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RUPRECHT GAMMLER

Literaturbericht II



Habent fata sua libelli! Der Sommer 1991 brachte die Ankündigung einer neuen Buchreihe MEMORIA, die im Jubiläumsjahr 1992 ein Band über Karl May eröffnen sollte. Das Projekt zerschlug sich, die Vorarbeiten waren jedoch nicht vergeblich, eine geänderte Konzeption mit neuen zusätzlichen Beiträgen ermöglichte bereits 1993 ›Exemplarisches zu Karl May‹,(1) herausgegeben von den »ständigen Mitarbeitern des Vorstandes der Karl-May-Gesellschaft« Walther Ilmer und Christoph F. Lorenz. Vier der zehn Arbeiten des Bandes, der nach der beliebten Reihung ›Leben, Werk, Wirkung‹ gegliedert ist, sind von den Herausgebern, die übrigen mit einer Ausnahme von Autoren der KMG verfaßt worden.

   Im Geleitwort erheben die Herausgeber den hohen Anspruch, Themen herausgegriffen zu haben, »die jede für sich ›Das Phänomen Karl May‹ (. . .) in dessen relevantesten Zügen umreißen (. . .)« (S. 11). Diesen Anspruch vermögen nicht alle Untersuchungen einzulösen.

   Den Auftakt bildet Ilmers Einleitung ›Karl May. Die langanhaltende Wirkung eines sanguinischen Visionärs‹, die – fast im Plauderton, dann wieder äußerst engagiert – alle drei Leitthemen des Buches aufgreift. Ilmer definiert May aufgrund seiner Biographie als Sanguiniker mit einer Begabung zu visionärem Denken, untermauert seine These durch die Analyse von sechs Textstellen des Gesamtwerks. Die Widersprüche, Unbekümmertheiten und Ungereimtheiten im Werk (wie auch im Leben) erklärt er aus dieser Disposition, die bis heute andauernde Wirkung sieht er insbesondere in der mehr oder weniger offen zutage tretenden spezifischen Botschaft an den Leser. Bisweilen erliegt der Autor der Versuchung, Lücken in der Biographie Mays durch Spekulationen, die alle Wahrscheinlichkeit für sich haben, auszufüllen, belegen läßt sich das alles jedoch nicht.

   Die ›Zur Person‹ überschriebene Abteilung umfaßt Lorenz’ sachliche Darstellung ›Karl May (1842-1912): Stationen eines exemplarischen Lebens‹, an die sich Erwin Müllers ›Zeittafel‹ mit einem gerafften Überblick über 150 Jahre Karl May 1842-1992 anschließt.

   Den Abschnitt ›Werk‹ leitet Helmut Schmiedts knappe, für den ursprünglich geplanten Band geschriebene Skizze ›Sachsen ist in aller Welt. Die Abenteuerromane Karl Mays‹ ein, in der er Beobachtungen präzisiert, die er bereits in seiner 1979 erschienenen Dissertation (Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstel-


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lers. Königstein i.Ts.) angestellt hatte. Danach verdankt Mays exotische Welt ihre Anschaulichkeit und damit ihre Wirkung nicht nur den ständigen Rückgriffen auf seine reale Welt, sondern ist sogar konstitutiv von ihr abhängig. An dieser Stelle ist einmal darauf hinzuweisen, daß gerade Schmiedts ›kleine‹ subtile, weit verstreut erschienene Arbeiten oft mehr verblüffende Einsichten vermitteln, den aktuellen Stand definieren und Anstöße geben als diverse voluminöse und deswegen einmal gesammelt erscheinen sollten.

   Das schon häufig und kontrovers diskutierte Thema ›Karl May und seine Vorurteile‹ greift Eckehard Koch in ›». . . die Farbe der Haut macht keinen Unterschied«. Betrachtungen zum angeblichen Rassisten Karl May‹ auf. Zunächst stellt er eine stattliche Liste Mayscher Fehldeutungen und negativer Äußerungen zusammen, die seinen Gegnern auch heute noch genügend Angriffsfläche bieten. Diesen Befund relativiert er durch eine differenzierte Gesamtbetrachtung, die May Gerechtigkeit widerfahren läßt und gelangt damit zu einer Position, wie sie Schmiedt jüngst (›Der Jude Baruch‹. In: Karl Mays Orientzyklus. Hrsg. von Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Paderborn 1991, S. 185-94) formulierte. Das genügt ihm jedoch nicht, und er macht es sich ein wenig zu leicht, wenn er versucht, May durch die Aufzählung zahlreicher weiterer positiver Äußerungen gänzlich zu exkulpieren.

   Vielleicht nicht zufällig findet sich an zentraler Stelle des Buches eine herausragende Studie, die diesen Platz zu Recht einnimmt, Engelbert Botschens ›Die Wiederkehr des Un-Erwarteten: Mays ›bittere Pointen‹‹. Anhand mehrerer Motivketten, die das Gesamtwerk durchziehen, weist der Autor eindrucksvoll und überzeugend nach, wie sich Mays Streben nach Erlösung auf drei Ebenen vollzieht. Auf der ersten Ebene geht es um das Motiv der immer wiederkehrenden Bekehrungsszenen, d. h. einer Notwendigkeit zur Umkehr, die May aufgrund eigener bitterer Erfahrungen nur zwanghaft gestalten kann. Die zweite Ebene mit ihren Maskierungsszenen, die die Notwendigkeit der Demaskierung, der Erkenntnis, postulieren, führt auch noch nicht zum Ziel, da die Einsicht fehlt. Hierin liegt auch das Unvermögen des Autors der Reiseerzählungen begründet, psychologisch motivierte Charakterentwicklungen seines Personals gestalten zu können. Das gelingt ihm erst auf der höchsten Ebene im Alterswerk, speziell in ›Ardistan und Dschinnistan‹, in dem May endlich ans Ziel gelangt: Die Einsicht läßt ihn sich selbst überwinden.

   In Mays Reiseerzählungen betont der Ich-Held immer wieder, daß er als Schriftsteller unterwegs sei. Ebenfalls dem Gesamtwerk verpflichtet und auf hohem Niveau analysiert Joachim Biermann Mays Dicher-Bild (›Ihm sind die Tore anderer Welten offen. Das Bild des Dichters in Karl Mays Werk‹) anhand dessen eigener Gedichtproduktion sowie der zunächst im Frühwerk und in der mittleren Schaffens-


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periode auftretenden Dichterfiguren. Danach ist Mays Dichterbild anfangs romantisch verklärt, gründerzeittypisch orientiert, bürgerlichen Idealen verhaftet, bis er in ›Der Scout‹ (1888) ein eher negatives Bild zeichnet, um dann für die nächsten zwölf Jahre keine Dichterfiguren mehr zu gestalten. Erst Orientreise und Lebenskrise verhelfen May zu einem neuen künstlerischen Bewußtsein, das an Überlegungen der Frühzeit anknüpft und im Dichter vor allem den Lyriker und Märchenerzähler sieht. Rein äußerlich wird das sichtbar, als der Gedichtband ›Himmelsgedanken‹ (1900) von Fehsenfeld in typisch protziger Gründerzeitmanier ausgestattet wird, wogegen May schärfstens protestiert, während doch andere zeitgenössische Verlage buchkünstlerisch neue Wege gehen. Daraufhin weicht die üppige Deckelvergoldung der Gedichte schlichten Schriftzügen; ab 1904 erscheint das Gesamtwerk in der Ausstattung des Künstlers Sascha Schneider. Die Dichtergestalten des Alterswerks präsentieren sich geradezu als Identifikationsfiguren des Autors, der im Wechselspiel mit den literarischen Strömungen seiner Zeit sein eigenes der christlichen Humanität verpflichtetes Idealbild vom Dichter entwickelt hat.

   Besonderes Anliegen der Herausgeber ist in ›»Veni Pater Pauperum«: Karl Mays lebenslange Suche nach dem Geist der Versöhnung‹, »d a s Werk als Ganzes in den Blick zu nehmen« (S. 179), da die Mayforschung gespalten sei in die Anhänger der Reiseerzählungen und des Spätwerks. Wie die beiden voranstehenden Untersuchungen zeigen, läßt sich diese Auffassung in ihrer Absolutheit nicht aufrechterhalten. Als Gerüst, um Mays literarische Entwicklung als kontinuierlichen Prozeß aufzuzeigen, dient nach der Einleitung als Kapitelüberschrift je eine Zeile einer Strophe der mittelalterlichen Pfingstsequenz ›Veni Sancte Spiritus‹, die »das Wirken des Heiligen Geistes in Form einiger Gegensatzpaare«, wie z. B. »Wasche, was beflecket ist (. . .)« (S. 180), beschreibt. Akribisch spüren die Verfasser durch die Auswertung ausgewählter Textpassagen in den sechs Kapiteln trotz sich widersprechender und nicht schlüssiger Aussagen Mays die untergründigen Entwicklungslinien, die ihre These belegen sollen, auf.

   Bereits mehrfach diente die ›peinliche‹ Tatsache, daß Hitler ein begeisterter May-Leser war, als Munition gegen den Autor, zeitigte aber ebenso exkulpierende Untersuchungen, die dann doch, wie z. B. Linkemeyers ›Was hat Hitler mit Karl May zu tun?‹ (Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 11. Ubstadt 1987), trotz der Stoffülle noch unzureichend ausfielen.

   Im ersten Beitrag des Abschnitts ›Wirkung‹ befaßt sich Baruch Hamerskis Studie ›»Fatal Attraction«. Missdeutet und missbraucht‹ – die in umfangreichen Anmerkungen des Herausgebers Ilmer notwendige Ergänzungen erfahren hat – mit ›Karl May im Nationalsozialismus‹. Wieder einmal (zum zweiten Mal in diesem Buch!) steht Klaus Mann


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wegen seiner aus der Exilsituation vielleicht verständlichen, aber nicht zu billigenden Angriffe auf May am Pranger, und seine Persönlichkeit wird sogleich auf »ein Leben lang eher im Schatten seines berühmten Vaters« stehend (S. 206) reduziert, ein Schicksal, das wohl alle Kinder berühmter Eltern tragen müssen und das im Extremfall zu der die eigene Existenz auslöschenden Grabinschrift auf dem protestantischen Friedhof zu Rom führt: »Goethe filius«. Im Gegensatz zu seinem Vater, der sein neuestes Werk noch 1935 in zwei Auflagen im Deutschen Reich erscheinen lassen konnte, da er bis dahin noch nicht öffentlich mit dem Nationalsozialismus gebrochen hatte, hat Klaus Mann sehr frühzeitig und klarsichtig das heraufziehende Unheil erkannt und sich mutig ein Leben lang dagegen engagiert. Die vorliegende Arbeit reflektiert den derzeitigen Erkenntnisstand in Sachen May-Nationalsozialismus. Eine abschließende Würdigung kann jedoch erst vorgenommen werden, wenn einmal die Materialien für eine kritische Biographie Klara Mays (die vom Werke ihres Mannes nicht sonderlich beeinflußt worden sein kann, da sie gegen seinen erklärten Willen die Bearbeitungen sanktionierte und schon frühzeitig der NS-Ideologie anheimfiel) sowie die Unterlagen des Karl-May-Verlags aus dieser Zeit vorliegen.

   Christoph F. Lorenz’ ›Streiflichter zur May-Rezeption in der Zeitungskritik, in der wissenschaftlichen Forschung und in der Literatur‹ zeichnen die May-Rezeption in einer kritischen Würdigung der Sekundärliteratur vom Einsetzen des ›May-Kampfes‹ (1899) bis heute nach. Zu korrigieren ist die Behauptung auf S. 249, daß 1916 im Bande ›Ich‹ eine dritte Fassung von ›Mein Leben und Streben‹ herausgekommen sei. Dies geschah bereits 1914 mit dem Erscheinen der dritten bearbeiteten Auflage von ›Mein Leben und Streben‹ im Verlag der Karl-May-Stiftung. Im Kapitel ›Karl May in der Literatur des 20. Jahrhunderts‹ (S. 262ff.) führt der Verfasser neben bedeutenden Autoren und ihren Werken auch entlegenste auf. Einen, der nicht zur letzten Kategorie gehört, hat er jedoch schlicht übersehen: Otto Kreiner mit dem Roman ›Der Schatten‹ (Salzburg-Wien 1989).

   Ein ›exemplarisches Literaturverzeichnis‹, erarbeitet von den Herausgebern, das im ersten Teil eine nützliche Zusammenstellung der May-Texte in Reprintausgaben und im zweiten Teil eine Auswahl an Sekundärliteratur bietet, beschließt den Band.

   ›Exemplarisches zu Karl May‹ präsentiert in weiten Teilen den derzeitigen Forschungsstand, eine gewisse Uneinheitlichkeit ist offensichtlich auf die Entstehungsgeschichte zurückzuführen. Das breit gefächerte Angebot wird vor allem den mit der May-Forschung nicht Vertrauten ansprechen, die Höhepunkte bieten auch dem Forscher Neues.

   Erfreuliches ist von der ›Karl-May-Studien‹-Reihe der Herausgeber


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Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer zu berichten. Das ehrgeizige Unternehmen teilt nicht das Schicksal vieler hoffnungsvoll begonnener Projekte, die über einen Anfangsband nicht hinauskommen oder deren zweiter Band erst mit großer Verzögerung erscheint, um dann endgültig zu scheitern. Vielmehr ist hier als zweiter Band der Reihe(2) ein kapitales Buch von 381 Seiten anzuzeigen, das zudem ein äußerst komplexes Thema zum Inhalt hat, Karl Mays vierbändigen Roman ›Im Reiche des silbernen Löwen‹, der in der Mitte Mays Übergang vom Reiseschriftsteller zum Dichter des Spätwerks scharf markiert und bisher als Ganzes kaum in den Blick genommen wurde, da sich die Untersuchungen fast ausschließlich auf die beiden letzten Bände beschränkten. Als nächstes Forschungsprojekt ist die ›Surehand‹-Trilogie vorgesehen.

   Konzipiert wurde der Studienband wiederum nach den früher erarbeiteten Grundsätzen, »herausragende Aufsätze der älteren und jüngeren May-Forschung mit innovativen Neubeiträgen« zu vereinen.

   Die ausführliche Einleitung der Herausgeber erläutert die eigenartige Entstehungsgeschichte des Werks, analysiert die derzeitige Forschungssituation und beklagt, daß sich der Forschungsschwerpunkt weg vom Spätwerk, zu dem es zwar eine Anzahl hochkarätiger Arbeiten von insgesamt doch nur wenigen Autoren gebe, auf die Reiseerzählungen verlagert habe. Das dürfte nicht zuletzt daran liegen, daß sich das vielschichtige Spätwerk konventionellen Deutungsversuchen beharrlich zu entziehen scheint und auch die bisher vorliegenden multiperspektivischen Interpretationen von ihren Autoren bislang nur als ›Annäherung‹, ›Entwurf‹ oder ›Gedanken‹ verstanden werden, von der Vielzahl der Gegner und Desinteressierten einmal ganz abgesehen.

   Den Reigen der Altbeiträge eröffnet ein Teilabdruck aus ›Karl May. Eine Analyse seiner Reiseerzählungen‹ von Adolf Droop, die 1909 als einzige seriöse, nicht unmittelbar durch May inspirierte zeitgenössische Untersuchung entstanden war und hier zum ersten Mal nach mehr als 80 Jahren wieder zugänglich wird. Inzwischen ist es dem Karl-May-Verlag im Herbst 1993 tatsächlich gelungen, diese wichtige Studie 15 Jahre nach der Ankündigung komplett als Reprint vorzulegen.

   Ebenfalls erst einmal in Buchform veröffentlicht, schließt sich Arno Schmidts 1956 gesendeter Rundfunk-Essay ›Vom neuen Großmystiker‹ an, der mit dieser Pionierleistung in einer ersten Textfassung dezidiert auf den Rang des Spätwerks aufmerksam machte.

   Als dritter Beitrag findet Hans Wollschlägers bahnbrechende, fundamentale, 1979 veröffentlichte ›Erste Annäherung an den ›Silbernen Löwen‹‹ hier ihren gemäßen Platz, die wiederzulesen sich unbedingt lohnt, da sie über den Gegenstand hinaus Einblicke in den Prozeß der Kreativität erlaubt.


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   Den Jahrbüchern der KMG sind auch die beiden teilweise überarbeiteten bzw. neugefaßten Arbeiten von Christoph F. Lorenz ›»Das ist der Baum El Dscharanil«. Gleichnisse, Märchen und Träume in Karl Mays ›Im Reiche des silbernen Löwen III und IV‹‹ (1984) und Dieter Sudhoff ›Karl Mays Großer Traum. Erneute Annäherung an den ›Silbernen Löwen‹‹ (1988) entnommen.

   Mit den ersten beiden Bänden des ›Silbernen Löwen‹ hat sich die Forschung höchst selten und fast nur im Zusammenhang mit den späteren Bänden befaßt, wobei sie zu Recht eine überwiegend negative Beurteilung erfuhren. Eine Ausnahme bildet der erste Neubeitrag ›Mißglückte Reise nach Persien. Gedanken zum ›großen Umbruch‹ im Werk Karl Mays‹ von Walther Ilmer, der bereits 1981 in der Einleitung zum Hausschatz-Reprint ein vehementes Plädoyer für gerade diesen Werkteil gehalten hatte, wobei allerdings damals wie heute Kritiker bestenfalls als »Nörgler« davonkommen. Diese überaus positive Einschätzung verficht Ilmer auch in der vorliegenden Untersuchung, ohne jedoch den spezifischen Rang des Spätwerks zu negieren, obwohl seine Auffassung zuletzt noch von Ulrich Schmid in dessen Dissertation widerlegt wurde (Das Werk Karl Mays 1895-1905. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 12. Ubstadt 1989). Anhand seiner inzwischen hinlänglich erprobten Methode entschlüsselt Ilmer drei May-Spiegelungen, um dann seine nur aus dem Werk zu belegende These von der frühen Hinwendung des alternden May zur jungen Frau Klara des Freundes Plöhn zu vertiefen. Dabei dürfte zumindest eine Prämisse dieser These, daß es sich bei der Hanneh des ›Silbernen Löwen‹ um eine »junge« Frau (S. 130) handelt, in Zweifel zu ziehen sein.

   Ulrich Schmids Beitrag ›Die verborgene Schrift. Karl Mays Varianten zum ›Silberlöwen III/IV‹‹, der auf den Ergebnissen seiner 1989 veröffentlichten Dissertation (s. o.) fußt, dokumentiert Mays neue, höheren künstlerischen Ansprüchen verpflichtete Schreibweise nach 1900, während er vorher noch stolz bekannt hatte: Ich lese keine Manuskripte noch einmal durch; ich ändere kein Wort, was seine aus dieser Zeit erhaltenen Handschriften belegen, die kaum Korrekturen aufweisen.

   Ebenfalls einer Analyse von Mays Sprache und Stil verpflichtet ist Jürgen Hahns ›Entwurf‹ ›Sprache als Inhalt. Zur Phänomenologie des ›alabasternen Stiles‹ in Karl Mays Roman ›Im Reiche des silbernen Löwen‹‹, der in höchst anspruchsvoller, dem Gegenstand angemessener Weise als Strukturprinzip des Romans Mays Sprache selbst erkennt und den unbestreitbaren poetischen Rang dieses Spätwerks postuliert. Zu bedauern ist, daß sich dieser grundsätzliche, äußerst anregende Essay nur einem akademisch gebildeten Leser erschließen dürfte.

   Der Erhellung einzelner Aspekte gewidmet sind die Arbeiten von


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Volker Krischel, Hansotto Hatzig und Franz Hofmann. Volker Krischel setzt sich, basierend auf seiner Arbeit ›Karl Mays ›Schattenroman‹. Gesichtspunkte zu einer ›Weltdeutungs-Dichtung‹‹ (Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 37/1982) in ›»Wir wollen nicht Herren über euren Glauben sein, sondern Helfer zu eurer Freude«‹ mit ›Karl Mays Religionskritik im ›Silberlöwen III/IV‹‹ anhand von zwei Beispielen, dem Bild vom Etagenbau des ›hohen Hauses‹ und dem Scheik ul Islam und seine(n) Taki (S. 255), auseinander. Danach zeichnet May ein höchst kritisches Bild der Religionen einschließlich des Christentums, insbesondere des dogmatischen, ultramontanen Katholizismus, wobei er durchaus im Einklang mit den etwa gleichzeitig einsetzenden Reformbestrebungen innerhalb und außerhalb der Kirche steht.

   Hansotto Hatzigs in persönlichem Ton gehaltene, bescheiden daherkommende ›Lesenotizen und Impressionen‹ ›Die Frauen im Reiche des silbernen Löwen‹ porträtieren einfühlsam die in der Tetralogie auftretenden Frauengestalten und notieren das langsam zunehmende Überwiegen des weiblich-versöhnenden Elements im Werk gegenüber dem männlich-aggressiven.

   Nach Franz Hofmann in ›Höllensturz und Verklärung‹ inszenierte der grandios gestaltete ›Handlungsabschluß im ›Silberlöwen‹ als Paradigma für die Alterswerke Mays‹ geradezu leitmotivisch seine späteren Romanschlüsse, wobei sein Ringen um die Menschheitsfrage in immer neuen Anläufen eine gewisse »Erschöpfung seiner schöpferischen Invention« (S. 377) bewirkt haben soll.

   Gingen alle bisher besprochenen Arbeiten vom letztlich unbestreitbaren Rang des Spätwerks aus, so ist es kein geringes Verdienst der Herausgeber, die diesem Werkkomplex besonders verbunden sind, zwei neue, kritische bis ablehnende Beiträge aufgenommen zu haben. Gerade an der jüngeren May-Literatur ist zu beklagen, daß es zu wenige wohlfundierte, kritisch-distanzierende Auseinandersetzungen gibt, die erst zur fruchtbaren Diskussion reizen und Widerspruch provozieren. Die Aneinanderreihung insgesamt positiver Befunde wirkt im Ergebnis affirmativ, könnte die weitere Beschäftigung entbehrlich machen und Friedhofsruhe einkehren lassen.

   Ulrich Melk, der 1992 im selben Verlag eine nicht unumstrittene Monographie über ›Das Werte- und Normensystem in Karl Mays Winnetou-Trilogie‹ vorgelegt hatte, analysiert in ›Vom klassischen Reiseroman zum mythisch-allegorischen Spätwerk‹ »Kontinuität und Wandel narrativer Strukturen in Karl Mays ›Silberlöwen‹-Tetralogie«, billigt dabei den ersten beiden Bänden noch exemplarischen Rang für das Genre des abenteuerlichen Reiseromans zu, um das Spätwerk gänzlich zu verwerfen. Der von ihm gewählte eindimensionale Ansatz unter bewußtem Verzicht auf biographische und psychoanalytische Deutungsmöglichkeiten mag zwar bei den beiden letzten ›Silber-


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löwen‹-Bänden zum vom Autor gewünschten Ergebnis führen, ist aber – wie nicht zuletzt die Arbeiten dieses Sammelbandes eindrucksvoll belegen – als Untersuchungsinstrument für das Spätwerk längst überholt und wenig geeignet.

   Von anderer Qualität erscheint da Wolfram Ellwangers distanzierte Beurteilung ›Begegnung mit dem Symbol. Gedanken zu Karl Mays ›Im Reiche des silbernen Löwen IV‹‹, die, ausgehend von der Tiefenpsychologie, speziell der Analytischen Psychologie C. G. Jungs, Mays eher unreflektierten Gebrauch des Begriffs ›Symbol‹ hinterfragt und zu dem verblüffenden Ergebnis kommt, die geringere Wirkung auf den Leser beruhe geradezu auf einem Mangel an wirklichen Symbolen. Wo sie auftauchten, seien sie im Gegensatz zu den Reiseromanen bewußt gestaltet und damit ihrer Wirkung größtenteils beraubt.

   Der vorliegende Studienband löst die an ihn gestellten Erwartungen voll ein. Besonders hervorzuheben ist die Leistung der Herausgeber, innerhalb der gesetzten Frist ein Buch präsentiert zu haben, das vordringlich einer derart schwierigen Materie, wie sie das Spätwerk nun einmal darstellt, gewidmet ist, das mit seinem breiten Interpretationsspektrum hinlänglich das Thema abdeckt und auf Jahre hinaus nicht an Gültigkeit verlieren wird. Auch Gegner des Spätwerks sollten sich angesprochen fühlen und eine Lektüre in Betracht ziehen, die letztlich nicht ohne Gewinn bleiben dürfte.

   Dieser zweite Band der Studienreihe belegt erneut, wie sehr diese die übrige May-Sekundärliteratur des Verlages qualitativ überragt (vom Sonderfall des ›Figurenlexikons‹ einmal abgesehen); ihr sollten seine vordringlichen Bemühungen gelten.

   Zum ersten Mal vermag die äußere Gestaltung mit ihrem dem Gegenstand angemessenen Deckelbild zu befriedigen, während die bisherigen naiv-kitschigen doch zu wünschen übrig ließen.



1 Exemplarisches zu Karl May. Hrsg. von Walther Ilmer/Christoph F. Lorenz. Frankfurt a. M. 1993

2 Karl Mays »Im Reiche des silbernen Löwen«. Hrsg. von Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Paderborn 1993


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