//165//

ELISABETH GOHRBANDT

»Selbst bei einem drei Jahre langen Urbarmachen
einer Wildnis wird man nur ein Settler,
aber kein Westmann.«
Auswanderer und Siedler in Karl Mays
Nordamerikaerzählungen



Karl May ist heute zweifellos der bekannteste deutsche Autor von Indianergeschichten. Dabei wird jedoch häufig übersehen, daß May nicht der einzige Autor dieser Gattung war, sondern nur den Endpunkt einer Tradition bildete, die durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch bestand.

   Allerdings spielen bei den meisten Autoren nicht die eigentlichen Bewohner des ›Wilden Westens‹, also Indianer und ›Yankees‹, die Hauptrollen, sondern viele dieser Romane sind in der Hauptsache Auswandererliteratur. Der Leser begleitet also einen oder mehrere, meist deutsche Auswanderer auf dem Weg aus der Heimat bis nach Amerika, wobei er die Schwierigkeiten und Erfolge während der Ansiedlung und der ersten Zeit im fremden Land miterleben kann.

   Ziel dieser Arbeit(1) ist es, zu untersuchen, ob die Darstellung der Auswanderer in Karl Mays Nordamerikaromanen (zumindest in groben Zügen) mit der historischen Realität – die zunächst referiert wird – übereinstimmt, inwieweit May bei diesem Thema literarischen Vorbildern verpflichtet ist, welche Rolle Amerika-Auswanderer und -Siedler bei Karl May spielen und welche Wirkung die Auswandererdarstellung auf Mays Leser in Deutschland ausgeübt haben könnte.


1. Historische Einordnung

1.1. Besiedlungsgeschichte des ›Wilden Westens‹

Die Besiedlung des amerikanischen Westens, die neben anderen Autoren auch Karl May in vielen seiner Bücher beschrieb, hat bis heute einen


//166//

symbolischen Stellenwert behalten und ist zum Mythos für die amerikanische Gesellschaft geworden.

   Insbesondere wird der demokratisierende Effekt des ›frontier-Erlebnisses‹ auf die amerikanische Gesellschaft betont, den bereits 1893 der Historiker Frederick Jackson Turner in seinem Essay ›The Significance of The Frontier‹(2) herausstellte. Genau diesen Geist sozialer Gleichrangigkeit und Selbstverwaltung, der sich nach Turner im dynamischen Landerschließungsprozeß herausgebildet habe, hat May in seinen Romanen beschworen. Auch seine Westmänner leben in diesem starken Individualismus, der die spezifische Ausprägung der amerikanischen Demokratie verursacht hat.

   Allerdings waren die Umstände dieses Vordringens der Zivilisation nach Westen nicht immer bzw. nicht für alle Beteiligten so demokratisch, wie es oftmals dargestellt wurde.

   Das Gebiet der heutigen USA ist seit Beginn der Kolonisationsgeschichte um 1510 von fast allen Seiten aus erschlossen worden:(3) Als erste siedelten die Spanier in Florida und im Südwesten; am St.-Lorenz-Strom und am Mississippi ließen sich Franzosen nieder und gründeten z. B. Québec, New Orleans und St. Louis.

   Die bedeutendste und entscheidendste Gruppe der Kolonisten waren jedoch die Engländer, die 1607 an der Ostküste, dem heutigen Virginia, bzw. 1620 in der Bucht von Boston landeten. Sie setzten sich im Laufe der Zeit gegen die Franzosen und auch gegen die Spanier durch und gründeten bis 1775 dreizehn Kolonien, die sich im I. Unabhängigkeitskrieg von 1775-83 vom Mutterland England lossagten. Am 4. Juli 1776 wurde die Unabhängigkeitserklärung der 13 Vereinigten Staaten unterzeichnet, die 1783 von Großbritannien anerkannt wurde.

   Bereits in der Amtszeit des Präsidenten Thomas Jefferson (1801-09) richteten sich die Interessen der Nation auf ›The Winning of the West‹, die Ausdehnung nach Westen durch Binnensiedlung und Einwanderung aus Europa, nachdem man 1803 von Napoleon für 15 Millionen Dollar das riesige Gebiet Louisiana erworben hatte.

   Bis zum endgültigen Frieden mit England im Jahre 1814 hatte sich jedoch das Hauptsiedlungsgebiet der USA von Osten her nur bis zu den Appalachen ausgedehnt, genauer auf ein Dreieck zwischen Atlantikküste und dem Zusammenfluß von Ohio und Mississippi (vgl. Karte auf S. 172).

   Nach diesem Friedensschluß jedoch waren die Engländer von ihren Militärstützpunkten abgezogen, die Indianer (im Gebiet der großen Seen) unterdrückt (vgl. hierzu die Lederstrumpfromane Coopers) und befriedet, und die Spanier hatten die Herrschaft über die Gebiete zwi-


//167//

schen Golfküste und Pazifik verloren, so daß einer Ausdehnung des Siedlungsgebietes nach Westen (fast) nichts mehr im Wege stand.

   Direkter Auslöser für die Abwanderung in den Westen waren die sozio-ökonomischen Bedingungen im damaligen Hauptsiedlungsgebiet: Durch die zunehmende Industrialisierung und das damit verbundene Bevölkerungswachstum stieg der Bedarf an Nahrungsmitteln und Lebensraum derart an, daß ein wahrer Landboom ausgelöst wurde.

   Die nun einsetzende freie Landnahme im Westen erfolgte in drei Wellen und durch drei Gruppen von Menschen:

   Die ›Vorhut‹ bildeten Trapper, Pelztierjäger, Fallensteller und Missionare, die die Pionierarbeit übernahmen. Diesen folgten die sogenannten ›Squatter‹, die vorwiegend aus Neuengland Richtung Westen gingen, während andere aus Carolina und Virginia südlich zogen. Sie rodeten als kleine Farmer den Boden, machten ihn urbar und betrieben dort Ackerbau, was allerdings in den meisten Fällen ohne die Zustimmung der eigentlichen Eigentümer des Landes, der Indianer, geschah, so daß es immer wieder zu Konflikten und Kämpfen mit ihnen kam.

   In der letzten Etappe verkauften die Squatter häufig ihr Land mit einigem Gewinn an Pflanzer bzw. größere Farmer sowie an Händler, Spekulanten und Handwerker und zogen noch weiter westwärts, wo sie erneut zu roden begannen. Offensichtlich zeigte sich schon damals der noch heute existierende »kollektive (. . .) mobile (. . .), rastlose (. . .) Charakterzug der Amerikaner«, den Holzner konstatiert hat.(4)

   In den Jahren nach 1840 stieß die Erschließung (zumindest die landwirtschaftliche) an die natürliche Grenze der westlich von Arkansas beginnenden trockenen Präriegebiete, die ›Great Plains‹. Dennoch wurde die Westwärtsbewegung nun nicht beendet, sondern die Plains wurden durch große Trails sozusagen übersprungen und der Zugang zum fernen Westen gefunden.

   Eine wichtige Rolle für die Erschließung des Westens spielten ab 1830 die größeren Flüsse (Ohio, Mississippi, Missouri und deren Nebenflüsse), auf denen mit immer mehr Dampfschiffen immer mehr Siedler in ›Brückenkopf-Städte‹ wie Cincinnati und St. Louis (vgl. ›Winnetou I‹) gelangten.

   Von großer Bedeutung für das Fortschreiten nach Westen waren außerdem Goldfunde, die 1849 einen wahren Goldrausch auslösten und viele Tausende nach Kalifornien zogen, sowie kurz zuvor die Migration der Mormonen, die sich auf der Suche nach unbehelligtem Lebensraum inzwischen in Utah niedergelassen hatten.

   Während des gesamten Besiedlungsprozesses im Westen erfolgte die Verteilung des Landes, das der Bundesregierung gehörte, nach mehr-


//168//

fach geänderten bzw. angepaßten Gesetzen. Das bedeutendste dieser Landverteilungsgesetze war das ›Familien-Farm-Gesetz‹ (›Homestead Act‹) von 1862, das zur Folge hatte, daß sich mehr als eine Million Farmer in den Plains und den Gebirgsstaaten des Westens ansiedelten. Dieses Gesetz spielt auch in Mays Roman ›Der Ölprinz‹ eine Rolle. Es wird dort folgendermaßen erläutert: Nach dem sogenannten Heimstättengesetz kann . . . jedes Familienhaupt und jeder einundzwanzigjährige Mann, welcher entweder Bürger ist oder Bürger werden zu wollen erklärt, eine noch unbesetzte Parzelle Land von 160 Acres ohne alle Bezahlung erwerben; nur muß er sie fünf Jahre lang bewohnen und bebauen . . . Und was die Tomahawk-Improvements betrifft, so brauchte nach ihnen jemand, um als Eigentümer einer ihm zusagenden Strecke Landes zu gelten, dasselbe nur dadurch als das seinige zu bezeichnen, daß er mit der Axt einige Bäume anhieb, eine Hütte baute und etwas Getreide säete. May fügt anklagend hinzu: Was die Indianer, die Herren dieser Ländereien, dazu sagten, danach wurde nicht gefragt!(5)

   Die Basis für die Landvergabe nach dem Heimstättengesetz bildete die quadratische Landvermessung, festgelegt in der ›Land Ordinance von 1785‹, die auf alle Gebiete der ›Öffentlichen Landreserve‹ (›Public Land States‹) angewandt wurde. Hierbei wurde das gesamte Gebiet, ausgehend von breitenparallelen Basislinien, in quadratmeilengroße sections vermessen, von denen 36 zu einer township zusammengefaßt wurden. Die sections, die 640 acres groß waren, wurden später bei der Landvergabe in 160 acres große Viertel unterteilt.

   Alle bisher beschriebene Erschließungsarbeit war jedoch nur möglich durch die immensen Einwanderungswellen, in denen nach 1840 die notwendigen Arbeitskräfte ins Land kamen, die meist aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen hatten und sich in den USA eine bessere Zukunft erhofften.

   Zwischen 1820 und 1880, während der sogenannten ›Alten Einwanderung‹, stellten die Deutschen mit 3,1 Millionen die größte Gruppe vor den Iren (2,8 Millionen) und den Engländern (1,9 Millionen). Bei ihrer Ansiedlung bevorzugten die Deutschen (nach den Hafenstädten New York und Baltimore) den Mittelwesten, dessen Städte St. Louis, Cincinnati, Chicago und Milwaukee sie sowohl in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht als auch auf kulturellem Gebiet entscheidend mitgeprägt haben.(6)


//169//

1.2. Die Verhältnisse in Deutschland zu Lebzeiten Karl Mays

1845 – 1890

Abb. 1(7)

Die Abbildung zeigt die Entwicklung der Einwandererzahlen aus Deutschland in der Zeit von 1820 bis 1910. Deutlich zu erkennen sind drei Maxima der Kurve in den Zeiträumen 1850-54, 1865-74 und 1880-84, die den Anteil der Deutschen an den Einwanderungswellen repräsentieren, deren Entstehung aus den jeweiligen Verhältnissen in den USA bzw. in Deutschland erklärt werden kann.

   In dieser Zeit gab es in Deutschland zwar keine Hungerkrisen mehr, die vor allem durch Mißernten in der Landwirtschaft ausgelöst wurden; dennoch herrschte in weiten Teilen der Bevölkerung großes Elend, da die Landwirtschaft nicht imstande war, ausreichend Nahrungsmittel für die explosionsartig wachsende Bevölkerung zu erzeugen, was zwangsläufig zu ständig höheren Preisen für Grundnahrungsmittel führte.


//170//

   Gleichzeitig begann mit der aufkommenden Industrialisierung der Niedergang des alten Heimgewerbes (Weberaufstand in Schlesien von 1844) und des Handwerks, so daß viele in Arbeitslosigkeit und Armut unterzugehen drohten. Angesichts dieser Perspektiven sahen viele ihr Heil in der ›Flucht‹ nach Amerika, die von den Behörden neben anderen Maßnahmen – z. B. zur Geburtenkontrolle – ausdrücklich propagiert wurde, um das Wachstum der Bevölkerung zu verringern. Bis ca. 1850 gab es jedoch noch in keinem deutschen Staat eine aktive Auswanderungspolitik oder konkrete Siedlungs- und Kolonisationspläne. Private Auswanderungsvereine, die vor allem beratend tätig waren, gab es dagegen schon seit den 30er oder 40er Jahren in verschiedenen größeren Städten.(8)

   So richtig zu fließen begann der Strom deutscher Auswanderer nach der gescheiterten Revolution von 1848, als zwischen 1850 und 1854 mehr als 650000 Menschen die Heimat verließen. Unter ihnen befanden sich allerdings nur etwa 3000 ›Achtundvierziger‹, die sich durch ihre politischen Aktivitäten mißliebig gemacht hatten und in Deutschland verfolgt wurden. Sie bildeten auch insofern eine besondere Gruppe innerhalb der Deutschen in Amerika, als sie vorwiegend Angehörige der gehobenen Schichten mit hohem Bildungsstand waren, während die überwiegende Zahl der deutschen Auswanderer im 19. Jahrhundert eher der Unter- und Mittelschicht angehörte und sich meist aus Handwerkern oder Land- und Fabrikarbeitern zusammensetzte. Sie versuchten dem Hunger und dem Elend in den deutschen Städten zu entkommen und in den USA ein neues und besseres Leben zu beginnen.

   Obwohl einige der Emigranten sicher aus reiner Abenteuerlust über den Ozean zogen, waren für die meisten doch wirtschaftliche Gründe ausschlaggebend. Für manch einen wurde die Hoffnung, in Amerika sein Glück zu finden, außerdem noch verstärkt durch die Kunde von großen Goldfunden, die im Jahre 1848 in Kalifornien gemacht worden waren.

   Während des amerikanischen Bürgerkriegs von 1861-65 gingen die Auswandererzahlen für einige Jahre drastisch zurück, um nach Kriegsende wieder sprunghaft anzusteigen (ca. 579000 zwischen 1870 und 1874).

   In diese Zeit fiel auch der sogenannte ›Grüne Boom‹ in den USA, als die Landwirtschaft eine stürmische Entwicklung erlebte, immer weiter in den Westen vordrang und in den nachströmenden Bevölkerungsmassen aus den Ostgebieten der USA einen ersten großen Absatzmarkt fand.

   Die Rekordmarke der Einwanderung aus Deutschland wurde im


//171//

Zeitraum 1880-85 erreicht, als mehr als 920000 Menschen nach Amerika kamen.

   Aber nicht nur einzelne deutsche Bürger, die mit ihren derzeitigen Lebensverhältnissen unzufrieden waren, machten sich Gedanken über eine Zukunft in Amerika. Bereits seit dem Hambacher Fest 1832 gab es in den deutschen Ländern den Gedanken an einen eigenen deutschen Staat auf amerikanischem Boden.

   So kamen in den Jahren 1844-46 über 7000 Deutsche auf Veranlassung des 1842 gegründeten Mainzer Adelsvereins nach Texas, da man in diesem noch menschenarmen Gebiet die Möglichkeit zu dem geplanten deutschen Staat sah. Nachdem 1845 Texas von den USA annektiert worden war, mußte man zwar die Staatspläne aufgeben, wollte sich jedoch mit einem geschlossenen deutschen Siedlungsgebiet im Grenzraum zwischen USA und Mexiko die Vorteile für den deutschen Überseehandel nicht entgehen lassen.(9) Die Deutschen in diesem Gebiet haben viel zur Entwicklung von Texas beigetragen; die Orte Neu-Braunsfeld und Fredericksburg waren bereits nach kurzer Zeit florierende Städte und Mittelpunkte des Deutschtums in den USA.(10)


1890 – 1897

Auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Lage in Deutschland noch nicht nennenswert verbessert, so daß auch in dieser Zeit noch einige Hunderttausend das Land in Richtung USA verließen. Allerdings sahen in dieser Zeit sowohl die demographische und die soziale Zusammensetzung als auch die regionale Herkunft der Emigranten anders aus als in den Jahrzehnten zuvor: Kamen bisher die meisten Auswanderer aus dem Süden und Westen Deutschlands, so löste das starke Bevölkerungswachstum in den preußischen Ostprovinzen seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts dort eine Massenauswanderung aus.

   Obwohl auch vorher schon viele Einzelpersonen auswanderten, weil sie sich der Wehrpflicht entziehen wollten, weil sie als zweit- oder drittgeborene Bauernsöhne keine Chancen auf einen eigenen Hof hatten oder weil man sie als Taugenichtse oder der Polizei lästige Personen abgeschoben hatte, waren es doch bis 1890 meist Familienverbände, die auswanderten. Von da an dominierte jedoch die Auswanderung von Einzelpersonen. Ebenso änderte sich gegen Ende des Jahrhunderts die berufliche Struktur der Auswandernden von bis dahin überwiegend selbständigen Kleinlandwirten, Kleinhandwerkern und Angehörigen der ländlichen Unterschichten schließlich zur landwirtschaftlichen und


//172//

industriellen Arbeiterschaft.(11) Marschalck bezeichnet diese neue Tendenz als »Typus der individuell-ökonomischen Auswanderung von Einzelpersonen«.(12)


1.3. Bedeutung der Frontier für die Einwanderer und Siedler

Trotz all dieser Siedlungsbemühungen war um 1880 erst etwa die Hälfte des Landes als besiedeltes Gebiet zu bezeichnen: Die sogenannte ›Frontier‹, also die Grenze zwischen Wildnis und Siedlungsgebiet mit mindestens zwei Einwohnern pro Quadratmeile, verlief, mit einigen Aus- und Einbuchtungen versehen, im Süden von Corpus Christi über die Westgrenzen von Kansas, Nebraska und Minnesota bis zur Grenze nach Kanada. Außerdem gab es einzelne Siedlungsinseln wie die kalifornische Pazifikküste, den oben erwähnten Mormonenstaat Utah und die Gebirgsregion Colorados.

Verlegung der ›Frontier‹ nach Westen(13)

Ist nach heutigen (städtischen) Maßstäben schon das solchermaßen als ›besiedelt‹ deklarierte Gebiet als fast menschenleerer Raum zu bezeichnen, so ist die Bevölkerungs›dichte‹ in den Gebieten der Siedlungspioniere (und auch im Mayschen ›Wilden Westen‹) sogar noch geringer. Bei May wird z. B. häufig erwähnt, daß der nächste Nachbar eines Farmers acht oder neun Meilen entfernt wohne.


//173//

   Das Leben der Siedler an der Frontier war geprägt von der Auseinandersetzung mit den Indianern und deren (planmäßiger) Verdrängung und Ausrottung, wobei die Weißen den Indianern nicht nur das Land raubten, sondern auch die seit 1869 quer über den Kontinent führende Eisenbahn benutzten, um ›Ausflugsfahrten‹ zu organisieren, bei denen die Passagiere bequem vom Abteilfenster aus mit bereitgestellten Gewehren auf Büffeljagd gehen konnten. Für diese Fahrten wurde in Zeitungen geworben, und aus aller Welt reisten außerdem reiche Snobs an, um an »beinahe hundert Bisons« ihre Schießkünste zu demonstrieren.(14)

   Von der Regierung in Washington wurde dieses Treiben nicht nur nicht verhindert, sondern sogar unterstützt, erkannte man doch deutlich, was mit der Ausrottung der Bisons erreicht werden konnte: »Jeder tote Büffel bedeutet einen Indianer weniger!«,(15) und General Sheridan prägte den dazu passenden Spruch »Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer«. Daß die Weißen hier ›ganze Arbeit‹ leisteten, zeigen die folgenden Zahlen: 1840 gab es ca. 50 Mio. Bisons, 1881 in den gesamten USA gerade noch 85 (!) Stück.(16)

   Der Umgang mit den Indianern und ihrem Lebensraum ist ein von vielen Amerikaautoren thematisierter Aspekt des Lebens an der Frontier, und vor allem Karl May hatte diesbezüglich eine ganz eindeutige Haltung, die in vielen seiner Bücher zum Ausdruck kommt.


2. Auswanderer und Siedler bei Mays literarischen Vorbildern

Da seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Auswanderung immer stärker als neues Verhaltensmuster zur Lösung sozialer und individueller Probleme angenommen wurde und sich breite Schichten der Bevölkerung aus zahlreichen Quellen (Berichte von Verwandten, Broschüren von Agenturen usw.) über die praktische Seite der Auswanderung informieren konnten, schrumpfte die Distanz zu Amerika im Bewußtsein der Deutschen immer weiter. Die Zeitungen berichteten über Ereignisse aus den USA so, als ob sie im eigenen Land geschehen wären, und sehr viele deutsche Familien hatten zu dieser Zeit wenigstens einen Angehörigen oder Nachbarn in Amerika.

   Bei einer solchen Präsenz des Themas in der Öffentlichkeit kann es nicht verwundern, daß sich fast gleichzeitig mit dem Beginn der Massenauswanderung um 1830 in Deutschland eine ganze Literaturrichtung ausbildete, die darauf Bezug nahm und ihre Themen und Schauplätze in den USA suchte. Am häufigsten geschah dies in der für diese Zeit charakteristischen Kunstform des Romans.


//174//

   Zum Thema ›Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen Literatur‹ liegt eine umfangreiche Untersuchung von Juliane Mikoletzky(17) vor, die »die fiktionale Amerikaliteratur als Teil der allgemeinen zeitgenössischen Auswanderungsdiskussion«(18) interpretiert und anhand von 162 zwischen 1835 und 1905 erschienenen Einzeltiteln herauszufinden versucht, was fiktionale Texte in bezug zur Wirklichkeit (der Auswanderung) leisten können und welche Funktionen Auswandererliteratur für die ›Daheimgebliebenen‹ erfüllt hat.

   Unter den untersuchten Autoren befinden sich unter anderen: Friedrich Gerstäcker, Ferdinand Kürnberger, Balduin Möllhausen, Otto Ruppius, Friedrich Armand Strubberg, Charles Sealsfield (d. i. Karl Postl) und Karl May.

   Wie die einzelnen Autoren mit dem Thema Auswanderung umgegangen sind, hing hauptsächlich von der Frage ab, ob sie selbst ausgewandert sind, andererseits aber auch von der Generation, der sie angehörten.

   Genau wie bei ihren literarischen Aussiedlern gab es bei den emigrierten Amerika-Schriftstellern mehrere Gründe, die sie zur Auswanderung anregten: Da waren zunächst die Flüchtlinge, die im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 entweder mit den Verhältnissen in Deutschland nicht mehr zurechtkamen oder sogar aus politischen Gründen fliehen mußten. Hierzu zählen z. B. Adalbert Graf Baudissin, Carl Julian Werner Dilthey, Friedrich Rulemann Eylert, Carl Theodor Griesinger, Reinhold Solger und Otto Ruppius; zu den ›Politischen‹ kann man auch Sealsfield zählen, der allerdings bereits 1822 nach Amerika aufbrach und der in den Vereinigten Staaten ein politisches Vorbild sah.

   Die zweite wichtige Gruppe waren die Abenteurer, die von Abenteuerlust und innerer Unruhe über den Ozean getrieben wurden, wie z. B. Gerstäcker, der frühe Möllhausen und Friedrich Karl von Wickede, die alle ein recht ›unstetes‹ Leben geführt haben.(19) Die meisten Nicht-Auswanderer unter den Amerikaautoren hatten allerdings zu irgendeinem Zeitpunkt Auswanderungspläne und somit einen starken Bezug zum Thema ›Amerika‹.

   Die Romanciers lassen sich aufgrund von Übereinstimmungen im Werk in drei Autorengenerationen zwischen 1784 und 1857 einteilen.(20) Auch Anselm Maler sieht die Autoren der Abenteuerromane des 19. Jahrhunderts nicht einheitlich, vor allem hinsichtlich der Bedeutung von Abenteuer und realistischer Schilderung von ›Land und Leuten‹.(21) So gibt es beispielsweise Unterschiede zwischen den Werken der Vor- und Nachmärzzeit einerseits und denen der Wilhelminischen Zeit an-


//175//

dererseits. Zum Teil erklärt sich die verschiedene Sicht- und Darstellungsweise der amerikanischen Verhältnisse auch aus den beiden Vorbildern, an denen sich viele der Autoren orientierten: Während nämlich Gerstäcker und Armand eher in der Folge von Walter Scott schrieben, richteten sich Theodor Mügge, Otto Ruppius, Sophie Wörishöffer, Möllhausen, Sealsfield und auch May eher nach dem Stil der Lederstrumpf-Erzählungen J. F. Coopers.(22)

   Bezüglich der Auswandererliteratur ergibt sich daraus eine Einteilung des 19. Jahrhunderts in zwei Phasen: In der ersten Phase, die etwa der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entspricht, wird die Auswanderung in der Regel als aktuelles Phänomen behandelt, während sie in der zweiten Hälfte eher als historisches Ereignis dargestellt wird.


Die Auswanderung als aktuelles Phänomen

In vielen Amerikaromanen treten deutsche Auswanderer auf; je nach Autor und Werk als Haupt- oder Nebenfiguren. Aber die Autoren der ersten Jahrhunderthälfte lassen den Leser den Auswanderungsprozeß viel ausführlicher miterleben. Sie schildern die Auswanderung als aktuelles oder eben erst vergangenes Geschehen.

   Das Bild, das die verschiedenen Autoren dabei von Amerika bzw. der amerikanischen Gesellschaft zeichneten, hing zum großen Teil davon ab, ob sie zur Gruppe der Flüchtlinge, der Abenteurer oder der Nicht-Amerikaner gehörten. So zeichnete z. B. Charles Sealsfield in seinen Büchern ein Amerikabild, das der vormärzlichen Amerikabegeisterung entgegenkam, da er in Europa politisch wirken wollte. Er bot seinen Lesern keine Gesellschaftsschilderung, sondern führte sie an die »Grenze zwischen Zivilisation und unberührter Natur«,(23) da er im Squatterleben die Keimzelle einer künftigen Republik sah und hier die Rechte und Freiheiten zu finden glaubte, die er verwirklichen wollte. Es ging ihm dabei aber nicht so sehr um das Wohl des einzelnen, sondern um eine Lösung für ›das ganze Volk‹.

   Zwar wird auch in dieser Phase, in der viele Autoren mit Amerika-Erfahrung tätig sind, kaum eine der Wirklichkeit entsprechende Darstellung der Auswandererstrukturen bezüglich sozialem Stand, Alter usw. erzielt, und die Gründe für die Auswanderung werden weniger in den tatsächlich herrschenden sozio-ökonomischen Bedingungen der damaligen Zeit als vielmehr in privaten Motiven gesucht.(24) Doch beschreiben viele der Romane sehr genau die ersten Schritte der Einwanderer in der neuen Heimat und die Probleme, die dabei auftreten. Man


//176//

liest aber auch sehr realistische Schilderungen der Natur, so daß diese Bücher in der damaligen Zeit durchaus eine gewisse Ratgeberfunktion für diejenigen hatten, die daran dachten, ebenfalls auszuwandern. Nach Maler erwarteten die zeitgenössischen Leser von einem Autor wie Charles Sealsfield tatsächlich »(. . .) weniger erzähltheoretisches Raffinement als die Vermittlung überseeischer Wirklichkeit«,(25) und für Möllhausen dienten abenteuerliche Erzählungen nur dazu, seine »(. . .) gewissenhafte(n) und unverfälschte(n) Schilderungen von Natur und Ländern (. . .) miteinander zu verbinden«.(26)

   Erst in der ausgehenden Wilhelminischen Ära ging man daran, die populären Überseeromane des 19. Jahrhunderts durch Reduzierung auf das Handlungselement, also das Abenteuerliche, für die besondere Zielgruppe der Jugendlichen ›zurechtzubearbeiten‹.(27)


Die Auswanderung als historisches Ereignis

Als aktuell oder gegenwärtig wird die Auswanderung nach Mikoletzky eigentlich nur zwischen 1835 und 1857, also von den Autoren der ›ersten und zweiten Generation‹ beschrieben.(28)

   Im Laufe der Entwicklung der Auswanderungsliteratur, hauptsächlich aber seit Mitte der 60er Jahre, verschiebt sich nämlich der Zeitraum, in dem die Autoren ihre Figuren auswandern lassen, von der aktuellen Gegenwart hin zu historisierenden Beschreibungen, in denen sich die Auswanderung (häufig nicht mehr der Handlungszeitraum) zunehmend vom Erscheinungsjahr des Romans entfernt.(29)

   Auch in den späten Erzählungen sind die Deutschen also überwiegend bereits mit der ersten großen Einwanderungswelle in die USA gekommen, während die zweite große Auswanderungswelle bei den Autoren so gut wie keine Beachtung fand.

   Häufig läßt sich jedoch der Auswanderungszeitpunkt der Figuren gar nicht bestimmen. Hinzu kommt der Umstand, daß gegen Ende des Jahrhunderts fast nur noch Autoren aktiv waren, die Amerika nicht mehr aus eigener Anschauung kannten, so daß ihnen offensichtlich die Motivation für die eingehende Beschäftigung mit der Auswanderung fehlte. Statt dessen wurde die Auswanderung vom beherrschenden Thema zum »frei disponiblen literarischen Motiv«.(30) In diesen späten Werken, zu denen auch die von Karl May gehören, der übrigens der zweitjüngste der untersuchten Autoren ist, überwiegen ganz deutlich Motive und Elemente des exotischen Abenteuerromans; sie sind längst keine reinen Auswanderererzählungen mehr. Die Helden dieser späten


//177//

Erzählungen suchen keine feste Niederlassung, sondern sie sind Reisende, die »neue Erfahrungen und ›Abenteuer‹ suchen«.(31) Sie scheinen auch auf ihrem Weg zu einer Karriere in Amerika nur noch die Wahl zwischen dem Dasein als Farmer oder als Jäger zu haben; alle anderen Existenzformen werden mehr und mehr ausgeklammert.

   Dagegen werden andere Bereiche der Auswanderung ausführlicher und sogar recht realitätsnah geschildert, wie z. B. das Vorrücken der Frontier und das Aufkommen neuer Verkehrsmittel. Auch neue Motive für die Auswanderung werden genannt, wie die Suche nach verschollenen Verwandten.(32)


Geographische Herkunft der fiktionalen Auswanderer

Von den meisten ausgewanderten Romanfiguren erfährt der Leser nur allgemein, daß sie aus Deutschland kommen. Von denen, deren Herkunft bekannt ist, stammt die größte Gruppe aus Mitteldeutschland, wozu Karl May mit seinem Faible für seine sächsische Heimat allerdings erheblich beigetragen hat. Mit der Rekrutierung seiner Emigranten aus dem ländlichen und klein- bzw. mittelstädtischen Bereich trifft er die Realität der Auswanderung recht genau, die tatsächlich selten aus den Großstädten erfolgte.(33) Dabei legen die meisten der ›Nicht-Amerikaner‹ unter den Autoren großen Wert auf eine genaue Bezeichnung des Heimatortes, während sich die ›Amerikaner‹ häufig mit ›Deutschland‹ begnügen. Erklärlich wird dies durch die Tatsache, daß die Autoren jeweils vor dem Hintergrund der ihnen bekannten Realität geschrieben haben, die in Deutschland durch Kleinstaaterei und landsmannschaftliches Bewußtsein geprägt war, während für die ›Amerikaner‹ im Angesicht der Konfrontation mit einer fremden Gesellschaft die landsmannschaftlichen Unterschiede sehr rasch an Bedeutung verloren und man sich einfach zur ›deutschen Nation‹ zählte.(34)

   In den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts werden Rolle und Vorzüge des deutschen Nationalcharakters von allen Autoren stärker betont als vorher.


Die soziale Struktur der fiktionalen Auswanderer

Über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg dominieren (nicht nur zahlenmäßig) die Männer das Geschehen in den Romanen. Insgesamt gilt im Durchschnitt etwa das Verhältnis Männer : Frauen = 3 : 1,


//178//

wobei die Übermacht der Männer zum Ende des Jahrhunderts, analog zur wachsenden Bedeutung der Abenteuerelemente, sogar noch etwas zunimmt. Die meisten weiblichen Figuren tauchen dementsprechend in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, sind allerdings auch hier häufig nur ›Anhängsel‹ der Männer (Ausnahme: Sealsfields ›Tokeah‹), so daß der Leser lediglich erfährt, daß es sie gibt.(35)

   Diese Darstellung stimmt jedoch mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht ganz überein. Zwar war der Anteil der männlichen Auswanderer stets größer als der der weiblichen, doch bewegte er sich etwa zwischen 55 % und 66 %.(36)

   Analog dazu weichen natürlich auch die Hinweise auf den Familienstand der Romanfiguren von den Verhältnissen in der Realität insofern ab, als die jungen männlichen Einzelauswanderer gegenüber anderen Gruppen (z. B. den Familien) stark überrepräsentiert sind. Daß diese Tendenz zum Ende des Jahrhunderts noch stärker wurde, läßt sich wohl ebenfalls mit der Verschiebung von der reinen Auswanderungs- zur Abenteuerliteratur erklären, die jeweils ein entsprechendes ›Personal‹ benötigen.

   Über das Alter der fiktionalen Auswanderer werden sehr unterschiedliche Angaben gemacht, die von der exakten Nennung des Alters bis hin zu vagen Andeutungen oder völligem Offenlassen der Frage reichen.

   Die meisten Amerikaautoren gehen ausführlich auf die Berufe ihrer Auswanderer ein, die fast das gesamte damalige Spektrum abdecken.


3. Auswanderer und Siedler bei May

Unter den oben behandelten Amerikaautoren nimmt Karl May nicht nur wegen seines überragenden und bis heute andauernden Erfolges eine Sonderstellung ein. Er ist außerdem der jüngste der bekannteren Autoren und steht somit am Ende der aufgezeigten Entwicklung innerhalb der Auswanderungsliteratur, so daß er einige seiner Erzählungen bereits selbst im Sinne der zu dieser Zeit herrschenden Tendenz der Betonung des Abenteuerlichen für die Zielgruppe der Jugendlichen verfassen konnte. Man kann bei Mays Romanen nicht mehr von Auswandererliteratur im engeren Sinne sprechen, dennoch tauchen auch in seinen Werken zahlreiche, vor allem deutsche Übersiedler auf, deren Eigenschaften und deren Schicksal im folgenden untersucht werden sollen.

   Hier interessieren zunächst die Gründe, die zur Auswanderung führ-


//179//

ten, und die eigentliche Ansiedlung in der neuen Heimat. Außerdem soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die neuen Bewohner des Westens dort zurechtfinden und an die fremden Verhältnisse (Natur und Menschen) anpassen.

   Obwohl May erst 1908 selbst sein so oft beschriebenes Amerika besucht hat, wurde er doch schon als Jugendlicher mit dem Phänomen der Auswanderung sehr direkt konfrontiert: In seiner Autobiographie berichtet er davon, daß einige Familien aus Ernstthal beschlossen hätten, im nächsten Jahre (1854) nach Amerika auszuwandern.(37)


3.1. Auswanderung und die erste Zeit in Amerika

Ebenso wie in vielen Romanen anderer Amerikaautoren dürfte auch bei May in den meisten Fällen der Entschluß zur Auswanderung durch eine Kombination von verschiedenen Faktoren ausgelöst worden sein, wobei religiöse oder weltanschauliche Gründe übrigens bei allen Autoren so gut wie keine Rolle spielen.(38) Es lassen sich allerdings einige Schwerpunkte erkennen:


Auswanderung aus politischen Gründen

Eine Auswanderung aus politischen Gründen kommt zwar vor, wandelt sich aber von einem in der Auswandererliteratur bis Anfang der 60er Jahre positiv bewerteten Motiv hin zu einem dunklen Punkt in der Vergangenheit der Figur. Betroffen von dieser negativen Beurteilung gegen Ende des 19. Jahrhunderts sind vor allem die im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 Geflohenen, die in der Phase der Restauration als Volksverhetzer und Aufrührer angesehen wurden.

   Besonders deutlich wird diese negative Bewertung der ehemaligen Revolutionäre in der Klekih-petra-Episode aus ›Winnetou I‹. Klekih-petra, der ›weiße Vater‹ der Apachen, erscheint hier als reuiger Sünder, der seine revolutionäre Vergangenheit als Abkehr von Gott und der Obrigkeit beschreibt. Er habe als Redner berauschende(s) Gift unter die Menschen gebracht und sei so zum Massenräuber geworden, der den Glauben an und das Vertrauen zu Gott in ihnen tötete.(39) Klekih-petra sieht jedoch sein Unrecht ein und büßt es, indem er versucht, den Apachen zu helfen und ihnen den christlichen Glauben näherzubringen.(40)

   In Zusammenhang mit dieser Szene wurde May mehrfach vorgeworfen, er verurteile die Ideale der Revolution, Vernunft und Aufklärung,


//180//

da sie für ihn mit dem christlichen Glauben unvereinbar seien und zur Abkehr von Gott führten.(41)

   Claus Roxin kann indes recht überzeugend nachweisen, daß May zwar Klekih-petras früheres Handeln verurteilt, daß der Grund hierfür jedoch nicht in dessen Eintreten für Vernunft und Aufklärung liege, sondern darin, daß May die Revolution deutlich von ihren Zielen und Idealen zu trennen wußte und strikt gegen die Art und Weise war, mit der die Revolutionäre diese durchsetzen wollten.(42)

   Für May führten nämlich Dummheit und Fanatismus zu Chaos und Unheil, während nur durch Vernunft und Aufklärung eine Besserung der menschlichen Zustände erreicht werden könne.(43) Genau in diesem Sinne handelt Klekih-petra, wenn er nach seiner seelischen Wandlung die Lehre von Gewalt, Aggression und Terror durch die Predigt von Liebe, Vernunft und Frieden ersetzt.(44)

   Hierin wird Mays Überzeugung deutlich, daß eine langsamere aber friedliche Entwickelung der staatlichen Verhältnisse einer Ueberstürzung vorzuziehen ist . . .(45)

   Bei den meisten Figuren aus Mays Erzählungen spiegelt sich ihre geistige und moralische Haltung (Qualität) bereits in ihrer körperlichen Gestalt wider; daher kann man aus der äußerlichen Erscheinung Klekih-petras wohl schon auf die ablehnende Einstellung Mays gegenüber dessen früherer Geisteshaltung schließen: Er war klein, hager und buckelig.(46) Dies scheint auch trotz der toleranten Hinweise des Ich-Erzählers auf einen unverdienten körperlichen Fehler oder Mangel(47) gerechtfertigt, da Klekih-petra zwar später seine Vergehen aus tiefem Herzen bereut und zu Gott zurückgefunden hat, zuvor aber dennoch, auch nach eigener Einschätzung, eine große Sünde begangen hatte.

   Klekih-petra ist das bedeutendste Beispiel politisch motivierter Auswanderung bei May. Ein weiterer politischer Flüchtling ist dagegen einer, von dem man dies eigentlich kaum vermutete: Old Firehand »war Oberförster da drüben im alten Lande . . ., bis die Zeit der politischen Gärung kam, welche so manchen braven Mann um seine Ziele betrogen hat und auch ihn in den Strudel trieb, welchem er sich schließlich nur durch die Flucht zu entziehen vermochte.«(48) Allerdings hat diese Tatsache ebensowenig Bedeutung für die Beurteilung der Person Old Firehands durch andere Figuren wie für den weiteren Fortgang der Handlung. Das gilt auch für den Westmann Sam Fire-gun (Samuel Wallerstein) in ›Auf der See gefangen‹, der – ein Kind armer Eltern – zunächst als Förster auf den Besitzungen des Fürsten Otto Victor von Schönberg-Wildauen arbeitete, dann aber wegen Verstrickungen in die 48er-Unruhen nach Amerika flüchten mußte. Klekih-petra bleibt also die


//181//

einzige Figur in Mays Werk, auf deren revolutionäre Vergangenheit näher eingegangen wird. Diese Episode klingt allerdings sogar bis in das Spätwerk ›Winnetou IV‹ hinein, wo die Umkehr vom Kriegsgedanken zum Friedensgedanken, vom Hasse zur Liebe, von der Rache zur Verzeihung(49) sogar bis in die politischen Konsequenzen entfaltet wird.(50)

   Die eigentlichen politischen Geschehnisse von 1848 werden, typisch für May und seinen Umgang mit historischen – vor allem politischen – Ereignissen, nicht eigentlich thematisiert, sondern dienen nur als Auslöser für Handlungsmotivationen.(51) Dies legt den Schluß nahe, daß May der Auswanderungsgrund für die Mehrheit seiner Figuren letztlich gleichgültig war.


Auswanderung aus allgemeiner Unzufriedenheit
mit den ›Verhältnissen‹

Rein quantitativ spielt sicherlich die ›allgemeine Unzufriedenheit‹ mit den Verhältnissen in der Heimat die größte Rolle für die Auswanderer in Mays Erzählungen. Die meisten sind arme Leute, die in der Hoffnung auswandern, in Amerika ein besseres Leben führen zu können. Sehr häufig reisen sie im Familienverband oder sogar in größeren Gruppen wie im ›Oelprinz‹, in ›Winnetou III‹ (Bewohner von Helldorf Settlement), in ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ oder in ›Satan und Ischariot I/II‹.

   Allerdings handelt es sich bei dieser Gruppe von Auswanderern meist um Nebenfiguren oder sogar solche mit reiner ›Statisten-Funktion‹.(52) May ging es also offensichtlich nicht darum, eine Beschreibung oder gar eine kritische Aufbereitung von Mißständen in der Heimat zu liefern, sondern er wollte mit der Thematisierung der Auswanderungsgründe wohl eher einen mehr oder weniger realitätsnahen Background für seine Erzählungen schaffen.


Auswanderung aus Abenteuerlust

Für die Hauptfiguren oder sogar die überragenden Helden der Erzäh-lungen ist nämlich fast immer (Ausnahme z. B. Old Firehand) die in Wirklichkeit eher unbedeutende Auswanderung aus Abenteuerlust entscheidend. Sie wollen in der Fremde etwas erleben oder Land und Leute kennenlernen.

   So treiben Mays bedeutendsten Helden, Old Shatterhand, zwar auch


//182//

unerquickliche Verhältnisse in der Heimat nach Amerika; noch stärker ist aber sein angeborener Tatendrang.(53)

   Hierin hätte er beinahe mit seinem ›Schöpfer‹ übereingestimmt, der im Jahre 1869 in einem Brief an seine Eltern verkündete, er habe die Absicht, die Welt kennenzulernen und Erfahrungen zu sammeln, und werde zu diesem Zweck als Hauslehrer in die Dienste zweier Amerikaner namens Burton treten, denen er zufällig begegnet sei. Die von Old Shatterhand als Reisegrund erwähnten unerquickliche(n) Verhältnisse lagen im Falle Mays allerdings zur Genüge vor, da er sich gerade wieder einmal auf der Flucht vor den Behörden befand.(54)

   Von Frau Rosalie Ebersbach im ›Oelprinz‹ wird dagegen gesagt, daß sie vermögend sei und im Grunde hätte zu Hause bleiben können. Doch gefiel es ihr nicht mehr in Deutschland, und als der Kantor ihr von seinen Reiseplänen berichtete, wollte sie auch mit nach Amerika. Sie hat anscheinend denselben ›Drang nach der Fremde‹ wie Old Shatterhand und war außerdem entzückt darüber, »daß in Amerika die Damen so außerordentlich geachtet und berücksichtigt werden«.(55)


Auswanderung als Flucht vor strafrechtlicher Verfolgung

Die Auswanderung als Flucht vor strafrechtlicher Verfolgung findet man bei Karl May nur selten. Ein Beispiel hierfür bietet im Roman ›»Weihnacht!«‹ die Familie Hiller, die zu Unrecht eines schweren Verbrechens beschuldigt wurde und einer polizeilichen Verfolgung nur durch Flucht entgehen konnte.(56) Dieser Familie Hiller gelingt es jedoch schließlich – selbstverständlich mit Old Shatterhands Hilfe – die Ehre der Familie wieder herzustellen, so daß sie in die Heimat zurückkehren kann.

   Auch Max von Schönberg-Wildauen (›Auf der See gefangen‹) flieht aus der Heimat nach Amerika. Ihm wurde ein Raubmord untergeschoben. Als Max Parker avanciert er in den Staaten zum Offizier der Marine. Da der wahre Verbrecher nach langen Jahren endlich gefangen werden kann, ist es Max doch noch möglich, heimzukehren.

   In diesen Fällen handelt es sich also um ›Auswanderer wider Willen‹, die alles daransetzen, um wieder nach Hause zurückkehren zu können. Nicht direkt als Flucht vor strafrechtlicher Verfolgung, aber doch damit verwandt ist der Grund, auszuwandern, um ein ›ehrliches Leben‹ nach krimineller Vergangenheit zu beginnen. Beispiele dafür sind Gérard Mason (›Waldröschen‹), der als Garrotteur in Paris schlimme Verbrechen beging, bevor er im Westen als ›Der schwarze Gérard‹ ein angese-


//183//

hener Westmann wurde, und der Bowie-Pater (›Die Juweleninsel‹) – auch er/sie wird ein Westmann (wenn auch ein eher zwielichtiger).

   Wegen unbezahlter Schulden wandert der Pirnero (›Waldröschen‹) aus, der später am Rande des Llano estakado eine Venta betreibt und so zum reichsten Mann der Gegend wird.


Auswanderung aus sonstigen Gründen

Neben den bisher genannten Auswanderungsgründen spielen bei May auch zuweilen familiäre Verhältnisse eine Rolle, sei es zum Zwecke der Familienzusammenführung wie in ›»Weihnacht!«‹, wo eine Frau mit Kind und Großvater dem nach Amerika geflüchteten Ehemann nachreist, oder um in den USA das (finanzielle und berufliche) Erbe eines wohlhabenden Verwandten anzutreten. So tritt z. B. in ›»Weihnacht!«‹ Old Shatterhands ehemaliger Schulkamerad Carpio in die Dienste seines Onkels. Auch der junge Adolf Wolf reist im ›Oelprinz‹ als Absolvent der Forstakademie Tharandt zu seinem reichen Onkel, der ihn zu seinem Nachfolger und Erben machen will, wenn er sich bewährt.(57) In der ›Juweleninsel‹ geht Friedrich von Walmy in den Westen, um seinen verschollenen Bruder zu suchen. Er wird ›drüben‹ zum Westmann ›Feuertod‹.

   Zu dieser Art Auswanderer kann man auch die Mitglieder der Familie Adlerhorst (›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹) zählen, die in alle Welt verstreut leben. In Amerika werden Anna und Magda von Adlerhorst durch das Versprechen einer guten Stellung in ein Quecksilberbergwerk gelockt, und Martin von Adlerhorst, ihr Sohn/Bruder – zunächst Oberaufseher auf einer Plantage – gerät ebenfalls dorthin. Nach der Befreiung durch Oskar Steinbach kehren sie nach Deutschland zurück.

   Zu den persönlichen Gründen für eine Auswanderung zählt auch Enttäuschung im privaten Bereich. Dies gibt May häufig bei Westmännern an: So wandern Andreas Straubenberger alias ›Der kleine André‹ (›Waldröschen‹) und Sam Barth (›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹) wegen einer gescheiterten Liebe aus. Anton Helmers alias ›Donnerpfeil‹ (›Waldröschen‹) kehrt der Heimat den Rücken, weil er seine Studienpläne nach dem frühen Tod des Vaters nicht mehr realisieren kann. Emil Reiter (›»Weihnacht!«‹) wird durch die Härte der Mutter nach Amerika getrieben.

   Mehrfach werden von May ›Differenzen mit dem Dienstherrn‹ als Auswanderungsgrund angegeben, so für John Helmers (›Der Geist des


//184//

Llano estakado‹), Besitzer von Helmers Home am Rande des Llano estakado, der in Deutschland Oberförster war, und für den Förster Rothe aus Zeulenroda (›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹), der nach der Vertreibung der Familie Adlerhorst mit seinen neuen Arbeitgebern nicht zurechtkam. Eher aus humorigem Anlaß, aber mit gleicher Konsequenz, wanderte der Hobble-Frank (›Der Sohn des Bärenjägers‹) in den ›Wilden Westen‹ aus: Er stritt im Wirtshaus so heftig über die richtige Aussprache des Wortes ›mehrschtenteels‹, daß er als Forstgehilfe nicht mehr im Amt bleiben konnte.

   Häufig brauchen die potentiellen Auswanderer auch einen Anstoß von außen, der sie dazu bringt, die vielleicht schon länger gehegten Pläne zur Übersiedlung auch wirklich in die Tat umzusetzen. Hierfür kommen sowohl professionelle Auswandereragenten als auch Verwandte oder Freunde in Frage, denen man sich anschließen kann. So trifft Old Shatterhand beispielsweise in ›Winnetou III‹ mitten in San Francisco eine ehemalige Nachbarin aus seinem Heimatort wieder, die ihm ihre Anwesenheit in den USA mit den Worten erklärt: »Die Mutter starb, . . da kam ein Agent, und der Vater ließ sich bereden.«(58) Und so war es wohl auch oft in der Realität.

   Einige Übersiedler sind sogar gezielt in der Heimat von Amerikanern zur Arbeit angeworben worden, wie die polnischen Auswanderer aus ›Satan und Ischariot‹, denen ein Auswanderungsagent ». . . das herrliche Land Mexiko . . .« schilderte, wo ». . . die Pesos und Dollars liegen geradezu auf der Straße für den, welcher Augen hat, sie zu finden«.(59)

   Ein besonders böses Auswandererschicksal schildert Karl May in ›Der Weg zum Glück‹. Dort werden Mädchen von ›Agenten‹ mit Versprechungen auf gute Stellungen in den Vereinigten Staaten auf ein Schiff gelockt, während in Wirklichkeit vorgesehen ist, sie in Amerika an Bordelle zu verschachern.

   Es bleibt also festzuhalten, daß die Auswanderer in Mays Romanen durchweg eher aus anderen Gründen die Heimat verlassen als aus den in der Realität weit überwiegenden, doch, literarisch betrachtet, eher profanen finanziellen Überlegungen heraus.


3.2. Eigenschaften der Auswanderer bei May

Wenn man von der Tatsache absieht, daß Karl May seine Auswanderer fast ausnahmslos aus seinem eigenen Heimatstaat Sachsen stammen läßt und damit natürlich nicht so ganz dem tatsächlichen Anteil der


//185//

Auswanderer aus Sachsen entspricht, so trifft er doch im Hinblick auf die soziale Struktur der Übersiedler die Realität erstaunlich genau.

   Allerdings gilt dies nicht für die Zustände in Amerika im Hinblick auf den zeitlichen Rahmen, in den er seine Erzählungen setzt. So läßt sich zwar anhand verschiedener Hinweise aus den Texten erschließen, daß viele seiner Romane in den späten 60er und 70er Jahren spielen müssen, in denen die zweite große Auswanderungswelle (auch aus den deutschen Staaten) in die USA rollte, doch nimmt May nur sehr selten tatsächlich Bezug auf historische Daten. Vor allem jedoch spiegelt Mays ›Wilder Westen‹ über weite Strecken Verhältnisse wider, wie sie in Amerika zuletzt um 1840 geherrscht haben.

   In dieser Zeit etwa (zwischen 1830 und 1836) unternahm der Portraitmaler George Catlin ausgedehnte Reisen in den Westen Nordamerikas, in deren Verlauf er fast 600 Gemälde anfertigte, die ihm den Ruf als ›Indianermaler‹ einbrachten.

   Doch Catlin brachte seine Erlebnisse und Eindrücke nicht nur mit Zeichenstift und Pinsel zu Papier und Leinwand, er verfaßte auch einen zweibändigen Bericht über ›Die Indianer Nord-Amerikas‹.(60) Dieses Werk, das in der deutschen Ausgabe 24 (kolorierte) Bildtafeln enthielt, wurde zu einer wichtigen Quelle für Mays Nordamerikaerzählungen, vor allem aber für ›Winnetou I‹. Von Catlin übernahm May zahlreiche Erlebnisse und Schilderungen des Lebens im ›Wilden Westen‹, die er meist noch mit zusätzlicher ›Action‹ versetzte (z. B. Jagden auf Büffel, Mustangs und Grizzlybären), deren Grundmuster sich aber häufig sehr genau mit der Vorlage decken.

   Den größten Einfluß allerdings hatte Catlin auf Mays Haltung gegenüber den Indianern, der seinem Vorbild auch in dessen entschiedenem Eintreten für die Kultur der Indianer folgte, so daß Gabriele Wolff wohl zu Recht der Überzeugung ist, der Roman ›Winnetou I‹, mit dem May der roten Rasse das wohlverdiente Denkmal(61) setzen wollte, wäre ohne Catlins Einfluß undenkbar gewesen.(62)

   Außer der Anlehnung an Catlin muß bei der Beurteilung des ›Zeitsprungs‹ in Mays Romanen auch das Genre seiner Werke berücksichtigt werden. Für seine Abenteuer- und Reiseerzählungen benötigte er nun einmal einen von Indianern und Westmännern bevölkerten ›Wilden Westen‹, den es um 1890, als seine berühmtesten Werke entstanden, so längst nicht mehr gab. Außerdem war es während Mays hauptsächlicher Schaffenszeit in der Amerikaliteratur bereits allgemein üblich, die Auswanderung zu historisieren.

   Allerdings ist eine ganz genaue historische und geographische Einordnung der Handlung für das Verständnis seiner Erzählungen auch gar


//186//

nicht notwendig. Diese im Wortsinn ›zeitlosen‹ Romanhandlungen Mays veranlaßten Hartmut Lutz zu der These, Karl May siedle »seinen ›Winnetou‹ in einem kulturellen und historischen Vakuum, im exotischen Irgendwann-Irgendwo, an, das lediglich durch Landkartenkenntnisse an die außertextliche Realität gebunden ist.«(63)

   Da es offensichtlich nicht Mays Absicht war, historische Romane zu schreiben – er wollte eher beim Publikum bestimmte (weniger politische) Wirkungen erzielen – kann man Lutz nur zustimmen, wenn er sagt, »eine Einbeziehung realhistorischer Elemente hätte in ›Winnetou‹ nur stören können.«(64)

   Obwohl also Mays Auswanderer überwiegend Sachsen sind, so stammen sie jedoch fast nie aus Großstädten, ganz genau wie die historischen Emigranten. Dresden wird zwar häufig erwähnt, doch ist der eigentliche Herkunftsort meist ein kleiner Ort in der Nähe (z. B. Klotzsche, Moritzburg).

   Überhaupt legt May, ebenso wie die meisten ›Nicht-Amerikaner‹ unter den Amerikaautoren, großen Wert auf die genaue Bezeichnung des Heimatortes seiner deutschen Figuren im ›Wilden Westen‹; so erklärt z. B. der Kantor im ›Ölprinz‹ jedem, dem er begegnet, daß er aus Klotzsche bei Dresden stamme.(65) Und im ›Schatz im Silbersee‹ unterhalten sich Tante Droll und Hobble-Frank ausgiebig über Sachsen im allgemeinen und über den Landkreis und die Stadt Altenburg im besonderen.(66)

   In den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts werden zudem Rolle und Vorzüge des deutschen Nationalcharakters (vor allem gegenüber den Eigenschaften der Yankees) stärker betont als vorher.

   Im allgemeinen erfährt man jedoch wenig über das Leben der Mayschen Auswanderer in der Heimat. Außerdem ist ihre Ausreise meist schon so lange her, daß ihre ehemaligen Verhältnisse in der Heimat für die Handlungen der Figuren (meist ohnehin Westmänner, die ganz andere Fähigkeiten besitzen müssen) keine Rolle mehr spielen.


3.3. Lebensformen im amerikanischen Westen:

Einwanderer mit und Reisende ohne Ansiedlungspläne

Nicht alle Auswanderer, die in Amerika ankommen, haben auch die Absicht, sich dort an einem festen Ort niederzulassen und entweder eine Farm zu gründen oder in einer Stadt einem anderen Beruf nachzugehen.

   So lassen sich die in die USA einreisenden Ausländer, mit besonde-


//187//

rem Blick auf den ›Wilden Westen‹ und die hier zu untersuchenden Siedler, in je zwei Ober- und Untergruppen einteilen.

   Da ist zunächst die Unterscheidung zwischen Siedlern und ›Personen ohne festen Wohnsitz‹. Dann teilt sich die Gruppe der Siedler in diejenigen, die sich allein oder nur mit ihrer Familie ein Stück Land suchen und urbar machen, und in die, die sich in größeren Gemeinschaften ansiedeln und eigene Settlements gründen.

   Die ›Nichtseßhaften‹ dagegen lassen sich differenzieren in Reisende, die aus Abenteuerlust oder als Bildungsreisende unterwegs sind, und in die typischen Mayschen Westmänner, die normalerweise für immer im Westen bleiben, während eine zweite, weitaus kleinere Westmanngruppe, zu der z. B. Old Shatterhand gehört, immer wieder für längere Zeit in die Heimat zurückkehrt.


Einzelfarmer und Gruppenansiedlung

Bei May und vielen seiner literarischen Vorgänger erfolgte die Ansiedlung der Auswanderer zwar auch durch einzelne Familien, häufiger je-


//188//

doch in Gruppen oder ganzen Kolonien, was in der Realität vor allem für Deutsche typisch gewesen zu sein scheint.(67) Während sich jedoch die anderen Autoren durchweg kritisch gegenüber solchen Vorhaben äußern, die sie für nicht lebensfähig halten, sind derlei Zweifel bei May nicht zu lesen.

   Er läßt z. B. in ›Winnetou III‹ eine Gruppe deutscher Steinschneider erfolgreich das ›Helldorf-Settlement‹ gründen, wo die Menschen in Harmonie miteinander leben. Auch von den bereits erwähnten Auswanderern in ›Satan und Ischariot‹ erfährt der Leser nur, daß sie am Ende gemeinsam einer zwar einfachen, aber doch bessern und früchtereichen Zukunft entgegenblicken.(68)

   Bei May kommt nämlich die Bedrohung einer solchen Gemeinschaft nicht von innen heraus, wie bei den anderen Amerikaautoren, die die Ursachen hierfür vor allem in der großen persönlichen Freiheit in den Vereinigten Staaten sehen, wo die Untergebenen sich plötzlich auf die Gleichheit aller Menschen berufen und die Führungsansprüche ihrer ehemaligen Herren ablehnen. May stellt dagegen allenfalls einzelne Figuren als ›nicht gemeinschaftsfähig‹ dar, die dann in der Regel zum Schutz der Gemeinschaft sozusagen eliminiert werden. Beispiele hierfür sind die Jüdin Judith und ihr Verehrer Herkules in ›Satan und Ischariot‹; Judith heiratet einen Indianerhäuptling, Herkules begeht Selbstmord. Auch die Gruppe im ›Oelprinz‹ birgt in der Gestalt des Kantors einen solchen Störenfried, der zum Schluß, als man das von den Navajos geschenkte Land besiedelt, von Tante Droll und Hobble-Frank nach Deutschland zurückgebracht wird.(69)

   Tatsächlich scheint May aber mit dieser Auffassung erheblich weiter von der Realität entfernt gewesen zu sein als die anderen Autoren, die ja auch zum Teil die amerikanischen Verhältnisse aus eigener Anschauung kannten. Die einzigen überlebenstüchtigen Gruppen waren nämlich religiöse, die von einer straffen Hierarchie geprägt waren, wie z. B. die Rapptisten. Auch der sogenannte Mainzer Adelsverein ist mit seiner Ansiedlung in Texas gescheitert.(70)

   Es muß noch erwähnt werden, daß der Leser den eigentlichen Prozeß der Ansiedlung, ob einzeln oder in Gruppen, bei May fast nie miterleben kann. Die Leute, die in seinem ›Wilden Westen‹ unterwegs sind, um sich dort niederzulassen, werden nämlich vom Erzähler (bzw. von Old Shatterhand) in der Regel bereits verlassen, bevor die eigentliche Ansiedlung stattfindet, über die allenfalls am Rande und nur sehr knapp berichtet wird, da sie dem Charakter der Reiseerzählung (und auch Old Shatterhands) widerspricht und von May auch wohl als nicht besonders abenteuerlich angesehen wurde.


//189//

Reisende und Westmänner

Im ›Oelprinz‹ hat der Hobble-Frank mit seinen Erzählungen aus dem Westen den emeritierten Kantor Hampel dazu ermuntert, augenblicklich nach Amerika zu reisen, um dort die dringend erforderlichen Helden für seine geplante zwölfaktige Heldenoper zu suchen, da »die Helden von Rottecks Weltgeschichte . . . nämlich schon viel zu sehr abgedroschen«(71) seien. Vorher aber erzählt er noch einigen Bekannten, die sich ihm dann anschließen, von seinen Plänen.

   Genau wie Old Shatterhand geht es diesem eigenartigen Kantor also nicht darum, in Amerika für alle Zukunft ein neues Leben anzufangen, sondern für ihn ist der ›Wilde Westen‹ gewissermaßen das Ziel einer Geschäftsreise in Sachen Heldenoper. Auch sonst trifft man bei May auf den Typus des Reisenden, der in der Regel nur auf der Suche nach neuen Eindrücken und Abenteuern ist. Die typischen, reichen und spleenigen Engländer, etwa Sir William Wallerstone (›Der Waldläufer‹) und Lord Castlepool (›Der Schatz im Silbersee‹), seien hier als Beispiele erwähnt.

   Im Gegensatz zu allen anderen Gruppen ist das primäre Lebensziel der Westmänner die freie Bewegung, die keinerlei Gängelung durch Obrigkeit und Bürokratie unterliegt, gepaart mit einem starken Hang zum Abenteuer.

   Wie schon erwähnt, war für Old Shatterhand sein angeborener Tatendrang(72) für die erste Reise in den Westen entscheidend. Aber auch später ergreift ihn zuweilen die Prairiekrankheit mit voller, siegreicher Gewalt,(73) so daß er kurzentschlossen seine Gewehre packt und das nächste Schiff nach Amerika besteigt. Kaum dort angekommen, zieht es ihn förmlich, sich an dem Wagnisse zu versuchen, in jene unwirtlichen, nach der Sage der Rothäute von bösen Geistern belebten Schluchten und Canons einzudringen.(74) Der echte Westmann wird also von der Gefahr nicht abgeschreckt, sondern gerade angezogen: Aber gerade diese Gefahren sind es, die ihn locken und bezaubern . . . Daher ist seines Bleibens nicht in zivilisierten Distrikten, wo er seine Fähigkeiten nicht üben und betätigen kann . . .(75)

   Im Gegensatz zu den meisten Westmännern lebt Old Shatterhand nicht eigentlich im ›Wilden Westen‹. Während die anderen sich meist als Jäger und Fallensteller finanziell erhalten oder sich als Scouts verdingen, verwandelt sich Old Shatterhand nämlich von Zeit zu Zeit aus dem Westmanne in den Schriftsteller(76) und verdient sich durch den Verkauf seiner Erlebnisse an verschiedene Zeitungen seinen Lebensunterhalt.


//190//

   Er nimmt also zu den beiden ›nicht seßhaften‹ Gruppen im Westen eine Zwischenstellung ein, da er im Grunde beiden Gruppen angehört. Dies trifft auch für Emery Bothwell zu, der zwar reicher weltreisender Lord, aber auch ein ganz passabler Westmann ist.(77)


3.4. Anpassung an das Leben im Westen

Es schließt sich die Frage an, wie es den Auswanderern gelingt, sich in der fremden und in fast allen Belangen ungewohnten Umgebung des ›Wilden Westens‹ zurechtzufinden. Dabei haben es die Siedler nicht nur mit der häufig unwirtlichen Natur zu tun, sondern auch mit ganz unterschiedlichen Menschengruppen, denen sie begegnen.


Auswanderer und Natur

Obwohl May die Schönheit der Natur an vielen Stellen begeistert schildert, ist in seinen Büchern doch die Beziehung zwischen Mensch und Wildnis zwiespältig. Einerseits fliehen Mays Westmänner die zivilisierte Welt mit ihrer Enge und ihren Zwängen und suchen die Gefahr in der Wildnis, andererseits werden diese Gefahren natürlich auch als Bedrohung empfunden, und sichere, geschützte Orte, die einem locus amoenus sehr nahe kommen, werden als Refugium geschildert.(78)

   In den Situationen, in denen sich die vom europäischen Geist geprägten Menschen mit der Natur bzw. den Indianern als Menschen, die mit der einheimischen Natur in einem besonders engen Verhältnis stehen, auseinanderzusetzen haben und in denen die Vorzüge der Natur bzw. der Wildnis gepriesen werden, hat der (in europäischem Sinne kultivierte bzw. zivilisierte) Leser bei May immer die beruhigende Gewißheit, daß sich letztlich seine eigene gegen die einheimische Kultur oder die unberührte Wildnis durchsetzt, sei es durch überlegenes westmännisches Können oder durch planvolles Anlegen einer Farm, um den Boden urbar zu machen.

   Man denke in diesem Zusammenhang nur an die vielen Situationen, die vor allem der junge Old Shatterhand nur deshalb und zum Erstaunen der ›gestandenen‹ Westmänner mit Bravour bestehen kann, weil er darüber oder über ähnliche Dinge zu Hause in wissenschaftlichen Büchern oder Romanen gelesen hat und diese Kenntnisse nun anzuwenden versteht: ». . . es kommt darauf an, wer ein solches Buch liest und wie er es liest. Man kann wirklich viel daraus lernen und dann in der Wirklichkeit für andere, ähnliche Fälle anwenden.«(79)


//191//

Tauglichkeit der Siedler für den ›Wilden Westen‹

Auch in dieser Beziehung weicht May von einigen seiner Vorgänger ab, da bei ihm z. B. die sonst häufig auftauchenden sogenannten ›Latin Farmer‹(80) als nicht besonders angepaßte Siedler so gut wie keine Rolle spielen. Diese als etwas weltfremd angesehenen ›Latin Farmer‹, die durch ihre Bildung, vor allem aber durch den Besitz einer Bibliothek und eines Klavieres auffallen, sind bei vielen Autoren gegenüber der Realität deutlich überrepräsentiert. Gründe für das völlige Fehlen eines solchen Siedlertyps bei May könnten zum einen in seiner gewählten Gattung der Reiseerzählung liegen, die ein längeres Verweilen auf einer Farm und damit die Notwendigkeit zu deren präziser Beschreibung in der Regel nicht vorsieht. Vielleicht wußte May aber auch nichts von dieser Art Auswanderer. Zum anderen könnte die Darstellung des Scheiterns gebildeter Personen aber auch die von May mit der Figur Old Shatterhand verbundene ›Botschaft‹ relativieren, daß man durchaus gebildet und musikalisch sein kann und gleichzeitig dennoch – oder gerade deshalb – allen Fährnissen des Westens gewachsen (also ein echter Westmann) ist.

   Obwohl es bei May also keine bekanntermaßen westuntauglichen ›Latin Farmer‹ gibt, stellt er doch in der Regel Siedler und Westmänner nicht als gleichwertig bzw. gleichrangig dar (Ausnahmen: Helmers im ›Geist des Llano estacado‹ oder die Leute auf ›Butlers Farm‹ im ›Schatz im Silbersee‹). Häufig sind die Farmer sogar nur dazu da, um von den Westmännern beschützt zu werden. Für diese Rolle eignen sich westmännische ›Greenhorns par excellence‹ wie die (deutschen) Einwanderer natürlich ungemein, so daß auch die bereits mehrfach erwähnten Auswanderergruppen(81) ihr Ziel selbstverständlich nur erreichen können, weil Old Shatterhand ständig in die Schwierigkeiten anderer hineingezogen wird bzw. seine edle Gesinnung ihn zwingt, sich der Wehrlosen, Schutzbedürftigen und Unerfahrenen anzunehmen, die meist ohne seine Hilfe feindlichen Banditen, Indianern oder den Unbilden der Natur zum Opfer fielen.

   Daß es nicht ausreicht, nur im Westen zu leben, um als Westmann gelten zu können, macht Old Shatterhand einem jungen Deutschen im Helldorf-Settlement deutlich: »Selbst bei einem drei Jahre langen Urbarmachen einer Wildnis wird man nur ein Settler, aber kein Westmann.«(82) Hierfür waren auch in der Realität weiterreichende Fähigkeiten notwendig.

   Ansonsten aber haben sich die Bewohner von Helldorf bereits recht gut im Westen eingelebt, ganz im Gegensatz zu den sächsischen Origi-


//192//

nalen Rosalie Ebersbach und Kantor emeritus Hampel, die beide so gut wie keine Ahnung von Amerika, geschweige denn vom ›Wilden Westen‹, haben und nicht einmal des Englischen mächtig sind. So ist etwa der Kantor der Ansicht: Land ist Land, gleichviel, ob es Sachsen oder Arizona heißt, und auch Verständigungsprobleme nimmt er nicht wahr, denn (s)eine Sprache ist die Musik.(83)

   Demzufolge können die beiden natürlich ebensowenig wie ihre Treckgefährten wissen, wie man mit berühmten Westmännern umzugehen hat. Ihr Anführer, der mit den Sitten und Gebräuchen im ›Wilden Westen‹ ebenfalls in keiner Weise vertraut ist, beurteilt z. B. Sam Hawkens bei der ersten Begegnung nach deutschen (bzw. ›zivilisierten‹) Maßstäben, nennt ihn seiner wunderlichen Kleidung wegen einen Hanswurst und schlägt deshalb seine Warnung in den Wind.(84) Wenig später lernt er jedoch die wichtige Wild-West-Regel, niemals jemanden nach dem Anzuge zu taxieren, den er auf dem Leibe trägt,(85) was ein von May im Rahmen des ›Verkennungsmotivs‹(86) häufig benutztes Sujet ist und gleichzeitig Ausdruck für den hohen Stellenwert, den die Freiheit und Eigenständigkeit des einzelnen für May besitzen.

   Nach längerer Anwesenheit im Westen wissen die Menschen allerdings die Taten der berühmten Westmänner zu würdigen und betrachten es als Ehre, wenn Winnetou oder Old Shatterhand bei ihnen einkehrt.


Siedler und Indianer

Der Umgang mit den Indianern und ihrem Lebensraum ist ein von vielen Amerikaautoren thematisierter Aspekt des Lebens an der Frontier, und vor allem Karl May hatte in dieser Hinsicht eine ganz eindeutige Haltung, die in vielen seiner Bücher zum Ausdruck kommt. Die Begegnungen zwischen Siedlern und Indianern verlaufen gewöhnlich noch weitaus weniger harmonisch als zwischen Siedlern und Westmännern, was nicht nur in den unterschiedlichen Kulturen, sondern vor allem in der meist unrechtmäßigen Landnahme durch die Weißen begründet ist. May läßt vor allem seine Helden Winnetou und Old Shatterhand, zur weiteren Vertiefung aber auch andere Figuren, flammende Reden halten, die dieses an den Indianern begangene Unrecht rigoros verurteilen. Ein Beispiel für die Einstellung der weißen (allerdings anglo-amerikanischen) Siedler zu dieser Thematik findet sich in ›Winnetou II‹. Winnetou und Old Shatterhand retten den Farmer Corner vor einem Überfall durch Okananda-Sioux. Corner ist ihnen jedoch keineswegs dank-


//193//

bar, da sie von ihm fordern, das Land, das er unrechtmäßig besetzt habe, entweder von den Indianern zu kaufen oder zu verlassen.(87) Es ist hier vor allem Winnetou, der Corner mehrmals zurechtweist und versucht, ihn von seiner vorgefaßten negativen Meinung über die Indianer abzubringen. Der Siedler beruft sich dagegen auf das (von Weißen formulierte) Heimstättengesetz und will gegen jeden Indianer dieses Recht verteidigen: »Wer bei mir einbrechen will, den schieße ich nieder; das ist mein Recht und ich bin entschlossen, es auszuüben.«(88) Es fällt ihm daher auch überhaupt nicht ein, das Land von den Indianern zu kaufen: »Gekauft? Daß ich so dumm wäre, es zu kaufen! Ich habe mich hierher gesetzt, weil es mir hier gefiel, und wenn ich die von dem Gesetze vorgeschriebene Zeit hier bleibe, gehört es mir.«(89)

   So wie Corner halten (und hielten in der Realität) viele Weiße die Indianer für Gesindel, das man möglichst bekämpft und als unmoralisch und unzivilisiert abqualifiziert.

   Allerdings erhalten auch die Roten ihre Strafpredigt, da sie sich feige des Nachts angeschlichen haben, um das Haus mitsamt seinen Bewohnern anzuzünden, anstatt offen und stolz, als Herren des Landes, den Settler aufzufordern, ihr Land zu verlassen.(90)

   Es gibt jedoch auch (abgesehen vom herausragenden Verhältnis Old Shatterhand – Winnetou) positive Beispiele für den Umgang von Siedlern und Indianern miteinander. So kommen im ›Schatz im Silbersee‹ Weiße und Indianer überein, daß die von Old Firehand entdeckte Gold- und Silberader nach Abschluß eines ›ewigen Friedens‹ zwischen Indianern und Weißen ausgebeutet werden kann.(91) Dies ist übrigens eine der wenigen Stellen in Mays Reiseerzählungen, die seine führende Westmannriege (natürlich mit Ausnahme von Old Shatterhand und Winnetou) als profitbedachte Gold- und Silberschürfer zeigt: Tante Droll und Hobble Frank träumen von einem Bauerngut in der Heimat bzw. von einem »komposante(n) Bau am schönen Schtrand der Elbe«,(92) den sie sich mit dem erworbenen Reichtum errichten wollen, während Humply-Bill und Gunstick-Uncle sogar ihren Dienst beim englischen Lord Castlepool quittieren und diesen allein durch den Westen reiten lassen, da sie sich von einer Beteiligung an der Mine einen höheren Gewinn ausrechnen. Allerdings erscheint die Goldgräberei hier in einem deutlich positiveren Licht als allgemein bei May üblich, da Old Firehand als Entdecker alle anderen am Fund teilhaben läßt und niemand so sehr vom ›deadly dust‹ besessen ist, daß es maßlos oder charakterschädigend wäre. Bei May sind es neben den Indianern vor allem Deutsche, die es schaffen, relativ nüchtern und rational mit dem großen Reichtum umzugehen und ihre Ansprüche auf essentielle Dinge (dem Einkommen


//194//

angemessen aber in gehobenerem Stil: ›Villa‹) beschränken können. Daß es dabei gerade um Häuser geht, ist bemerkenswert, da May sich einige Jahre später selbst den Traum von der eigenen Villa (›Villa Shatterhand‹) erfüllte und damit auch nach außen hin sichtbar aus dem ›tiefsten Ardistan‹ ins großbürgerliche Milieu aufgestiegen war.

   Einen ähnlich positiven und die Völkerverständigung betonenden Schluß findet man im Roman ›Der Oelprinz‹. Hier erhalten die Siedler von den Navajos soviel Land geschenkt, wie sie brauchen, und darüber hinaus die Hilfe der Indianer beim Besorgen der nötigen Ausrüstung sowie beim Bau ihrer Häuser.(93) Die Navajos legen auf diese Weise zusammen mit den deutschen Siedlern den Grundstein zu ihren schon länger gehegten Kulturplänen, die allerdings erst unter dem Einfluß der deutschen Frau des Häuptlings und dessen langjährigem deutschen Freund Wolf entstanden sind.

   An diesem und zahlreichen anderen Beispielen läßt sich erkennen, daß May die Welt der Indianer, allen positiven Schilderungen zum Trotz, nicht als vollkommene und nachahmenswerte Kultur darstellt. Indianer erscheinen eher als naiv, unverdorben und entwicklungsfähig und müssen, um eine Zukunft zu haben, die Kultur der Weißen (am besten der Deutschen) annehmen und – im Idealfall – zu Christen werden.


Deutsche Siedler und Yankees

Die Yankees bilden die dritte wichtige Gruppe von Personen, denen die Bewohner des Westens ständig begegnen und mit deren Charakter und Verhalten naturgemäß die eingewanderten Siedler bzw. Farmer eher in Konflikt geraten können als die einheimischen. Vor allem die deutschen Auswanderer scheinen mit der Mentalität der Nordstaatler ihre Schwierigkeiten gehabt zu haben, da ihre jeweiligen Ansichten und Einstellungen zu verschiedenen zentralen moralischen und gesellschaftlichen Belangen zum Teil erheblich voneinander abwichen.

   Ob die Probleme und Unterschiede allerdings in der Realität so gravierend waren, wie sie von Karl May häufig geschildert werden, ist wohl kaum anzunehmen. Er rekrutiert seine Hauptschurken fast ausnahmslos aus den Reihen der Yankees, die ihre Verbrechen meist aus Geldgier begehen. Andererseits war die literarische Haupteigenschaft ›der Yankees‹, nämlich in höchstem Maße kapitalistisch zu denken und zu handeln, zumindest in der damaligen Zeit für sehr viele zutreffend.

   Bei May wird diese Eigenschaft stark betont, und der Leser kann sie bereits aus den äußeren Merkmalen mancher Amerikaner ablesen. So


//195//

wird der Kurpfuscher Hartley als typischer Yankee vom Erzähler folgendermaßen eingeführt: Der Mann war lang und dürr, das glatt rasierte Gesicht scharf geschnitten und hager. Wer in diese Züge und in die kleinen, listigen Augen blickte, der wußte sofort, daß er einen echten Yankee vor sich habe, einen Yankee von jener Sorte, deren Durchtriebenheit sprichwörtlich geworden ist.(94) Dieser falsche Arzt und sein Begleiter Haller, ein junger Bahnschreiber deutscher Abstammung, bieten ein typisches Muster für das Verhältnis von Deutschen und Yankees bei May: der Yankee listig und durchtrieben, der Deutsche vor allen Dingen durch Ehrlichkeit und eine gewisse Gutgläubigkeit oder Harmlosigkeit ausgezeichnet. Er ist ein ehrlicher, treuer und fleißiger Kerl.(95)

   Solche Gegensätze führen nun entweder dazu, daß der Deutsche, wie im Fall Hartley/Haller, vom Yankee ausgenutzt wird, oder daß er sich aufgrund seines Fleißes den Zorn oder Neid seiner Yankee-Kollegen zuzieht, wie dies dem jungen Old Shatterhand geschieht, der seinen Kollegen bei ihrem Bemühen, auf möglichst einfache Weise Geld zu verdienen, als ehrlicher Deutscher . . . ein Hemmschuh (ist), dem sie die erst gezeigte Gunst sehr bald entzogen.(96)

   Die Mayschen Yankees legen außerdem ein recht eigenartiges Rechtsempfinden an den Tag, wenn es darum geht, aus einer Situation für die eigene Person Vorteile zu ziehen. So verkauft Hartley einem Farmer gefärbtes Wasser als Medizin mit der Rechtfertigung: »Diese Menschen wollen betrogen sein«.(97) Der Farmer und seine Familie werden dagegen als eher schlichte Gemüter dargestellt, die dem raffinierten Yankee schutzlos ausgeliefert sind, denn sie waren einfache, unbefangene, fromme Leute, welche gegen die Smartneß eines richtigen Yankee freilich nicht aufzukommen vermochten.(98)

   Wirkt dieser Betrug noch vergleichsweise harmlos, so schreckt der Leser vor dem skrupellosen Hartley spätestens dann zurück, als dieser den ahnungslosen Deutschen opfert, um sein eigenes Leben zu retten und sein sich regendes Gewissen damit beruhigt, daß sie sonst in jedem Falle beide verloren wären.(99)

   Häufig sind es, wie in diesem Beispiel, gerade nicht die wirklichen Verbrecher, an denen diese Yankee-Eigenschaften besonders negativ demonstriert werden, sondern ganz ›gewöhnliche‹ Figuren. Der Bankier Rollins ist beispielsweise kein Schurke wie der Oelprinz, aber er gehörte zu jenen echten Yankees, denen ein Menschenleben [zumal das eines Indianers] nichts gilt.(100)

   Besonders positiv stellt May dagegen ›typisch deutsche‹ Eigenschaften heraus, wie Musikalität, Vorliebe für Geselligkeit und das Vereinsleben. Hier und in seiner Kritik an ›den Amerikanern‹ stimmt May ge-


//196//

nau mit Otto Ruppius überein, der in seinen Amerikaromanen »deutsche Ehrlichkeit gegen Egoismus, Gemüt gegen Kälte, Bildung gegen Kulturlosigkeit«(101) stellte.

   Die Deutschen unterhielten auch tatsächlich ein organisatorisches Leben, das von kulturellen, sozialen und politischen Vereinigungen geprägt war, die sich deutlich von den als negativ empfundenen Bezugsgruppen der Yankees und der Iren abgrenzten(102): »Wo sich die Deutschen in größerer Zahl niederließen, führten sie die Gesellschaftsstruktur ihrer Heimat ein. Anfänglich isolierten sie sich auch kulturell von ihren Nachbarn. Ihre Organisationen waren in der Mehrzahl den Alteingesessenen unbekannt. Es entstanden Gesangvereine, Wohltätigkeitsgesellschaften, Kegel- und Kartenclubs, Biergärten, Scharfschützen- und Lesevereine, Arbeiterorganisationen, Militär- und Feuerwehrkompanien, politische Clubs und Freidenkergemeinschaften und vor allem Turnvereine . . .«(103) Die Andersartigkeit ihrer Lebensweise befremdete die Amerikaner und führte zu mancherlei Vorurteilen gegenüber den Deutschen und ihren Vereinen. So gestaltet May sogar einmal eine Szene, in der die allgemeine Meinung der Yankees über die Deutschen und ihre Vereine zur Sprache kommt: Als Old Shatterhand (inkognito reisend) einem fremden Westmann gegenüber erwähnt, er sei ». . . sogar einmal Schützenkönig gewesen!«, folgert dieser sofort »Schützenkönig! Ah, dann seid Ihr am Ende gar ein Deutscher?«(104)

   Es taucht zwar in Mays Werken keiner der zahlreichen realen Turnvereine auf, aber musizierende Gruppen oder Gesangvereine werden mehrfach vorgestellt. Der Musik kommt im Falle der Bewohner von Helldorf-Settlement sogar existentielle Bedeutung zu. Es werden zahlreiche deutsche Volkslieder und Quartette gesungen, und Winnetou und Old Shatterhand feiern hier einen Abend, wie sie ihn im Westen noch nicht erlebt hatte(n).(105)

   Daß es sich bei den Helldorf-Siedlern wieder um Deutsche handelt, könnte man (in Kenntnis des Mayschen Spätwerks) so deuten, daß sie gewissermaßen als utopische Erscheinung beschrieben werden, da sie offenbar in einer solchen Harmonie zusammenleben, wie es für May nur in seinem angestrebten ›Reich der Edelmenschen‹ der Fall sein kann. So hat er in seinem berühmten Vortrag, den er am 18. 10. 1908 in Lawrence gehalten hat, darauf hingewiesen, daß nur der Deutsche eine Volksseele habe und er eben dieses Volk für sein geplantes ›Reich der Edelmenschen‹ für auserwählt halte.(106)


//197//

4. Auswirkungen der Lektüre Mayscher Werke auf die Deutschen

4.1. Das Amerikabild der Leser

Bei der Betrachtung der Auswirkungen, die die Lektüre von Mays Werken auf seine zeitgenössischen Leser hatte, kann leider, zumindest im hier behandelten Fall der Beeinflussung des Amerikabildes und der Auswanderungsabsichten der Menschen, nicht auf gesicherte Forschungserkenntnisse zurückgegriffen werden. Die Frage nach der Leserschaft scheint allgemein in der wissenschaftlichen Literatur keinen großen Raum einzunehmen.(107)

   Da selbst für den intensiv erforschten Karl May noch keine systematischen Untersuchungen zu dessen zeitgenössischem Publikum vorliegen, muß auf die Annahmen zurückgegriffen werden, die allgemein zur Leserschaft der Amerikaautoren aufgestellt worden sind.(108)

   Demnach wurden ›Amerikabücher‹ prinzipiell zwar von allen Bevölkerungsgruppen gelesen, hauptsächlich jedoch von den unteren Schichten.(109) Dies scheint zumindest für das Ende des Jahrhunderts plausibel, wenn man berücksichtigt, daß sich die Quote der Lesekundigen im 19. Jahrhundert einer anerkannten Formel nach – ausgehend von 1830 = 30 % – etwa pro Jahrzehnt um zehn Prozent steigerte, so daß um 1890 etwa 90 %, also ein mit heute einigermaßen vergleichbarer Stand erreicht war.(110)

   Hieraus wird deutlich, daß sich die Leserschaft Karl Mays als einem der spätesten der Amerikaautoren bereits auch auf die unteren sozialen Schichten hatte ausdehnen können. So konnte May tatsächlich zum Autor des gesamten Volkes werden, während über den gesamten Zeitraum des 19. Jahrhunderts hinweg die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten das Gros des Publikums bildeten.(111)

   Ein weiterer wichtiger Umstand bei der Betrachtung der zeitgenössischen Rezeption Mays ist die Tatsache, daß bis kurz vor seinem Tod die Mehrheit seiner Leser (sogar sein Verleger F. E. Fehsenfeld) davon überzeugt war, er habe alle seine erzählten Abenteuer selbst erlebt oder sei doch zumindest mehrfach in den beschriebenen Ländern gewesen, was die Art der Aufnahme seiner Werke natürlich in ganz andere Bahnen lenkte, als dies bei einem informierten Leser der heutigen Zeit der Fall sein kann. Außerdem wurde der Glaube an das wirklich Erlebte noch dadurch gestärkt, daß man May in der Tradition der tatsächlich ausgewanderten Amerikaautoren sah, deren Werke in weiten Teilen durchaus als ›Reiseführer‹ dienen konnten.

   Obwohl Karl May ›nur‹ ein ›Dichter‹ war, ist er mit seinen Romanen,


//198//

in denen er angelesenes geographisches und völkerkundliches Wissen geschickt in die Handlung einzuflechten verstand, tatsächlich zum Lehrer (s)einer Leser(112) geworden, wie er es seinem Old Shatterhand in den Mund legt.

   Das Bild, das May von Amerika zeichnete, entstammt also nicht seiner eigenen Anschauung, sondern beruht auf der Benutzung von Quellen, für deren Ein- und Umarbeitung er freilich eine außergewöhnliche Begabung besaß. Coopers Verherrlichung der Natur sowie Catlins und Möllhausens Darstellung des ›Wilden Westens‹ mögen da die bedeutendsten Anregungen gegeben haben.

   In Mays Romanen nehmen Naturschilderungen breiten Raum ein, doch erhält der Leser auch deutliche Hinweise auf die negativen Auswirkungen, die das Vordringen der Weißen für den Lebensraum der Indianer hat, die dessen Zerstörung kaum etwas entgegenzusetzen haben.

   Mit dieser Darstellung des Verhältnisses von Kultur und Wildnis hat May mit Blick auf die amerikanische Geschichte durchaus recht behalten. Doch während seine Westmänner zumindest zeitweise anscheinend noch problemlos fast ausschließlich von der Jagd leben können (sogar in größeren Gruppen), warnt bereits 1844 Friedrich Gerstäcker seine Leser vor solchen Vorstellungen: »›Nun, wenn wir nicht gleich im Anfang Vieh haben, so gehen wir auf die Jagd und schießen Hirsche und Truthühner.‹ Lieber Leser, das ist ein Capitel, worüber ich dir lieber die Augen etwas öffnen möchte, wenn du auch vielleicht böse darüber bist, nicht so Angenehmes zu hören, als du es erwartet. Die Zeit hat aufgehört, wo der Ansiedler in der Thür seiner Hütte stehend, den vorbeiwechselnden Hirsch niederschießen konnte.«(113) May hat also seine Romane, die in den späten 60er und 70er Jahren spielen, gegenüber der Realität um mindestens 25 Jahre zu spät datiert.

   Dennoch prägte May nachhaltig die Vorstellungen, die sich die Deutschen vom Leben im Westen, von seinen Bewohnern und vor allem von den Indianern machten: Man betrachtete, spätestens nach der Lektüre von ›Winnetou I‹, die Indianer als aussterbende Rasse und die Yankees als geldgierig und skrupellos. Andererseits wurde den Lesern Amerika als ein Land nahegebracht, in dem man mit den ›deutschen Tugenden‹ Ehrlichkeit, Fleiß und aufrechter Gesinnung (fast) immer zum Erfolg gelangt – und dies ohne alle aus der Heimat bekannten bürokratischen oder institutionellen Zwänge.

   Ebenso durchgesetzt hat sich Mays Indianerbild, das, wenn überhaupt, höchstens auf die Plains- oder Prärie-Indianer zutraf. Es wurde zum gängigen Stereotyp für den (nordamerikanischen) Indianer


//199//

schlechthin, der zu Pferde in der Prärie auf Büffeljagd geht, einen Federschmuck im Haar hat und eine bestimmte Art der Bekleidung trägt.(114)

   Mays Einfluß ging sogar so weit, daß Winnetou in zahlreichen Ländern zum Synonym für den Indianer schlechthin wurde.(115) May hat es außerdem verstanden, seinen Lesern die Angehörigen der roten Rasse gefühlsmäßig so nahezubringen, wie es sonst keinem anderen gelungen ist, auch nicht dem in dieser Beziehung sehr engagierten George Catlin.


5.2. Mays Bedeutung für die Auswanderungsabsichten der Leser

Zur Zeit Mays war die Auswanderung in der Literatur zwar kaum noch als Thema gefragt, wurde aber von ihm und anderen zeitgenössischen Amerikaautoren noch als Motiv weiter verwendet, so daß auch in dieser Zeit die Amerikaliteratur sicherlich zur Verbreitung und Verfestigung von Argumenten für oder gegen die Auswanderung beigetragen hat.

   Die (Auswanderungs-)Romane der Amerikaautoren des 19. Jahrhunderts erfüllten für unterschiedliche Leserkreise verschiedene Funktionen. So bildeten sie für Menschen mit konkreten Auswanderungsplänen eine von zahlreichen Informationsquellen über den Ablauf der Auswanderung von den Reisevorbereitungen über die Überfahrt und die Ankunft in den USA bis hin zu den zu erwartenden Verhältnissen in der neuen Heimat, während sie für die Daheimgebliebenen als Evasionsliteratur eine Möglichkeit zur ›Auswanderung im Kopf‹ boten.

   Allerdings herrscht in der Forschung bis heute keine Einigkeit darüber, welches die Hauptmotive waren, die die Menschen zu Amerikabüchern greifen ließen. Während die einen mehrheitlich davon ausgehen, daß Amerika- und Auswandererliteratur vorwiegend von Nicht-Auswanderern gelesen wurde, vertreten andere Forscher die Ansicht, daß sich gerade Leute mit Auswanderungsabsichten mit Hilfe solcher Bücher Informationen beschaffen wollten. Oftmals sei die letzte Gruppe von den Autoren sogar direkt angesprochen worden.(116)

   In einigen Romanen finden sich außerdem Stellen, an denen Figuren durch die Romanlektüre zur Auswanderung angeregt wurden. Die in diesem Zusammenhang am häufigsten genannten Romane sind die bereits zu dieser Zeit legendären ›Lederstrumpf-Erzählungen‹ J. F. Coopers, so daß hier eher von einem ›fiktionalen Mythos‹ gesprochen werden kann.(117) In ›Winnetou II‹ etwa rügt Old Death die Erzählungen Coopers als unrealistisch, da dieser nie im Westen gewesen sei und durch seine Bücher einem ›Greenhorn‹ ein völlig falsches Bild vom Le-


//200//

ben im ›Westen‹ vermittle.(118) Sam Hawkens mißtraut grundsätzlich allen Schriftstellern, denn »alle diese Bücherschreiber kennen den Westen nicht«.(119)

   Von den frühen deutschen Autoren mit Amerikaerfahrung ist jedoch nach Ansicht von Mikoletzky die Masse der Auswanderer, die vor 1880 das Land verließen, nicht erreicht worden, da es sich bei ihnen aller Wahrscheinlichkeit nach überwiegend um Nicht-Lesekundige handelte.

   Gegen Ende des Jahrhunderts jedoch, als die wirtschaftlichen Großbetriebe in Deutschland eine immer größere Rolle spielten und ein enormer Verdrängungswettbewerb einsetzte, richteten diejenigen, die sich nun in einer sozial und finanziell schlechten oder ausweglosen Situation befanden, ihre Erwartungen fast zwangsläufig in die Fremde, die für die meisten bisher gleichbedeutend mit Amerika war und sich erst später auch auf die deutschen Kolonien erstreckte. Diese Menschen müssen sich von Mays Büchern und der darin beschriebenen Wirklichkeit geradezu angezogen gefühlt haben, folgt dort doch stets der erbrachten Leistung der gerechte Lohn.

   Besonders deutlich und für die Leser wohl persönlich am eindrucksvollsten ist dieses Prinzip an den dargestellten deutschen Auswanderern zu erkennen, die zwar genau wie sie selbst aus ärmlichen oder kleinbürgerlichen Verhältnissen stammen und im ›Wilden Westen‹ viele Mühen und Entbehrungen auf sich nehmen müssen, die am Schluß jedoch ausnahmslos das angestrebte Ziel erreichen oder sogar noch übertreffen.(120) Als Beispiel mögen die schon mehrfach angeführten ›Oelprinz-Aussiedler‹ genügen, die am Schluß nicht nur irgendwo ein Stück Land finden, das sie bestellen können, sondern sogar als Freunde und Verbündete der Navajo- Indianer von diesen alle erdenkliche Hilfe und Unterstützung erhalten. Aber auch für den, der sich eher eine unternehmerische Karriere in städtischer Umgebung erträumt, lassen sich in Mays Werken Vorbilder finden: In ›Satan und Ischariot II‹ liest man beispielsweise von einem jungen Deutschen namens Konrad Werner, der binnen kurzer Zeit vom Betteljungen in Deutschland zum Ölprinzen in San Francisco aufstieg – allerdings auch schnell ins Elend fiel, da er mit dem plötzlich erworbenen Reichtum nicht richtig umgehen konnte.(121)

   Auch ganz generell erfährt die »Rolle des Individuums (. . .) in Mays Romanen eine umfassende Aufwertung«,(122) so daß der Leser mit gestärktem Selbstvertrauen das Buch aus der Hand legen und die Koffer für die Übersiedlung nach Amerika packen kann, da er dort nicht ›nach dem Anzuge‹, sondern nur nach seinen individuellen Fähigkeiten und Eigenschaften taxiert wird.(123)


//201//

1 Diese Arbeit wurde für das Oberseminar ›Karl May‹ (Prof. Dr. Volker Neuhaus) im Sommersemester 1993 am Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Universität zu Köln verfaßt. Sie wurde für das Jahrbuch ergänzt und überarbeitet.

2 Vgl. Länderbericht USA I. Geschichte, Politik, Kultur, Politisches System, Wirtschaft. Hrsg. von Willi Paul Adams u.a. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung. Bd. 293/1. Bonn 1990, S. 59.

3 Die Angaben im folgenden Kapitel stützen sich vor allem auf Adams, wie Anm. 2, und Burkhard Hofmeister: Nordamerika. Frankfurt a. M. 1988. (Fischer Länderkunde Bd. 6).

4 Lutz Holzner: ›I was born under a wandering star‹: Wanderlust und Veränderungssucht der Amerikaner als geographische Kräfte der Kulturraumgestaltung. In: Die Erde. Jg. 124. 1993/3, S. 169-181 (S.173); Holzner kommt zu dem Schluß, daß die »auffallend starke Mobilität und Neuerungssucht der Amerikaner (. . .)«, die sich heute u. a. im amorphen Stadtbild und riesigen ›mobile home parks‹ zeigt, auf »eine psychologisch relevante Auswahlgenetik zurückgeführt« (S. 173) werden kann. Diese These begründet er vor allem mit der Tatsache, daß bei dem Entschluß, auszuwandern oder nicht, ein Selektionsprozeß stattgefunden hat, da ja offensichtlich nicht alle Menschen, die sich in derselben schlechten sozialen Lage befanden, ausgewandert sind, so daß eine »selektive Emigration« stattfand, bei der Menschen mit einem psychologischen Hang zur Mobilität den Entschluß faßten auszuwandern (S. 172).

5 Karl May: Der Oelprinz. Stuttgart (1897), S. 314f.

6 Zum Einfluß der Einwanderer auf den extrem mobilen »Nationalcharakter« der Amerikaner und die Zunahme der »Mobilen« nach Westen hin vgl. Holzner, wie Anm. 4.

7 Schaubild von E. Gohrbandt nach Hofmeister, wie Anm. 3

8 Vgl. Peter Marschalck: Bevölkerungsgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1984, S. 33.

9 Vgl. Hofmeister, wie Anm. 3, S. 128.

10 Max Hannemann: Das Deutschtum in den Vereinigten Staaten, seine Verbreitung und Entwicklung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Petermanns Mitteilungen 1936. Ergänzungsheft 224. Gotha 1936, S. 28f.

11 Vgl. Marschalck, wie Anm. 8, S. 46.

12 Ebd., S. 47

13 Karte verändert nach Hofmeister, wie Anm. 3, S. 178

14 Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 21990, S. 224

15 Ebd., S. 225

16 Ebd.

17 Juliane Mikoletzky: Die deutsche Amerika-Auswanderung des 19. Jahrhunderts in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur. Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Bd. 23. Tübingen 1988

18 Ebd., S. 15

19 Vgl. ebd., S. 63.

20 Vgl. ebd., S. 63 und S. 65; Autoren geboren 1784-1815, 1816-1835 und 1836-1857.

21 Vgl. Anselm Maler: Exotische Realienschau. Anmerkungen zur ethnographischen Erzählweise im Überseeroman des 19. Jahrhunderts. In: Exotische Welt in populären Lektüren. Hrsg. von Anselm Maler. Tübingen 1990, S. 3-17.

22 Ebd., S. 11

23 Vgl. H. Zimpel: Karl Postls (Charles Sealsfields) Romane im Rahmen ihrer Zeit. Frankfurt a. M. 1941. Frankfurter Quellen und Forschungen zur germanistischen und romanischen Philologie. Heft 29, S. 21. Zitiert nach: Bernd Steinbrink: Initiation und Freiheit. Karl May und die Tradition des Abenteuerromans. In: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt a. M. 1983, S. 252-277 (254).

24 Vgl. Mikoletzky, wie Anm. 17, S. 311.

25 Maler, wie Anm. 21, S. 7

26 Ebd., S. 9

27 Vgl. ebd., S. 8.


//202//

28 Vgl. Mikoletzky, wie Anm. 17, S. 106.

29 Ebd.

30 Ebd., S. 313

31 Ebd., S. 311

32 Ebd., S. 312

33 Vgl. ebd., S. 109.

34 Vgl. ebd., S. 110.

35 Vgl. ebd., S. 111.

36 Vgl. ebd., S. 113.

37 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o.J. (1910), S. 69; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul, sowie ebd. S. 355*; allerdings war May davon nur insofern betroffen, als dies seinen Vater auf die Idee brachte, Karl könne bis dahin zusammen mit den Auswandererkindern Englisch lernen.

38 Vgl. Mikoletzky, wie Anm. 17, S. 138.

39 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 12: Winnetou I. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1990, S. 116

40 Ebd., S. 118

41 Vgl. Klaus Lindemann: Verdrängte Revolutionen? Eichendorffs ›Schloß Dürande‹ und Karl Mays Klekih-petra-Episode im ›Winnetou‹-Roman. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 34 (1974), S. 24-38, und Hartmut Lutz: ›Indianer‹ und ›Native Americans‹. Zur sozial- und literarhistorischen Vermittlung eines Stereotyps. Hildesheim-Zürich-New York 1985.

42 Claus Roxin: ›Winnetou‹ im Widerstreit von Ideologie und Ideologiekritik. In: Karl Mays ›Winnetou‹. Hrsg. von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Frankfurt a. M. 1989, S. 283-305 (285f.)

43 Ebd., S. 286

44 Ebd., S. 289

45 Karl May: Geographische Predigten. 6. Strom und Straße. In: Schacht und Hütte. Blätter zur Unterhaltung und Belehrung für Berg- Hütten- und Maschinenarbeiter. 1. Jg. 1875/76, S. 278; Reprint Hildesheim-New York 1979

46 May: Winnetou I, wie Anm. 39, S. 97

47 Ebd.; zitiert auch bei Roxin, wie Anm. 42, S. 285

48 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 13: Winnetou II. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1991, S. 431

49 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXIII: Winnetou IV. Freiburg 1910, S. 565

50 Roxin, wie Anm. 42, S. 290

51 Ebd., 291

52 Vgl. die ›Masse‹ der Auswanderer in ›Der Oelprinz‹ und vor allem in ›Satan und Ischariot I/II‹.

53 May: Winnetou I, wie Anm. 39, S. 16

54 Klaus Hoffmann: Karl May als ›Räuberhauptmann‹ oder Die Verfolgung rund um die sächsische Erde. Karl Mays Straftaten und sein Aufenthalt 1868 bis 1870. 1. Teil. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1972/73. Hamburg 1972, S. 215-47 (S. 221ff.)

Dieser Brief galt in der Forschung lange als authentisches Dokument für Mays Auswanderungsabsichten, die nach Ansicht von Klaus Hoffmann an »paßpolizeiliche(n) Vorschriften« gescheitert seien (S. 223). Seit einiger Zeit wird jedoch der Realitätsgehalt dieses Briefes angezweifelt: Rudi Schweikert vertritt die These, der Brief sei – wie vieles bei May – eine Mischung aus »Fakt und Fiktion«, die überdies sogar auf zwei literarischen Vorlagen beruhe; in einer von ihnen – Willkomms ›Europamüden‹ – tauchen sowohl das von May genannte Ziel (Ohio) als auch der reiche Amerikaner Burton auf. (Rudi Schweikert: Artistisches Erzählen bei Karl May: »Felsenburg« einst und jetzt. Der erste Teil der ›Satan und Ischariot‹-Trilogie vor dem Hintergrund des ersten Teils der ›Wunderlichen Fata‹ von Johann Gottfried Schnabel – und ein Seitenblick auf Ernst Willkomms ›Die Europamüden‹. In: Jb-KMG 1992. Husum 1992, S. 238-76 (S. 262f.))


//203//

55 May: Oelprinz, wie Anm. 5, S. 86

56 Vgl. Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 21: »›Weihnacht!‹«. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1989, S. 172.

57 Vgl. May: Oelprinz, wie Anm. 5, S. 80-83.

58 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 14: Winnetou III. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1991, S. 260

59 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XX: Satan und Ischariot I. Freiburg 1897, S. 46 und 44

60 George Catlin: Die Indianer Nordamerikas. Nach der engl. Ausgabe deutsch herausgegeben von Dr. Heinrich Berghaus. Brüssel-Leipzig 1848; die engl. Ausgabe erschien 1841 in London.

61 May: Winnetou I, wie Anm. 39, S. 13

62 Gabriele Wolff: George Catlin: Die Indianer Nord-Amerikas. Das Material zum Traum. In: Jb-KMG 1985. Husum 1985. S. 348-63 (S. 353)

63 Lutz, wie Anm. 41, S. 352

64 Ebd.

65 May: Oelprinz, wie Anm. 5, S. 41

66 Vgl. Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 4: Der Schatz im Silbersee. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1989, S. 491.

67 Vgl. Mikoletzky, wie Anm. 17, S. 229.

68 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXI: Satan und Ischariot II. Freiburg 1897, S. 200

69 Vgl. May: Oelprinz, wie Anm. 5, S. 559.

70 Vgl. Mikoletzky, wie Anm. 17, S. 233.

71 May: Oelprinz, wie Anm. 5, S. 43

72 May: Winnetou I, wie Anm. 39, S. 16

73 May: Winnetou III, wie Anm. 58, S. 318

74 Ebd., S. 319

75 Ebd.

76 May: »›Weihnacht!‹«, wie Anm. 56, S. 110

77 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXII: Satan und Ischariot III. Freiburg 1897.

78 Vgl. Peter J. Brenner: Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reise- und Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts. Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur. Bd 35. Tübingen 1991, S. 186f., und Regina Hartmann: Blockhaus und Sennhütte. Behaustheitsphantasien bei Karl May und Ludwig Ganghofer im Kontext zeitgenössischer Befindlichkeit. In: Jb-KMG 1994. Husum 1994, S. 143-59; Beispiele sind der hide-spot Old Firehands in ›Winnetou II‹, »in welche(m) es sich noch sicherer wohnen läßt, als selbst in Abrahams Schoße« (May: Winnetou II, wie Anm. 48, S. 402) oder die Oase von Bloody-Fox in ›Der Geist des Llano estakado‹.

79 May: Winnetou I, wie Anm. 39, S. 148; weitere Stellen, an denen Old Shatterhand seinen Lehrer Sam Hawkens mit angelesenen Kenntnissen verblüfft: S. 68, S. 135, S. 149, S. 164

80 ›Latin Farmer‹ wurde ein Teil der deutschen Einwanderer genannt, die wegen ihrer Beteiligung an der Revolution von 1848 das Land verlassen mußten und sich vorwiegend in Texas ansiedelten. Sie verdankten ihren Namen dem Umstand, daß sie im Grunde die ersten waren, »die in den ›Wilden Westen‹ von Texas Bildung brachten« (Ekkehard Koch: Karl Mays Väter. Die Deutschen im Wilden Westen. Husum 1982, S. 104) und sich wohl auch mit Latein und Griechisch besser auskannten als mit den Erfordernissen des Ackerbaus. Außerdem waren sie zum großen Teil Utopisten im Geiste Rousseaus und sehnten sich nach dem einfachen Leben im amerikanischen Blockhaus, bei dem vor allem ihre individuelle Freiheit im Vordergrund stand. Mit ihrer Lebensweise stießen sie allerdings bei ihren Nachbarn auf Unverständnis und Spott; man blieb sich gegenseitig fremd (vgl. Koch, a.a.O.).

81 Vgl. ›Der Oelprinz‹, ›Winnetou III‹, ›Satan und Ischariot I/II‹, ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹.

82 May: Winnetou III, wie Anm. 58, S. 372


//204//

83 May: Oelprinz, wie Anm. 5, S. 45 und 46.

84 Ebd., S. 49f.

85 Ebd., S. 62

86 Zum Motiv der Verkennung vgl. Barbara Sichtermann: Die Mayschen Reiseerzählungen als Jugendlektüre. Überlegungen aus feministischer Sicht. In: Karl May – der sächsische Phantast. Studien zu Leben und Werk. Hrsg. von Harald Eggebrecht. Frankfurt a. M. 1987, S. 63-72 (67f.).

87 Vgl. May: Winnetou II, wie Anm. 48, S. 494.

88 Ebd., S. 486

89 Ebd., vgl. dazu die Ausführungen zum Heimstättengesetz in Kapitel 1.1.

90 Vgl. ebd., S. 492ff.

91 Vgl. May: Schatz im Silbersee, wie Anm. 66, S. 642ff.

92 Ebd., S. 644.

93 Vgl. May: Oelprinz, wie Anm. 5, S. 552f.; Frau Rosalie Ebersbach ist darüber so entzückt, daß sie vor Dankbarkeit geradezu überfließt und verkündet: »Ich halte es von jetzt an mit den Indianern und nich mehr mit den Weißen.« (ebd., S. 553).

94 May: Schatz im Silbersee, wie Anm. 66, S. 245f.

95 Ebd, S. 249

96 May: Winnetou I, wie Anm. 39, S. 40

97 May: Schatz im Silbersee, wie Anm. 66, S. 251

98 Ebd., S. 254

99 Vgl. ebd., S. 264ff.

100 May: Oelprinz, wie Anm. 5, S. 315

101 Koch: Karl Mays Väter, wie Anm. 80, S. 93

102 Vgl. Kathleen Neils Conzen: Die Assimilierung der Deutschen in Amerika: Zum Stand der Forschung in den Vereinigten Staaten. In: Die deutschsprachige Auswanderung in die Vereinigten Staaten. Berichte über Forschungsstand und Quellenbestände. Hrsg. von Willi Paul Adams. Materialien des John F. Kennedy-Instituts der Freien Universität Berlin 14. Berlin 1980, S. 33-64 (44 und 47).

103 Koch: Karl Mays Väter, wie Anm. 80, S. 93

104 May: Winnetou III, wie Anm. 58, S. 326

105 Ebd., S. 374; dabei macht besonders ein von Old Shatterhand komponiertes Ave Maria einen so tiefen Eindruck auf Winnetou, daß es den Auslöser für sein Bekenntnis zum Christentum bildet. So ist das Helldorf-Settlement für Winnetou von doppelter (auch wörtlicher) Bedeutung: Zum einen findet er hier zum (wahren) Glauben, der Klang des Glöckchens und vor allem das Ave Maria haben also eine ›er h e l l ende‹ Wirkung, in deren Folge er außerdem schwört, ». . . nie mehr den Skalp eines Weißen zu nehmen« (ebd., S. 380). Zum andern hat sich Winnetou für die Siedler in den ›Höllenschlund‹ des Hancock-Berges gewagt, obwohl er ahnte oder sogar wußte, daß er ihn nicht wieder verlassen würde (ebd., S. 410). Für Winnetou, den strahlenden, selbstlosen und aufopferungsvollen Helden, war es vermutlich selbstverständlich, sein Leben für das der Siedler zu riskieren, doch dem schockierten Leser, der plötzlich von Winnetous Tod liest, muß May verständlich machen, daß sich dies für Winnetou selbst und für die Menschen im allgemeinen ›gelohnt‹ hat. Dies erreicht er dadurch, daß er die Bewohner des Helldorf-Settlements als so fromm und positiv darstellt, daß sie es wert sein mußten, daß Winnetou für sie starb. Vielleicht konnte Winnetou auch nach dem Abend im Settlement gar nicht mehr weiterleben, da er dort, ausgelöst bzw. bestätigt durch die Bewohner und ihre Musik, zum christlichen Glauben gefunden hatte. Damit war, zumindest in den Augen Old Shatterhands/Karl Mays, sein eigentliches Lebensziel erreicht und seine Entwicklung abgeschlossen.

106 Vgl. Hermann Glaser: Die Kultur der Wilhelminischen Zeit. Topographie einer Epoche. Frankfurt a. M. 1984, S. 11ff.

107 Vgl. Mikoletzky, wie Anm. 17, S. 75.

108 Vgl. ebd.

109 Ebd.

110 Vgl. ebd., S. 79.

111 Vgl. ebd., S. 102.


//205//

112 May: Winnetou I, wie Anm. 39, S. 137

113 Friedrich Gerstäcker: Wie ist es denn nun eigentlich in Amerika? Eine kurze Schilderung dessen, was der Auswanderer in Nordamerika zu thun und dafür zu hoffen und zu erwarten hat. Leipzig 1849, S. 120; zitiert nach Brenner, wie Anm. 78, S. 102

114 Zum Stereotyp des Indianers vgl. Lutz, wie Anm. 41.

115 Vgl. Ekkehard Koch: »Dein Gesicht war weiß, aber dein Herz war rot . . .«. Karl May und der Deutschen Bild von den Indianern. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 92/1992, S. 45-49 (S. 46).

116 Vgl. Mikoletzky, wie Anm. 17, S. 76.

117 Vgl. ebd., S. 104.

118 May: Winnetou II, wie Anm. 48, S. 177

119 May: Winnetou I, wie Anm. 39, S. 136

120 Vgl. Helmut Schmiedt: Karl May. Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt a. M. 31992, S. 225.

121 Vgl. ›Satan und Ischariot II/III‹.

122 Schmiedt, wie Anm. 120, S. 241

123 Vgl. May: Oelprinz, wie Anm. 5, S. 62.


Inhaltsverzeichnis


Alle Jahrbücher


Titelseite

Impressum Datenschutz