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JÜRGEN HAHN

>Nekyia und Anabasis<
Spurensuche auf subterranen Itineraren im Werke Karl Mays · Ein Brief

Mezzo, tutto quel dí, tra vivo e morto.
Den ganzen Tag lebt' ich so todesbang.
Francesco Petrarca, Conzoniere XXIII

Winterthur, den 24. III. 1991

Sehr geehrter Herr Professor Stolte, diese vorösterliche Zeit gibt mir Anlaß, erneut Ihre anrührenden Ausführungen (im Jahrbuch 1990) über eine - wie ich meine - zentrale Stelle des >Winnetou< zur Hand zu nehmen, und - vorab sei sie vorgebracht - damit verbindet sich die unbescheidene Bitte an Sie, mir doch einige Separatdrucke Ihres Aufsatzes >»Stirb und werde!« Existentielle Grenzsituation als episches Motiv bei Karl May<(1) zukommen zu lassen, um so Freunde durch eine Darstellung aus berufener Feder auf eine Passage im Werke Mays aufmerksam zu machen, deren Betrachtung -wie Sie zeigen - geeignet genug ist, die Schildträger der Vorurteile, die dem so unbefangenen wie textanalytischen Umgang mit diesem Werk immer noch Gefechte liefern, wenn nicht zu entwaffnen, so doch dem für sie signifikanten, auf dem Altare ihrer Objektivitätsobsessionen zelebrierten (Selbst-)Gerechtigkeitsverständnis zu überlassen. Dieses verdankt sich ja seit je als Ausdruck eines tiefen Soupçons gegen die >Liebe< in literarischen Geschäften jener Binde, die von den »sehenden Augen« nichts wissen möchte, mit denen ausgestattet - so Nietzsche(2) -die »Liebe« »Gerechtigkeit« recht eigentlich erst zu sich selbst kommen läßt. Gegen den Absolutismus solcher Objektivität, die blind macht für die Vergleichbarkeit Karl Mays in literarischen Zusammenhängen ganz allgemein und besonders für die Tatsache, daß sprachlich scheinbar nicht zu Vergleichendes durch die innere Energie der Sprache vergleichbar wird, »als käme uns die Sprache aus einem Zauberreich, wo Sache, Vorstellung und Wort nur eines wären«,(3) bleibt als > remedium< nur jene tag- und konjunkturabgewandte Melancholie, die erst, um Mays Werk gerecht zu werden, zur dafür nötigen gelassenen und freundlichen synoptischen - verzeihen Sie den Pleonasmus -


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>Zusammenschau< befähigt. Sie wird Ihrem Essay allenthalben Quelle der Inspiration, und wie dankbar ist man bei seiner Lektüre für die subtile und noble Art, in der Sie mit dem Autor des >Winnetou< umgehen - fürwahr, Liebe mit sehenden Augen! Und das bei der Betrachtung eines Textes, der - wie Sie bewegend herausarbeiten - für Wesen und Werk Karl Mays gewiß paradigmatischen Charakter hat: paradigmatisch, insofern sich sowohl der >transitorische< als auch der >soteriologische< Wesenszug, dem dieses Werk verpflichtet ist, in ihm gleichsam als pars pro toto verdichtet.

Es ist allerdings ein Text, dem - wie oft im Werke Mays ganz unauffällig - der Widerstand gegen die Vereinnahmung einerseits der Erzählimpulse durch die ideologischen Schemata des Abenteuerromans, andererseits der Spiritualität, dessen, was Thomas von Aquin in der Definition des geistig Seienden als >Potenz< und >Akt< bezeichnet(4) durch den Konsum eingebaut ist und in dem sich äußert - nutzt man die von Roland Barthes empfohlenen Methoden der >Hyphologie<(5) -, was dieser Autor eine >écriture< nennt, Ausdruck jener »verzehrende(n) skriptomanische(n) Energie«,(6) von der Sie sprechen: >Es< schreibt sich auf dem »zuunterst liegende(n) Fundament, über dem sich die weitbögigen literarischen Schöpfungen erst aufbauen«; >Es< will »de morte transire ad vitam«,(7) will Lust in der obsessionellen Verewigung des >transitus ad soteriam<, der Passage der Rettung, in der erotischen Wiederholung des Immergleichen. »Sich verlieren, in das Nichts des Signifikats eingehen«(8) - diese Vorstellung des Mayschen Werkes als eines >textuellen Nirwanas< dekonstruktivistischer Provenienz hat zwar ihren Reiz, greift freilich zu kurz.

>Transitorisch<, also, sei hier so verstanden, daß sich dieses Werk als eine Folge >permanenter Durchgänge< dekodieren läßt, die nur für den Augenblick unsere ungeteilte Aufmerksamkeit beanspruchen, um sich dann gemäß dem Prinzip jener unendlichen Variation zu verflüchtigen - man kann hier sicher im Sinne Umberto Ecos von einem >opus apertum<, einem offenen Kunstwerk, sprechen -, das - und darin würde ich das >soteriologische< Moment sehen - im erreichten und im Erreichen schon wieder verlorengehenden Ziel der Errettung festgeschrieben ist: »Heidelandschaft, alles bleibt immer neu, immer dieselbe.«(9) >Transitorisch< in diesem Sinne erscheint mir die von Ihnen kommentierte Stelle aus dem >Winnetou I, indem sie den >Durchgang<, die >Passage<, die Reise durch das >Tal des Todes< hin zu einer >vita nuova<, einem Leben »über die Sphäre hinaus« - »oltre la spera«(10) sagt Dante an einer sehr suggestiven Stelle -, ins >Reagenzglas< der Abbreviation zwingt.


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... dann starb ich, wurde in den Sarg gelegt und begraben, ... und lag dann eine ganze, ganze Ewigkeit, ohne mich bewegen zu können, in der Erde, bis auf einmal der Deckel meines Sarges geräuschlos nach oben schwebte und dann verschwand. Ich sah den hellen Himmel über mir,- die vier Seiten des Grabes senkten sich ... »Halleluja, Halleluja! Er erwacht vom Tode; er erwacht!«(11)

Dante zu zitieren erübrigt sich eigentlich, um die soteriologische Einfärbung dieser Partie deutlich zu machen: die Anabasis nach der Katabasis, jenes Kräftespiel, das die Handlungsgänge der Mayschen Erzählungen strukturiert - doch sind die Situationen, in denen sich die >Passagiere<, exakt um sieben Jahrhunderte getrennt, befinden, in so deutlicher Analogie, daß man sie nicht übergehen kann. Bewirkt hier wie dort doch die gleiche »wundersame Kraft, zu der weinend die Liebe befähigt, den Aufstieg«:

intelligenza nova, che l'Amore
piangendo mette in lui, pur su lo tira.(12)

>Sich hinaufschwingen< - darin finden >Ewigkeit< und >Halleluja< des Mayschen Textes ihre Konvergenz, die ihn als Schlüsselepisode eines soteriologischen Dramas ausweisen, als das sich, soweit ich sehe, ja alle Erzählungen des Autors lesen lassen, indem sie - wie auch immer - von >soteria< handeln, die der >soter< an sich selbst und für (s)eine ganze Gemeinde vollbringt: in >permanenten Durchgängen<, >Passagen des Leidens<, >Martyrien<; das Umfeld der zitierten >Winnetou<-Stelle z. B. ist voll davon. Eine Halbinsel, in einen Teich ragend, ringsum waldbestandene Anhöhen: das erweist sich als Szenarium für kultische Handlungen, Kämpfe und Opfer, deren Metapherfunktion für die katastrophische Dynamik des 19. Jahrhunderts, seiner aus der industriellen Revolution geborenen Alpträume, der Deutlichkeit nicht entbehrt.

Zunächst war es mir wie im Traume: Ich war in das tiefe Mauerlager eines Mühlrades gestürzt. Die Mühle ging nicht, weil sich das Rad nicht bewegen konnte, da ich zwischen ihm und der Mauer steckte. Das Wasser rauschte über mir herab, und die Kraft, mit welcher es auf das Rad wirkte, preßte mich fester und fester zusammen, daß ich glaubte, ich würde zermalmt. Alle meine Glieder schmerzten, besonders aber der Kopf und die eine Schulter. Nach und nach erkannte ich, daß dies nicht Wirklichkeit, aber auch nicht Traum war. Das Rauschen und Brausen kam nicht vom Wasser; es wohnte in meinem Kopfe und war die Folge des Kolbenhiebes welcher mich niedergeworfen hatte. Und die Schmerzen in der Schulter wurden nicht durch ein Mühlenrad verursacht, welches mich zusammenpreßte, sondern durch den Hieb, den ich von Winnetou bekommen hatte. Das Blut lief mir noch immer aus dem Munde; es wollte mir in die Kehle dringen und mich ersticken; ich hörte ein fürchterliches Röcheln und Gurgeln und erwachte vollends. Derjenige, der so geröchelt hatte, war ich selbst.(13)


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Man ist versucht, angesichts solcher Torturen-Choreographie an Poe zu denken, mehr noch an die expressiven Imaginationen Lohensteins, die in der Welt Kafkas ihr expressionistisches Echo finden mögen, versteht man sich dazu, in den Erzählungen Mays auch barocke Parabeln zu sehen: vias crucis, Passagen von Leiden und Initiation, Reisen in den Folterkosmos des 19. Jahrhunderts. Wie wenig privat die Pathologie ist, deren Ikonen sich May in seinen >Reiseerlebnissen< erschaffen hat, erhellt aus dem >Passagen-Werk< Walter Benjamins, in dem eine Synopsis des 19. Jahrhunderts zu entwerfen beabsichtigt war.

»Mikrokosmische Reise, die der Träumende durch die Bereiche des eigenen Körpers macht. Denn ihm geht es wie dem Wahnsinnigen: die Geräusche aus dem Innern des eigenen Körpers, die dem Gesunden sich zur Brandung der Gesundheit sich zusammenfügen, die ihm gesunden Schlaf bringt, wenn er sie nicht gar überhört, dissoziieren sich ihm: Blutdruck, Bewegungen der Eingeweide, Herzschlag, Muskelempfindungen werden ihm einzeln bemerkbar und verlangen Erklärung, die Wahn oder Traumbild bereithalten. Diese geschärfte Aufnahmefähigkeit hat das Kollektivum, das in die Passagen sich als in das Innere seines eigenen Körpers vertieft. Ihm müssen wir nachgehen, um das 19. Jahrhundert als sein Traumgesicht zu deuten.«(14)

Ich möchte behaupten, daß sich ein solcher Text sehr wohl auch als Interpretationsanweisung für die >Vertiefung in das Innere des eigenen Körpers<, die May in seinen Erzählungen betreibt, lesen läßt: als Anleitung, diesen >Reiseerzählungen< die Qualität von >Jahrhundertexpeditionen< zuzugestehen, »Gebiete urbar zu machen, auf denen bisher nur der Wahnsinn wuchert. Vordringen mit der geschliffenen Axt der Vernunft und ohne rechts noch links zu sehen, um nicht dem Grauen anheimzufallen, das aus der Tiefe des Urwalds lockt«,(15) wie Benjamin an gleicher Stelle formuliert, jenem Grauen, horror »of a heart - the heart of a conquering darkness«, dessen Sog Joseph Conrad symbolhaft beschreibt und das die Fahrt auf der >Todesschiene< begleitet, als die Sie das Schreiben Mays treffend deuten und als die er seine Existenz (etwa in den Schachtepisoden des >Verlorenen Sohnes<) selbst dargestellt hat: im Blick »über die Grenzlinie« - »peeped over the edge« -, »der die Kerzenflamme nicht mehr sah, doch groß genug war, das ganze Universum zu umfassen, eindringlich genug, all die Herzen zu durchschauen, die da im Finstern schlagen.«(16)

Es lassen sich Mays vielfältig kostümierte Modifikationen jener Ur->Erlebnisse einer Africa-Expedition durch die Sahara< den Befunden Benjamins quasi als Blaupausen abnehmen, wobei sie dann jenen Parabelcharakter enthüllen, dessen barockem Bauplan das Transitorische und Soteriologische als Koordinaten eingetragen sind: Rimbauds Forderung, »die Er-findung des Unbekannten benötig(e) neue For-


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men«, findet hier durch die gleichsam à part betriebene Umwertung zum Klischee geronnener Erzählmuster eine unerwartete Erfüllung.(17)

>Transitorisch< und >soteriologisch<, läßt man sich auf die sphragistische Funktion dieser Terminologie ein - und es gibt - wie Sie zeigen - viele Gründe das zu tun: so >entsiegelt< sich ein >religiöses< Programm, das ein Geflecht von Bindungen, ein vernetztes System bloßlegt, wie es - soweit mir bekannt - noch wenig für die Auswertung jener spezifischen (gerne als >banal< unterbewerteten) metaphysischen Ökonomie Mays genutzt wurde. Dank seiner tritt aus den häufig in einem Clair-obscur verharrenden Werkstrukturen gerade der >romantischen< Reiseerlebnisse überraschend scharf ihr Mysteriencharakter hervor. Er mobilisiert von Anfang an in diesem erzählerischen Werk besondere Energien. Daß sich >Babel und Bibel< etwa - wie oft bemerkt worden ist - in den >Gestikulationen< eines Mysterienspieles gefällt, kann nicht verwundern angesichts der latenten Omnipräsenz eines Rituals, das das ganze vorangehende Schaffen Mays den Strategien jener Magie der Bewährung unterwirft, wie sie als nationaltypisch geltend zumindest das deutsche Musiktheater vorgibt: ob >Zauberflöte<, >Fidelio<, >Freischütz< oder >Meistersinger<, ganz zu schweigen vom komplexen Huis Clos der Hofmannsthalschen >Frau ohne Schatten<: examiniert muß werden - ohne Prüfung kein >Weg zum Glück<; und die keineswegs harmlosen sadistisch-masochistischen Schattenspiele, die die Auftritte in Feuer- und Wassersnot, den unterirdischen Kasematten spanischer Gefängnisse, in den Tiefen des Waldes der Wolfsschlucht, auf der Festwiese, im Falknerhaus oder in der ärmlichen Behausung des Färbers Barak religiös legitimiert begleiten, können auch in den Szenerien von fernem Westen oder Orient schwerlich ignoriert werden, die sie als Environments des Paradigmenwechsels enthüllen und das sprachlich übrigens in einem überraschend differenzierten Umgang mit Modi und Tempora signalisieren.

Da umzuckte uns ein Blitz, als ob wir mit der Umgebung in einer einzigen Flamme ständen; es folgte ein betäubender Donnerschlag, und dann gab es plötzlich keinen Tropfen Regen mehr. Das Wetter war vorüber; die Wolken verschwanden schnell, und hierauf schien die Sonne erwärmend und trocknend auf uns hernieder... Es war, als ob uns mit der Sonne die volle Lebenskraft zurückgegeben worden sei.(18)

Ob im verzaubernden >als-ob<-Konjunktiv, der den Spätstil der >Silberlöwen<-Romane auffällig dominiert(19) in seiner heiklen erzählerischen »Reliefgebung nach Vordergrund und Hintergrund«,(20) oder in einer Art >Imparfait de rupture<, dessen Ausschließlichkeitsanspruch in den vergleichbaren Passagen des >Winnetou< als >Tempus irreführender Schlußsignale<(21) das Spiel der Perspektiven aufhebt - der Schauplatz


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wirkt jedesmal und gleich eindrücklich als eine psychische Orchestrierung der Handlung. Dafür bietet der Kontext der von Ihnen interpretierten >Winnetou<-Stelle - ich habe schon darauf hingewiesen - genug Anschauungsmaterial: auf jener wasserumflossenen Savannenzunge die Gefangennahme und nächtliche Befreiung Winnetous, die Old Shatterhand dann im Zweikampf mit ihm auf der offenen Prairie im Schatten der rettenden Séparées jenes schon mehrfach erwähnten Gebüsch(es)(22) mit einem Stich durch die Zunge bezahlt, der Albtraum vom Mühlrad, der Sturz in die tiefen Mauerlager dieses Rades, das Schwimmen im uferlosen Meer, das >Auffliegen< (>Aufschweben<) des Sargdeckels: motivisches Material sammelt sich hier, das zum erzählerischen Inventar von den Flugphantasien in >Wanda<, dieser merkwürdig an Jean Paul erinnernden Gondelfahrt über den Wettern, bis zu dem partienweise gnostisch inspirierten >Großen Traum< des vierten >Silberlöwen<-Bandes gehört und schließlich seine krönende Montage im Finale des >Winnetou IV< mit seinen aeronautischen Eskapaden findet, die belegen, daß eine Abhandlung über >Literatur und Aviatik im 20. Jahrhundert< Karl May einiges zu schulden hätte.(23)

In diesem Zusammenhang wird die Herausforderung deutlich, auf die Ihre Ausführungen in bewunderungswürdiger Weise eingehen, nämlich die Texte Mays als ein Zeichensystem zu durchleuchten, als wiederholte schöpferische Neugestaltung in den Geleisen der Tradition, gewissermaßen strukturalistischen Manövern gehorchend, aber doch nicht im Sinne von Claude Lévi-Strauss als >Basteleien< zu verstehen, Produkte der Nutzung irgendwelcher vorgegebener Requisiten ohne Rücksicht auf ihre frühere Funktion durch irgendeinen kreativen, im besten Falle ingeniösen >Bastler<; vielmehr bleibt die Identität dieser >Geschichten< in all ihrer paradoxen Kristallisation der Motive selbst noch in der reduziertesten, klischeehaftesten, depraviertesten Fassung deutlich. Der Umgang mit diesem Zeichensystern, seine Dechiffrierung und Beschreibung, ist ein spannender Akt von Weltaneignung und Weltauslegung. Denn wer mit Zeichen umgeht - und Bilder wie Metaphern und Gattungsformen wie die Parabel sind komplexe Zeichen -, befaßt sich mit der Überlieferung dieser Zeichen, sieht sich einer - auch der kritischen Auseinandersetzung bedürfenden - Tradition gegenüber. Gleichzeitig geschieht im Zeichen eine Weltaneignung, die ihrerseits als hermeneutische Weltauslegung aufzufassen ist. Unter solchen Voraussetzungen als Parabeln betrachtet, gewinnen die Schilderungen Mays eine intertextuelle Offenheit, die den Blick freigibt auf ihren >Mysterien<-Charakter und die Realisierung seiner >latenten Möglichkeit< im aktualisierten Kontext.

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Wenn ich von >Mysterien< spreche, so meine ich allerdings weniger die christlichen als die antiken, die in ihrer spätantiken Form so häufig umge- wie mißdeutet worden sind. Das >transitorische< Handlungsmuster dieser Mysterienkulte war denn auch weniger auf ein seliges Leben in einem - wie auch immer eingerichteten - Jenseits ausgerichtet, das der Myste durch den Tod betrat (wenn auch in gewissen Kulten dieses Ziel nicht ganz auszuschließen war); vielmehr galt es, den Tod als Transitus, nicht Exitus, zu nutzen, um durch ihn hindurchgehend die Toten zu versöhnen, und, zurückkehrend im Zeichen der Versöhnung der Unterirdischen, die, als >hileoi<, als >Heitere< apostrophiert, in ihrer dämonischen Macht gebändigt werden sollten, ein neues Leben, vita nuova, zu führen. Wie sehr zwar auch in den antiken Mysterien das Jenseits als ein Kontrast zum Diesseits erscheint, es bleibt doch nicht mehr als seine Projektion, und als Initiation, die diese Mysterien ja bedeuten, standen Tod und Wiedergeburt in ihrem Mittelpunkt, nahmen die Mysterienrituale Tod und neues Leben vorweg und machten den realen Tod gar zu einer sekundären Wiederholung. Direkte Zeugnisse sind - nach Auskunft der Autoritäten(24) - dafür zwar kaum aufzutreiben: aber sehr wohl lassen sich die Katabasen verschiedener Heroen, des Orpheus, Herakles, Odysseus, Aeneas auch als Akte der Versöhnung deuten, denen sich in einem >satyrischen< Epilog die Hadesfahrt des Dionysos in den aristophanischen >Fröschen< anschließt.

Ich meine, wichtige Elemente solcher Mysterienszenarien, wie sie die diversen Hadesreisen vermitteln, lassen sich in den Erzählungen Karl Mays immer wieder ausmachen: auf Schritt und Tritt natürlich in den unzähligen Zweikämpfen. Das wichtigste ist gerade jenes >Stirb und Werde<, über das Sie in Ihrem Aufsatz handeln, und damit verbindet sich die >Zauberflöten<-Strategie der Mayschen Feldherrnkunst, die die Vielfalt seiner Abenteuer als Initiationsriten ausweist; das ist sicherlich nichts Neues und aus dem Umfeld etwa des dritten und vierten Kapitels von >Winnetou I gut zu belegen.

Der >Durchgang< durch den Tod, in unserem Text als Genesung von einer höchst lebensgefährlichen Verletzung erlebt, bewirkt jene rituelle Statusveränderung - die Soziologie spricht von >Status-Dramatisierung< -, die in der Regel Ergebnis aller Prüfung ist, eben aller >initia<, >initiationes<, welche Ausdrücke die gebräuchliche Übersetzung von griechisch >mysteria< und >myesis< wie >initiare< von >myein< sind. Die >Passagen<, die das >Ich< im dritten, vierten und fünften Kapitel des ersten >Winnetou<-Bandes durchschreitet, darf man - so gesehen - durchaus mit einer Mysterienweihe vergleichen, die dahin führt, daß


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das >Ich< unter dem neuen Namen Old Shatterhand in diesem Mysterienkult fortan eine prominente, um nicht zu sagen charismatische Stellung einnehmen wird. Die persönliche Ein-Weihung in einen antiken Mysterienkult hat ihre Motivation und Funktion in der Suche nach >Rettung<, der >soteria< (einer Rettung, wie sie sich das bedrohte >Ich< Karl Mays immer wieder erschreibt; insofern scheint es nicht ganz abwegig, schon dem Schreibvorgang die Qualität eines Mysterienritus beizumessen): und diese ist - entsprechend der Organisationsform - an die einem Heiligtum vorstehende Priesterschaft, einen Kultverein oder an einzelne ortsunabhängige Charismatiker quasi >soteres< oder Mystagogen - wie man will - gebunden. Auf jeden Fall hat sich der einzelne Zulassung in einem Selektionsverfahren durch eine persönliche Zeremonie zu erwirken, die Exklusivität - unabhängig von der sozialen Stellung im Alltag - verspricht und deren Begleiterscheinungen durch die Ausübung der meisten Mysterien zur Nachtzeit der Charakter des Geheimnisvollen gesichert bleibt. >Soteria< ist nicht nur einmal zu gewinnen, ist in ihrem Erwerb vielmehr einem permanenten Prozeß der Bewährung unterworfen, womit Initiationsrituale, die ja Mysterien sind, um >soteria< zu erlangen, gleichsam eine sich perpetuierende Bestätigung erfordern: jeder Rettungsakt ist Durchgang zu neuer Gefahr, in der das Mysterium dem Mysten neue Rettung verheißt. Bei aller Skepsis, die ein Vergleich vor allem der Spätantike mit dem 19. Jahrhundert im Bereiche der kulturellen Befindlichkeit gebietet, die geistige Orientierungslosigkeit, die beide Epochen auszeichnet und im Falle der ersten zu einem wahren >Konsum< an Mysterien führte, läßt sich schwerlich übersehen gerade da, wo sie beide manisch dem mechanistischen Diktate einer Jagd nach Rettung gehorchen, wie sie sich jeweils in den zeitgenössischen Abenteuerromanen abbildet. Die antiken Romane - erinnert sei nur an die >Metamorphosen< des Apuleius - überbieten sich häufig genug im hypertrophen Ausmalen religiöser Zeremonien, und gerade der bekanntesten Abenteuerromane einer, die >Aithiopika< des Heliodor, läßt sich - trivialisierend gesagt - als ein >Mysterien-Baedeker< lesen. So zeitlich diesen Werken entrückt, so nahe stehen die Abenteuererzählungen Mays in Struktur und Intention diesen Werken; dem gnadenlosen Diktat der Jagd nach Rettung unterworfen, bilden sie zwar keine Mysterien ab, aber doch Sehnsüchte ihrer Zeit, denen die Erfüllung in >Mysterienkulten< nicht mehr möglich war. Oder vielleicht doch? Funktionieren da nicht Ventile ganz analoger Art? Jedenfalls sollte man die Initiationsstruktur der modernen Verwandlungen vieler antiker Romanhandlungen, Mythen und Märchen in Buch und Film nicht verschweigen. Denn es kumulieren


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auch hier Urängste, von deren Dynamik Erzähltraditionen leben, nicht in Gestalt statischer Archetypen, auch nicht als Schöpfungen irgendwelcher Volksseelen, »sondern als eine Art Geschiebe, das vielen >Einflüssen< und wechselnden Zufällen unterworfen ist und doch seine eigenen Sinngestalten mit sich führt.«(25)

Wie dem auch sei, es braucht nicht viel Phantasie, um das Archetypische, den Mysterienstrukturen Verhaftete vieler Konfigurationen zu erkennen, die sozusagen das Rezeptbuch füllen, nach dem sich Aufbau, Verlauf, Zielsetzung der Bände füllenden Mayschen Epopöen richten. Da ist die Gemeinschaft, die sich der permanenten Prüfung ausgesetzt sieht, da ist der Mystagoge, unter dessen Führung sie diese absolviert, und da ist das Ziel der Rettung, der >soteria<. Der Fluchtpunkt dieser Handlungskonstruktion ist immer wieder und ausschließlich die >soteria<, nicht als jenseitige, sondern als diesseitige, die auf dem Hintergrund der Todeserfahrung, des >Stirb<, des Durchgangs durch die tödliche Gefahr, als >Werde< erreicht wird. >Soteria< ist perpetuiertes Werden. Eben genau als das erscheint sie in den antiken Mysterien.

Als solche beeinflußt sie weitgehend die Handlung der >Winnetou<-Trilogie und verleiht ihr damit eine >religiöse< Dimension, die tiefer geht als das in diesem Roman scheinbar so plakativ behauptete Christentum. Ihr Verlauf ist nicht nur im banalen Sinne >miraculös<, er ist buchstäblich >mysteriös<; ausdrücklich im ersten Band, wo die Meisterung der Fahrt über die >Todesschiene< die Ordination des >Soter< ermöglicht, des >Retters<, der charakteristische, einem Mysten gestellte Aufgaben löst, den Tod in einer hier nur angedeuteten Katabasis (ausführlich holt das dann der >Große Traum< des vierten >Silberlöwen<-Bandes nach) überwindet und sich uns in einem Format darstellt, das sich fast nur mit einem christologischen Vokabular beschreiben läßt. Die existentiellen Erfahrungen des >Mysten< >am Tode< werden ein Jahrzehnt nach Abfassung des >Winnetou I dann in der >Silberlöwen<-Tetralogie mit einem unerhörten Exhibitionismus ausgebreitet, der nun wirklich nichts mehr ausspart und hemmungslos montiert, was die symbolische Requisite Mays zu bieten hat: wie in jener Episode zu Beginn des dritten >Silberlöwen<-Bandes, da der Fährmann die Reisenden in Basra über den Fluß gesetzt hat und diese sich >beyond the limits< im Felsengebirge in einer Feuer- und Wasserprobe ihres bisherigen Menschseins beraubt und entäußert, aufs äußerste reduziert - eigentlich nackt - der Strahlung einer plötzlich die Wolken durchbrechenden Sonne ausgesetzt sehen. Man beachte, wie die Bloßheit der Mysten auch sprachlich in der extreme Verknappung anstrebenden Reduktion der Parataxe Gestalt gewinnt:


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Was aber sah ich da! Der Himmel war verschwunden. Ein fürchterliches Gewitter tobte. Ein Blitz zuckte nach dem anderen. Der Donner schien keine Pause zu kennen. Es ging Krach auf Krach und Schlag auf Schlag. Der Regen fiel wie eine kompakte Masse nieder. ... Vor mir saß Halef, mit dem Rücken am Gemäuer lehnend. Seine Augen waren geschlossen. Er regte sich nicht. Seine Kleidung bestand nur aus Hose, Weste, Hemd und Stiefel. Der Regen troff von diesen vollständig durchnäßten Stücken. Das lenkte meinen Blick auf mich selbst. Auch ich hatte nur Hose, Weste, Hemd und Stiefel ... alles andere fehlte. Kein Mensch außer uns beiden ringsumher! ... es folgte ein betäubender Donnerschlag, und dann gab es plötzlich keinen Tropfen Regen mehr. Das Wetter war vorüber; die Wolken verschwanden schnell, und hierauf schien die Sonne erwärmend und trocknend auf uns hernieder.(26)

Sprachlich ergibt sich an dieser Stelle übrigens eine bemerkenswerte Leistung, indem quasi >vertikal< Kommata von äußerster Verknappung auf eng begrenztem Raum zusammenschießen und - sagen wir es mit einem meteorologischen Topos - als >organisierte Konvektion< eine stakkatierende, sforzatodominierte Parataxe erzeugen, in der die äußere Erregtheit der Naturgewalten, mit der inneren Paralyse, einer opiatbewirkten Ataraxie, der Protagonisten zur wunderlichen Korrespondenz gedeihend, eindrücklich Gestalt gewinnt.(27)

Die rituellen Codices, die dort im >Silberlöwen< genutzt werden, liegen aber auch schon hier in >Winnetou I< aufgeschlagen. Auch andere Abenteuererzählungen Mays, katexochen die Kolportageromane, lassen sich >sub specie salvationis< als sich stets wiederholende Ordinationen des >soter< in seiner Gemeinde lesen. Stellvertretend für sie bewältigt er die unzähligen Katabasen dort, wo »bei ungewiß gleißendem Mond unter boshaftem Flimmern der Weg durch die Wälder dämmert, wenn Juppiter schattend den Himmel umwölkt und düstere Nacht den Dingen ihre Farben löscht«.(28) Befinden wir uns nicht mit dem >Ich<-Helden immer wieder auf diesen Pfaden, in Wäldern, deren Dunkelheit den gewöhnliche(n) Mann die Hand vor dem Auge nicht ... sehen(29) läßt. Und hören wir nicht aus seinem Munde, was sich wie die >Aretalogie< antiker Tempelpropaganda ausnimmt: hat nicht der Gott seine überwältigende Macht an dem Mysten bewiesen, die ihn als lebendiges Beispiel jener Weisheit, mit welcher >der gewöhnliche Mann< gehadert(30) hat, nun selbst, wenn nicht zum Gott, so doch zum Heros, zum Halbgott erhebt? Immer wieder haben ja die Katabasen der antiken Heroen, eines Orpheus oder Herakles, den Akt der Befreiung zum Ziel, Rettung vor dem Tode und Rückkehr ins Leben. Und so kann auch die vergilianische Emphase nicht verwundern, mit der May den Auftritten seiner Helden die Szene bereitet.


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Es war Nacht geworden; von Minute zu Minute rollte ein zürnender Donner über die Tiefe hin, doch, so hell und grell der Blitz jedesmal dabei leuchtete, fiel der Regen so »korpulent« herab, wie der Westmann sich auszudrücken pflegt, daß man trotzdem kaum fünf Schritte weit zu sehen vermochte. Der rasende Sturm traf oben den Hochwald und die Felsenklippen; seine Macht jedoch reichte nicht bis in die Tiefe, wo die Riesentannen im nächtlichen Dunkel unbeweglich standen, aber es war da auch nicht still, denn die Wasser des Flusses rauschten und brausten so erregt zwischen den Ufern dahin, daß nur ein ungemein scharfes Ohr es hören konnte, daß zwei einsame Reiter flußabwärts geritten kamen; zu sehen waren sie nicht.(31)

Explikation eines einzigen Vergilverses: Abarit obscuri sola sub nocte per umbram«,(32) und eine jener Ouvertüren, deren Suggestionskraft schon Ernst Bloch rühmte.(33) Der Myste, auf der >Heilssuche im fernen Westen< begriffen, in der Dunkelheit der Wälder, die undurchdringlich ist und häufig genug vom mythischen Rauschen der Gewässer durchtönt, sieht - was auffällig oft betont wird - zwar nicht die Hand vor den Augen, vermag aber offenbar in der Finsternis mit dem Herzen zu sehen. Heute, wo kulturpessimistischer small talk die maßlose elektrische Lichtflut beklagt, die das Geheimnis der Nacht verdunkelt, die ausgebaute Infrastruktur der Verkehrswege, die den Weg zugunsten des Zieles aus dem Bewußtsein rückt, so daß die Geschwindigkeit gleichsam den Weg vernichte und prompte Wunscherfüllung das >Werden< ausschalte, scheinen diese Formen des >Mysteriums<, die Wagner noch in den >Wanderer<-Szenen des >Rings< so sinnfällig auch als Metaphern für die moderne Unbehaustheit zu gestalten wußte, in die Bedeutungslosigkeit entrückt, verständlich allenfalls nur noch als >2001: Odyssee im Weltraum<. Das Wandern jedoch ist des Mysten Lust und Last, wie ja der Weg in den Mysterien vor dem Ziel rangiert, die insofern auch in gewissem Maße experimentell bleiben müssen: manche Erfahrungen des Lebens erweisen sich als überwältigende Bestätigungen, hinter denen gleichermaßen das Risiko der Falsifikation lauert. Man mag, im Sicherheitsdenken unserer Gegenwart befangen, derlei als Zumutung abqualifizieren: vielleicht aber beruht der anhaltende Erfolg der Mayschen Erzählungen unter anderem doch darauf, daß hier dem Lesenden fiktional die Zelebration des >Unterwegsseins< geboten wird - für seinen Seelenhaushalt so wichtig, wie ihm im realen Leben verwehrt: jenes >blanke Glück< des Reisens - in der lyrischen Kulturkritik von Benn bis Kunert beargwöhnt -, das allenfalls in den Versprechen der Planung beruht, nicht mehr einlösbar jedoch jenseits der

Reispläne: O ja:
zu den Wurzeln der ältesten Weiden
wo Erlösung stattfindet
und Verwandlung geschieht ...(34)


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Eine Kritik der touristischen Aspekte Mayscher Erzählkunst, wie sie mit Schärfe auch schon vorgetragen wurde, hätte diesen Befund zu berücksichtigen. Das Unterwegssein, der Inhalt an sich der Romane Mays, macht das Ziel, die Rettung, transitorisch, durchlässig, sich verflüchtigend, letzten Endes akzidentiell; essentiell ist die Bewährung, das >Werde<, und die ist ein Geschäft der Einsamkeit, vielleicht noch einem Reinhold Messner geläufig; denn den Gang nehmen die Helden, die >soteres<, für die Ihren sich in der Einsamkeit Opfernden, unter Ausschluß der »profani«, der Unheiligen, auf sich, die »gänzlich fern dem Haine« zu bleiben haben.(35) Dergestalt unternimmt das >Ich< die Rettung Winnetous zu nächtlicher Stunde allein. Ihm ist es bestimmt, den >Engpaß des Anschleichens< zu durchqueren. Sam Hawkens und die Seinen haben »procul o procul« zu sein.

Je mehr Vereinsamung zum Kennzeichen unserer Zeit geworden ist, desto mehr wird Einsamkeit zu einer ihrer auffälligsten Mangelerscheinungen, und um so bedenkenloser stillen wir (»bedächtig dahinwandelnd zwischen Schlachter und Polizist, im heiligen Schrecken vor Skandal, Galgen und Irrenhaus«(36)) im Surrogat unser Bedürfnis nach diesem reizbaren Seelenzustand; »hineinzugehen in eine Welt, in der man nicht Bescheid wissen darf«,(37) beanspruchen wir die Stellvertretung der Mystagogen - möge sie uns nun von Conrad, Ibsen, Karl May, Thomas Mann oder Stephen King geboten werden -, die ein Terrain, das im eigentlichen Sinne zeitlich und räumlich >ex-orbita<-nt ist, durchschreiten: »by the way of solitude - utter solitude without a policeman - by the way of silence«, und wo die »Einbildungskraft (...) sich ein Beispiel für alle Wunder und Schrecken der mannigfaltigen Erde« schafft, Landschaften, in denen »zwischen den knotigen Rohrstämmen des Bambusdickichts die Lichter eines kauernden Tigers funkeln« und das »Herz ( ... ) vor Entsetzen und rätselhaftem Verlangen (pocht)«,(38) die Türen zu öffnen und Schranken zu übersteigen »not made to be broken«. »Don't go beyond«(39) ist das Schlüsselwort für den Tigerritt, in dessen Meisterung sich Nietzsches Vorstellung vom »Menschen, ( ... ) daß er ein Übergang ist und ein Untergang«,(40) erfüllt, ob es sich nun um Mr. Kurtz, Hedda Gabler, Gustav Aschenbach oder die Protagonisten jener Vergil und Poe oft parodistisch und grotesk nachempfundenen Katabasen des Stephen King handelt, in dessen Roman >Pet Sematary( (deutsch unter dem verballhornenden Titel >Friedhof der Kuscheltiere<) sich, nebenbei bemerkt, sehr Kluges über den Tod nachlesen läßt: spielerisch fast entwickelt der Arzt Louis Creed im Gespräch mit seiner kleinen Tochter Gedanken über die »letzte Rückzugposition des Geistes angesichts des anbrandenden Todes«, über den »Versuch des


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unendlich erfinderischen Menschengeistes, mit Hilfe einer Halluzination von Unsterblichkeit den Wahnsinn bis zum letzten Augenblick abzuwehren«, über »Residuen des Unerklärbaren in einer Welt, die im großen und ganzen zu einem sauberen, gutbeleuchteten Ort geworden war«, und mündet in das Credo:

»Ich meine, daß es (nach dem Tode) irgendwie w e i t e r g e h t«, erklärte er seiner Tochter. »Aber wie dieses W e i t e r g e h e n aussieht - das kann ich mir nicht recht vorstellen. Vielleicht ist es von Mensch zu Mensch verschieden. Vielleicht bekommt man das, woran man sein ganzes Leben geglaubt hat.«(41) (Hervorhebungen J.H.)

Ironisch persifliert der Roman die Vorstellung von Tod und Jenseits als Passagen der Untoten; Tod als eine Art >Umsteigen<, wobei der alte Friedhof der Micmac-Indianer zum Perron, der Tierfriedhof, wo die Kinder ihre kleinen Lieblinge begraben, zur Vorhalle dieses Bahnhofs gerät; denn Tod heißt >Durchgang< zu einer neuen, unter Umständen zum Entsetzlichen gewendeten Existenz, wo hinter vertrauten Masken die Revue weitergeht. Der Roman, in dem in weiten Partien >(Durch-) Gänge< das Handeln der Menschen bestimmen, im eigenen Haus, durch die Nachbarschaft, zu Friedhöfen, durch Wälder, nutzt die Form des Mysteriums als Versuch, als Experiment des Menschen im Umgang mit dem Tod, als Risiko, das Bestätigung wie Verfälschung beinhaltet. Letzten Endes verweist aber auch hier wie in den antiken Mysterien der Tod in das Diesseits. Die Ironie der Erzählung liegt darin, daß ausgerechnet die Person, die wie keine zweite die Aufgabe des >soter< erfüllen könnte, der Arzt, in der Initiation versagt und zum Werkzeug eines Gottes wird, an den sie nicht mehr glaubt: des Gottes des Bösen. Dabei macht die bemerkenswerte ironische Nonchalance, mit der sich der Autor des antiken Mythenfundus bedient, um allenthalben in der Alltagswelt Horrorkabinette einzurichten, wohin ein der Leser ahnungslos stolpert, den Mythos wieder möglich, weil seine Parodie ihn stets begleitet. Als Gattung leisten das heute vornehmlich Film und Comic; und die Romane Kings lesen sich denn auch wie ausgetüftelte Drehbücher zur raffinierten Balanceakten eines Saltimbanque über dem Abgrund zwischen Realität und Traum: auf Pfaden »zwischen Bäumen, (...) die wie Kathedralen anfragten« »in der mondhellen Krypta der Nacht«,(41) in welchem Oxymoron sinnfällig die Ausweitung des Souterrains zum Kosmos Gestalt gewinnt.

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Man mag nun einwenden, bei alledem handle es sich erneut um einen Ausverkauf von Trivialmythen, kann aber bei dem spektakulären Erfolg der Erzählungen Kings nicht bestreiten, daß hier mit einem uralten wirkungsmächtigen Code gearbeitet wird, durch dessen intuitive, quasi vorbewußte Entschlüsselung die Leser die Reduktion auf eine in >Mysterien< vereinigte Gemeinde erfahren; ein der May-Lektüre ganz analoges Wirkungsmuster, nur daß in den Romanen Kings die fatale Autonomie des Helden dem Experiment mit einer - wie immer gearteten - Schicksalsmacht zum Opfer fällt, während sie bei May immerhin der göttlichen Subsidiarität sicher sein kann, die als zentrale Instanz das zu regeln verpflichtet ist, wozu der einzelne sich nicht in der Lage sieht. Allerdings wächst auch hier das >Ich< - entgegen allen Lippenbekenntnissen - in die Positionen einer Souveränität hinein, die geeignet ist, den Gott zu entthronen. Längst hat sich die Demut, derer sich etwa noch Jochen Klepper in seinem >Abendlied< versichert, verloren:

Weil du der mächtige Helfer bist,
will ich mich ganz bescheiden
und, was bei dir verborgen ist,
dir zu entreißen meiden.(43)

Das Gegenteil ist der Fall. Auf seinen Wanderungen überlebt das >Ich< durch permanente Enttarnungen des Verborgenen; das Mysterium funktioniert als Versuchsanordnung für Entschlüsselungen, die den Geweihten schließlich zum Weihenden werden lassen, den Gezogenen zum Ziehenden (der - ein ins Mythische entrückter Münchhausen - sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zieht), den Rettung Suchenden in einer die Heiligenvita parodierenden Transformation zum Retter: von seinem >Gläubiger<, dessen Kredit er in Anspruch nimmt, hat sich dieser Novize längst verabschiedet. »Bin ich nicht vielmehr ein lebendes Beispiel jener Weisheit, mit welcher Ihr gehadert habt?« heißt es an einer >Gelenkstelle< des großen >Religionsgespräches< im ersten >Old Surehand<-Band.(44) Ein Beispiel, gewiß. Aber der Genitivus subiectivus bedeutet uns, daß - pars pro toto - Old Shatterhand wohl die Weisheit selbst ist; denn »ich ... habe nur zwei Gläubiger gehabt, die waren Gott und ich: Gott, der mir ein Pfund verliehen hatte, um es auszubilden, und ich, der ich die strenge Forderung an mich stellte, keine Stunde meines Lebens vergehen zu lassen, ohne mir sagen zu können, daß sie pflichtgetreu ausgenützt worden sei ...« Gott ist wohl noch Gläubiger. Doch täuschen wir uns nicht. Nicht nur die auffallende syntaktische Parallelaktion dieses Bekenntnisses macht ausreichend deutlich, daß das Mündel längst Vormund geworden ist. »Gott war gütig mit mir; ich aber habe nie einen so strengen Gebieter gehabt, wie ich mir selbst einer gewesen bin.«


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Auf das aber kommt es an: und die durch den Gebrauch der adversativen Konjunktion vollzogene Substitution Gottes durch das Ich. Oder sollte man besser - um im Geschäftsbereich der Hermes zu bleiben - von einem >Loskauf<, einer prometheischen Defraudation sprechen, einer pia fraus, die Nietzsche als »Erbgut aller Philosophen und Priester«(45) geißelt, die hier freilich die Emanzipation des Ich hin zu Gott ermöglicht? Die in Anspruch genommene Komplizenschaft mit Gott jedenfalls mündet in eine Kapitulation vor dem Ich. Das nun erhebt den Vorgang in den Rang des Mythos. Genau besehen spielt sich hier in einer bisher platonisch determinierten Welt ein homerischer Unfall ab; im X. Buch der >Politeia< hat Platon ja dem Mythos den Krieg erklärt und ihn gleichsam abgeschafft. Homer aber steht dort für den Mythos. Wäre dieser wahr - so etwa die Argumentation -, hätte Homer in der Schilderung jener bunten Götter- und Menschenwelt, die den Mythos ausmacht, recht, wäre der Gott der sich stets verwandelnde, als den ihn der Mythos ausweist, so wäre er ein >Gaukler<, ein Zauberer, auf den hin sich die mythischen Helden stets verwandelten. Göttliches Walten wäre dann nichts weiter als die Regie eines farbigen Maskenzuges. Denn das Terrain, auf dem der Mythos sein Recht behauptet, ist das Reich der Erscheinungen, der Abbilder, der >eidola<: hier spielt sich das Erkennen der Bilder durch das Bild ab, und nichts kann die bunte mannigfaltige Barriere der Erscheinungen überschreiten: in dieser Mannigfaltigkeit eben verbirgt sich die größte Gefahr, nämlich die Zauberkraft der Idolatrie. Die Mannigfaltigkeit der Ereignisse verdichtet sich in den Bildern, die Bilder jedoch verleiten zur Nachahmung. Derjenige, der das Bild betrachtet, ist versucht, das Abbild zu werden.

So gesehen bedarf die Tatsache wohl nicht der näheren Erläuterung, warum Wesen und vor allem Wirkung des Mayschen Werkes dieses auf den platonischen Index setzen müssen, den das deutsche Gymnasium -solange es seinen Namen noch zu Recht trug - auch pedantisch zu verwalten wußte. Denn daß die erzählerische Faszination Karl Mays mythische Kraft hat, ist sicher keine originelle Erkenntnis, sehen wir ihn doch in seinen >Reiseerlebnissen<, diesen >Passagen<, >Perioden<, Sequenzen transitorischer Ereignisse, die sich im Zielpunkte der >soteria< bündeln, nur um den Helden sogleich wieder vor neue vektorielle Probleme zu stellen, den Weg des Mythos auf dem Rosse reitend, auf dem prometheischen Pfade einer proteushaften Metamorphose ins Göttliche, prominenter Protagonist auch er im ungeheuerlichen Skandalon der homerischen Restauration des >Zum Gott Werdens< in der spätestens seit dem Christentum im Idolatriestreit mit dem Heidentum platonisch determinierten Welt des >Gott Seins<. Gerade diese naive


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Vereinnahmung der vakanten Position Homers vor dem Hintergrund des zunehmend sich als brüchig erweisenden platonischen Gottesideales durch Karl May zeitigt eine Ähnlichkeit mit der geistigen Physiognomie Nietzsches jenseits der Karikatur. In seinen Erzählungen, gleich den >Metamorphosen< Ovids ein >carmen perpetuum<, diesen endlosen Verzauberungen, wenn man die ursprüngliche Bedeutung von >carmen< - eigentlich: >Zauberformel< - beachtet, vollzieht sich das Erkennen als - ich möchte sagen - Pathos, welches das erkennende Subjekt hin in eine Gottähnlichkeit befördert, die eigentlich nichts anderes darstellt als die Göttlichkeit im Beherrschen eines Wissens, das aus dem Bild, dem >eidolon<, entsteht und im Bild gipfelt, ohne sich jemals davon loszulösen, noch ein diesem übergeordnetes Wissen zuzulassen. Das mußte als Blasphemie wirken - gemeinhin übersieht man tunlichst die Problematik, indem man bei May diskursunfähigen Größenwahn diagnostiziert, was mit der Pathologie seiner Epoche durchaus in Einklang stände - in einer platonisch eingerichteten Welt, deren Erkenntnismuster algorithmisch arbeitet und wo das >Gott Sein< das >Gott Werden< ausschließt. Praktisch bedeutet das für das Auftreten Mays: nach Platons Definition (>Politeia< - 600e; 607b/c) »lügen« ja die Dichter; nichts logischer, als daß einer platonisch orientierten Welt May als >Lügner< erscheinen mußte.

Allerdings: diese Exekution des Homer durch Platon war in ihrer Jahrtausende währenden Wirkungsgeschichte gefährlich kontingent. Nie war es ausgeschlossen, daß das im Mythos sich die Göttlichkeit usurpierende >Ich< gleichsam als Gespenst durch die Hintertüre auf die Bühne dessen, was bald einmal zu rationalen Utopien zu verkommen drohte, zurückkehrte und sich im kühnen Umgang mit der Lachesis zum Herrn der Lose in ihrem Schoße machte. Platon läßt (>Politeia< - 617d) eine Masche fallen, die ein mythopoetisches >Ich< wie das Karl Mays trefflich zum Auflösen des algorithmischen Erkenntnisgewebes nutzen kann, wenn er in seinem >großen (Unterwelts-)Traum<, dem Jenseitsbericht des ER, die Menschen sich ihre bíon paradeígmata (bíon paradeígmata), ihre >Lebensgrundrisse<, erwerben läßt und dabei von der >Schuldlosigkeit< Gottes, vom theós anaítios (theós anaítios) spricht.

»Nicht euch wird der Dämon erlosen, sondern ihr werdet den Dämon wählen. Wer aber zuerst gelost hat, wähle zuerst die Lebensbahn, in welcher er dann notwendig verharren wird. Die Tugend (areté) ist herrenlos, von welcher, je nachdem jeglicher sie ehrt oder geringschätzt, er auch mehr oder minder haben wird. Die Schuld (aitía)ist des Wählenden, Gott ist schuldlos (anaítios).«(46)

Und >wirkungslos< zugleich! Übersetzt man einmal - was die christlich eingefärbte Übertragung Schleiermachers hat offenbar vergessen


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machen - >aitía< mit >Urkraft<, >Wirkung<,(47) dann steht der >Gott< (theós) >außer Kraft< (an-aítios), und die >Kraft< und >Wirksamkeit< (aitía) - wie fatal auch immer er sie nutzt - liegt beim >wählenden< (heloménou) einzelnen. Wirkungsvoll ist der einzelne durch die Entscheidung. Entscheidung aber bewirkt Verwandlung, Metamorphose: und da eben meldet sich der verbannte Mythos zurück, der der Entscheidung - gerade auch an dieser Stelle der >Politeia< - den Raum des Verwandlung bewirkenden >Mysteriums<, des Initiationsritus, zuweist, in dem durch Entscheidung der Held sich wirkungsmächtig zum >soter< gemäß gottähnlicher Dispositive entwickelt. Auf diese Folie projiziert, gewinnen die zentralen Aussagen im zitierten >Religionsgespräch( des ersten >Old Surehand<-Bandes eine überraschende Nähe zu den hybriden Positionen Nietzsches. »Gott war gütig mit mir,- ich aber habe nie einen so strengen Gebieter gehabt, wie ich mir selbst einer gewesen bin.« Ohne Frage liquidiert hier die Wirkung des Nachsatzes die Konzession an das göttliche Wohlwollen im Vordersatz. Die Güte bleibt behauptet. (Der) Gott ist wirkungslos, wirkungsmächtig ist der einzelne: jeder sein Prometheus: wobei dessen hochgemut-selbstsicherer, forscher Ton eine gewisse Schrillheit nicht zu verbergen vermag.

Diese Schrillheit resultiert wohl weniger aus der Erkenntnis des Verlustes aller theologischen Sicherheit, die darin besteht, die Augen gegen sich selbst aufzumachen - der Mut zu einer so bewußten Demontage der Theodizee scheint May nicht gegeben: Gott war gütig mit mir; doch habe ich mich zum lebende(n) Beispiel seiner Weisheit gemacht. Die behauptete Theodizee wird durch eine anthropozentrische Teleologie in Frage gestellt, und beide mögen nur schwer den Abgrund geistiger Desorientierung verschleiern, über dem balancierend das >Ich< sich über die tragische Katastrophe des Gottesverlustes durch lärmige Rhetorik zu täuschen versucht.

Schonungslos wie in keinem anderen Drama der Zeit ist in Ibsens >Gespenstern<, 1881 im Jahre der Veröffentlichung von >Giölgeda padishanün< erschienen, die durch den theòs anaítios, den >ohnmächtigen< Gott, in Gang gebrachte Demontage der Theodizee vollzogen worden. Es gibt in beider Autoren Werk Schrillheiten und Dissonanzen, deren binnenliterarische Verwandtschaft eine Spannung erzeugt, die begreiflich macht, daß ein Zeitgenosse wie Josef Hofmiller, »als im >Sammler< der >Augsburger Abendzeitung< eine ausführliche Inhaltsangabe von >Rosmersholm< durch mehrere Nummern lief - in jener rückständigen Zeit nahm man die Dichtung noch sehr ernst -, auf die Fortsetzung so gespannt (war), wie auf eine von Karl May im >Deutschen Hausschatz<.«(48)


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An beiden Autoren schieden sich die Geister, denn bei beiden Autoren wandelt sich das äußere zum inneren Geschehen dergestalt, daß der Punkt des Umschlages nicht genau zu fassen ist. Der Präzision, mit der der Goethe-Übersetzer Gérard de Nerval diesen Vorgang beschreibt, ist wohl nichts hinzuzufügen.

»Die ersten Augenblicke des Schlafes sind das Bild des Todes. Eine nebelhafte Erstarrung ergreift unsern Gedanken, und wir können den genauen Augenblick nicht feststellen, wo das Ich in einer anderen Form die Tätigkeit des Daseins fortsetzt. Ein ungewisses unterirdisches Gewölbe erhellt sich allmählich und aus dem Schatten der Nacht lösen sich in ernster Unbeweglichkeit die bleichen Figuren, welche den Vorhof der Ewigkeit bewohnen. Dann nimmt das Bild Form an, eine neue Helligkeit erleuchtet diese Erscheinungen in wunderlichem Spiel: - es öffnet sich uns die Welt der Geister.«(49)

>Das Ich setzt in einer anderen Form die Tätigkeit des Daseins fort.< Was das vor einem nietzschezeitlichen Horizont heißt, läßt sich im Wohnzimmer der Witwe Alving so gut studieren wie auf dem Schott Dscherid oder in den Massen ... flüssigen, beweglichen Sandes der Wüste oder der unterirdischen Kanalsysteme von Paris, in die ein anderer Hoffnungs- und Leidensträger hinabsteigt: Jean Valjean - Christophorus auch er -, der sich mit dem todwunden Marius auf dem Rücken so durch die brusthohen Abwässer dieser cloaca maxima kämpft, wie Old Shatterhand den todkranken Carpio durch den mannshohen Schnee des nordamerikanischen Felsengebirges zieht: »lui aussi porte sa croix«. Hier wie dort versagt >Nüchternheit< und >Weisheit<, und sichtbar werden die gänzliche Gottverlassenheit des Individuums und die getarnten Abgründe, die unter seiner Existenz lauern und über denen im gleichen Jahre 1881, da Frau Alving frühmorgens in ihrem Wohnzimmer die Lampe löscht und Oswald in eben diesem Augenblick in der Paralyse versinkt, Karl May sein >Ich< als anachoretischen Saltimbanque auf dem Schott Dscherid seiltanzen läßt.(50)

... es mochte ungefähr das Gefühl eines Seiltänzers sein, der nicht genau weiß, ob das Tau, welches ihn trägt, auch gehörig befestigt worden ist. Wie so oft bei May das verräterische unpersönliche Passiv, das uns den Rücken zuwendet. Von wem befestigt, das wird verschwiegen. Doch in diesem Satz schießt zusammen, was dem >Gefühl<, dem Lebensgefühl der Zeit beispielhaft die Diagnose stellt, einer nach außen hin technisch sehr erfolgreichen Zeit, der der Glaube an das Ostergeschehen längst abhanden gekommen war. Daher: »Sihdi, aufgepaßt! Wir stehen mitten im Tode,« rief der Führer.(51) Das Geschehen hier ist Initiation und gibt der Szene durch seinen offensichtlich existentialistischen Gehalt - die Einsamkeit des >Ichs< vor dem Nichts - ein für


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seine Epoche parabolisches Format. In dieser entfaltet sich ein Reich technischen Gelingens in dem Maße, wie das innere Reich geistiger Bindungen, religiöser Integration verfällt, den einzelnen seiner Einsamkeit überläßt und zur Spurensuche in den Einöden verurteilt. Auf den Reiter in der Wüste fällt der Abglanz jenes großen Einsamen - in diesen allenthalben gefährlich verminten Ebenen -, dessen Klage einer Existenz wie der Karl Mays zum Spiegel wird und seine >Reiseerlebnisse< als die eines spurensuchenden Anachoreten erhellt: »solo e pensoso« sieht sich Petrarca in seinem >Canzoniere< auf der Wanderung: in steter Angst, erkannt zu werden, sein eigentliches Antlitz verbergend -eine Phantomexistenz.

Allein in mich versenkt durch ödes Land
die Schritte messend, geh ich langsam hin
und richte meinen fluchtbereiten Sinn
auf jede Fußspur, die mich schreckt im Sand.

Wo fänd ich Zuflucht sonst, daß nicht erkenne
die Menge meinen Gang und mein Gesicht,
daß an des Körpers Trauerschwere nicht
es lesbar sei, wie ich im Innern brenne,

so sehr, daß es mir scheint, Berg, Fluß und Hänge
und Wälder wüßten, wie es um mich steht,
wo andre Blicke niemals zu mir dringen.

Doch find ich nicht so rauhe, wilde Gänge,
daß Amor nicht mir gleich zur Seite geht
und unsre Reden endlos sich verschlingen.(52)

Das Sonett liest sich wie eine Metapher Mayscher Existenz, deren Strahlungen es aus dem imaginären Rayon weitgespannter seelischer Weltenfahrten, nach rückwärts verlängert, fokussiert. Daß es sich dabei um keine Übertreibung handelt, bestätigt die Bilanz der diese Expeditionen charakterisierenden Topoi: die Wüsten »deserti campi«, die Fluchtbewegung »per fuggir«, die für das Spurenlesen im Sand geschärften Augen, »gli occhi (...), intenti dove vestigio uman l'arena stampi«, die Schutzfunktion, »schermo«, der Wildnis, die vor dem indiskreten Blick der Menge rettet, »che mi scampi dal manifesto accorger delle genti«. In der traditionsgebundenen Metaphorik dieses Renaissance-Sonettes kommt eine Dramaturgie zum Tragen, wie sie besonders auch die Inszenierung der Mayschen >Reiseerlebnisse< beherrscht: eine »durchgestaltete Intensität von Sicht und spekulativer Anordnung«,(53) strukturiert durch einen spezifisch abendländischen Subjektivismus, bringt hier über Jahrhunderte hinweg Seelenlandschaften zur Deckung, deren Durchquerung sich immer wieder nach


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dem Muster jener berühmten >Harzreise im Winter< ausrichtet oder jener Wanderungen im Schwarzwald auf Feldwegen, von Heidegger als magisches Bild für die Reise des Denkens zu entscheidenden Lichtungen in der Soteriologie genutzt, und in Karl May einen Protagonisten von überraschender Modernität hat; nicht einfach nur in den Traditionen des Abenteuerromanes fabulierend, sondern in seinen subjektiv überformten >fabulae< sich das eigene Seelendasein überaus >kompliziert< komplementär zu dem Petrarcas entwerfend. Diesen hat Hugo Friedrich ja als einen Autor charakterisiert, der dichterisch erfindet, um dichterisch von sich selbst sprechen zu können;(54) eine Maßgabe, an der sich ausgesprochen eigensinnig auch Mays dichterische Einbildungskraft orientiert: er erfindet sich das >Ich<, um von sich zu sprechen - in einer das Sonett Petrarcas ausschweifend parodierenden Form. Der Ausschließlichkeitsanspruch solcher Subjektivität ist fast nur noch >parodNeben- und Durchgesängen< - möglich; auf Wanderungen, deren seelischer Anlaß zunächst ziemlich dunkel bleibt, durch Einöden, Wälder, Berge, über Flüsse, das Auge stets am Boden haftend; auf Wanderungen, erkannt zu werden, so fürchtend wie die Selbsterkenntnis, auf der Flucht vor wie auf der Suche nach sich selbst, danach, angenommen zu werden und anzunehmen; in Sehnsucht, geliebt zu werden und zu lieben: hier liegt vielleicht der eigentliche Anlaß der Irrfahrten eines Phantoms, das geliebt werden will, durch die Katakomben des Jahrhunderts, sich in der Angst, daß ihm seine Maske genommen werden könnte, der Liebe immer wieder entziehend; Wanderungen, in >endlos sich verschlingenden Reden< protokolliert: »Ragionando con meco ed io con lui«, was die >Reiseerlebnisse< zu verklausulierten Liebesgesprächen - Erklärungen und Werbungen - hypostasiert. Auch wenn man diese Liebessehnsucht Mays immer wieder als narzißtisch pathologisiert hat, so ändert das nichts an der tiefen ungestillten Sehnsucht nach dem Aufgehobensein in unbedingter Liebe, die aus seinem Werk spricht und es so anrührend macht, weil sie wohl in jedem Menschen zeitlebens vorhanden ist.

Von hier aus gesehen wird auch all das verächtliche Gerede über die kitschige Vertröstungsideologie, die May nicht müde werde zu propagieren - in den Reiseerzählungen, von den Kolportageromanen schon gar nicht zu reden -, relativiert werden müssen. Man hat May oft genug mangelnden Sinn, ja Blindheit für die Ursachen sozialen Elends seiner Zeit vorgeworfen und dabei geflissentlich übersehen, daß seine Religiosität mit Gespür die seelischen Defizite der Epoche ausmacht und ein inneres Reich seelischer Bindungen auszubauen anmahnt. Was als reaktionäre religiöse Attrappe disqualifiziert worden ist, erscheint


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nach den Erfahrungen unseres Jahrhunderts als hellsichtige Erkenntnis, daß ohne die Verwirklichung jenes geforderten >inneren Reiches<, das die Folgen des technischen >äußeren< kompensieren könnte, die Aporien der Moderne nicht zu lösen sind und die sozialen Probleme weltweit weiterhin in einer Form angegangen werden, die ein Ungleichgewicht der Verhältnisse erzeugt, das groß genug werden könnte, um die Waage aus der Verankerung zu schleudern. Die äußere soziale Sicherheit - obgleich zu Mays Lebzeiten nur in Ansätzen verwirklicht - erzeugt, ohne daß ihr Räume innerer (>sozialer<) Sicherheit korrelieren, ein Klima der Orientierungslosigkeit, das in Einöden führt, die May durch symbolträchtige Beschreibungen in seinem Spätwerk eindrücklich Gestalt gewinnen läßt, in dessen Ruinenwelten sich immer wieder - als zeittypischer Vorgang - die Initiation des >soter< abspielt, »intoxicated with light«, wie die Tänzerin Martha Graham kurz vor ihrem Tode sagte, vor den dunklen Horizonten der Leere dieser Epoche, in der sich die Maysche Existenz stellvertretend - solo e pensoso - als Eskapismus und Sehnsucht, geliebt zu werden, beschreibt, letztendlich als >Verbrennen<: »com'io dentro avvampi« - »wie ich im Inneren brenne«. Nicht ein Feuer der Erhellung, ein Feuer der Selbstzerstörung lodert da - sagen wir es pathetisch - und beleuchtet die gottentleerten Gemächer: ein Vorgang, der Mays Zeitgenossen auf verschiedene Weise beunruhigte. Der Scheiterhaufen des toten Gottes illuminiert bei Wagner vielleicht den Transit in eine neue Welt, im Finale von Ibsens >Gespenstern< erscheint dagegen die Sonne, das Symbol der Lebensfreude, in der aussichtslosen furchtbaren Katastrophe als gräßliche Fratze und Verzerrung. »Alles wird verbrennen (...) Ich verbrenne ja auch«,(55) prophezeit Oswald, und wie eine Folie schiebt sich davor die Szenerie der Mayschen >Ölbrände< - >Theós anaítios< wird zum Signal der Epoche: der Gott ist ohnmächtig. Der Himmel war verschwunden.(56)

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Und sein Himmelreich ist liquidiert: das hat gesellschaftliche Konsequenzen, die zu verschiedenen Entlastungsoperationen und zu einer histrionenhaften Umwertung der Grundsätze öffentlichen Lebens führten, wie sie für Spätzeiten nicht untypisch sind und als deren Funktionäre häufig Künstler und Politiker wirken: mit oft verhängnisvollen Auswirkungen, wenn sie sich in einer Person vereinigen und - im Falle, mit Ibsen zu sprechen, »Wirklichkeit in das Verhältnis komm(t)«(57) - die Schrumpfung der transzendenten Räume, die das 19. Jahrhundert


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beschäftigte, ihr Gerinnen zum trompe-l'œil, zur illusionistischen Perspektivenmalerei, die Verlagerung der ersehnten Schauplätze der Jenseitsexistenz aus den metaphysischen Weiten in die wolkenbemalten Himmelsprospekte als tödliche Posse inszenieren, wofür uns das zwanzigste Jahrhundert ein monströses Beispiel liefert.

»Aber die schöpferische Kraft war ausgegangen. Man begnügte sich leidlich zu existiren«, schreibt Theodor Mommsen(58) mit Blick auf die wilhelminische Gegenwart von der kaiserzeitlichen Vergangenheit Roms, und gab damit, so wäre hinzuzufügen, Inszenierung als schöpferischen Umgang mit den dringenden Fragen der Epoche aus. Man lebte und schwebte über den Abgründen in der Zeit, »gerichtet nicht auf das was zurückbleibt von dem Menschen, sondern die Gegenwart allein beschäftigte« das Publikum vor den Dekorationen eines »jenseits der Wolken aufbehaltene(n) und reich mit allen phantastischen Farben der Sehnsucht ausgeschmückte(n) Paradies(es)«, projiziert auf die Schmuckvorhänge durchaus irdischer Theater Ewigkeit erheischender Lust, hinter denen sich die postmortalen Handlungsräume, verkürzt um ihr celestes Element, als Katakombenlandschaften der Unterwelt öffneten und zur Katabasis einluden. Vielfältig eingerichtet sind die Etagen in den >new territories< des Orkus, die sich unter dem sternenbemalten Bühnenhimmel so erschreckend belebt zeigen und zu denen der Künstler, ein Hermes psychopompos auf Zeit, den Abstieg ermöglicht: mehr als ein subterranes Disneyland wird allerdings nicht erwartet; stets hat er den Logenblick des Publikums zu gewährleisten und ihn dennoch als Wirklichkeit in den Verhältnissen auszugeben auf das Risiko hin, der Unsittlichkeit jener Schlüssellochperspektive geziehen zu werden, die man ja von ihm erwartet. In diesem nur mit Magie zu lösenden Geschäft ist May wahrhaft Meister; Virtuose einer Ästhetik der Ambivalenz, als der er »ein Faktor in den geistigen Strebungen der Gegenwart geworden (ist), mit dem man zu rechnen hat«.(59) Die Ästhetik der Ambivalenz, »das ist der Kultus der Unwahrheit« - er prägt die geistige Physiognomie einer ganzen Epoche, deren Gesellschaft sich für die Teichoskopien ihrer Unterweltsträume Matadore hält, deren größter Sündenfall es ist, das Geträumte mit der >Wirklichkeit in ein Verhältnis kommen zu lassen<; ein Selbstbetrug aus der geschichtlichen Zwielichtzone von mannigfaltiger Virulenz: wieviel davon noch in uns wirksam ist, lehrt wohl ein Blick auf die geistige Physiognomie unserer Zeit.

Vielen z. B. mochten die Auftritte des westdeutschen Bundeskanzlers 1989 in Dresden und Berlin ein Ärgernis sein, die so verblüffend den Schlußszenen aus dem >Verlorenen Sohn< glichen: als »Kultus der


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Unwahrheit«, weil entgegen aller politischen ratio Träume auch hier mit der Wirklichkeit in ein Verhältnis zu kommen suchten, Träume des 19. Jahrhunderts, die eine aufklärerische Vernunft schon längst exorziert geglaubt hatte, denen aber - sich dessen zu vergewissern, hätte ein Blick in die bundesdeutsche Boulevard- und Regenbogenpresse genügt - das kollektive Unterbewußtsein ungebrochen noch heute anhängt. Nach wie vor träumen in den Abwasserschächten der Psyche Ängste, werden aus ihnen herakleische Phantome des >soter< geboren und mit ihnen problematische, weil nicht selbst verantwortete >dramatische Statusveränderungen< initiiert, feiern sie, von den Metabühnen der Imagination ins Showbusiness der audiovisuellen Medien transferiert, Auftritte, die der ratio peinlicher nicht sein könnten und für das politische Bewußtsein nicht ohne Folgen. Denn die Lust auf >dramatische Statusveränderung< durch die >soteria< ist stets kombiniert mit der Regression auf die uralten Riten der Mysterien und gewinnt Gestalt in Träumen, getaucht in das Zwielicht der Kompatibilität von privater Biederkeit und Massenhysterie, in dem heute wie damals die Erfolgsautoren das Geschäft eudämonistischen Spurenlesens auf dem >Weg zum Glück< betreiben: heißen sie nun May, King oder Süskind. Anschaulich wird dieses Wechselspiel etwa in den Rettungsszenen aus Karl Mays >Wanda< (1875) und Otto Ludwigs >Zwischen Himmel und Erde< (1856): sie sind identischen Handlungskonfigurationen verpflichtet - was die eine privat kommentiert, wird von der anderen apokalyptisch zelebriert -, Ausdruck auch hier wieder des Transitorischen und Flüchtigen, weil sie sich dem Katarakt der katastrophischen Nöte, in dem ein großer Teil der Bevölkerung treibt, und der Zirkulation eines offenbar schicksalverordneten Rettungsdienstes nahezu mimetisch anpassen.

»Das Herz hat mer mein' Seel' im Leibe gezittert, als ich den braven Jungen so hoch da droben mitten durch Rauch und Flammen über die Firste hinbalanciren sah.«(60)

»Und die Leiter hing und schaukelte hoch oben mit dem Manne, der daran hinaufklomm, von Schnee umwirbelt, von Blitzen umzuckt; die Leiter hinauf, (...) in der entsetzlichen Höhe. Jeder Atem stockte.«(61)

»So eenen verwegenen Gesellen gibt's hundert Meilen in der Runde nich wieder, lind er hat sich heut wenigstens ein halbes Dutzend Orden und Medallgen verdient.«

»Erst als der Mann die Leiter herabgekommen, in der Ausfahrtür verschwunden war (...), da erst erstickte der Jubel: >Zu braver Junge!< in dem Angstruf: >Er ist verloren!< Eine alterszitternde Stimme begann zu singen: >Nun danket alle Gott! (...) Alle stimmten ein in den Gesang; und die Töne des Dankes schwollen durch die ganze Stadt! (...)«


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Welche sakrale Inszenierung ein halbes Dutzend fürstlich verordneter Orden und Medallgen bei weitem aufwiegt.

»Na, wenn ich Fürst wäre, oder gar König, so wüßte ich, was ich zu machen hätte; da ich aber leider nur een simpler Hufnagler bin, so kann ich ihm weiter nischt, als nur eenen ehrlichen, gutgemeinten Händedruck appliciren.« Der ehrliche, gutgemeinte Händedruck erfährt im folgenden in der Novelle Ludwigs eine Transformation ins Liturgische: »Die ganze Stadt war eine einzige große Kirche und Sturm und Donner die riesige Orgel darin. Und wieder erhob sich der Ruf: >Der Nettenmair! Wo ist der brave Mann?< Sturm und Gewitter waren vergessen. Alles stürzte durcheinander, den Gerufenen suchend; der Turm von Sankt Georg wurde gestürmt.«

Eine ausführliche Lektüre dieser Szene würde zeigen, wie in ihrem Pathos die Ängste und Heilserwartungen eines Jahrhunderts zusammenschießen, der kollektive Notstand in der Leistung eines einzelnen aufgehoben wird. Nicht umsonst fällt im Text der Name des Sankt Georg und beleuchtet die Legendenstruktur des Geschehens, wie sie so auch überall im Werk Karl Mays anzutreffen ist, exemplarisch abgebildet in der Illumination des Gottesstreiters, der vom Himmel steigt und das Ende von >Durch Wüste und Harem< zur Apotheose verklärt (eine Stelle, deren Ikonencharakter in der Sekundärliteratur bereits gebührend gewürdigt worden ist).(62) Es ist hier nicht der Ort, all den Reizwörtern der Schilderung Otto Ludwigs nachzugehen, in denen sich die Stimmung der Zeit verdichtet: Erlösung in gottferner Zeit - das konnte und kann - offenbar nur der Traum leisten, »etwas, das ein Traum wäre und doch Wirklichkeit zugleich (...) der Brand war getilgt, die Gefahr der Stadt vorüber-, sie wußten es wie in einem Traume, wo man weiß, man träumt (...)«.(63)

Womit gleichfalls die Situation des May-Lesers exakt umschrieben ist, der sich so auch unter das Publikum versetzt sieht, welches im Roman >Der Weg zum Glück< der Rettung der Professorengattin aus der Bergnot durch den Krikelanton beiwohnt. Die Architektur dieser Inszenierung ist die gleiche in der Erzeugung einer raffiniert ausgemalten Klaustrophobie, mit der das erzählerische Passagenwerk Mays häufig Panik induziert. Die Wendung ins Private, die der Rettungsakt hier vollzieht, gibt dem Auftritt des >soter<, der nach dem Muster des Orpheus, Herakles, Perseus, Sankt Georg eine Eurydike, Alkestis oder Andromeda zu retten hat, eine die Legende fast schon parodierende - operettenhafte - Wirkung. Auch hier (hat) das ganze Volk alls auf den Retter gewartet, der die Frau holen soll,weil kein Anderer (ist), der (s)ein Auge hat und (s)eine Kraft, (s)eine Ausdauer und (s)eine Knie-


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kehlen; begleitet seine gefahrvolle Anabasis, seinen Aufstieg, der Gesang eines Kirchenliedes, das brausend ... bis hinauf zu der unglücklichen Frau erklang; ... (war) jeder Gedanke jetzt ein Gebet: ... »O Gott, o Gott! Rettung, Rettung!«; sichert das Glaubensbekenntnis der >Gefallenen< - »Ich ergebe mich Gott und Dir!« hauchte sie - ihr die Hilfe jener zwei Koryphäen ..., deren Kompetenz über allen Zweifel erhaben ist.(64) Das sind nach Auskunft Old Shatterhands »Gott selbst und ich.«(65) Und so weiß sich der Leser beruhigt, denn: »Gott wird uns schützen. Ich werd schon ganz gut hinab kommen, wann Du mir nur versprichst, Dich nicht zu regen und zu bewegen, auch nicht zu schreien. Du mußt grad ebenso sein, als ob Du todt und begraben seist.« So hat Eurydike dem Orpheus zu folgen, wie eine Tote, nach der sich der Retter nicht umdrehen darf, wenn er sie nicht verlieren will. Ebensowenig ist es der Professorin erlaubt zu schreien;denn - so lautet des Herakles Gebot an Admetos nach der Rückführung der Alkestis aus dem Totenreich -:

Noch darfst du nicht vernehmen ihrer Stimme Ruf,
Bevor die Todesweihe wiederum von ihr
Genommen und das dritte Tageslicht erscheint.(66)

Wenn nun nach gelungener Rettung alle in den Choral »Da half mein Helfer mir vom Tod«(67) einstimmen, so wird deutlich, daß wir es mit einer Auferstehung vom Tode zu tun haben, die der Retter in Bewältigung einer furchtbaren Katabasis vollbringt. Der Retter: das ist der Held nicht nur in der imitatio dei; vielmehr erledigt sich der schon zitierte >Gottesbeweis< Old Shatterhandes in der suggerierten Kompatibilität von Schöpfer und Geschöpf, Führer und Erlöser, theòs anaítios, der Weg wird zum Ziel, »die Leiter hinauf«. Der kühne, unbegreifliche Aufstieg erscheint unbegreiflich freilich nun dadurch, daß nicht mehr so sicher ist, welche Ausblicke sich dort oben bieten: das Meer? jenes zwar platonisch verbürgte, aber doch recht zwielichtig gewordene »große Sein: farblos und ohne Gestalt und unangreifbar«(68) Der Traum der Anabasis ist in der Zeit des Krikelantons voller Tücke, wo die Apotheose des Menschen sich als Allegorie auf das Nichts zu enttarnen droht. Vorgeträumt hat ihn in aller Unschuld Xenophon; als Chronist und Augenzeuge der Ereignisse, gerade auch ihres metaphysischen Gehaltes, völlig sicher überliefert er eine jener Urszenen der >soteria<, Evokation der Hoffnung während der Wanderung durch das von Feinden wimmelnde Tiefland, die allen Träumen von Erlösung das Muster abgegeben hat: das >Thalatta<-Erlebnis. Ich lasse es hier folgen:


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»Als das Rufen immer mächtiger wurde, je näher sie kamen, und die jeweils Nachrückenden im Laufschritt zu den fortwährend Rufenden aufschlossen und das Rufen um soviel lauter ertönte, je größer die Zahl wurde - da schien dem Xenophon doch, es sei etwas Außerordentliches: er bestieg sein Pferd, nahm Lykios und die Reiter mit und sprengte der Kolonne entlang zu Hilfe. Und bald schon hören sie, wie die Soldaten >Das Meer! das Meer [Thalatta thalatta]!, rufen und wie das Wort von Mann zu Mann weitergegeben wird. Da nun liefen alle, auch die Nachhut, und trieben die Lasttiere und die Pferde an. Als nun alle die Höhe erreicht hatten, umarmten sie einander unter Tränen, sogar Feldherrn und Hauptleute. Und auf einmal, wohl weil jemand dazu die Losung ausgab, trugen die Soldaten Steine herbei und schichteten sie zu einem großen Haufen. Oben drauf legten sie eine Menge frischer Rindshäute, Stöcke und die erbeuteten Schilde, und der Führer zerschnitt die Schilde und forderte auch die andern dazu auf. Darauf entließen die Griechen den Führer, indem sie ihm aus der Heeresbeute Geschenke mitgaben (...)«(69)

»Die Höhe [to ákron] erreichen« ist die Losung, unter der das 19. Jahrhundert die Bühne der Geschichte bespielt, die Kräfte der >Anabasis<, des Aufstiegs, treiben die Bühnenmaschinen seiner Inszenierungen: »ein Aufwärtsfliehen, empor zum Licht«(70) gibt der Konzeptualisierung der epischen Interlinearversionen dieses heroischen Welttheaters die Richtung: von C. F. Meyer bis C. F. May. Im Regiebuch finden sich immer wieder die gleichen Eintragungen: Ergriffenheit, Tränen, Jubel, Opfer, Gesang, das >Nun danket alle Gott<, das sich entweder in Geschenken an den Führer äußert oder in der Errichtung von Denkmälern. Schon die erwähnte Xenophon-Stelle gibt davon Zeugnis. Der Schritt aber von der Phrenesie zu Idolatrie ist ein kleiner in einer Zeit, die der Argwohn der Abwesenheit Gottes plagt, wo der Held die Ängste und Wunschträume seines Publikums in die starke Geste umsetzt, deren sich dann jeder bedienen kann. »Darum rufen die Denkmäler nach dem starken Mann, daß er wiederkehre«;(71) darum jagt der Held durch die Landschaftspassagen der Erzählungen, daß er nie aufhöre zu retten: unendlich die Geschichten im Lustgefühl, das sie vermitteln, den Retter bestätigt zu sehen.

Unendliche Träume! Valéry, der meint, Traum sei alles, woraus man erwachen könne, irrt hier für einmal.(72) Aus diesen Träumen kann man nicht erwachen, an ihnen kann man nur zerbrechen. Denn diese Bühnenträume gehen nahtlos über in die politische Parusie des >soter<. Wo der Himmel, leergeräumt, nichts weiter als ein Schnürboden ist, Aufbewahrungsort für die verschiedenen weltanschaulichen Kulissen, da bedarf es nur weniger Schaltungen, die Idiomatik des privaten Marionettentheaters eines Apollonius Nettenmair oder Krikelanton in die Rhetorik der >Staatsaktion< umzusetzen. Das nimmt sich dann folgendermaßen aus: »Fromme Scheu umfängt uns, wenn wir an den Recken


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vom Sachsenwald denken; nicht als unseresgleichen bewundern wir ihn; wenn wir nicht Vater und Mutter wüßten, würden wir wie die Alten seine Zeugung einem von den Göttern zuschreiben. So stellen wir ihm halb festliche verehrende, halb Opferrauch spendende Feuerschalen neben seinen Tempel, und zwei Wächter, die den frommen Wallfahrer schützen, den Neidling fernhalten, decken den Treppenaufgang.«(73)

Auf dem Altar eines erschreckend bastardisierten Gottesbildes wird in dieser hybriden Formulierung die himmlische der patriotischen Harmonie eines neuen Zeitalters geopfert. »Ihr kann teilhaftig werden, wer das Sakrament des Vaterlandes nimmt.«(74) Austauschbar bleiben dabei die patres: ob Krikelanton oder Bismarck, das ist im Grunde nur eine Frage der Couturiers, die dort das Sagen haben, wo der metaphysische Hintergrund zu einer bemalten Wand verflacht ist; zu bemalten Prospekten dubioser Heilslehren und Ideologien unter einem von Gott verlassenen Himmel: May hat sie als Kritiker der Welt, die sich durch sein Werk vergegenständlicht, in seinen späten Romanen eindrücklich darzustellen gewußt: ... auf dem freien Platze vor dem Thore des Paradieses ... herrliche Palmen, Bäume und Sträucher ... keine wirklichen, sondern nur gemalte ... Hinter dem Thor ... nichts, aber auch gar nichts ..., was ich hätte himmlisch oder paradiesisch nennen können! Vielmehr eine unbeschreiblich kahle, öde, leblose Traurigkeit.(75)

Das demnach wäre das Ziel der Anabasis? Malereien ..., durch die mit ihnen bezweckte Täuschung die kurzsichtigen und vertrauensseligen Gläubigen anzulocken.(76) War nicht >Wahrheit< versprochen worden?

»Die göttliche Vernunft, mit Erkenntnis und reinem Wissen genährt, die Vernunft jeder Seele, so diese von dem gekostet hat, was ihr bekommt, sie sehen hier von Zeit zu Zeit wahrhaftig das Sein und sind heiter, sie schauen hier wahrhaftig die Wahrheit und werden ganz voll von ihr und frohlocken, bis sie den Kreis vollendet haben. Auf dieser Bahn da schaut die Seele die Gerechtigkeit, da schaut die Seele die Besonnenheit, hier erkennt die Seele - nicht jene Wissenschaft, die stets am Gegenstande wechselt und mit dem, was wir in der Zeit wirklich nennen, spielt, nein hier erkennt die Seele die Wissenschaft von dem, was wahrhaft und ewig da ist. Und dann erst, nachdem sie in diese Welt geblickt hat und mit der Wahrheit gespeist ward, taucht sie wieder in den Himmel unter und eilt nach Hause; der Wagenlenker führt die Pferde zur Krippe und wirft ihnen Ambrosia vor und tränkt sie mit Nektar.« (Phaidros (247d) in der mit dem >Silberlöwen IV< zeitgleich entstandenen Übersetzung von Rudolf Kassner(77))


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Die mythopoetische Kraft, die hier Sokrates wie Karl May beflügelt, erzeugt eine schöne Kongruenz in der Dramaturgie der Metaphern. Was aber sieht der mutige Rosselenker, der das Tor des Paradieses beim Baume El Dscharanil passiert hat, auf seiner Bahn? >VernunftErkenntnisReines WissenWahrheitFrohlocken< das Heulen von Schuld und Strafe. »Soll ich beschreiben, was ich sah, was ich entdeckte? Wer kann Unbeschreibliches beschreiben? May kann es nicht weniger eindrücklich als Platon/Kassner. Denn das unbeschreibliche Entsetzen löst hier die Zunge wie dort das unbeschreibliche Entzücken. Er reitet über schier endlose Gräberfelder und >schaut< statt »Gerechtigkeit« das irre Gekicher der Unduldsamkeit, statt »Besonnenheit« den Unverstand im tiefsten Stumpfsinne, statt »Wissenschaft« der Narrheit... widerliche Capriolen.(78) Dieser Gang nach oben erweist sich als Absturz durch die gemalten Pforten des Paradieses in die Unterwelt (wie ihn der >große Traum< des vierten >Silberlöwen<-Bandes beschreibt). Der Traum vom paradiesischen Glück pervertiert zum infernalischen Albtraum. Denn der Gottessucher, der als Beweis für den lebendigen Gott zwei Koryphäen von >über allem Zweifel erhabener Kompetenz< »Gott selbst und ich«(79) angeführt hat, steht dort in der erwarteten Erkenntnis Gottes nur seinem traurigen Selbst gegenüber.

»Jede Kluft und jede Höhle ist ein Götzentempel, in welcher der Bewohner sich selbst als seinen eigenen Fetisch verehrt. Er behauptet zwar, Gott anzubeten, zwingt aber diesem Gott seine eigenen Gedanken auf und setzt sich also über ihn.«(80) Für May bedeutet diese Erkenntnis wohl >Gerichtstag halten über sich selbst<. Gott selbst und ich, das deckte ja nicht mehr die Autorität Gottes ab, sondern in einem Akt der Selbstübergötterung(81) nur noch das Ich; es braucht viel Mut - Autosuggestion? -, sich von diesem Medusenanblick nicht lähmen zu lassen. Wie Nietzsche ist May im Kampf um den metaphysischen Sinn des Lebens begriffen, ein Phaethon, der bei seinem Aufstieg durch den Himmel die ewig glühende Sonne der alles verdorrenden Selbstgerechtigkeit(82) als Gottesprojektion erfährt. Der Umgang mit den Gestirnen, ein zeitloses Konzept, wenn theòs anaítios, >der Gott schweigt<. Diese Deutung gibt Platons >Dämonologie< jenen nietzschezeitlichen Horizont, vor dem die Existenz Mays die ihm eigentümlichen, zeittypischen Konturen gewinnt. Selbst wenn dieser Autor nicht im Salon der geistigen Koryphäen und Autoritäten verkehrte, denunziert der >reisende< Parvenu in seiner pikarischen Existenz doch den Hof, der sich auf das Risiko einließ, sich ihn als Astrologen zu halten, beglaubigt durch Tauchexpeditionen in Brunnenschächte der Träume, von wo aus sich der Himmel augenscheinlich besonders wirkungsvoll auf Anzeichen


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göttlicher Offenbarung durchmustern ließ. Die Zeit der Jahrhundertwende war eben auch sternensüchtig, und unter den verschiedenartigsten Sternen suchte und fand denn auch ein jeder sein >Sitara<, sein >Land der Sternenblumen<, die dürftig und künstlich ein Zeitalter erhellten, das Grund hatte, das Erscheinen der Sonne zu fürchten, dieses doppelbödig symbolträchtigen Gestirns, dessen Aufgang so schrecklich den Ausgang von Ibsens >Gespenstern< beleuchtet, wie es den Ausklang dieses Zeitalters >Im Herbst< (1914) begleiten wird.

Weit offen die Totenkammern sind
und schön bemalt vom Sonnenschein.(83)

Phaethons Aufstieg unter der Sonne der ... Selbstgerechtigkeit führt nicht zu dem ersehnten Platz an der Sonne, sondern unter das Brennglas jener »Mittagshitze der Macht«(84) an der sich die Weltenbrände unseres Jahrhunderts entzündeten.

*

Halten wir einen Augenblick inne in einem vielleicht zu redundanten Exkurs. Ich hoffe, Sie erzürnen sich nicht über diese Betrachtungsweise nach >strukturalistischem< Muster, alles mit allem quer durch die Zeiten zu vergleichen, die eine Präsenz der Bilder voraussetzt, als ob es keine Diskontinuitäten gäbe. Jedoch: im Durchforschen seiner Katakomben erschließt sich Karl Mays Gesamtwerk als ein >carmen continuum< von einer erstaunlichen Kontingenz. Schauen wir genau hin, so erweist sich auch hier das Wunderbare als Superlativ des Alltäglichen, wie umgekehrt durch manche banale Zeitungsnotiz eine archetypische Begebenheit von mythischer Würde schimmert und vielleicht darauf wartet, von >ihrem Homer< erlöst zu werden. Denn der gewaltige Tatenkatalog der Katabasen und Anabasen jenes >Weltläufers<, seine Überfülle und Serialität ist Teil einer Rhetorik der wahrhaften und lückenlosen Abbildung seelischen Geschehens und setzt sich an die Stelle der berichtenden Geschichte und ihrer Unendlichkeit selbst. Dabei wird der wörtliche Sinn zum historischen Hintersinn, der erst aus der politischen Funktion in der Öffentlichkeit erhellt. Das Krisenbewußtsein einer Endzeit sucht sich in diesen Katabasis- und Anabasisphantasien seine Bilder, entwickelt die Überlebenstechniken des Wegschauens und Abhebens, den Ekkyklemaeffekt. Und im Schürfen nach kostbarem Gestein im Untergrund, dem alabasternen Gebete(85) in »der Seelen wunderliche(m) Bergwerk«,(86) findet es seine Gambusinos in May wie in Rilke: Mineure im Terrain der Katabasen, auf »mikrokosmi-


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sche(r) Reise, die (die) Träumend(en) durch die Bereiche des eigenen Körpers mach(en)«,(87) >Wo »sie wie stille Erze als Adern durch sein Dunkel (gehen), zwischen Wurzeln das Blut (entspringt), das fortgeht zu den Menschen und schwer wie Porphyr im Dunkeln (aussieht)«,(88) diesem transitorischen Passagen-Orkus also, von dem wir ausgegangen waren, jener wirkungsmächtigen Stelle im ersten >Winnetou<-Band, die Sie so aufschlußreich kommentiert und damit zu dem >Höhenflug< der letzten Seiten Anlaß gegeben haben, in dem sich eigentlich eine >Höllenfahrt< spiegelt, die das erzählte und erschriebene Ich Karl Mays besteht, den Birs Nimrud hinab:(89) unersättlich; denn »tief ist der Brunnen der Vergangenheit« und von »unserem Senkblei, zu welcher abenteuerlichen Zeitlänge wir seine Schnur auch abspulen«,(90) nicht auszuloten, wie die in Jahrtausenden entstandenen Halden der Literatur in der Vernetzung, dem Adernsystem ihrer Bilder, durch keine Motivarchäologie zu erschöpfen - soweit diese Werke das sind, was sie lesenswert macht: Paradigmen ihrer Zeit, Reflexionen durch die Zeiten, denen entlang sich die Kunst entwickelt: in Ankorporierungen und Bezüge(n), seien sie bewußt oder unbewußt, mimetisch oder polemisch«,(91) ein Semaphoresystem ausbildend, das den in den abendländischen Erzähllandschaften Reisenden das Spurenlesen der Anagnorisis über Jahrtausende hinweg ermöglicht.

Und zwischen Wiesen sanft und voller Langmut,
erschien des einen Weges blasser Streifen
wie eine lange Bleiche hingelegt.
Und dieses einen Weges kamen sie.(92)

»(...) sehr zufrieden, daß sie auf diesen Matten verweilen konnten«,(93) auf der Wiese sich lagernd zum festlichen Seelenbiwak die Höllen- und die Himmelswanderer und zum großen Beichtpalaver, wie Großes und verschieden Beschaffenes sie erlitten und gesehen hätten auf ihrer Wanderung unter der Erde; Wiesen, Orte der Wiederbegegnung und des Sicherinnerns, der Anamnese, seelischer Trauerarbeit, wo sich die Verstorbenen ihre Geschicke offenbaren, biographische Messen lesen, Verdrängtes durch Wiedererkennen ins Bewußtsein zu heben und zur Entscheidung zu bringen.

Felsen waren da
und wesenlose Wälder, Brücken über Leeres
und jener große, graue, blinde Teich,
der über seinem fernen Grunde hing
wie Regenhimmel über einer Landschaft.(94)

Wir kennen diese Parkszenerien, Aue und Teich, begegnen ihnen an entscheidender Stelle im >Winnetou I und >Old Surehand<, dem Buch


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der Wiederbegegnungen und Abrechnungen: loca amoena, über die sich die stygischen Schatten tödlicher Erfahrung legen: der abendliche Glanz der Idylle trügt, wie immer und gerade in diesem >romantischsten< Opus Mays - voller verklausulierter Bekenntnisse -, das Zeugnis ablegt für den diesem Autor eigenen antimaterialistischen, religiös fundierten Rigorismus, in welchem noch viel barockes Erbe weiterlebt, Vorstellungen vom trügerischen Scheincharakter der verführerisch schönen oder idyllischen Welt, hinter welcher Vergänglichkeit und Tod lauern.

Immer durch Buschland reitend, kamen wir nach einer Stunde an dem erwähnten Berg vorüber, hinter welchem sich eine Höhe nach der andern aufbaute oder kulissenartig vorschob. Wir folgten dem Apatschen, uns seiner sichern Führung anvertrauend, zwischen sie hinein und kamen gegen Abend in ein breites, sanft ansteigendes Thal, aus dessen Mitte uns ein stiller Weiher entgegenglänzte, in dessen Abflusse zahllose kleine, silberhelle Fischchen spielten. Schattige Bäume standen, bald einzeln, bald in Gruppen, rings umher, und hinter dem Teiche sahen wir Steinanhäufungen, welche von weitem wie die Ruinen eines früher bewohnten Ortes erschienen. ... Es konnte kaum einen Ort geben, der sich besser zum sichern Lager eignete als dieses Camp. Wenn ich bis jetzt irgendwelche Sorge für uns gehabt hätte, sie wäre beim Anblicke dieser Stelle sofort verschwunden. Wir ritten, des weichen Bodens wegen beinahe unhörbar, einer hinter dem andern an dem Weiher hin; da hielt Winnetou, welcher voran war, plötzlich sein Pferd an, hob den Finger, um Schweigen zu gebieten, und lauschte. Wir folgten seinem Beispiele. Jenseits der Steine erklangen Töne, die in der Entfernung, in welcher wir uns befanden, allerdings nur von einem scharfen Ohre gehört werden konnten. ... Es war eine hohe männliche Bariton- oder eine sehr tiefe weibliche Altstimme, welche in Indianersprache langsam und klagend ein Lied sang. ... Es war ein Sang, der sich, dem Sänger fast unbewußt, aus der Seele löst, um ebenso ins Geheimnisvolle zu verklingen, wie er aus dem Geheimnisvollen erklungen ist.(95)

In der romantischen Ruine beschwört das klagend(e)... Lied - 1896 arbeitet Gustav Mahler an einer themenähnlichen Kantate gleichen Namens von ebenso märchenhaft melancholischer Suggestion - die Vergangenheit, deren Schatten mit dem Auftreten der Reisegesellschaft Old Shatterhands ihn - wie die Handlung lehrt - an diesem Platze bald einholen; einem Orte, als ob man sich noch heut im »Traume seiner Jugend« befinde,(96) und zugleich Ort des Todes, der Nekyia, wo »an die Stelle der Demaskierung die letzte Missetat der Maske (tritt)«.(97) Einer unter vielen in Mays >Reiseerlebnissen<.

Wie lange ich geschlafen hatte, weiß ich nicht; ein vielstimmiges Brüllen weckte mich, und als ich die Augen öffnete, geschah es nur, um einen Augenblick lang einen vor mir stehenden Menschen zu sehen, welcher mit dem Gewehrkolben ausholte. Ehe ich eine Bewegung machen konnte, traf mich der Hieb, und es war aus mit mir - -(98)


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Tödliche Spiele sind das vor den Szenerien des >Tieflands< (d'Albert), Ardistans Niederungen, die zu durchqueren die Mysterienrituale dem Helden vorschreiben, hin zu den Seen und Flüssen des Todes:

Lämminkäinen leichten Sinnes spürte, daß er schwer getroffen (...)
Doch der Blinde aus dem Nordland (...) ließ den Sohn Kalevas sinken
in den schwarzen Strom des Tuoni, in den schlimmsten Wasserwirbel (...)(99)

Doch so weit sind wir noch nicht in den Kulissen der >dark and bloody grounds<, deren symbolischen Gehalt für die Epoche als Tief- und Grenzlanderfahrungen transitorischen Charakters schon die Buchtitel Karl Mays kommentieren: Mysterienreiseführern angemessen in ihren präpositionalen Fügungen: >durch<, >am<, >im< - >Durch die Wüste<, >Am Stillen Ocean<, >Im Reiche des silbernen Löwen<; weniger punktuell Fixierendes als durativ fließend Transitorisches annoncierend, reine Mythogramme, die Obsessives verraten und in ihrer Struktur bei Autoren wiederkehren, die in ihren Erzählungen sich durch ein ähnlich heillos vertracktes seelisches Terrain zu kämpfen haben: bei Ernst Bloch zum Beispiel in direkter Anspielung auf Mays >Durch die Wüste<, bei Thomas Bernhard, diesem fanatischen Seelenarchäologen, >In der Höhe Rettungsversuch, Unsinn< oder auch >An der Baumgrenze<, bei Gerhard Roth, der das heutige Österreich einer literarischen Archäologie unterzieht auf einer >Reise in das Innere von Wien< oder am >Stille(n) Ocean<. Mays Romantitel sind magische Kürzel für eine düstere Landvermessung, in der eine acherontische Kraft wirkt, die schon im Laufe des 19. Jahrhunderts in der Chiffre >Venedig< Gestalt gewonnen hat. Venedig: ein wahrhaft numinoser Ort, den für Nietzsche »hundert tiefe Einsamkeiten bilden«,(100) für May Ort des heimlichen Terrorismus, umgeben mit Finsterniß, Mittelpunkt der Ardistanwelt aller Tieflanderlebnisse, splendeurs et misères eines alten Weib (es)..., welche sich von den Überresten ihrer einstigen Schönheit nährt ... Die »Straßen« der Stadt sind in Wahrheit »Adern«, in denen das Leben pulsirt. Aber das Blut ist nicht rein und der Puls träge. Dieser einst so schöne Leib muß mit fremden Säften ernährt werden.(101) Ortserforschung auch hier als Passage der Körpererfahrung: dorthin, wo »die Geräusche aus dem Innern des eigenen Körpers (...) Wahn oder Traumbild bereithalten«,(102) ins Sumpfland, steigt der Held nach einer Art von See hinunter, in dem eine Insel lag.(103) Eine unendlich wilde Szene tut sich auf: Diese mächtigen Urwaldbäume! Dieser schlangengleich sich windende, mir wie ein lauerndes Unglück entgegenschimmernde See.(104)

In den Landschaften schreibt sich die menschliche Erfahrung des Helden fort. »Der Heroismus (...) nimmt in der Natur eine andere morphologische Gestalt an«, bemerkt Leo Löwenthal zu C. F. Meyers


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>Jürg Jenatsch<.(105) Die Natur führt also gleichsam die Heldengeschichte weiter. Und man könnte sich kein besseres Beispiel für die Gestaltung des Kräftespieles von Katabasis und Anabasis, von Wagnis, Rettung und Scheitern, denken als diesen Roman C. F. Meyers, der es in vollendet strenger Symmetrie austariert. Dabei wachsen sich die Landschafts- und Naturbeschreibungen zu raffinierten, ausführlich orchestrierten Partituren der Gestimmtheit der Protagonisten und symbolhaft der geistigen Verfassung ihrer Zeit aus. Die Geschichte erzählt sich in der Landschafts- und Naturschilderung mit anderen Mitteln fort. Nachweisen läßt sich das bei Karl May exemplarisch in >Old Surehand< wie in >»Weihnacht!«< oder >Am Jenseits<, zu schweigen von den späten Romanen, wo die Landschaftsschilderung zum Barometer der seelischen Wetterlage des Helden wird, sozusagen - ein Terminus aus der Werbesprache charakterisiert den Sachverhalt treffend (denn wie hier das Produkt, so wird dort die Landschaft emotionalisiert) - einen >psychologischen Zusatznutzen< erbringt, der sich bald verselbständigt. Die latente Affinität zwischen C. F. Meyer und C. F. May - schon oben bemerkt - wird gerade dadurch evident, wie sich beide der Metaphern aus dem Repertoire der Landschaftsgärtnerei als eines Erklärungssystemes für die Neurosen des Fin de siècle bedienen.

»Zur Rechten des Wanderers maskierten die Berge der andern Talwand jene steile Felsentreppe, die fast plötzlich durch ein tief eingeschnittenes Tal aus der leichten Bergluft in die Hitze Italiens hinunterführt. Dort hinter der Maloja quollen, vom Südwinde heraufgejagt, die schwülen Dünste wie der Nebelrauch hervor über die feuchten Wiesen von Baselgia Maria, dessen weiße Türme hinter einem Regenschleier kaum noch sichtbar waren.«(106)

So angekündigt, verheißt das Tiefland, in das er hinabsteigen wird, um als Retter für seine Heimat zu wirken, dem Helden nichts Erfreuliches: Verzauberung durch jenen schlangengleich sich windenden, ... wie ein lauerndes Unglück entgegenschimmernde(n) See, wo in »einer Seitenlagune und gegenüber (im) Schatten der Paläste« die List sich verbirgt und nur »laut und scharf durch die nächtliche Stille schmetternd, ein Ruf« zu retten vermag: »Herzog Rohan, befreie deinen Knecht!«(107) Je tiefer der Abstieg, um so aggressiver wirkt die Diktatur des Himmels und das Joch des Sternenglaubens als >interne Tyrannis<. Nicht hier, im Sumpf, erst nach gelungenem Aufstieg unter einem »Himmel (...) von tiefer Klarheit und noch südlicher Bläue (...) umweht von kräftigen Alpenlüften der Heimat«(108), ereilt den Helden der Tod auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn, die der Rettung seines Volkes gegolten hat. Erschlagen liegt er im Schoße der Geliebten. »Als Lukretia ihrer Sinne wieder mächtig wurde, kniete sie neben der Leiche, das Haupt des


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Erschlagenen lag in ihrem Schoß. Das Gemach war leer.«(109) Es ist die Pietà-Pose, hinter der unvermittelt das mythische Szenario sich öffnet, wo sich der Schoß der Geliebten als Mandorla, Ort der Entrückung des genesenden/sterbenden/gestorbenen Helden offenbart:

den vürsten tot dâ fand er
der juncfrouwen in ihr schôz.(110)

Von Sigune bis Solvejg »verbirgt« der so Gescheiterte »das Antlitz in ihrem Schoß.«(111) Er lag in meinem Schoße, grad so, wie er gestorben war.(112) Auch Winnetous Sterben - Sie haben in Ihrem Vortrag auf diesen Sachverhalt aufmerksam gemacht - gerinnt zum Tableau der Pietà; in der Ikonographie der Initiation ist das eine zentrale Allegorie, die in der mystischen Themenverschränkung von >Transitus< und >Soteria<, Durchgang, Rückkehr und Rettung/Erlösung, die >dramatische Statusveränderung<, die Wiedergeburt im Sterben, intoniert und zu deren zeitenübergreifender Wirkung es gut paßt, daß so zeitentfernte Stellen wie die eben zitierten aus >Winnetou III< und Wolframs >Parzival< sich im >jambischen< Rhythmus so auffällig einen. Das mnemotechnische Potential dieser Allegorie eint und parallelisiert noch in mancher Beziehung, schafft sich in ihr einen Referenzrahmen zur Verbindung mystischen Geschehens quer durch die Epochen.

» Wir sind hier am Orte des Todes.
Nur ein fester Mann wird bestehen.
«(113)

»Noi siam venuti al loco ov'io t'ho detto
ogni viltà convien che qui sia morta.«(114)

»Wir sind nun an dem Ort, wo ich dir sagte,
(daß) jede Feigheit hier ertötet wird.«

Eine der nicht seltenen Stellen, wo die Todesmächtigkeit Dantes im Werke Karl Mays ihre Spuren hinterlassen hat. - Sie interpretieren den Todeskampf Old Shatterhands im ersten >Winnetou<-Band entsprechend als >Stirb und Werde<: indirekt wird in der Sterbeszene Winnetous auf diese >Wiederauferstehung< Old Shatterhands verwiesen. So, wie er jetzt in meinem Schoße lag, war einst Klekih-petra in dem seinen gestorben und dann auch seine Schwester Nscho-tschi.(115) Und so, könnte man hinzufügen, genas auch Old Shatterhand unter Wahrung des gleichen >Dekors<, spiegelt sich in der >Sterbe<-Szene Winnetous jene beider Helden Verbindung begründende >Werde<-Szene Old Shatterhands: Kurze Zeit darauf kam Nscho-tschi mit einer thönernen Schüssel und einem Löffel. Sie kniete neben meinem Lager nieder [auch das eine Pietà-Pose!] und gab mir löffelweise zu essen, wie einem Kinde [!], welches noch nicht selbstständig [!] essen kann.(116)

Auch hier der Reflex jener Urszene im mythischen Glanz des mittel-


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alterlichen Epos: von einer Eindeutigkeit, die die Transponierung in den exotischen Raum des indianischen Pueblos nur noch unterstreicht.

dâ der ritter Erec
in sô grôzem kumber lac
und sin vrouwe Enite phlac.(117)

Und so gewährt wie einem Kinde Solvejg »hoch und gütig« dem heimkehrenden, gealterten Peer Gynt, der draußen in der Welt sein besseres Selbst verloren hat, Ruhe und Sterben in ihrem Schoß. »Er klammert sich an ihr fest und verbirgt das Angesicht in ihrem Schoß. Langes Schweigen. Die Sonne geht auf.«(118) Ihr Aufgang allerdings - maligne wie der aller Sonnen dieses Dichters - läßt im Zweifel, ob er, wofür Solvejg sich »in (ihrem) Glauben, in (ihrem) Hoffen und in (ihrem) Lieben« verbürgt, im Tode gewinnen wird. Dazu stört »des Knopfgießers Stimme« zu vernehmlich den Wiegengesang der Alten.

Eine besondere Betrachtung wäre jene >Berceuse< von auffallend tückischer Banalität aus dem >Himmelsgedanken< wert, die mit ihren für das nahezu sechzigjährige Ich Old Shatterhands doch etwas sonderbaren Anmutungen >des Kindes Seligkeit< als einen Regressionstrip zur mütterlichen Brust beschreibt und sich so ausgesprochen als >Spiegelgeschichte< des Todes in der Geburt - wie sie Ilse Aichinger entworfen hat - lesen läßt, »das Sprechen zu vergessen und das Gehen zu verlernen, hilflos zu stammeln«:(119)

Ich schlafe ein an meiner Mutter Brust;
O welche Wonne, welche selge Lust!
Geht sie dereinst in Gottes Himmel ein,
Wird sie mein Engel, o mein Engel sein!
(120)

Raffinierte (?) Nutzung eingeübter poetischer Muster, »hilflos zu stammeln (...), um zuletzt in Windeln gelegt zu werden« - am Rande des Verstummens? Die Geburt der lyrischen Moderne aus der Tücke der Trivialität? - So neu wäre das nicht: »die seufzende Idee aus leerem Schminktopf aufzuputzen«(121) - nur pur Azur. Wie einem Kinde verabreicht Lernminkäinens Mutter ihrem Sohn, den sie im Totenflusse gesucht und dort zerstückelt gefunden hat, das lebenspendende Heilmittel:

Damit salbte sie den Siechen, schafft' dem Schwergeprüften Heilung, (...)
Da erstand der Mann vom Schlafe, wachte auf aus seinen Träumen, (...)
Lemminkäinens alte Mutter wiegte ihren Wohlvertrauten
In die frühern vollen Kräfte, in das altgewohnte Aussehn,
Ja, er ward ein wenig besser, schöner ward er noch als einstmals (...)(122)

Auch hier verbindet sich die Statusveränderung hin zu einem neuen, schöneren Dasein (Aussehen) mit dem Bild der Pietà, unterstreicht das >Arrangement< die >Neugeburt< vor einer düsteren Unterweltsszene-


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rie, wie sie so nur noch durch die Umstände, die zu Winnetous Tod führen, überboten wird. Er spielt sich auf dem Hintergrund einer Nekyia, eines Totenopfers, ab, das zu verhindern die Helden ausziehen und dessen paramythische oder - je nach Standpunkt - legendenhafte Strukturen offen einsehbar sind. Ziel ist zunächst wiederum die >soteria<, die Rettung, diesmal von verschleppten Siedlern, nach dem geläufigen Ritual, als da zunächst die Spurensuche und Spurendeutung zu bewältigen ist: ein Verfahren, dessen betont >hermeneutischer< Charakter die Symbolhaftigkeit des Vorganges auffällig hervorhebt. Dem Gott Hermes waren offenbar die im alten Hellas als Orientierungszeichen beliebten Steinhaufen heilig, wie aus der Etymologie seines Namens zu ersehen, der auf >hermax< oder >hermaion<, d. i. Steinhaufen, zurückführt. Er ermöglicht die Deutung nahezu unsichtbarer Spuren, wie in unserem Beispiel(123) geschildert, geleitet so die Verfolger zur Rettung wie - im Falle Winnetous - auch in den Tod: er offenbart sich also, für die Katabasen der Mysterien nicht ungewöhnlich, als >soter< und >psychopompos< zugleich. Verschiedene Stationen, >Durchgänge< sind dabei zu passieren, Gefilde, die wie das Vorfeld der Hölle anmuten, Averna, campi phlegraei, wo der Mythos in der Klimax der Schreckensbilder zu sich selbst kommt: »und nur die Höchsten, die mit uns leben, dringen bis in den Sitz des Schreckens ein. Sie wissen, daß alle diese Bilder ja nur in unserem Herzen leben, und schreiten als durch vorgestellte Spiegelungen durch sie in stolze Siegestore ein.«(124)

Die Spuren weisen zur Höhle des Berges, welchen die Weißen Hancock nennen, wo die Sioux ihre Gefangenen dem großen Geiste (opfern); dann durch >J-akom akono<, die >Prairie des Blutes< - Hier waren Tausende von unschuldigen Schlachtopfern den Tod des Pfahles, des Feuers, des Messers, des Eingrabens gestorben. - einen Ort des Grauens, der Ernst Jünger zum Vorbild von >Köppelsbleek< hätte dienen können: ... und wir ritten über diese Ebene des Fluches so unbesorgt, als ob wir uns auf dem friedlichsten Boden befänden. Unser Führer dabei konnte nur ein Winnetou sein! Schließlich der >Berg<, in dem sich die Opfer befinden, ein vulkanisches Gebilde, dessen Besteigung sich wie Dantes Gang zum Inferno ausnimmt:

Es war ein sehr beschwerlicher Weg, /»ich stieg empor durch einen wüsten Hang« /und mein Führer legte ihn mit einer Vorsicht zurück, als ob er hinter jedem Strauche einen Feind zu erwarten habe. / »Daß du mir folgest und ich sei dein Führer, der rettend durch den ew'gen Ort dich leite.«(125)

Im Lichte solcher >BergReiseerlebnis< als spontanen Ausdruck eines >BergGuide Bleu<, wie sie


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Roland Barthes apostrophiert, eine »bürgerliche Rangerhöhung des Gebirges« bewirkt und somit den »Aufstieg als Bürgertugend«(126) in einem Prüfungsritual manifest macht. Doch hier ist der >Berg< nicht nur >Natur<, sondern >Theologie<: ein Bekehrungsberg, der zum Altar von Winnetous Opfertod und seiner Bekehrung zum Christentum wird. Wie schon so oft bemerkt, erhält die >Winnetou<-Erzählung über den >conte philosophique< hinaus auch an dieser Stelle eine penetrant legendarische Struktur. Der >Berg< dient - so gesehen - als Allegorie für die Illusionen des Menschen, für die Gipfel menschlichen Strebens, die sich in entscheidenden Momenten zu Schauplätzen der >vanitas< wandeln. Der mühsame Weg hinauf wird zum Bild des Lebensweges. Auf dem Gipfel liest Winnetou zwar nicht wie seinerzeit Petrarca auf dem Mont Ventoux die >Confessiones< des Augustin, aber er wendet doch wie dieser das innere Auge auf sich: er bekehrt sich. Und so kann man sich wohl fragen, ob die Erkenntnis der Natur auch hier - wie bei Petrarca und C. F. Meyer - nicht doch eher eine Amplifikation des Ichs ist denn eine objektive Bewußtwerdung der Natur als Gegenüber. Endlich der trichterförmige, steile Abgrund eines Kraters, der offene Rachen des Todes, in den füreinander zu springen sich die Freunde an anderer Stelle versichern. Und so entscheidet sich auf der nächtlichen Katabagis in der Rettung der Gefangenen das Schicksal des Helden.

Das leise Emporklimmen war jetzt in der Finsternis viel schwieriger als vorhin, und wir brauchten länger als eine Stunde, bis wir den Rand des Kraters erreichten. Unten brannte ein mächtiges Feuer, und bei dem Scheine desselben sahen wir die Gefangenen und ihre Wächter liegen. Kein Wort, kein Laut drang herauf zu uns.(127) Es ist die Stille von >Köppelsbleek<: im Auge des Taifuns. »Die Dinge traten (...) in voller Deutlichkeit hervor, so wie im Zentrum eines Wirbelsturmes in stiller und unbewegter Luft.«(128) Erinnert sei hier an jene andere Stelle ganz identischen Musters aus dem dritten Band >Satan und Ischariot<, die den nächtlichen Abstieg ins Pueblo der Yumaindianer schildert: Wir schritten so rasch wie möglich vorwärts. ... Dennoch dauerte es über eine Stunde, ehe wir oben auf der Hochebene am Rande des Thalkessels ankamen. Winnetou führte mich zu dem Baume, an welchem die Lassos befestigt werden sollten. Unten brannte da, wo die Felsenenge in den Kessel mündete, ein großes Feuer; sonst war alles dunkel. Tiefe Stille herrschte.(129)

Und damit beginnt sie, die Katabasis der Heroen in den Schlund, hier, um sie zu überlisten, die »wilden Männer ( ... ), ganz feurig anzusehen, die (ihren Opfern) Hände und Füße und Kopf zusammenbanden«, wie Platon den ER >Politeia< (615e) aus der Unterwelt berichten


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läßt. - Das ist buchstäblich die Art, in der Santer mit dem gefangenen Winnetou verfährt.(130) Dort, am Ende dann, im »Zentrum (des) Wirbelsturmes« der Seelenzustand -, welcher sich nicht beschreiben läßt:(131) Gestalt geworden in der Schmerzensgruppe, der Pietà der Helden. Daß Sterben sich in dieser kodifizierten Körperhaltung gleichsam materialisiert, ist in der Heldendichtung nicht so singulär, wie man meinen möchte. In ihr wie in kaum einer anderen gestischen Konfiguration kommt - wie Helmuth Plessner einmal formuliert - das »hauthafte Verhältnis zu seinem Rand« als konstitutiv für das Lebewesen zum Ausdruck: so in der Sterbeszene Carpios etwa, wo die Lichterbaummetaphorik die Synonymie von Tod und Pforte in ihrem transitorischen Charakter erhellt; so in jener Szene zu Beginn des 19. Gesanges der >Ilias<, wo Thetis den Achilleus, um den Freund Patroklos trauernd, antrifft. »Fand ihren Sohn: der lag und hielt Patroklos umschlungen«, wie Rudolf Alexander Schröder »Patrókloi perikeímenon«,(132) der Situation entsprechend, sicher treffend übersetzt hat. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel liefert das >Schah Nameh< des Firdussi. In der Auseinandersetzung zwischen den Helden Rusthm und Asfendiar fallen zwei von dessen Söhnen: »Gedankenvoll ging er zu seinem Gezelte zurück und die Klage um die gefallenen Söhne schallte ihm von da aus entgegen. Ab stieg er vom Pferde, und legte das Haupt der Getödteten sich an die Brust, und weinte um sie, daß um seinen Schmerz das Herz der Umstehenden in seinem Grunde bewegt wurde.«(133)

Als eine >transitorische< quasi durch psychische Osmose definierte Konfiguration, Allegorie mythischen Ursprungs - auch so könnte man die Pietà deuten: wo sich in mystischer Form eine >translatio< des Geistes, die Weitergabe eines spirituellen Vermächtnisses vollzieht. So ist gleichfalls im >Schah Nameh< jene Vaterstellvertretung vorgegeben, die Klekih-petra an Winnetou geübt hat und sterbend Old Shatterhand überträgt.(134) Rusthm hat Asfendiar tödlich verwundet, und dieser vertraut ihm sterbend den letzten ihm verbliebenen Sohn an: »Du aber nimm diesen meinen Sohn Behmen zu dir, halte ihn wohl in Sabulisthan, lehre ihn den Krieg, die Sitte des Gelages und das Waffenspiel. Von ihm hat Dschamasp gesagt, er werde mein Andenken erhalten auf Erden, und mächtig werden vor Allen.«(135)

>Sein Andenken erhalten auf Erden, nicht vergessen werden - Mein Bruder vergesse den Apachen nicht(136) -, Unsterblichkeit im Namen gewinnen, dieses »non omnis moriar« grundiert als Basso ostinato, ein »motus animi continuus«, die Aleatorik jener unendlichen Passacaglia, als die die Nekyia die kollektive Phantasie der Menschen immer wieder zu beschäftigen scheint. Vom holistischen Standpunkt des Mythos aus


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ordnet sich entlang den Linien dieses Kräftefeldes im Chaos des literarischen Materials manches, was gemeinhin die Erkennungsmarke seiner Zusammengehörigkeit nicht unbedingt ausstellt: im Dekor arrangierter Räume eines teleologischen Erzählens unter dem gemalten Baldachin der Theodizee.

May bedient sich dazu einer Grammatik des Schreckens, der eine Sprache gehorcht, deren Stärke gerade im Fehlen jeglichen Anbiederns an die elaborierte »Poesie der ästhetischen Versöhnung«(137) liegt - womit sie eo ipso sich ihr literarästhetisches Todesurteil geschrieben hatte - und die schon gar nichts zu tun hat mit dem Dolmetsch eines verlogenen Scheins, dessen Handlanger zu sein sie - in angeblicher Ermangelung >ästhetischer< Dignität - immer wieder verdächtigt wird. Denn das Mißverständnis in der May-Rezeption der >gebildeten< Welt, soweit sie überhaupt den Spielregeln der Reflexion und nicht den Reflexen der Idiosynkrasie folgend stattgefunden hat, beruht auf einer in selbstbetrügerischer Absicht vorgenommenen Depotenzierung der Phantasie dort, wo sie das Grauen freisetzt, das dieser Erzähler kontinuierlich heraufbeschwört; »zu sentimentaler Heldenmoral, unrealistischem Gerechtigkeitsglauben und primitiver Psychologie«(138) pervertiert so >leichthändig< die List der Vernunft das in Mays moralischem Rigorismus schlummernde Mißbehagen, das erwacht, wenn in der Abfolge des >transitorischen< Geschehens Abstürze Schwindel erregen, dadurch daß Perspektiven ins Offene - trotz der petitio principii göttlicher Autorität und aller Gebundenheit auf das >soteriologische< Ziel hin - nicht Fatalismus, sondern Freiheit anmahnen, die sich des ständigen Unabgesichertseins, der Fragilität der Bedingungen bewußt ist und sich nicht erneut eine ewigwährende Ordnung vorbeten läßt. Denn - um nochmals das >Schah Nameh< als Parallele zu zitieren - obgleich der Seher Dschamasp dem Schah entgegenhält: »Über des Himmels Beschluß hinaus dringt keiner«, liegt es - wie sich am Beispiel des Schahs zeigt - in der Entscheidung des Menschen, welches Ziel er ansteuern will. »Du bist's, der das Schiff ins Wasser gelassen«,(139) läßt Asfendiar seinen Vater, den Schah, wissen, dessen Unbeugsamkeit den Tod seiner Enkel verursacht hat. Wiederum ist Bezug zu nehmen auf den platonischen theòs anaítios: in der eigenen Entscheidung liegt die Bewährung, die dem Abstieg des Helden durch die Unterwelten das Ziel weist: >Statuserhöhung<.

Um auf den ersten >Winnetou<-Band zurückzukommen, so begegnet man im dritten und vierten Kapitel - wie schon gezeigt - Begebenheiten, die sozusagen das Prüfungsprogramm des Mysten erfüllen. Zunächst die nächtliche Befreiung der >im Tartarus< Gefesselten, von


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teuflischen Gefahren Bedrohten (der Konstellation Herakles-Theseus-Pirithous etwa entspricht hier das Verhältnis Old Shatterhand - Intschu tschuna - Winnetou), dann die Opferhandlungen tödlicher Zweikämpfe an Schauplätzen von symbolhaltiger >Topik<, einer Syntax emotionalisierter landschaftlicher >modi loquendi<: Ebenen, Halbinseln, Flußufern; darauf das Durchwandern des Todes in Form einer tödlichen Verwundung und endlich das >Anabasis<- und >Thalatta<-Erlebnis, wie es die von Ihnen interpretierte Stelle offenbart: >Ordination des Soter<. Diese verbindet sich mit einem neuen Ich und einem neuen Namen. Das >Greenhorn< hat sich den Kriegsnamen Old Shatterhand >erdient<. Ein tibetischer Schüler, den ich vor einiger Zeit zu betreuen hatte, wies mich darauf hin, daß der Tibeter nach Überstehen einer schweren Krankheit einen neuen Namen anzunehmen pflegt.(140) Und mit dem neuen Namen ist die alte Unsterblichkeitssehnsucht verbunden: »Bleibe mein Name, dann mag der Leib dem Tode heimfallen.«(141) Auch darum geht es in den Katabasen: sich überhaupt erst einen Namen machen oder einen neuen Namen gewinnen; denn durch den Tod hindurch zeigt der Name an, daß Neues entsteht - >Stirb und Werde<.

Im Sinne einer Perpetuierung des Mysterienritus wirkt auch die hektische Addition der katastrophischen Episoden - daß die Diele sich um ihre Achse schnellt(142) - in Mays Erzählen >Welt setzend< als >transitorisches< magisches Ritual, das unermüdlich den Absturz ins Nichts inszeniert, um dem Arrangeur dieser Abstürze das Hochgefühl seiner Autonomie zu vermitteln: eine Zwanghaftigkeit, die Mays schriftstellerische Existenz auffällig in die Nähe der manischen Überredungskunststücke Thomas Bernhards rückt. - Ich komme noch darauf zurück, hoffe indes deutlich gemacht zu haben, warum für die persönliche Biographie Karl Mays wie für seine literarisch fiktive als Paradigmen der Pathologien seines Zeitalters jener Vers aus der >Aeneis<, den Sigmund Freud 1900 seiner >Traumdeutung< vorangestellt hat, das Motto abgeben kann: »flectere si nequeo superos, Acheronta movebo« (VII, 312) - >Schweigt der Himmel, mach ich die Hölle reden<. Wie vielleicht deutlich geworden ist, tut das Karl May ausführlich auf subterranen Schauplätzen, durch >Tunnel< hindurch und >Untergrundbahnschächte<; die taghellen Stationen der >Erlösung< sind ihm nur ein kurzes Atemholen, um weiterschwimmend wieder hinabzutauchen in die acherontische Flut. Katabasis ist das Gebot dieses Daseins, und die nächtliche Befreiungsfahrt, eine von unzähligen, über das >Saskuan-kui<, das >Blaue Wasser<, zum Insel-Bagno des Old Surehand ist eine Operation >Aeneas<, eine Expedition mit all ihren Bedrohungen unter malignem


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Mond zu den Göttern der Unterwelt oder dem Friedhof der Micmac-Indianer. Offenbar wirkt hier das gleiche Saitenspiel des Schreckens, das über Jahrtausende hin in uns zum Klingen kommt und schon in der menschlichen Frühzeit eine kathartische Wirkung ausübt, indem der Mensch das Entsetzen in Erzähltes zu übersetzen und so gleichsam als sein >interpres< sich von ihm zu befreien lernt. Walter Burkert ist die anregende Bemerkung zu verdanken, daß in Beichte und Aretalogie der Mysterien die Wurzeln des Romanes liegen könnten(143) - als Zähmung des Schreckens durch Erzählen, als sich am Leben Halten durch Erzählen, Existenzanalyse und Existenzbewältigung >am Schreibtisch<, wie sie sich in der neurasthenischen Autobiographik von Karl Philipp Moritz bis Thomas Bernhard zu Wort meldet.

Was das Überleben in Todesszenarien angeht, verbindet den Letztgenannten mit Karl May mehr als nur eine konstruierte Verwandtschaft um der Pointe willen. Bernhards schriftstellerisches Fazit »Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben« erhellt in der Umkehrung die Wahlverwandtschaft zu May: >Ein Leben wie meines ist nur verstümmelte Kunst< mit all den Hypotheken einer Nachtexistenz. >Der Kulterer< in Bernhards gleichnamiger Erzählung ist eine solche Existenz, ein Gefängnisinsasse, der sich schreibend durch die Nächte seiner Haft rettet, schreibend sich seines Lebens vergewissert.

»Er führte ein in sich selbst eingeschlossenes und von seinen Mithäftlingen völlig unbeachtetes Dasein und vertrieb sich die freie Zeit (...) mit dem Aufschreiben von Einfällen (...), die ihn beinahe ununterbrochen beschäftigten. Aus Langweile, und weil er sonst hätte verzweifeln müssen, las er sich oft von ihm selbst erdachte und aufgeschriebene kürzere Geschichten und Erzählungen vor (...). Meistens fielen ihm diese Geschichten in der Nacht ein, und er mußte, um sie nicht zu verlieren, in der Finsternis aufstehen und sich, während seine Zellengenossen schliefen, an den Tisch setzen und in eben dieser >furchtbaren Finsternis<, das, was ihm eingefallen war, notieren (...) es kam ihm, wie andern die Träume kommen, und es war ihm auch so zerbrechlich wie Träume.«(144)

Diese Schilderung erinnert nicht nur in Motiv, Thema und Variationen an Karl May, dessen Bild die Szene wie eine Photomontage aus der Vergangenheit uns gegenwärtig macht, sondern führt, den Darstellungen von Todeserfahrung beider Autoren unterlegt, zu überraschenden Koinzidenzen: etwa wenn man folgenden Abschnitt aus Bernhards autobiographischer Erzählung >Der Atem< auf dem Hintergrund der >Auferstehung< Old Shatterhands aus dem ersten >Winnetou<-Band liest.(145)

»Ich versuchte mich an den Schatten und den Geräuschen zu orientieren, aber alles blieb dunkel und unklar. Manchmal schien es, als hätte jemand etwas zu mir gesagt (...) Die Gegenstände waren undeutlich, schließlich überhaupt nicht


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mehr erkennbar gewesen, die Stimmen hatten sich entfernt. Es war Tag, es war Nacht, immer der gleiche Zustand (...). Keine Bewegung mehr, nichts mehr. Mein Bett wird auf Räder gehoben und durch den Krankensaal geschoben, hinaus auf den Gang, durch eine Tür, so weit, daß es an ein anderes anstößt. Ich bin im Badezimmer. Ich weiß, was das bedeutet. Jede halbe Stunde kommt eine Schwester herein und (...) hebt, wie wenn sie jetzt auf meinen Tod wartet, meine Hand auf (...) Jetzt will ich leben (...) Ich wollte leben, alles andere bedeutete nichts (...) Von zwei möglichen Wegen hatte ich mich in dieser Nacht in dem entscheidenden Augenblick für den des Lebens entschieden. Unsinnig darüber nachzudenken, ob diese Entscheidung falsch oder richtig gewesen ist (...) Ich bestimmte, welchen der beiden möglichen Wege ich zu gehen hatte. Der Weg in den Tod wäre leicht gewesen. Genauso hat der Lebensweg den Vorteil der Selbstbestimmung. Ich habe nicht alles verloren, mir ist alles geblieben. Daran denke ich, will ich weiter. Gegen Abend hatte ich zum erstenmal einen Menschen erkannt, meinen Großvater. Er hatte sich neben mir auf einen Sessel gesetzt und meine Hand festgehalten. Jetzt war ich mir sicher. Jetzt mußte es aufwärts gehen.«(146)

Untersucht man diese Passage auf vergleichbare Züge mit der Szene aus >Winnetou I<, so ergibt sich der Eindruck einer Amplifikation des Mayschen Textes mit allen ihn kennzeichnenden mythisch-traumhaften Bezügen: Hades (Schattenwelt) - Peripetie (heroischer Entschluß) - Auferstehung. Die Übereinstimmung geht bis in das Zitat der Pietà-Pose und den durch sie verheißenen Aufstieg - »Jetzt mußte es aufwärts gehen« - durch das >Ich< und gegen den Gott, so er hier überhaupt noch mitgedacht wird, der theòs anaítios. Zwar dominiert auch bei Bernhard das transitorische Element, der Durchgang durch den Tod. Der Tod ist Kommunikationsschema und Kommunikationsproblem, und hier wie auch anderweitig in seinem Werk ist zu beobachten, daß der Autor immer wieder das >Ich<, das der Augenblick der Entscheidung erst recht eigentlich konstituiert, in jene Bodenlosigkeit zurückstößt, die einen neuen Entschluß erforderlich macht. Von >soteria< kann dabei jedoch nur insofern die Rede sein, als daß das >Ich< sich über seinen dezisionistischen Standpunkt keine Illusionen macht, daß nicht der Inhalt den Sinn des Geschriebenen verbürgt, sondern der Akt des Schreibens. Rettung, wenn überhaupt, wird sich auf dunklen Wegen erschrieben, und Licht spendet immer nur der nächste Satz. Auch darin ergibt sich eine enge Beziehung zu May, daß Schreiben, wie das Leben, stets offen als unabschließbarer Prozeß begriffen wird, als permanente Selbstvergewisserung: opera aperta. Heilung wird nie erreicht in dieser Monotonie des Katastrophischen: es könnte unendlich so weitergehen, wie es geht. In der Offenheit der Erzählstrukturen bildet sich eine beiden Autoren eigene Grundstimmung ab, ein in der Ur-Verwerfung der Kindheit gründendes zutiefst Verletzt-Sein: hier ist


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das Stellwerk situiert, das die vielfältigen Fahrten auf den Todesschienen - »Was kommen wird, ist schon auf dem Bahndamm« - >in die Höhe< lenkt, zu letzten Orten, die alle in eine überdehnte Vertikale eingespannt sind und wo »schlechte Luft (...) selbst die in die Berge Geflüchteten (tötet)«.(147) Von hier aus werden die Stauwerke und Schleusen dieses Phlegeton reguliert: Redefluten einer katarakthaften Erzählwut, die sich einer Stilistik der unkontrollierten, verschlingenden Mündlichkeit bedient bis hin zum Vulkanismus der Radotage. Es schreibt sich, damit der Autor i s t: zwischen Himmel und Erde, >in der Höhe<, auf der Suche nach Befriedung in der Heimat, deren Hypostyla seit je am besten in dünner Luft gedeihen: »plötzlich kommt es zum Ausbruch, streift den Körper ab und das Blut und läßt beide hinter sich mit rasender Geschwindigkeit«.(148)

So muß es wohl sein, wenn einer als >Saltimbanque< des Wortes antritt - wir es mit fahrendem Volk aus dem poetischen Hippodrom zu tun haben, dessen Stil - an sich schon suspekt in seiner Lärmigkeit -häufig in seinen hypertrophen Entgleisungen, seinen bürokratischen Floskeln, dem protokollhaften Gebaren ratlos läßt, ob hier Ironie, rhetorische Provokation oder schiere Formulierungshilflosigkeit sich als Chuzpe gebärdet; stilistische Eulenspiegeleien der Verzweiflung, wobei May immerhin die consecutio temporum und den Konjunktiv beherrscht - bei Bernhard weiß man das nie so genau. Wenn einer schon Beckmesser sein wollte, so sei er im Schreiben beider Autoren auf die Grammatik des Spurenlesens verwiesen, wo es in der Tat angezeigt ist, kein zufällig abgestreiftes Blatt, keinen geknickten Ast zu übersehen: denn überall läuft der Tod mit, finden sich Verrätselungen existentieller Grenzüberschreitung, >hermeia<, die in den Llanos estakados zum Weiterleben überreden, wo die Wege nicht der Anabasis gehorchen, sondern in ein Kreisen um Erlösung münden gleich jenem in der Jacinto-Prärie, die Passagiere verunsichernd, was im Zentrum von dem sein könnte, das mehr und mehr den Sog eines Malstroms ausübt. Transitorisch ist beider Werk; das Mays als prophylaktischer Schöpfungsakt aus Angst, der das Nichts fernhält; im Schaffen Bernhards wird dieses Nichts ins Auge gefaßt, bedeutet jeder Satz das Hinausbauen eines Brückenbogens, dessen jenseitige Stützung nirgends zu orten ist: die Regeln seiner Statik bleiben in »furchtbarer Finsternis« - offener Brückenbau: ziellos.

*


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Fassen wir zusammen: >Nekyia und Anabasis< dominieren das Gesamtwerk Karl Mays in einer Weise, daß es sich als >Fall<-Studie lesen läßt. Die Totalisierung von Aufstieg und Fall nutzt eine der fundamentalen Tropen in Mays Dichtung. Sie verbürgt eine Übereinstimmung von Aussage und Lexis, zwischen dem, was gesagt wird, und der Art und Weise des Sagens, die diesem Werk eine eigenartige und bemerkenswert hermetische Geschlossenheit verleiht. Allenthalben ist sie darin gegenwärtig: hängt das >Ich< in Umsetzung der >Selbstbiographie<, sei es in >Kurdistan< oder >in den Cordilleren<, über der grausigen Tiefe ... mit einer Hand über dem Abgrunde und schwebt wie ein Pendel ...(149) Schon in dieser Reiseerzählung aus Mays mittlerer Schaffensperiode gerinnt die Handlung an entscheidender Stelle zum religionsphilosophischen Tableau chiliastischer Tönung. Und auch was die Stuttgarter Redaktion des Union-Verlages - einzig im Falle des >Ölprinzen< - als >Erzählung für die reifere Jugend< qualifiziert, ist in dieser Beziehung alles andere als harmlos. Ein bestürzendes Bild Mayscher Eschatologie - man könnte sagen, kapitalistisch ausgewiesen - bietet die Schlußpassage der Erzählung >Der Schatz im Silbersee<: gewiß eine Endzeitparabel. Alle Requisiten des >Katabasis<-Syndroms sind hier versammelt, und die >acherontischen< Fluten des Sees werden in einer Art Sintflut-Szenarium eingesetzt, wie May es bei Gustave Doré gestaltet vorgefunden haben mag:

Das »lange Ohr« stieg, mit einer Fackel in der Hand, voran. Noch hatte er die oberste Stufe dieses Geschosses nicht erreicht, so hörte er unter sich einen Schrei, welchem die Angstrufe von vielen Lippen folgten. Er blieb stehen und sah zurück. Was er erblickte, war ganz geeignet, ihn mit Entsetzen zu erfüllen. Aus dem Gange, in welchem sich noch viele, viele Utahs befanden, drang, so breit und hoch er war, das Wasser herein. Die Fackeln warfen ihre Lichtstreifen auf die dunkle, gurgelnde Flut, welche schon halb manneshoch stand und mit entsetzlicher Schnelligkeit nach oben stieg. Diejenigen, welche sich noch im Gange befunden hatten, waren verloren; das Wasser hatte sie sofort erstickt. Und die, welche noch auf den Stufen standen, waren ebenso verloren. Sie drängelten vorwärts; jeder wollte sich nach oben retten; einer riß den andern fort. Man warf die Fackeln von sich, um sich mit beiden Händen verteidigen zu können. So kam es, daß es keinem gelang, auf den Stufen Fuß zu fassen. Dabei wuchs die Flut so schnell, daß sie eine Minute, nachdem der erste Schrei erschollen war, den Roten schon bis an die Hälse reichte. Sie wurden von ihr gehoben; sie schwammen; sie kämpften gegen den Tod und gegeneinander - vergeblich.(151)

Parabel einer selbstzerstörerischen Anabasis auf dem Hintergrund der Nekyia. Man lese nur genau: Zeile für Zeile bietet der Text und sein Kontext jene >Titanic<-Metapher, in der ein homo faber als vermeintlicher Gebieter über die Natur zu seinem eigenen Demiurgen und letzten Endes zu seinem eigenen Vernichter wird: Jules Verne - gegen den


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Strich gelesen. »Schweig, schweig, sonst enthüllst du alles, alles!« rief der »große Bär« erschrocken. »Sprechen wir nicht von dem Schatz, sondern nur von dem Damm. Ja, ich kann ihn öffnen,- ich kann tausend und mehr Utahs ersäufen, wenn sie sich im Cahon befinden. Soll ich es tun, wenn sie kommen?«

Allmachtsphantasien - auch sie ein Ausdruck der gründerzeitlichen Epoche. Und im Gegenzug dazu eine Regie der Rettung. Sie stellt immer wieder ähnliche Kulissen bereit, in denen die Handlung hauptsächlich dem Liebeserwerb dient: >Lohengrin<-Situationen, die die Protagonisten in diesem unsicheren Gelände allein in der Liebe einen Halt finden lassen. Wie sehr zum Beispiel die erwähnte >Cordilleren<-Episode als eine Allegorie auf den Geist der Zeit gelesen werden kann und muß, erhellt aus dem Blickwinkel der Philosophie Ludwig Feuerbachs: nämlich als eine Verlusterklärung des Jenseits und als seine Transponierung ins Diesseits, wo der zu seinem eigenen Gott gewordene Mensch einen Existenzsinn nur zu gewinnen vermag im Erwerb der Liebe. Die Sinnkrise des 19. Jahrhunderts, die Feuerbachs >Wesen des Christentums< eindrücklich manifestiert, erhält ihre Verbildlichung in vielen Szenen aus Mays Werk, die zwischen Himmel und Erde(152) spielen, wo der sichere Grund unter den Akteuren hinwegbröckelt, wo das einzige Fundament durch die Liebe anderer und in der Liebe zu anderen erwächst, um sich in ihrer Verklärung, die May eifernd betreibt, als >Damm(153) vermissen läßt.

Mays Umgang mit den Metaphern des Schreckens seiner Zeit veranschaulicht, daß sein Werk mehr ist als nur Produkt des Eskapismus. >Fluchtlandschaften< wohl, aber nirgends gelingt das Entkommen; vielmehr ereilt den Autor das Schicksal des Hasen im Wettkampf mit dem Igel. Das Entsetzen ruft an allen >Enden< sein »Ick bün al hier«. Auch darin verbirgt sich eine Form des Mythos von Sisyphos; immer wieder werden Felsblöcke gewälzt, Dämme gegen das Entsetzen zu errichten.


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Daher in dieser schatzbesessenen Zeit: »Sprechen wir nicht von dem Schatz, sondern nur von dem Damm.« Ununterbrochen wird in Mays Werk davon gesprochen; nirgends eine Situation, wo nicht das religiöse Unterbewußtsein seiner Zeit in all seiner Gebrochenheit mitschreibt, die religiöse Affirmation immer wieder in Bilder des Nihilismus umschlägt und all die Münchhausiaden als Exerzitien der Verzweiflung ausweist: am Anfang, am Ende, in der Mitte dieses >wunderlichen<, in ursprünglicher Bedeutung des Wortes >paradoxen< Mysterienkosmos: >Wanda<, >Winnetou IV<, >Old Surehand<, dessen allegorisch heilsgeschichtlichen Charakter zu erkennen es nicht der überanstrengten Exegese bedarf. Zwar nimmt der Leser im allgemeinen zunächst diesen allegorischen Hintergrund kaum wahr, sondern erliegt der Verzauberung durch den Mystagogen. Ohne diese freilich wären die Allegorien Karl Mays in ihrer durchgehend manichäischen Struktur - wie Vladimir Nabokov mit Blick auf Stevensons Novelle >Dr. Jekyll und Mr. Hyde< registriert - »geschmacklose und kindische« Lehrstücke. Daß sie es nicht sind, verdanken sie den Sous-entendus, welche aus dem Untergrund der Katabasen in den menschlichen Beziehungen, vornehmlich zwischen dem >Ich< und dem Leser, mitschwingen und, was vordergründig sich als pädagogisch aufgeputzte Attitüde eines Abenteuertourismus von semidokumentarischem Gestus geriert, unmerklich ins Phantastische verzaubern, wo weniger psychologische Details oder das Dekor eines baedekerhaften Realismus interessieren als die Erfüllung von Sehnsüchten und die Bändigung von Ängsten, die der Zauberer-Mystagoge auf seinem Abstieg in die Unterwelt in Phantastik umsetzt. Als reine Allegorien blicken uns diese Erzählungen mit den glanzlosen Augen der Banalität an. »Nur wenn wir sie in einem phantastischen Licht sehen, kommt es zu einer Verzauberung; geht aber der Zauberer davon, so daß lediglich der Geschichtenerzähler und der Lehrer zurückbleiben, ist das keine sehr anregende Gesellschaft.«(154) (Das sollte beherzigen, wer noch heute in der Nachfolge Wolgasts vom >Elend unserer Jugendliteratur< räsoniert.)

Fazit also: Mays Schreiben ist allenthalben existentielles Palimpsest, in dem die Phantastik die Allegorie durch Verzauberung zum Leuchten bringt; es trägt die Handschrift des Mystagogen. Sie zu entziffern, bedarf es allerdings der »sehenden Augen«, von denen Nietzsche spricht, des Zusammenspiels von äußerem und innerem, geistigem Auge, das dem >ersten Blick< eignet. Dieser >erste Blick< führt über die Brücken der Verzauberung von den sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten des Werkes auf ihren Sinngehalt; er macht, daß aus dem bloßen >Sehen< ein Staunen wird. Ihr Essay, sehr geehrter Herr Professor, in


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dem eine von Intuition gesteuerte Überzeugungskraft am >Stirb und Werde<-Motiv vermittelt, was am >Winnetou I, was an Mays Werk überhaupt staunen machen muß, verdient den dankbaren Leser. Als solcher grüßt sie herzlichst

Ihr Jürgen Hahn



1 Heinz Stolte: »Stirb und werde!« Existentielle Grenzsituation als episches Motiv bei Karl May. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1990. Husum 1990, S. 51-70 (zum Titel des vorliegenden Beitrages: Nekyia (griech.): Totenopfer, Totenbeschwichtigung; Anabasis (griech.): Aufstieg)

2 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe Band 4. München 1980,S.88

3 Jean Paulhan: La vie est pleine de choses redoutables. Textes autobiographiques. Paris 1989, S. 198ff. - Vgl. besonders S. 218 die schöne Metapher, die Sprache als im Dunkeln ruhenden Körper beschreibt, dessen wechselnde Profile die - unterschiedlich freigesetzte - Energie sprachlicher Akte ausleuchtet: »( ... ) ces parties éclairées du langage (...) ces lignes en pleine lumiére sont les courbes apparentes d'un grand corps obscur.«

4 Thomas von Aquin: Über das Sein und das Wesen. Darmstadt 1991, S. 119

5 Roland Barthes: Die Lust am Text. Frankfurt a. M. 1974, S. 94

6 Stolte, wie Anm. 1, S. 68

7 Ebd., S. 64

8 Barthes, wie Anm. 5, S. 63

9 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Band V, 2. Das Passagen-Werk. Frankfurt a. M. 1982, S. 1010

10 Dante Alighieri: Vita nuova. Frankfurt a. M. 1964, S. 152

11 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893, S. 300

12 Dante, wie Anm. 10

13 May: Winnetou I, wie Anm. 11, S. 295f.

14 Benjamin, wie Anm. 9

15 Ebd.

16 Joseph Conrad: Youth and two other stories. London 1925, S. 151; deutsch: Jugend, Herz der Finsternis. Das Ende vom Lied. Frankfurt a. M. 1968, S. 179

17 Arthur Rimbaud: Seher-Briefe. Mainz 1990, S. 39

18 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902, S. 83

19 Vgl.: Jürgen Hahn: Sprache als Inhalt. Zur Phänomenologie des >alabasternen Stiles< in Karl Mays Roman >Im Reiche des silbernen Löwen<. In: Karl Mays >Im Reiche des silbernen Löwen<. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Paderborn 1993, S.231.

20 Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. Stuttgart 1985, S. 141

21 Ebd., S. 109

22 May: Winnetou I, wie Anm. 11, S. 219, 290f.

23 Vgl. Felix Philipp Ingold: Literatur und Aviatik. Europäische Flugdichtung 1909-1927. Frankfurt a. M. 1980. Siehe bereits Dieter Sudhoff: Der beflügelte Mensch. Traumflug, Aviatik und Höhenflug bei Karl May. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 110-154.

24 Vgl. z. B. Erwin Rohde: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Freiburg i. B. und Leipzig 1894; Richard Reitzenstein: Die hellenistischen Mysterienreligionen nach ihren Grundgedanken und Wirkungen. Leipzig 1927; Walter Burkert: Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt. München 1990.

25 Walter Burkert: Vom Mythos zum Volksmärchen. Der griechische Nachtigallen-Mythos und das Märchen >Von dem Machandelboom<. In: Der Landbote Nr. 18. Winterthur 1983, S. 22


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26 May: Im Reiche des silbernen Löwen III, wie Anm. 18, S. 79 und S. 83

27 Ebd., S. 79f. - Dort zum Befund einer opiatbewirkten Ataraxie: Ich kann nicht sagen, daß ich über diese Entdeckung erschrak. Selbst wenn ich ein schreckhafter Mensch wäre, so würde der Zustand der Betäubung, dem ich mich doch noch nicht ganz entrungen hatte, eine so energische Regung, wie der Schreck ist, gar nicht zugelassen haben. Ausdrücklich dann das Motiv des verzaubernden Trankes: Der erste (Gedanke) war, daß wir in dem Kaffee Opium oder etwas dem Aehnliches getrunken hatten.

28 Vergil: Aeneis VI, 270/72. In der Übersetzung von Johannes Götte. München 1965, S.237

29 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXII: Satan und Ischariot III. Freiburg 1897, S.271

30 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894, S. 411f.

31 Karl May: Der schwarze Mustang. Stuttgart u. a. 1899, S. 1 (Kamerad-Bibliothek 1)

32 Vergil: Aeneis VI, 268. Vgl. Anm. 28.

33 Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1973, S. 171. »Aber auch technisch ist vieles vortrefflich (ohne >aufzuwachen<, ohne aus Kolportage erwachsene Literatur zu werden). (...) Die Exposition des >Rio de la Plata<: (...) Überhaupt das schluchtig oder gassenhaft Unheimliche, Basarhafte ist ein Neues, das Karl May in die Indianergeschichte gebracht hat (...)«

34 Günter Kunert, zit. in: Christine Wolter: Versuch über Reiseliteratur. Kennst du das Land, wo ... In: Neue Zürcher Zeitung. 213. Jg., Nr. 231, S. 19

35 Vergil: Aeneis VI, 259f. Vgl. Anm. 28.

36 Conrad: wie Anm. 16, S. 142

37 Henrik Ibsen: Hedda Gabler. In: Ibsen: Sämtliche Werke. Band V. Berlin 1910, S.166

38 Thomas Mann: Der Tod in Venedig. Berlin 1913, S. 14

39 Stephen King: Pet Sematary. London 1985, S. 81

40 Nietzsche: Sämtliche Werke. Band 4, wie Anm. 2, S. 357

41 Stephen King: Friedhof der Kuscheltiere. München 1988, S. 222f.

42 Ebd., S. 403 und S. 93

43 Jochen Klepper: Kyrie. Geistliche Lieder. Berlin 1938, S. 15

44 May: Old Surehand I, wie Anm. 30, S. 411f. (hier auch die folgenden Zitate)

45 Nietzsche: Sämtliche Werke, Band 4, wie Anm. 2

46 Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und Deutsch. Vierter Band. Hrsg. von Günther Eigler. Darmstadt 1971, S. 865

47 Übersetzt man aitía mit >Ursache<, >Verursachung<, >Urkraft<, >schöpferischer Grund<, ja - was gleichfalls ausgewiesen ist - mit >Begründer<, aitios mit >verantwortlich für<, anaítios gemäß Liddel & Scott mit >not being the fault or cause of a thing<, >uncaused<, >without a cause<, >having no cause<, >unjustifiable<, also in einem mit >nicht Veranlassung oder Begründung gebend<, dann enthält diese Aussage einen unkontrollierten Sprengsatz im sorgfältig verminten Terrain platonischer rationaler Gottesvorstellung. Dann heißt theòs anaítios: Gott ist nicht ursächlich, begründend, verantwortlich, kurz: >Gott ist wirkungslos, ohnmächtig<.

48 Josef Hofmiller: Letzte Versuche. Zürich 1934, S. 70

49 Gérard de Nerval: Aurelia. Frankfurt a. M. 1961, S. 7

50 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892; ... die Massen eines flüssigen, beweglichen Sandes, welcher unter der fünfzig bis achtzig Centimeter tiefen, hellgrünen Wasserschicht schwimmt (S. 35), ... de(r) Sumpf des Todes ..., de(r) Ort des Verderbens, das Meer des Schweigens, über welches ich dich hinwegführen werde mit sicherem Schritte (S. 41), die tückischen Flächen des Schott Dscherid, unter denen der Tod lauert (S. 35), können als literarische Spiegelungen des »Schwemmsandes« der Unterwelt von Paris erfahren werden, »de(s) beängstigende(n) Bereich(s) (...), worin der Mensch nicht schreiten und der Fisch nicht schwimmen kann« (Victor Hugo: Die Elenden. Bd. III. Berlin 1987, S. 135) und in den Jean Valjean - »auch er trägt sein Kreuz« (S. 131, »lui aussi porte sa croix« [Hugo: Les Misérables. IX. Bruxelles 1862, S. 335]) - hinabsteigt, um den sterbenden Marius zu


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retten. Ob nun Karl May diese Szene gekannt hat oder nicht, in den literarischen Passagenkomplexen des 19. Jahrhunderts schafft sich der Zeitgeist Spiegelgalerien identischer existentieller und sozialer Metaphern: Zeitalter des »Schiffbruchs« im Zeichen von Géricaults Jahrhundertallegorie >Floß der Medusa<. »Manchmal versinkt der Reiter mit dem Pferd, manchmal der Kärrner mit dem Karren; alles geht in dem Flugsand unter. Es ist ein Schiffbruch anderswo als im Wasser. Es ist die Erde, die den Menschen ertränkt. Die vom Ozean durchdrungene Erde wird zur Falle. Sie täuscht eine Ebene vor und öffnet sich wie eine Woge. So verräterisch ist der Abgrund« (Hugo, S. 136; vgl. May, S. 35f.), dem Kara Ben Nemsi nur durch »une finesse qui est perfidie« (Hugo, S. 345), eine Volte, einen Augenblick, während dessen ich durch die Luft flog, (May, S. 47) entkommt, deren tiefengeschärfte Symbolik den theologischen Gehalt der Szene parodistisch denunziert: Rettung durch den Purzelbaum. - Das folgende Zitat: ebd., S. 43.

51 Ebd., S. 45. - Man vergleiche zum Mysteriencharakter dieser Szene auch: Hier war der Führer Herr und Meister ... (S. 45) oder: wenn man zwischen Leben und Tod hindurchfliegt, giebt es keine Worte und keine Zeit zu messen. (S. 47)

52 Francesco Petrarca: Aus dem Canzoniere. Deutsch von Karlheinz Stierle. München 1990, S. 66f.

53 George Steiner: Von realer Gegenwart. München 1990, S. 24

54 Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt a. M. 1964, S. 163

55 Henrik Ibsen: Gespenster. In: Sämtliche Werke. Vierter Band. Berlin 1910, S. 167

56 May: Im Reiche des silbernen Löwen III, wie Anm. 18, S. 79

57 Ibsen: Hedda Gabler, wie Anm. 37

58 Theodor Mommsen: Römische Geschichte. >Die Consolidirung der Monarchie<. Archiv der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Ost). Nachlaß Mommsen 47, 1, S. 6ff.

59 Fedor Mamroth. In: Frankfurter Zeitung Nr. 166/1. Morgenblatt 17. Juni 1899. Abgedruckt in: Hansotto Hatzig: Mamroth gegen May. Der Angriff der >Frankfurter Zeitung<. In: Jb-KMG 1974. Hamburg 1973, S. 122 - hier auch das folgende Zitat

60 Karl May: Wanda. In: Der Beobachter an der Elbe: 2. Jg. (1874/75), S. 414; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1974 - hier auch die folgenden May-Zitate

61 Otto Ludwig: Zwischen Himmel und Erde. In: Romane und Romanstudien. München 1977, S. 522 - hier auch die folgenden Ludwig-Zitate

62 Gunther G. Sehm: Der Erwählte. Die Erzählstrukturen in Karl Mays >Winnetou<-Trilogie. In: Jb-KMG 1976. Hamburg 1976, S. 22f.

63 Ludwig, wie Anm. 61, S. 522

64 Karl May: Der Weg zum Glück. Dresden 1886-87, S. 84, S. 90, S. 92, S. 94; Reprint Hildesheim-New York 1971

65 May: Old Surehand I, wie Anm. 30, S. 409

66 Euripides: Alkestis. In: Sämtliche Tragödien, Bd. I. Stuttgart 1958, S. 45; Vers 1144/46

67 May: Der Weg zum Glück, wie Anm. 64, S. 96; das folgende Zitat ebd., S. 90

68 Platon: Phaidros. Ins Deutsche übertragen von Rudolf Kassner. Jena 41920, S. 38

69 Xenophon: Anabasis. München 1990, S. 249; IV, 7,23-27

70 Conrad Ferdinand Meyer: Huttens letzte Tage (LX). Zitiert nach der handschriftlichen Fassung. In: David A. Jackson: Conrad Ferdinand Meyer. Hamburg 1975, S.69

71 Dirk Reinartz/Christian Graf von Krockow: Bismarck. Vom Verrat der Denkmäler. Göttingen 1991, S. 39

72 Vgl. Paul Valéry: Cahiers/Hefte. Bd. 4. Hrsg. von Hartmut Köhler und Jürgen Schmidt-Radefeldt. Frankfurt a. M. 1990, S. 300. Siehe auch (ebd., S. 9-11) die Erläuterungen der Herausgeber.

73 Reinartz/Krockow, wie Anm. 71, S. 18

74 Harry Pross: Vor und nach Hitler. Olten 1962, S. 88

75 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903, S. 25 und S. 27

76 Ebd., S. 27


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77 Platon: Phaidros, wie Anm. 68, S. 38f.

78 May: Im Reiche des silbernen Löwen IV, wie Anm. 75, S. 31 79 May: Old Surehand I, wie Anm. 65

80 May: Im Reiche des silbernen Löwen IV, wie Anm. 75, S. 33

81 Ebd.

82 Ebd.

83 Georg Trakl: Die Dichtungen. München 1919, S. 38 (>Im Herbst<)

84 Reinartz/Krockow, wie Anm. 71, S. 45

85 May: Im Reiche des silbernen Löwen IV, wie Anm. 75, S. 311

86 Rainer Maria Rilke: Ausgewählte Werke. Bd. I. Leipzig 1938, S. 181

87 Benjamin, wie Anm. 9

88 Rilke, wie Anm. 86, S. 181ff.

89 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVII: Im Reiche des silbernen Löwen II. Freiburg 1898, S. 1, S. 54ff., S. 64ff., S. 245ff. Vgl. S. 245: ... und wurde nach dem Loche geführt, um hinabzusteigen.

90 Thomas Mann: Die Geschichten Jaakobs. Berlin 1933, S. IX

91 Steiner, wie Anm. 53, S. 31

92 Rilke, wie Anm. 86, S. 182

93 Platon: Werke. 4. Bd., wie Anm. 46, S. 855 (>Politeia< 614e<)

94 Rilke, wie Anm. 86, S. 182

95 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896, S. 179f.

96 Ebd., S. 186

97 Siehe Jean Starobinski: Montaigne. Denken und Existenz. München 1986, S. 123. Über Montaignes >transitorische< Todesauffassung vgl. auch S. 126: »Was triumphiert, ist der Begriff des Überganges, denn bei genauerem Hinsehen verbirgt sich der s t a t u s n a s c e n d i sogar im Tode, und der s t a t u s m o r i e n d i schleicht sich in jeden Augenblick unserer Existenz ein. >Das Erlöschen eines Lebens ist der Ü b e r g a n g zu tausend anderen Leben.< >Ich zeige nicht das Sein, ich zeige den Ü b e r g a n g .<«

98 May: Old Surehand III, wie Anm. 95, S. 188f.

99 Elias Lönnrot: Kalevala. Das finnische Epos. Stuttgart 1985, S. 86 (XIV, 422, 444-446)

100 Nietzsche - zitiert nach: Ernst Bertram: Nietzsche. Berlin 1918, S. 265

101 Hans Wollschläger/Ekkehard Bartsch: Karl Mays Orientreise 1899/1900. Dokumentation. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 214. - Der Vergleich des kranken Venedig mit einem Weib, der »Straßen« der Stadt mit »Adern« findet eine auffällige Parallele in der Beschreibung der Stadt der Toten: ... fiel mir keine europäische Großstadt ein, von der ich hätte sagen mögen, daß sie mit ihr zu vergleichen sei. Nun lag sie da als Leiche! ... Wenn aber die Schritte des Frühlings von fernher schallen, dann steigt es wieder empor und beginnt, in den Säften und im Blute von Neuem zu pulsieren. Im Blute - - -... Diese Stadt lag vor uns wie der ohnmächtig zur Erde gesunkene Körper eines schönen Weibes, aus deren [ - man beachte, wie offenbar intuitiv der Autor statt des grammatischen das natürliche Geschlecht einsetzt! -] Angesicht jeder Tropfen Blut gewichen ist. (Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXII: Ardistan und Dschinnistan II. Freiburg 1909, S. 287)

102 Benjamin, wie Anm. 9

103 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXI: Ardistan und Dschinnistan I. Freiburg 1909, S. 113

104 Ebd., S. 115

105 Leo Löwenthal: Schriften Bd. 2. Das bürgerliche Bewußtsein in der Literatur. Frankfurt a. M. 1981, S. 405

106 Conrad Ferdinand Meyer: Jürg Jenatsch. Stuttgart 1974, S. 19

107 Ebd., S. 118

108 Ebd., S. 146

109 Ebd., S. 272f.

110 Wolfram von Eschenbach: Parzival. Bd. 1. Stuttgart 1981, S. 236 (1, 3, 138, 22/23)


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111 Henrik Ibsen: Peer Gynt. In: Sämtliche Werke. Zweiter Band. Berlin 1910, S. 589

112 Karl May: Gesammelte Reiseromane: Bd. IX: Winnetou der Rote Gentleman 111. Freiburg 1893, S. 475 - Man beobachtet hier besonders beispielhaft, immer wenn die Erzählung dem Hang zum balladesken Tonfall nachgibt, den jambischen Rhythmus.

113 Ebd., S. 459

114 Dante Alighieri: La divina commedia. Inferno III, 15/14. Milano 1965, S. 37

115 May: Winnetou III, wie Anm. 112, S. 475

116 May: Winnetou I, wie Anm. 11, S. 315; vgl. auch May: Im Reiche des silbernen Löwen III, wie Anm. 18, S. 278f.: Die späteren Erinnerungen erzählten mir, daß Schakara sehr oft bei mir kniete und mir wie einem Kinde mit einem Löffel dünne Speise gab. Ich war so schwach, daß ich kaum schlucken konnte. - Wie überhaupt diese andere große Sterbe- und Auferstehungsszene mit der in >Winnetou I< auffällige Parallelen hat.

117 Hartmann von Aue: Erec. V. 6135/37. Frankfurt a. M. 1986, S. 270

118 Ibsen, wie Anm. 111

119 Ilse Aichinger: Spiegelgeschichte. In: Deutschland erzählt. Sechsundvierzig Erzählungen. Hrsg. von Benno von Wiese. Frankfurt a. M. 1962, S. 245

120 Karl May: Himmelsgedanken. Freiburg o.J. (1900), S. 107 (>Des Kindes Seligkeit<); in der Figur des Engels fallen Mutter und Gattin zusammen. Schon Florestan führt »ein Engel Leonoren der Gattin so gleich, zur Freiheit ins himmlische Reich« (Beethoven: >Fidelio<).

121 Stéphane Mallarmé: L'Azur. In: Sämtliche Dichtungen. München 1992, S. 32f.

122 Lönnrot, wie Anm. 99, S. 94f. (XV, 543, 555, 603-608)

123 May: Winnetou III, wie Anm. 112, S. 455ff. - die folgenden May-Zitate S. 458-460

124 Ernst Jünger: Auf den Marmorklippen. Frankfurt a.M. 1973, S. 85

125 May: Winnetou III, wie Anm. 112, S. 460; Dante: commedia, wie Anm. 114, S. 31; »che tu mi sequi, e io sarò tua guida, e trarrotti di qui per luogo etterno.« (I, 113/114)

126 Roland Barthes: Mythen des Alltags. Frankfurt a. M. 1964, S. 59

127 May: Winnetou III, wie Anm. 112, S. 469

128 Jünger, wie Anm. 124, S. 82

129 May: Satan und Ischariot III, wie Anm. 29, S. 271

130 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VIII: Winnetou der Rote Gentleman II. Freiburg 1893, S. 601

131 May: Winnetou III, wie Anm. 112, S. 474

132 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht! «. Freiburg 1897. - Vgl. dort Carpios Sterbeszene, S. 615: Richte mich auf und nimm mich an deine Brust! - Homer: Ilias. Übertragen von Rudolf Alexander Schröder. Frankfurt a. M. 1963, S. 333 (IXX, 4)

133 Firdussi: Das Heldenbuch von Iran. Aus dem Schah Nameh des Firdussi. Von Joseph Görres. Zweiter Band. Berlin 1820, S. 323

134 May: Winnetou I, wie Anm. 11, S. 135

135 Firdussi, wie Anm. 133, S. 333

136 May: Winnetou III, wie Anm. 112, S. 473

137 Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 41975, S. 79

138 Gero von Wilpert: Deutsches Dichterlexikon. Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch der deutschen Literaturgeschichte. Stuttgart 31988, S. 538

139 Firdussi, wie Anm. 133, S. 296 und S. 323

140 Laut Auskunft: Loten Dahortsang, klösterliches Tibet-Institut, Rikon im Tößtal/ZH

141 Firdussi, wie Anm. 133, S. 327

142 Karl May: Deutsche Herzen - Deutsche Helden. Dresden 1885-87, S. 2514; Reprint Bamberg 1976

143 Burkert: Antike Mysterien, wie Anm. 24, S. 22

144 Thomas Bernhard: An der Baumgrenze. Erzählungen. Hamburg 1980, S. 9


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145 May: Winnetou I, wie Anm. 11, S. 299-301

146 Thomas Bernhard: Der Atem. Eine Entscheidung. München 1981, S. 16-18 (gekürzt). Man vergleiche: Der »Großvater (...) hatte (...) meine Hand festgehalten.« (Bernhard) Er (Sam Hawkens, auch eine Art >Großvater<) nahm meine beiden Hände ... (May, S. 301).

147 Thomas Bernhard: In der Höhe Rettungsversuch, Unsinn. Salzburg 1989, S. 6

148 Ebd., S. 27

149 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIII: In den Cordilleren. Freiburg 1894, S.551,555

150 Karl May: Der Schatz im Silbersee, Stuttgart o. J. (1894). - Siehe in diesem Werk (S. 390f.) auch die mythopoetische Szenerie des Night-Cañons mit dem Ritt durch die Unterwelt.

151 Ebd., S. 489

152 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o.J. (1910), S. 163; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul

153 Max Weber: Politik als Beruf. Berlin 1987, S. 65, S. 67

154 Vladimir Nabokov: Die Kunst des Lesens. Frankfurt a. M. 1982, S. 314


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