter Stelle auszuspielen; und außerdem lebte in Karl May natürlich ständig sein Verlangen, endlich wieder zu seinem seelenreinigenden Metier der ich-erzählten Reise-Erzählung (und damit zum Deutschen Hausschatz) zurückzukehren. Dieser Zustand seelischer Beunruhigung und Belastung dürfte nicht wenig zu den zahlreichen Widersprüchlichkeiten, Ungereimtheiten, Entstellungen, ja Schludrigkeiten beigetragen haben,


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durch die die fünf Kolportageromane sich "auszeichnen". – Vgl. im übrigen: Walther Ilmer: Nachwort. In: Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen. Deutscher Hausschatz, XXIII/XXIV. Jg. (1896/97). Repr. der Karl-May-Gesellschaft. Regensburg 1981 S. 269.

72 Vgl. Anm. 29, erster Satz. Zu den äußeren Daten siehe die detaillierte Darstellung von Schmid: Nachwort "Am Jenseits" wie Anm. 62 N5ff.

73 Vgl. Johanna Bossinade: Das zweite Geschlecht des Roten. Zur Inszenierung von Androgynität in der "Winnetou"-Trilogie Karl Mays. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986 S. 241–267. – Walther Ilmer: Winnetou im Gesangverein. Sonderheft Nr. 35 der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1982.

74 Vgl. Karl May: Leben und Streben und Karl May: Frau Pollmer, beide wie Anm. 62, sowie Karl May: An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichts III in Berlin. Prozeßschriften Bd. 3. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982.

75 Siehe Klaus Hoffmann: Der »Lichtwochner« am Seminar Waldenburg. Eine Dokumentation über Karl Mays erstes Delikt (1859). In: Jb-KMG 1976. Hamburg 1976 S. 101f. – Vgl. Abschnitt 9 dieses Beitrages.

76 Über Waldenburg hinaus hat Karl May, in gerechter Würdigung der jeweils maßgebenden Umstände, seine Schwester nicht mehr in eine Mitverantwortung für sein Tun einbezogen; er hat auch, soweit bisher Erkenntnisse vorliegen, seine Quartierwirtin in Glauchau, die junge Frau Meinhold, der er sich (von ihr ermutigt oder nicht) unerlaubt näherte, nicht als böse Buhlerin-und-Verführerin im Werk hingestellt. (Zu den Fakten siehe Klaus Hoffmann: »Nach 14 Tagen entlassen . . . « Über Karl Mays zweites "Delikt". Oktober 1861. In: Jb-KMG 1979. Hamburg 1979 S. 338–354.) Soweit die Ereignisse im Werk gespiegelt sind, nimmt der Ich-Protaganist dabei stets eine heldenhafte Rolle ein. Auch Malwine Wadenbach und ihre Tochter oder Auguste Gräßler und andere Frauen, bei denen May Aufnahme fand, sind nicht als "Vernichter des Helden" im Reise-Werk auszumachen. Die in der Selbstbiographie vielerorts höchst deskriptiv erwähnten drängenden und quälenden Stimmen sind nirgendwo Frauen zuzuordnen, sondern werden von Karl May dunklen Wesen aus den Abgründen seiner eigenen Seele zugeschrieben, die nicht geschlechtsspezifisch einzuordnen sind.

77 "Romantisch gefärbt" hat Karl May auch die Gehleistung: Von Rehau über Asch und Eger nach Tschirnitz, wohin die beiden Schüler laut Erzähltext am ersten Abend gelangen (W 25), beträgt die Entfernung allein in der Luftlinie etwa 50 km. Das dürfte im Winter bei den damaligen Straßenverhältnissen nicht zu schaffen gewesen sein (und wäre auch heute noch eine mehr als nur beachtliche Tagesleistung). Wozu auch eine derartige Überanstrengung? Vermuten läßt sich, daß Karl May Ende 1869 für jenen Teil der Strecke Fahrgelegenheit hatte und dies unwillkürlich auf die Wanderleistung seiner beiden Figuren übertrug. Bezeichnenderweise ist das Reiseziel des nächsten (zweiten) Tages (die Stadt) Falkenau (W 27), wohin von Tschirnitz aus etwa 22 km zurückgelegt werden müssen; das erscheint akzeptabel.

78 Hoffmann: Räuberhauptmann wie Anm. 65 S. 226

79 Ebd. S. 217–219 und 232–233 – siehe auch: Klaus Hoffmann: Zeitgenössisches über »ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes«. Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864–1870. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971 S. 110–121 (S. 114–115).

80 Kurt Langer: Das helle und das dunkle Wesen. Untersuchung zur Spaltung des Inneren bei Karl May. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 63/1985 S. 8–13 – Ders.: Der psychische Gesundheitszustand Karl Mays. Eine psychiatrisch-tiefenpsychologische Untersuchung. In: Jb-KMG 1978. Hamburg 1978 S. 168–173

81 Ausführliche Darstellung der Fiktionalisierung in dem bei Anm. 73 genannten Sonderheft der KMG. – Die "Affäre Stollberg" (Mays Verurteilung wegen Amtsanmaßung in Niederwürschnitz) ist vollständig dokumentiert bei Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Bamberg 1973.

82 Eine entsprechende Analyse dieser Szenenfolge aus Karl Mays "In den Schluchten des Balkan" findet sich bei Ilmer: Märchen wie Anm. 70.

83 Die Erwähnung des damals erst ein Jahr bestehenden Bremer Lloyd (= Norddeutscher Lloyd) (W 108), der 1857 gegründet wurde, verlegt oberschichtig gesehen die Handlung des 1. Kapitels in die Tage um die Jahreswende 1858/1859; dazu paßt der


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spätere Ausspruch Frau Hillers, das Gedicht habe ein vielleicht siebzehnjähriger Knabe geschrieben (W 164): Karl May wurde am 25. Februar 1859 siebzehn Jahre alt.

   1858 war Karl Mays letzte "gute" Weihnacht vor dem Mißgriff in Waldenburg. Die aus der Biographie bekannten Tatsachen liefern keinen Anhalt dafür, daß Karl May im Jahre 1897 gerade der Weihnacht 1858 hätte besonders gedenken sollen, wenn viele andere Weihnachten weit stärker in seiner Erinnerung lebten. Insoweit sind die Ausführungen bei Schmid: Nachwort "Weihnacht" wie Anm. 62 A17, nicht schlüssig: Zum einen war Karl May auch – und gerade – Weihnachten 1859 siebzehn Jahre alt zum anderen ist es der Autor Karl May, der Frau Hiller den o. a. Ausspruch (W 164) in den Mund legt und dabei "nach Gutdünken verfahren" konnte.

84 Hoffmann: Räuberhauptmann wie Anm. 65 S. 221ff.

85 Hier ergibt sich die unmittelbare Verbindung zu dem im Gemüt Karl Mays als schreckliche Weihnachts-Begebenheit verzeichneten Tode des Großvaters May: Er war zu Weihnacht nach dem Nachbardorf gegangen . . . [und] kam im tiefen Schneegestöber vom Wege ab und stürzte in die damals steile Schlucht des »Krähenholzes« (LuS 8; vgl. hierzu Abschnitt 2 des vorliegenden Beitrages). Der Tod des alten Mannes in der vom  S c h nee umgebenen  S c h neidemühle ist die exakte Parallele zu dem in die  S c h lucht im  S c h n e e gestöber verlegten vorzeitigen Ende des Großvaters und zu der vorzeitigen Entdeckung Karl Mays am 4.1.1870, wobei Karl May "starb" und Albin Wadenbach "geboren" wurde. – Vgl. auch die Abschnitte 30 und 31.

86 Vgl. Maschke wie Anm. 81 S. 62

87 Der in Seelenspaltung erfahrene Karl May hatte keine Mühe, der Darstellung seines Vaters als ein(es) Mensch(en) mit zwei Seelen (LuS 9) gerecht zu werden, selbst wenn er dabei mutmaßlich nach beiden Richtungen hin etwas überzeichnet hat. – Mit der Entlassung aus Waldheim dürfte Karl May seinerzeit die Hoffnung verbunden haben, die Zeit der Verdüsterung des Weihnachtsbildes sei vorbei. Daß es nicht alsbald dazu kam, konnte er nicht voraussehen.

88 Hoffmann: Räuberhauptmann wie Anm. 65

89 Ebd. S. 228–231

90 Ebd. S. 239; dort Hinweis auf Hoffmann: Zeitgenössisches wie Anm. 79 S. 119f.

91 Die Wahl des Familiennamens Hiller kam den äußeren Anforderungen der Geschichte entgegen: er fügte sich gut in die amerikanische Namenswelt ein.

92 Karl May: An die 4. Strafkammer wie Anm. 74 S. 58f.

93 Maschke wie Anm. 81 S. 69

94 Siehe Karl-Hans Strobl: Scham und Maske. Zur Psychologie des Karl-May-Problems. In: Karl-May-Jahrbuch 1921. Radebeul 1920 S. 279–303. Neudruck in: Karl May's Gesammelte Werke Bd. 34: »Ich«. Bamberg. ab 21. Auflage (1958)

95 Karl Mays Version der Zustände im Hause des Verlegers und des Umgangstones dort findet sich ausführlich in: Karl May: Ein Schundverlag. Ein Schundverlag und seine Helfershelfer. Prozeß-Schriften Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982.

96 Bezügl. Franzls fetter Stimme (W 33) vgl. Ilmer: Nachwort Silberlöwe wie Anm. 71 S. 269 mit Anm. 41 (S. 275); vgl. ferner Walther Ilmer: Von Kurdistan nach Kerbela. Seelenprotokoll einer schlimmen Reise. In: Jb-KMG 1985. Husum 1985 S. 301f. mit Anm. 33, 34 (S. 319).

97 Beides traf auch auf Emma zu. – Die Darstellung der Ehepaare May und Münchmeyer in einem karikierten Mann-Frau-Gespann ist dem Autor besonders gut gelungen in "Die Felsenburg" ("Satan und Ischariot"); vgl. dazu Walther Ilmer: Nachwort. In: Karl May: Die Felsenburg. Deutscher Hausschatz, XX. Jg. (1893). Repr. der Karl-May-Gesellschaft. Regensburg 1980 S. 219.

98 Eine etwaige Lesart Karl May habe hier ganz allgemein auf die Unerfahrenheit eines vielleicht siebzehnjährigen Schülers abheben wollen, trifft nicht den Kern, da Mays wirkliches Erleben als Knabe und Halbwüchsiger eine solche Naivität ausschließt; vgl. z. B. LuS 49 die Schilderung der Ehefrau des Kantors (auch sie und ihr Mann haben bei Anna und Franzl Pate gestanden). – Etwaige Erfahrungen Karl Mays mit einem wirklichen Wirtsehepaar im Dorfe Falkenau entziehen sich unserer Kenntnis.

99 Vgl. die in Anm. 62 u. 74 genannten Prozeßschriften sowie May: Leben und Streben


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wie Anm. 62 S. 240f. mit den dazugehörigen Anm. H. Plauls.–Vgl. im besonderen den letzten Absatz bei Abschnitt 10 dieses Beitrages.

100 Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Karlsruhe 1963 S. 38f. (Fischer-TB, Frankfurt a. M. 51980 S. 28f.)

101 Eine der bemerkenswertesten und verständlichen Ausnahmen findet sich in der Trilogie "Satan und Ischariot" in der Beziehung Old Shatterhand/Judith Silberstein (auch Silberberg); siehe Ilmer: Nachwort Felsenburg wie Anm. 97; sowie Walther Ilmer: Nachwort. In: Karl May: Krüger Bei/Die Jagd auf den Millionendieb. Deutscher Hausschatz, XXI./XXII. Jg. (1894/95). Repr. der Karl-May-Gesellschaft. Regensburg 1980. – Einen verbissenen Kampf mit dem Sexus, der durchaus auf Frauen zielt, führt Karl May auch in "Old Surehand III", vgl. Abschnitt 5 dieses Beitrages.

102 Arno Schmidts "Belege" sind dürftig:

   – Er führt an, May habe vom "Rendezvous" zwischen ihm und Carpio gesprochen (W 20, 25), und setzt zur Hervorhebung das Wort in Anführungszeichen, verschweigt aber, daß May das genau so getan hat (W 20) und es außerdem in die selbstironische Wendung wir hatten natürlich wie alle bedeutenden Menschen ein "Rendezvous" verabredet kleidet, womit jede "Anrüchigkeit" schwindet.

   – Er hält die Charakterisierung Carpios: Dieser prächtige Junge (W 20), der alles womöglich beim Schwanz anstatt beim Kopfe anfaßte (W 31), für eindeutig und übersieht, daß die Bezeichnung "prächtiger Junge" für das in seinen Anlagen gute und dann fehlgeleitete ICH legitim ist und daß ein wirklich homosexueller Karl May nicht so maßlos tolpatschig gewesen wäre, die Vokabel "Schwanz" in der von Arno Schmidt unterstellten Bedeutung "auf offener Bühne" zu benutzen. (Ob Schmidt auch die Redewendung "Ein Pferd beim Schwanz aufzäumen" nur in sexuellen Konnotationen sah?) Wendungen wie "Den Aal" (oder anderes) "beim Schwanz anfassen" waren schon im 16. Jahrhundert gängig zur Bezeichnung eines verfehlten bzw. unsinnigen Handelns und blieben bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein lebendig. Ließ Arno Schmidt das absichtlich außer acht?

   – In der Taschenbuchausgabe von "Sitara" sucht Arno Schmidt seine Argumentation zu stärken, indem er (im Zusammenhang mit "Schwanz") auf das lateinische "carpere" – für deutsch "anfassen" – hinweist (S. 29; fehlt in der gebundenen Ausgabe von 1963). Damit widerlegt er sich nun selbst: "anfassen, packen, ergreifen" ist im Lateinischen "capere", wohingegen "carpere" soviel wie "zerpflücken" oder "aufsplittern, zersplittern" bedeutet – also genau dahin führt, was Karl May verschlüsselt: Die Ich-Spaltung.

   – Für Arno Schmidt ist das Übernachten der beiden Schüler in einem gemeinsamen Zimmer ein unmißverständliches Indiz. Welcher Gastwirt wäre wohl auf den Gedanken gekommen, zwei gleichaltrige Jungen in zwei verschiedenen Zimmern unterzubringen? Und welcher moralbewußte Erzieher oder Pfarrer zu Karl Mays Lebzeiten hat um jener "gemeinsamen Unterbringung" willen empört den Autor als Jugendverderber angeprangert?

   – Der von Karl May in "»Weihnacht!«" geschilderte Zigarrenkonsum sowie die Schilderung der Schinken und Würste sind für Arno Schmidt »kapnophile Riechlust« im Zusammenhang mit homosexuellen Handlungen. (Schmidts Wortzusammenstellung entbehrt nicht einer gewissen Mühsal, denn "kapnophil" leitet sich ab von "Kapnomantie" = Wahrsagerei aufgrund aufsteigenden Rauches.) Als Kenner der Selbstbiographie Karl Mays und der schizoiden Zustände des jungen May hätte Schmidt zu einer  d a r a u f  fußenden Deutung kommen müssen – und hätte sie dann nicht verschweigen dürfen.

Einen ernsthaften Versuch, Karl Mays schier endlose schriftstellerische Produktion als Musterbeispiel für die literarische Umsetzung erotischer Träume eines Homosexuellen zu erweisen, hätte Arno Schmidt auf biographisch belegte Fakten einer Homosexualität Karl Mays (aus der diesem natürlich kein Vorwurf zu machen gewesen wäre) stützen müssen. Mangels jeder handgreiflichen Belege dieser Art, insbesondere aber wegen der Häme im Vorbringen der vorgeblichen "Indizien", verwirkt "Sitara" jeden Anspruch auf Seriosität. Arno Schmidts nahezu gewaltsame Ehrenret-


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tung [Ehrenrettung] Karl Mays als Autor des beachtlichen Spätwerks kann daran nichts ändern (und ist in sich auch nicht frei von Süffisanz und Schmähungen). Zur Widerlegung Arno Schmidts siehe insbesondere: Heinz Stolte/Gerhard Klußmeier: Arno Schmidt & Karl May. Eine notwendige Klarstellung. Hamburg 1973.

103 Die Bemerkung »du (hast) grad wie ein kölner Funke geräuchert und gestopfholzt« (W 74) deutet darauf hin, daß Karl May – vielleicht dank seiner Aufenthalte in Essen 1875 oder Köln 1897 – Kenntnis hatte von den als "Funken" bezeichneten einstigen Kölner Stadtsoldaten, deren "Blaue Funken" die Artillerie bildeten, während die "Roten Funken" Infanteriedienst leisteten. Letztere führten für ihre Gewehre einen Ladestock, ein "Stopfholz". Der Ausdruck fand sich auch, wenngleich nicht ganz korrekt, in der früheren Pfeifenfabrikation für das eiserne Werkzeug mit hölzernem Griff, das zum Aushöhlen der Pfeifenköpfe benutzt wurde. Bis ins frühe 20. Jahrhundert wurden Zigarren gern in sogenannte "Cigarrenpfeifchen" (statt unmittelbar in den Mund) gesteckt ("gestopft"), ein solches "Cigarrenpfeifchen" entwendete Karl May im Juni 1869 im Gasthof Engelhardt in Hohenstein (Hoffmann: Räuberhauptmann wie Anm. 65 S. 231). Vielleicht ließ der Autor seinen Carpio die Zigarren bei Franzl aus einem solchen Pfeifchen rauchen, d. h. sie wie einen Ladestock – ein "Stopfholz" – in den Pfeifenkopf einführen.

104 Karl May läßt später Carpio behaupten, nicht er, sondern Sappho habe zuviele Zigarren geraucht und die Wurst stehlen wollen und den Quarkkuchen entwendet (ähnlich wie das Fehlen der Schrauben des Sicherheitsschlosses letztlich Sappho zur Last gelegt wird). Damit handelt der Autor folgerichtig in der Beschreibung des eigenen krankhaften Zustandes und seines eigenen Bedürfnisses nach Rechtfertigung: Die Übertragung der Schuld gerade auf nahestehende, ihm zugeneigte, wohlwollende Menschen entlastete den Übeltäter tatsächlich – und auch das zur Gesundung emporsteigende Ich kann die von innen her noch einmal leise vorgebrachten Beschuldigungen jetzt gelassen "verkraften".

105 Nach einem Bericht des May-Verehrers (und Emma-Verehrers) Max Welte war May noch im Frühjahr 1897 Zigarren-Kettenraucher; siehe bei Maschke: wie Anm. 81 S. 78. – Bereits während der Niederschrift des "In der Heimath" betitelten Teiles der Trilogie "Satan und Ischariot" (höchstwahrscheinlich also im Jahre 1891, vgl. Roland Schmid: Die Entstehungszeiten der Reiseerzählungen. In: Karl May: Freiburger Erstausgaben. Bd. XXIII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984 A38) kämpfte Karl May gegen seine Nikotinsucht an: Dort polemisieren der Ich-Erzähler »May« und »der Professor« über die Schädlichkeit des Rauchens. – Laut Maschke (wie Anm. 81 S. 97), entsagte Karl May dem Nikotin und dem Alkohol (außer als Arznei) vollends im Frühjahr 1901. . . . völliger Ernst mit seinem Versprechen – »Nie wieder soll der Tabak meine Lippen berühren, und . . . Alkohol . . . sei mir fortan nur als Arznei erlaubt« – das, wie meine lieben Leser später auch selbst noch sehen werden, er . . . stets gehalten hat, lag also 1897 noch nicht vor. (Zitatzusammenstellung nach W 73)

106 Gemeint ist der 26. Juli 1869

107 Zitiert nach Hoffmann: Zeitgenössisches wie Anm. 79 S. 117

108 Ebd. S. 120

109 Hoffmann: Räuberhauptmann wie Anm. 65 S. 229–230

110 Klaus Hoffmann: Karl May als "Räuberhauptmann" oder die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870. 2. Teil. In: Jb-KMG 1975. Hamburg 1974 S. 243–275 (259)

111 Es geht hier und im folgenden nur um Karl Mays Furchtvorstellungen. Erbschäden im pathologischen Sinne waren aller Wahrscheinlichkeit nicht vorhanden, vgl. hierzu Claus Roxin: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971 S. 74–109 (S. 79). Zum belangreichen Erbgut siehe Hainer Plaul: Ererbte Imagination. Über drei schriftstellernde Stammverwandte Karl Mays. In: Jb-KMG 1981. Hamburg 1981 S. 227–261.

112 Siehe Kurt Langer: Wesen wie Anm. 80 S. 11.

113 May: Leben und Streben wie Anm. 62 S. 325–331 (Anm. 1)

114 Ebd. S. 328–331 (Anm. 6); siehe auch Hainer Plaul: Der Sohn des Webers. Über


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Karl Mays erste Kindheitsjahre 1842–1848. In: Jb-KMG 1979. Hamburg 1979 S. 12–98 (S. 41–42).

115 Notiz von Klara May; wiedergegeben bei Hans Wollschläger: »Die sogenannte Spaltung des menschlichen Innern, ein Bild der Menschheitsspaltung überhaupt«. Materialien zu einer Charakteranalyse Karl Mays. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972 S. 11–92 (S. 55)

116 Ebd. S. 58, einschl. dazugehöriger Anm. 127, S. 90 (Klammereinschub aus der Anm. )

117 Der Verzicht auf das Gepränge, auf die zur Schau getragene Ehrfurcht der Leser aus allen Bevölkerungsschichten, fiel vorderhand noch ähnlich schwer wie der Verzicht auf Nikotin (und Alkohol) – vgl. Anm. 105. »Nun ich . . . fast wieder logisch denken kann, verspreche ich . . . , daß ich mich niemals wieder von einem heuchlerischen, hinterlistigen Genusse verlocken lassen werde, auf meine Menschenwürde, wenn auch nur für eine Stunde, zu verzichten« (W 72f.), läßt er  C a r p i o  sagen, der ja auch dem Rauchen und Trinken abschwört. Der noch nicht voll gesundete, noch nicht "über den Dingen stehende" Teil des Ichs weiß insgeheim, daß er, der ja in der Gunst der Menge so gern badet, noch zu schwach ist, (Menschen-)Würde einem (heuchlerischen, hinterlistigen) Genusse überzuordnen.


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