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WOLFGANG HAMMER

Karl Mays Novelle ›Leilet‹
als Beispiel für seine Quellenverwendung



Als erste Orienterzählung Karl Mays erschien 1876 in Münchmeyers ›Feierstunden am häuslichen Heerde‹ unter dem rätselhaften Pseudonym M. Gisela die Novelle ›Leilet‹,(1) die schon im folgenden Jahr in Roseggers ›Heimgarten‹ als ›Die Rose von Kahira‹ unter Mays Namen, ebenso 1879 als ›Am Nil‹ in ›Sonntagsruhe‹ und 1881 als ›Entführt‹ unter dem Pseudonym Karl Hohenthal in ›Für alle Welt!‹ wieder abgedruckt wurde.(2) Da May sie teilweise – wesentlich erweitert und umgearbeitet – um die Jahreswende 1880/81 für das 2. Kapitel von ›Giölgeda padishanün‹(3) (Kapitel 3 und 4 von ›Durch Wüste und Harem‹(4)) wiederverwandt hat, hat sich die Forschung vor allem mit dieser Spätform beschäftigt; im ›Karl-May-Handbuch‹ gibt es keinen besonderen Beitrag über ›Leilet‹.

   Das ist insofern bedauerlich, als manche Untersuchungen von ›Wüste und Harem‹ Textstellen besprechen und zitieren, die im wesentlichen unverändert aus ›Leilet‹ übernommen wurden, ohne daß dies angemerkt wurde.(5) Nun liegt es auf der Hand, daß May in den ereignisreichen Jahren zwischen 1876 und Ende 1880, dem Erscheinungsbeginn des großen Orientromans, eine bedeutende Entwicklung durchgemacht hat, so daß es nicht gleichgültig sein kann, ob ein bestimmter Text vorher oder nachher verfaßt wurde. Man denke nur an die Behauptung des Dieners Omar-Arha »Mein Herr kennt den Koran und verachtet die Frauen« (Leilet 7), die, vor seiner Heirat geschrieben, ganz anders zu bewerten wäre als nachher! Schon das ist ein Grund, sich mit ›Leilet‹ eingehend zu beschäftigen.

   Aber auch sonst verspricht eine intensive Untersuchung sich zu lohnen; denn selten lassen sich so verhältnismäßig mühelos wie hier Mays Hauptquellen feststellen und aus der Art ihrer Benutzung Schlüsse ziehen.(6) Einige sind bekannt, vor allem Wilhelm Hauffs Märchen ›Die Errettung Fatmes‹ aus ›Die Karawane‹ und Alfred Edmund Brehms Erzählung ›Eine Rose des Morgendlandes‹ aus der ›Gartenlaube‹ 1858;(7) ferner Brehms ›Reise-Skizzen aus Nord-Ost-Afrika‹.(8) Überraschenderweise konnte als weitere Vorlage Schillers Bericht ›Eine großmütige Handlung aus der neuesten Geschichte‹(9) ausfindig gemacht werden. Selbst Chateaubriands ›Atala‹ hat wohl ein wichtiges Motiv beigetragen. Wehnert ermittelte für ›Old Firehand‹, daß May dort »wenigstens


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drei Textvorlagen (verarbeitet)« hat;(10) wie die ›Verarbeitung‹ der verschiedenen Quellen für ›Leilet‹ erfolgte, läßt in etwa schon die Gliederung erkennen.


I. Die Gliederung

Wie viele seiner Werke gliedert May auch ›Leilet‹ in vier Kapitel, die aber – anders als in seiner anderen Novelle ›Wanda‹ – weder beziffert noch benannt werden. Sie sind von ungleicher Länge, wie die Anzahl der Spalten zeigt:

A. Krankenbesuch im Hause Abrahim-Arhas (12 ½ Spalten)

1. Ein Bote holt den Helden zu einer Kranken
2. Verhandlung mit dem Hausherrn über die Art der
Untersuchung
3. Blick auf die Kranke durch eine Maueröffnung erzeugt
Verliebtheit
4. Untersuchung, Hilfsversprechen, Verabschiedung

B. Vorbereitung und Durchführung der Entführung (9 Spalten)

1. Zusammentreffen mit Hassan el Reïsahn, der Abrahim-Arha als früheren Räuber kennt; Versicherung seiner Unterstützung
2. Früherer Brief des Bruders über seine Liebe
3. Eindringen durch den Brunnenkanal, Entführung Leïlets
4. Entkommen aufs Schiff trotz Verfolgung; Abfahrt

C. Überwindung von Gefahren auf der Flucht (9 Spalten)

1. Abwehr eines Sandals durch Schuß auf die Reiherfeder des Reïs
2. Fahrt durch den (2.) Katarakt (von Wadi Halfa)
3. Rettung Abrahim-Arhas von einer Klippe; seine Einschüchterung
4. Glückliches Bestehen der Gerichtsverhandlung

D. In Kairo bei Bernhardt, dem Bruder, Leïlets Geliebtem (15 Spalten)

1. Begrüßung Kairos
2. Verhältnis zu Leïlet seit der Entführung:

a) Abreise vor Ergehen der Gerichtsentscheidung
b) Zurückhaltung des Helden vor Leïlet
c) Leïlet bleibt verschlossen und bittet, ihr nicht zu zürnen
d) Leïlet bittet bei der Ankunft, sie nicht zu verlassen
e) Sie verschiebt die Aufklärung beim Lesen seines Namens

3. Besuch beim Bruder; dessen Bericht über seine Liebe

a) Bernhardt erkennt ihn kaum: Erklärt das Leïlets Verhalten?
b) Bernhardts Elend: Er hat die Geliebte verloren


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c) Er berichtet, wie er sie kennen gelernt hatte
d) Der Verlust seiner Geliebten, Warde, und die Folgen
e) Er hofft auf die Hilfe seines Bruders

4. Auf dem Weg zum Hotel treffen die Brüder Abrahim-Arha mit einem Fremden; Ahnung, dann Entdeckung der Identität: Leïlet ist Warde

5. Auseinandersetzung mit Abrahim-Arha

a) der Diener Omar-Arha wird bewaffnet herbeigerufen
b) Entlarvung des Räubers, Berufung auf den Konsul
c) Vergleich: Abrahim-Arha verzichtet auf Warde gegen Straffreiheit

6. Schluß: Beide Brüder wollen auf Warde verzichten; sie gehört Bernhardt.

Für die Quellenverwendung ergibt diese Gliederung, daß für die ersten beiden Kapitel offenbar Hauff, für das vierte Schiller den leitenden Gedanken geliefert hat; dem dritten könnten dagegen – zumal für die Gerichtsverhandlung – Mays eigene Erfahrungen zugrunde liegen, die mit Hilfe Brehms an den Nil verlegt werden. Dessen ›Reise-Skizzen‹ ist die inhaltliche Füllung der ersten drei Kapitel, seiner kleinen Erzählung die des vierten Kapitels zu verdanken.

   Bereits jetzt läßt sich auch etwas über das Vier-Kapitel-Schema sagen: es gleicht hier dem Aufbau eines fünfaktigen Dramas mit der Abweichung, daß die Exposition, die dort den 1. Akt bildet, nach Bedarf auf die Kapitel verteilt ist, u. a. in Rückblenden, wie sie sich in jedem von ihnen finden. Darin beweist sich hier schon Mays Meisterschaft bei der Gestaltung seiner Anfänge: Auf nur einer halben Seite schildert er die Lage seines Ich-Helden, und schon setzt das Geschehen ein, um freilich sofort mit einer Rückblende von einer Seite Länge den Diener Omar-Arha einzuführen, der mit einem gerade angekommenen Boten verhandelt. Mit der Entführung enthält das 2. Kapitel den Höhepunkt bzw. das vorläufige Ergebnis, das dritte mit der Verfolgung etc. das retardierende Moment, und im vierten findet sich nicht nur das endgültige Ergebnis, das inhaltlich durchaus die gleichfalls übliche Bezeichnung ›Katastrophe‹ rechtfertigt, sondern es bringt auch den von einer alten Definition des Begriffs ›Novelle‹ geforderten ›überraschenden Wendepunkt‹, wie schon Bernhard Kosciuszko(11) aufgezeigt hat. Übrigens wird ›Leilet‹ nur beim ersten Abdruck als Novelle bezeichnet, später – anders als ›Wanda‹ – nicht mehr.


II. Die Ableitung der ersten drei Kapitel aus den Quellen

Während man über den Ich-Helden erst später mehr erfährt, wird sein Diener gleich anfangs nach Brehms Ali gezeichnet: ein türkisch-ägypti-


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scher Invalide, den sein Herr vom Hungertode gerettet und geheilt hatte und der ihm nun beispiellos ergeben war (Brehm 232f.). Zugleich ist er ein Spaßvogel, »Mukle« (ebd. 261), was sich bei Brehm auf zwei Personen verteilt, die aber beide Ali heißen. So verhält er sich gegenüber dem Boten, der den Helden als Arzt zu Hilfe holen will; auch Brehm bietet dafür ein Beispiel (ebd. 76).

   Nun setzt der Einfluß von Hauffs Märchen ein, nur daß May – Brehm folgend – den Schauplatz an den Nil verlegt. Hauffs Held hat schon einen mißglückten Versuch gemacht, in das von einem türkischen Großen erbaute ummauerte Haus einzudringen; jetzt gibt er sich als Arzt aus, und es wird ihm angeboten, sämtliche Frauen des Besitzers zu untersuchen. Mays Held dagegen ist wirklich ein deutscher Arzt und wird als solcher gerufen. Ob Hauffs früherer Kapudan-Bassa zugleich der Erbauer ist, bleibt unklar; aber einen Brunnen im Hof, der mit Hilfe eines langen Kanals Trinkwasser herbeiführt, hat er selbst anlegen lassen. In ›Leilet‹ dagegen hat das Gebäude eine Zeitlang unbewohnt gelegen und befindet sich in schlechtem Zustand (vgl. Leilet 9) – wohl davon abgeleitet, daß Brehm nahe beim Katarakt von Wadi Halfa in einer »Schloß« genannten Karawanserei gewohnt hat, die vier Jahre später fast ganz in Trümmern lag (Brehm 78).

   Auffällig ist dann die Beschreibung des Hausherrn, der Eindruck, ihn schon gesehen zu haben, sein Gesicht, diese schönen, feinen und in ihrer Mißharmonie doch so diabolischen Züge (Leilet 9).(12) Er ist der erste einer Reihe ähnlicher Personen bei May: Bereits 1878 wird in ›Nach Sibirien‹ der Graf von Milanow so beschrieben; statt diabolisch heißt es da von seinem Gesicht, es gebe etwas Undefinierbares, das dem Gesicht den Eindruck ... des Unheimlichen verlieh;(13) aber später zeigt er ein mephistopholisches [sic] Lächeln.(14) In der Umarbeitung ›Der Brodnik‹ (1880) fällt das übrigens fort; dagegen gibt es nun, aber auf Stimme und Gestalt eines Helfers bezogen, den vorher fehlenden Eindruck, ihn schon gesehen zu haben.(15) In ›Durch Wüste und Harem‹ tritt als Erweiterung Dorés Darstellung des Teufels hinzu,(16) die bei der Beschreibung Alfonzos im ›Waldröschen‹(17) (1882) und 1894 bei Harry Melton in ›Die Felsenburg‹ wiederkehrt; nur letzterer kommt aber dem Helden bekannt vor.(18) In ›Die Liebe des Ulanen‹ wird 1883 Graf Rallion ausführlich als diabolisch beschrieben, aber ohne Rückgriff auf Doré.(19) Umgekehrt bleiben 1887 in ›Durch das Land der Skipetaren‹ bei dem Mübarek bzw. dem Krüppel Busra nur der Vergleich mit dem Satan und das Gefühl übrig, ihn schon gesehen zu haben.(20) Später gehört der Panther im ›‘Mir von Dschinnistan‹ noch einmal zu diesem Typ; aber bei ihm ist das Disharmonische durch unbeherrschtes, wechselndes Verhalten dargestellt; ein Bezug auf den Satan findet sich nicht mehr.

   Überblicken wir diese Reihe, so fällt auf, daß außer bei Graf Rallion überall eine Art von Verstellung mitspielt, wodurch mehrfach ein so-


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fortiges Erkennen verhindert wird und nur ein Gefühl übrig bleibt, sich schon getroffen zu haben. Das paßt schlecht zu der von Hans Wollschläger für Abrahim-Mamur (so heißt die Figur Abrahim-Arha in ›Durch Wüste und Harem‹) und Harry Melton vollzogenen Verbindung mit der Vater-Imago Karl Mays,(21) die höchstens noch für den Mübarek möglich wäre. Stößt sie sich nicht schon daran, daß es hier um ein Mädchen geht? Übrigens scheint bisher unbekannt zu sein, ob May dies Sujet irgendwo entlehnt haben könnte.

   Im auf die Personenbeschreibung folgenden Gespräch mit dem Besitzer, der bei May bereits sehr besorgt ist, bei Hauff es dagegen erst nach der Untersuchung einiger seiner Frauen wird, ist beiden gemeinsam, daß die Andeutung, die angeblich Erkrankte müsse sterben, zu einem Wutausbruch des Hausherrn führt: er nennt den Arzt ›Hund‹ und bedroht ihn mit dem Tode, wenn er die Kranke nicht retten könne. Das wirkt etwas übertrieben, wenn das bei May einem Europäer gegenüber geäußert wird; offenbar schlägt hier Hauffs Einfluß durch. Dann spielt in beiden Erzählungen eine Maueröffnung eine Rolle: Bei Hauff reichen die Frauen ihre Hand hindurch, um den Puls fühlen zu lassen; bei May kann der Held unbeobachtet das noch unverschleierte Mädchen sehen, wird von Liebe gepackt und hat nun auch einen persönlichen Grund, eine Entführung zu versuchen. Dann darf er den Puls fühlen, aber die Hand ist fast gänzlich mit Tüchern umwickelt – nach modernen Berichten ein noch heute beliebtes Verfahren! Beide Male kündigt er die Rettung an, bei Hauff durch einen zugeschobenen Zettel, bei May durch mehrdeutige Worte, und gibt ein Mittel, das bei Hauff erst beim zweiten Versuch so stark betäubt, daß Fatme als Scheintote hinausgeschafft wird, bei May dagegen zur Betäubung der Wärterin dient (Leilet 26). Seine Darstellung orientiert sich deutlich an Hauffs Märchen.

   Für das 1. Kapitel ist nun ein für May bezeichnender Unterschied festzustellen: während Hauffs Held nicht nur von sich aus die Mädchen – seine Schwester und seine Braut – retten will, sondern auch durch einen Fluch seines Vaters dazu gezwungen wird, entscheidet sich Mays Arzt aus eigenem Antrieb dazu, freilich darin bestärkt durch die plötzliche Verliebtheit. Auch in anderen Frühwerken Mays unternimmt der Held Rettungen verschiedener Art, z. B. in ›Wanda‹ und ›Old Firehand‹, beide Male zugleich als Liebender; in der frühen Erzählung ›Der Oelprinz‹ (1878) dagegen rettet er ein fremdes Mädchen. Dies Thema hat May offenbar damals besonders beschäftigt.

   Im 2. Teil findet der Held unerwartet Hilfe durch das Auftauchen seines alten Freundes Hassan el Reïsahn, der ihm mit seiner Dahabi– die Flucht ermöglichen kann. Bei Hauff dagegen muß er sich selbst Hilfe holen, die ihm glücklicherweise der Räuber Orbasan zugesagt hatte. Ein solcher Helfer ist natürlich für May undenkbar, da er zu sehr an die Romane der heimatlichen Leihbibliothek erinnern würde. Gleichwohl


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bleibt Hauffs Anregung nicht ungenutzt: Hassan entlarvt Abrahim-Arha als ehemaligen Räuberhauptmann Hedjahn-Bei, mit dem der Held bereits zusammengetroffen war. Die Einzelheiten gehen z. T. auf Brehm zurück: Dieser berichtet von einem »kühnen und starken Räuber« Harrihdi, der sich selbst dem Vizekönig ausgeliefert hatte und unter der Bedingung, das Land von Räubern zu befreien und sie der Obrigkeit auszuliefern, begnadigt worden war, schließlich aber wegen neuer Untaten die verdiente Strafe gefunden hatte (Brehm 252). Mays Abrahim-Arha dagegen, »der ... vom Vicekönig begnadigt wurde, um seine früheren Spießgesellen an den Strick zu liefern« (Leilet 24), hatte sich offenbar mit seiner Beute zur Ruhe setzen wollen, wohl wie Hauffs früherer Kapudan-Bassa, und wurde nun wegen eines durch Brautkauf erworbenen Mädchens, das er noch dazu glühend liebte, vom Helden aufgestört.

Diesem ersten Rückblick auf Vergangenes folgt unmittelbar ein zweiter, der Schillers Beitrag zum 4. Teil vorbereitet: Beim Packen fällt dem Helden ein alter Brief seines Bruders Bernhardt in die Hände, der darin von seiner Liebe berichtet. Wenn er selbst nun im Blick darauf, daß auch ihn inzwischen die Liebe gepackt hat, von Schickung, Glück und Wonne spricht, kann niemand auf den Gedanken kommen, daß sich da ein Verhängnis vorbereitet. Immerhin spielt auch bei Hauff das Schicksal dem Helden zunächst einen Streich: Die erste Entführung – ohne Hilfe des Räubers – war zwar gelungen, aber die Befreite war eine Fremde, der nur ihr Herr einen andern Namen gegeben hatte; auch May wird dies Motiv später anwenden.

   Nach einer kurzen Betrachtung, die in zwei Psalmenzitaten gipfelt (Ps 62,2 und 60,14 – Leilet 25), wird die Entführung berichtet. Besteht bei Hauff das Hindernis in dem Umstand, daß der Kanal in einem gemauerten Brunnen endet, der durchbrochen werden muß, so stößt Mays Held unter Wasser auf ein Gitter, das er erst im letzten Augenblick durchbrechen kann (Leilet 26). Hier kommt zweifellos Mays leidvolle Vergangenheit ins Bild, wie schon Ernst Bloch angemerkt hat;(22) weder Hauff noch Brehm sprechen von einem derartigen Hindernis. Doch könnte Brehms Schilderung der Krokodilhöhlen von Monfalut, die Mays Held im ersten Band des ›Mahdi‹ besuchen wird, mit hineinspielen: Auch dort muß man sich durch einen engen Gang hindurchzwängen und ist vom Ersticken bedroht.(23)

   Noch eins ist wichtig: Was Jürgen Wehnert für ›Ein Präriebrand‹ feststellt,(24) trifft auch Hauffs Märchen gegenüber zu: Dringt dort der Held zusammen mit mehreren Räubern durch den Kanal und ins Haus ein, so »arbeitet (May) die Einsamkeit des ›Ich heraus« und »betont das Angsterregende der Situation«:(25) Bei dieser Entdeckung [des Sperrgitters] wollte sich doch eine gewisse Aengstlichkeit meiner bemächtigen (Leilet 26). Ist das nicht eine Untertreibung? Der Held steckt ja in einer


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Zwangslage: entweder gelang es mir, durchzukommen, oder ich mußte ertrinken (ebd.). Doch verhindert der Charakter der Ich-Erzählung, daß den Leser Verzweiflung befällt, mag die Lage auch noch so aussichtslos scheinen: Der Erzähler ist ja lebend davongekommen!(26) In ›Old Firehand‹ wird das einmal ausgesprochen: »und doch wußte ich vorher, daß Euch die Rettung gelungen sei, denn sonst hätte sie [Ellen] Euch ja den Ring nicht geben können«.(27) Noch eine Berührung gibt es: Der Held in ›Leilet‹ zittert nach der übermenschlichen Anstrengung am ganzen Körper, so wie der in ›Old Firehand‹ nach der Besiegung Finneteys.

   Dann ergeben sich neue Schwierigkeiten: Bei Hauff verfehlt man die rechte Tür und muß die Sklaven überwältigen; bei May weckt beim Hinausklettern eine niederprasselnde Leiste die Bewohner, so daß der Held den Besitzer niederschlagen muß, der auf ihn geschossen hatte. Hier erfolgt die Flucht durch das nur verriegelt gewesene Tor, bei Hauff wieder durch den Kanal. Bald darauf endet Hauffs Märchen, so daß es von nun an kaum mehr benutzt wird.

   Um so enger schließt sich May auf den letzten zwei Seiten dieses Teils an Brehm an: ein Musterbeispiel dafür, wie genau er Einzelheiten zu recherchieren pflegte. Daß ein Herr aus dem Wasser gezogen werden muß (Brehm 92), daß der Reïs am Schnabel der Dahabi– steht (ebd. 60, 240), daß die Kajüte auch den Harem beherbergt (ebd. 61), daß mit dem Wort ›Marhaba‹ Gastfreundschaft gewährt wird (ebd. 169), daß eine Dahabi– der Regierung gehören kann (ebd. 240), was ein Firmahn bedeutet, wie May mit Brehm schreibt (ebd. 74), daß der Kenner der Verhältnisse den Gebrauch der Nilpeitsche bevorzugt (auch dieses Wort so bei Brehm, ebd. 48, 78), daß die Dahabi– dreieckige große Segel führt (ebd. 60) sowie schließlich die Kurzbeschreibung des Sandals (ebd. 60f.) – all dies findet sich bei Brehm und wird von May ungezwungen zur Schilderung des Reisebeginns zusammengestellt. Um nicht zu sehr in die Einzelheiten zu gehen, wollen wir es bei diesem Beispiel für die Arbeitsweise Mays bewenden lassen; man könnte noch weitere ähnliche Abhängigkeiten belegen. Das zeigt, daß May sich schon damals sehr bemüht hat, seinen Lesern zuverlässige Kenntnisse zu vermitteln, auch wenn er zweifellos viel Arbeit darauf verwenden mußte.

   Am Ende des 2. Kapitels stellt sich die Frage, ob Wilhelm Vinzenz mit seiner Vermutung recht hat, May beziehe sich hier auf seinen Versuch, 1881 in Glauchau seinem Hauswirt die Frau abspenstig zu machen.(28) Walther Ilmer stimmt dem zu,(29) doch ich hege Bedenken: Zu klar zeichnet sich Mays Abhängigkeit von Hauffs ›Errettung [sic!] Fatmes‹ durch all die gemeinsamen Einzelheiten ab, als daß man eine so wenig hervortretende biographische Beziehung anzunehmen hätte. Auch Leïlet bittet ja: »Errette mich!« und beteuert, sie sei nicht Abrahim-Arhas Weib (Leilet 26); zudem ist sie Christin und von ihm gewaltsam entführt worden (Leilet 42) – auch wenn das später dahingehend präzisiert wird, ihr


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Schwager, ein christlicher Levantiner, habe sie einem Moslem verkauft (Leilet 58f.). Das alles steht doch dem bei Hauff Gegebenen bei weitem näher als den Glauchauer Umständen! Folgerichtig taucht der Titel ›Entführt‹ auch erst 1881 auf, nachdem kurz zuvor bei der Umarbeitung zum ›Tschikarma‹-Kapitel des Orientromans durch die Anwesenheit des Bräutigams und seine versuchte Beteiligung jede eigennützige Absicht des Ich-Helden ausgeschlossen worden war. Die Einführung des Bruders schon jetzt dient also nicht, wie Walther Ilmer meint,(30) zur Minderung der Schuld des Täters, dem letztlich die Entführung nicht zugute kam, sondern ist mit Schillers Einfluß zur Genüge erklärt. Vom ›Einbruch in eine Ehe‹ bleibt um so weniger übrig, als sich zuletzt herausstellt, daß sogar für die Bezahlung des Brautpreises Güter hatten dienen müssen, die Abrahim-Arha als Hedjahn-Bei dem Helden geraubt hatte! Die Berücksichtigung der tatsächlich benutzten Quellen läßt also zuweilen biographische Rückschlüsse überflüssig erscheinen.

   Der 3. Teil, der vier Ereignisse während der Flucht schildert, schickt zwei kurze Bemerkungen über den Verlauf der Fahrt und das Verhalten des Helden gegenüber Leïlet voraus: die erste als Vorbedingung für das weitere Geschehen in diesem Kapitel, die andere für das des nächsten. Nur dadurch, daß man ihn mit Freiheit schalten und walten (Leilet 39) läßt, kann er in der ersten und dritten der folgenden Episoden das Gesetz des Handelns bestimmen; und nur durch seine Zurückhaltung gegenüber dem Mädchen (ebd.) ist es möglich, daß ihr Geheimnis bis zum vierten Teil gewahrt bleibt. Man sieht, wie sorgfältig May den Aufbau geplant hat.

   Zuerst gilt es, den sich schnell nähernden Sandal, der Abrahim-Arha an Bord hat, in gebührender Entfernung zu halten. May bedient sich hier vor allem zweier Elemente bei Brehm, der für diesen Teil die einzige wesentliche Quelle zu sein scheint. Das eine ist die wiederholte Schilderung der Erlegung von Vögeln oder anderen Tieren, z. T. auf größere Entfernung, wie z. B. einer Nilgans auf einer »wohl dreihundert Fuß entfernten Felseninsel« mit einem einzigen Schuß (Brehm 84). Brehm erlegt Tiere aus wissenschaftlichen Motiven, Mays Held tat das auch, man denke an die ›Sammlungen‹ (Leilet 72), die er anlegte, aber in der konkreten ›Leilet‹-Handlung tut er es, um die Leute in eine heilsame Angst zu versetzen (Leilet 40) und dadurch Blutvergießen zu vermeiden. Soviel sich sehen läßt, tritt dies Motiv hier zum erstenmal auf; es könnte aus Carl Beyschlags ›Gartenlaube‹-Erzählung von 1859, ›Die Prärien‹, stammen, wo ein Trapper namens Dick es vermeidet, Indianer zu töten, und ihnen notfalls die Hand zerschmettert oder den Fuß lähmt. Daß dort die belagerten Helden durch einen Kanal entkommen, könnte May auf jene wohl schon für ›Old Firehand‹ benützte Erzählung gebracht haben.(31) Dagegen findet sich die absolute Treffsicherheit des Helden auch bei Cooper, den May jedenfalls schon kannte.


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   Das andere Element aus Brehm ist sein auf der ersten Fahrt nach Kairo erlebtes Abenteuer, bei dem Matrosen eines gerammten Schiffes das seine zu entern versuchten und nur durch die Drohung, sie niederzuschießen, davon abgehalten wurden (Brehm 46ff.); bei der dritten Episode greift May noch einmal darauf zurück. Hier fällt nun eine Gemeinsamkeit besonders auf: Sowohl bei Brehm als auch bei May geschieht, von gewissen Voraussetzungen aus, Unrecht. Mays Held kann sich am Schluß dieses Teils vor Gericht rechtfertigen, da seine an sich ungesetzliche Handlung durch die Vergangenheit der Beteiligten ihre Berechtigung findet und sein Firman das übrige tut. Bei Brehm sind aber wirklich die Angreifer im Recht, die nur für das bei dem Zusammenstoß zertrümmerte Steuer Entschädigung haben wollen; »nur unsere gänzliche Unkenntnis des Landes und seiner Bewohner konnte unser Verfahren entschuldigen«, schreibt er (Brehm 48); zudem hatte ihr eigener Reïs sie betrogen. »Die Schändlichkeit des letzteren hätte leicht einige Menschenleben kosten und uns große Unannehmlichkeiten zuziehen können«, heißt es abschließend (ebd.).

   Demgemäß vermeidet Mays Held jede Möglichkeit zum Butvergießen: Zuerst läßt er den eigenen Kapitän seinen Freund und Kollegen auf dem Sandal durch einen jungen Schiffer warnen, was aber auf Abrahim-Arha keinen Einfluß hat; dann beweist er seine Treffsicherheit an einem Würgfalken, und schließlich schießt er dem Sandalkapitän die Feder vom Tarbusch, so daß dieser Abrahim-Arha vom Steuer verdrängt, dessen er sich bemächtigt hatte – was ähnlich auch in Brehms Abenteuer geschah. Offenbar sollte Abrahim-Arha zunächst nicht von Gegenmaßnahmen betroffen werden, sondern alles sich auf die Gerichtssitzung konzentrieren.

   Nach kurzer Zusammenfassung der noch zu überwindenden Gefahren (Leilet 40) schildert May als zweite Episode in enger Anlehnung an Brehm (238ff., aber auch andere Stellen) die Überwindung des 2. Katarakts bei Wadi Halfa, freilich ohne diesen zu benennen. Etwa zur Hälfte bedient er sich dazu eigener Worte, die naturgemäß mit denen Brehms große Ähnlichkeit haben; bei der Wiederholung des Gesprochenen, vor allem der 1. Sure des Korans, und in seiner Würdigung der mohammedanischen Religiosität (Leilet 40) zitiert er Brehm fast wörtlich. Die Berührung mit 2 Kor 12,9 geht jedoch auf ihn selbst zurück. Dabei vereinfacht er übrigens das im Original durch den Schiffbruch einer dichtauf folgenden Dahabi– und das Einschlagen einer falschen Richtung komplizierte Geschehen; es wird so eher eindringlicher.

   Unter Benutzung jenes Schiffbruchs bzw. eines entsetzlichen Stoßes, den Brehms Schiff beim Auflaufen auf einen Felsen erlitten hatte, ohne mehr als ein leichtes Leck zu erhalten (Brehm 240), fügt May eine dritte Episode ein: Abrahim-Arha stürzt über Bord, kann sich kaum an einem Felsen festhalten und wird vom Helden gerettet – gewissermaßen


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um mit ihm quitt zu werden. Der Ägypter aber stürmt nach der Kajüte, und nun greift May auf das anfangs benutzte Abenteuer Brehms zurück: Mit gespannter Pistole verteidigt Omar-Arha den Zugang. So kann der Gegner nichts ausrichten, muß jedoch bis zum nächsten Landeplatz an Bord bleiben, was bei Brehms Enterern nicht nötig gewesen war. Daß er weiter zum Kampf entschlossen ist, wird ausdrücklich betont (Leilet 41). Auch dieses Motiv, daß Wohltaten an einen erbitterten Gegner verschwendet sind, tritt hier wohl zum erstenmal auf; May könnte es von einigen Berichten Brehms über ausgesprochenen Undank abgeleitet haben.

   Als letzte Episode dieses Teils folgt die Gerichtsverhandlung, für die May auf eine Schilderung Brehms, die Strafe von 500 Hieben, den Titel Bimbaschi für den leitenden Beamten und sogar auf einen Abdruck des Firmans, zurückgreifen kann (Brehm 146, 285, 198, 245). So findet seine Umkehrung der gegen den Helden erhobenen Anklage wenigstens insofern Glauben, als die Bastonnade Omar-Arhas unterbleibt und, wie erst im folgenden Teil kurz erwähnt wird (Leilet 55), einer Abreise vor dem eigentlichen Urteil nichts im Wege steht. Auf diese Weise ist man zunächst dem Verfolger entkommen, aber nichts wurde entschieden; es handelt sich in diesem Kapitel also wirklich nur um eine Verzögerung der endgültigen Lösung, die nun nach Kairo verlegt wird.


III. Die Ableitung des 4. Kapitels aus neuen Quellen

Die Einleitung des letzten, vierten Teils, eine Begrüßung Kairos, wirkt wie ein Vorläufer von Mays späteren geographischen Einführungen seiner Kapitel. Sie hat ihr Gegenstück bei Brehm, verzichtet aber auf dessen Schilderung des Weintrinkens der Matrosen, »ihres Propheten Lehre vergessend« (Brehm 243). Es verdient Beachtung, daß May – und nicht nur hier! – die einschlägigen Schilderungen zeitgenössischer Reisender in islamischen Ländern gern entschärft hat, ganz im Gegenteil zu dem, was eine Wiener Schmähschrift ihm anzuhängen versucht.(32) Die Stadt als Ort der Lösung könnte insofern den Gebirgshöhen in späteren Werken entsprechen, als beide auf ihre Art eine Abbildung des himmlischen Zions der Apokalypse sind.

   Als erste Episode bespricht May dann das Verhältnis seines Helden zu Leïlet. Auch das ist noch einmal viergeteilt und beginnt mit einer allgemeinen Schilderung ihrer bisherigen Beziehungen: Sie war ihm ein Räthsel (Leilet 55). Einerseits gab es etwas in ihrem Wesen, was ihn von jeder Annäherung abhielt; anderseits spürte er ihre herzliche Liebe und rückhaltloses Vertrauen zu ihm (ebd.). Vielleicht wirkt sich hier schon das Vorbild des Verhaltens der Brüder bei Schiller aus, von denen keiner seine Liebe erklärt hatte.


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   Als zweites wird dieser Zwiespalt durch einen kleinen Vorfall am vorigen Abend illustriert: Noch auf dem Schiff hatte Leïlet sich ihm genaht, sich an ihn geschmiegt und gebeten, ihr nicht zu zürnen, sie könne nichts dafür (sc. ihre distanzierte Haltung) (ebd. 55f.). Das hatte ihm zwar die Nachtruhe geraubt, ihn aber nicht auf den Gedanken gebracht, auf sie verzichten zu müssen. Ganz im Gegenteil: ... mein mußte sie werden, heißt es am Schluß (ebd. 56). Auch Schiller betont, keiner seiner Helden habe ahnen können, daß der eigene Bruder sein Rivale sein werde.

Jenem Vorsatz scheint Leïlets Bitte beim Verlassen des Schiffes am folgenden Morgen Vorschub zu leisten: »Verlaß mich nicht schon jetzt, sondern nimm mich mit Dir!« (ebd.), ein Motiv, das Brehms ›Rose des Morgenlandes‹ vorgab. Das geschieht, und nun schließt sich May noch einmal an Brehms Reisen an: sowohl das Hotel d›Orient als auch die Privatwohnung im Bulakh, die dann dem Bruder zugewiesen wird, finden sich bei ihm in diesem Zusammenhang, nicht dagegen Mays Barutsche: Bei Brehm wird auf Eseln geritten (Brehm 243, vgl. 50ff.); er hat ja auch kein Mädchen dabei!

   Eine letzte kleine Episode schließt diesen Unterteil: Im Hotel kommt Leïlet abends, um dem Helden gute Nacht zu sagen, wohl auch um mit ihm über ihr Verhalten zu sprechen, sieht dann seinen Namenszug auf der Schreibmappe und verschwindet, indem sie die Aufklärung auf den nächsten Tag verschiebt. Hier sieht man freilich nicht klar: Konnte Leïlet denn europäische Schrift lesen? Denn schon daß sie Italienisch sprach, hatte den Helden verblüfft (Leilet 42), und das besagte ja nicht, daß sie auch die Schrift beherrschte; daß aber der Name nicht arabisch geschrieben sein konnte, geht aus der folgenden Bemerkung hervor, sie habe ihn bisher nur in seiner arabischen Verdolmetschung gehört (Leilet 56). Jedenfalls zeigt ihr spürbares Erschrecken an, daß sie nunmehr erkannt hat, daß ihr Retter und ihr Geliebter den gleichen Namen tragen, also wohl Brüder sind! Aber war das nicht immer noch besser, als wenn sie einander fremd gewesen wären?

   Da dies alles weder bei Brehm noch bei Hauff einen Anhaltspunkt hat, ist zu fragen, ob May hier einem anderen Einfluß gefolgt sein könnte. Ich vermute Chateaubriands ›Atala‹: Dort – wie auch in seinem ›René‹ – verbirgt die Heldin ein Geheimnis, das ihr die Liebe zum Helden verwehrt und das sie ihm nicht zu offenbaren wagt, obwohl sie es hin und wieder andeutet, um ihr rätselhaftes Verhalten zu rechtfertigen. Liegt in ›Atala‹ eine Verpflichtung zum Zölibat zugrunde und in ›René‹ verbotene Liebe zum eigenen Bruder, so wählt May statt dessen, in Vorbereitung von Schillers Bericht, die schon seit längerer Zeit andauernde Liebe zum Bruder des Retters als Motiv für das Verhalten des Mädchens. Gewiß wäre das auch ohne Kenntnis Chateaubriands denkbar; doch ist die Ähnlichkeit mit ihm immerhin auffällig, zumal sie in der am Anfang des ›Waldröschens‹ rekapitulierten


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Haltung Rosa de Rodrigandas gegenüber Dr. Sternau in Paris ein Gegenstück hat.

   Die Gliederung des dritten Unterteils ›Besuch beim Bruder‹ ist nicht leicht zu durchschauen, da die Unterteile von ganz unterschiedlicher Länge sind. Vielleicht versteht man es am einfachsten so, daß Bernhardts Bericht vom Kennenlernen Leïlets die Mitte bildet, umrahmt von einer Schilderung seines Verlusts, und daß das Ganze von dem Eindruck, den sein Aussehen macht, eingeleitet, von seinem Angebot, den Bruder zur Geliebten zu führen und ihm zu helfen, beschlossen wird. Das ergäbe einen klar durchdachten symmetrischen Aufbau, der freilich von der bisher befolgten Vierteilung abwiche, aber bei May nicht einzig dastünde.(33)

   In der einleitenden Szene findet sich eine frappierende Ähnlichkeit der Motive mit ›Wanda‹, wo im 1. Kapitel der Held seines Äußeren wegen – er kommt gerade vom Löschen eines Brandes, bei dem er Menschenleben gerettet hat – von der Dame seines Herzens als König aus dem Mohrenlande(34) zunächst fortgeschickt wird; er erscheint dann aber wieder mit dem männlich schönen Angesichte(35) – um nur dies aus der lobenden Beschreibung anzuführen. Nicht anders liegt der Fall in ›Old Firehand‹, nur daß zu dem abgerissenen Äußeren des Helden noch seine angebliche Feigheit kommt; und sogar schon in der ›Rose von Ernstthal‹ tritt der Held als abgerissener Handwerksbursche auf, hier freilich, ohne daß ihm dies bei seiner Geliebten schaden könnte, da sie fast ganz erblindet ist. Dagegen hatte ihre Mutter Anna den armen Studenten Emil unter dem Einflusse seiner männlichen Schönheit(36) geliebt!(37)

   In ›Leilet‹ wird dies Motiv nun wie nirgends sonst auf den entscheidenden Punkt gebracht: »... so viel weiß doch auch der einfachste Mensch, daß die Liebe vorzugsweise gern durch das Auge ihren Einzug hält, und ich glich jetzt allerdings mehr einem Beduinen ... Das Räthsel war mir gelöst« (Leilet 57). Wenn May dann fortfährt: »... und zwar auf eine Weise, welche mich nicht ganz ohne Hoffnung für die Zukunft ließ.« (ebd.), so entspricht das der vorgegebenen Situation, kann aber den Eindruck nicht verwischen, daß sich hier ein biographischer Bezug offenbart. Wir wollen dieser Frage einen kleinen Exkurs widmen.


Exkurs: Das unbefriedigende Aussehen des Helden

Auffällig ist zunächst, daß May im ›Buch der Liebe‹ die oben zitierte Regel über den Einzug der Liebe keineswegs so uneingeschränkt vertritt, sondern sie auf die Liebe des Mannes zum andern Geschlecht beschränkt! Das Umgekehrte, die Entstehung der Liebe des Weibes zum Manne, wird kaum einmal angesprochen; nur daß sich der Mann vor-


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waltend in Kraft, das ... Mädchen vorwaltend in Schönheit entwickelt, und sich Kraft und Schönheit gegenseitig anziehen, wird einmal kurz festgestellt.(38) Ist diese Kürze schon befremdlich angesichts der langen Ausführungen über weibliche Schönheit und Anmut als Beweggrund der Liebe, so ist dies doppelt der Fall, wenn man bedenkt, daß ›Leilet‹ nur kurze Zeit nach dem ›Buch der Liebe‹ erschienen ist und wahrscheinlich innerhalb desselben Jahres geschrieben wurde. Kraft aber hatte hier wie in ›Wanda‹ (und in ›Old Firehand‹) der Held als Retter durchaus bewiesen; wie kommt es dann zu seiner Zurückweisung wegen mangelnder Schönheit in den Erzählungen und zum Fehlen dieses Themas im ›Buch der Liebe‹?

   Bereits Wilhelm Vinzenz hat auf den Zusammenhang zwischen Wanda, Ellen und Leïlet hingewiesen, verbindet sie aber mit der sogenannten ›Urszene‹, d. h. der Verstoßung durch die Mutter, die ihren Sohn für schuldig hält.(39) Kann uns der oben zitierte Satz nicht vielleicht auf eine einleuchtendere Spur bringen?

   Sucht man in den frühen Berichten über May nach Angaben über sein Aussehen, dann stößt man auf manches Negative, was angesichts seiner erfolgreichen Betrügereien in Erstaunen setzt. Da ist 1864 von »etwas unordentlich lang gewachsene(m)« Haar, von »steif(er) und linkisch(er)« Haltung die Rede,(40) fünf Jahre später von starrem, stechendem Blick und krummen Beinen.(41) Bei der Festnahme 1870 ist er »ein schlanker, dürftiger Mensch, förmlich heruntergekommen und unterernährt«,(42) und auf den Pflichtverteidiger macht er den »Eindruck eines komischen Menschen«.(43) Liegt es da nicht am nächsten, die obige Stelle ernst zu nehmen und zu vermuten, daß May als junger Mann unter seiner dürftigen Erscheinung gelitten und vielleicht deshalb so hektisch um Liebe geworben habe, um darin die fehlende Selbstbestätigung zu gewinnen? Auch daß sich unter den von ihm begangenen Diebstählen so oft Pelzwaren und andere Kleidungsstücke befanden, weist auf diesen Zusammenhang hin. Hat er zwar manches davon gleich wieder zu Geld gemacht, so ist andererseits aktenkundig, daß er anderes vorher »einige Zeit getragen« hatte.(44) War doch für seine Schwindeleien anständige Kleidung unentbehrlich!

   Die Überwindung dieses Traumas scheint in ›Der verlorne Sohn‹ dargestellt zu sein. Dort ist der Oberleutnant von Hagenau so häßlich, daß er eine Heirat für unmöglich hält,(45) obwohl auch er zum Retter der Geliebten wird.(46) Sie aber erklärt ihm, daß zwar »der Mann, wenn er liebt, mehr oder weniger durch die Schönheit der Formen beeinflußt wird. Das Weib liebt weniger die Form als vielmehr den Inhalt. Ich könnte einen schönen Mann hassen und einen häßlichen lieben, beides um ihrer Herzenseigenschaften willen.«(47) Hängt das damit zusammen, daß May inzwischen geheiratet hatte? Nun gibt nicht mehr die Kraft, erst recht nicht die äußere Erscheinung, sondern der Charakter den Ausschlag für


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weibliche Liebe: »Das Wort schön darf doch nicht blos auf körperliche Vorzüge und Eigenschaften Anwendung finden«, meint Hilda.(48)

   Solange aber der notvolle Zustand nicht überwunden ist, zeitigt er als wichtigste Folge die Unsicherheit gegenüber dem andern Geschlecht; nur wenn die Geliebte ohnmächtig ist, wagt der Held sie zu küssen, nachdem er sie unter Lebensgefahr gerettet hat – in ›Wanda‹ ebenso wie in ›Old Firehand‹ –; im ›Verlornen Sohn‹ wird dem Einsiedler Winter daraus ein Strick gedreht.(49) Dagegen berichtet in ›Leilet‹ der von solchen Selbstzweifeln nicht gequälte Bruder, er habe die Geliebte gleich beim ersten Treffen an sich gezogen und geküßt (Leilet 58)! Da sich nichts dergleichen in Brehms Vorlage findet, scheint mir die Annahme eines lange nachwirkenden Traumas bei May einleuchtender zu sein als der Rückgriff auf ganz andere Zusammenhänge, die die Mutter betreffen.

   Trotz all dieser Erwägungen ist freilich noch die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß May aus einer weiteren Quelle ein entsprechendes Sujet übernommen hat; auch dann wäre jedoch zu fragen, aus welchen psychologischen Gründen es ihn so nachdrücklich beeinflußt hätte. Hier böte sich Coopers ›Wildtöter‹ an.(50) Nicht nur in der Beschreibung des Titelhelden, sondern vor allem in einem längeren Gespräch mit Hurry Harry wird festgestellt, daß ihm »ein schönes Aussehen«(51) fehle. Doch geschieht das, ehe ein Mädchen oder gar die Liebe ins Spiel kommt; auch ist Wildtöter weitaus jünger, als Mays Held als Arzt es sein könnte; seinem unbedeutenden Aussehen entspricht eine gewisse Dümmlichkeit, die in deutschen Ausgaben meist unterdrückt wird, und schließlich spielt dies Motiv bei Cooper keine wesentliche Rolle. Dagegen könnte May ihn für den ›Verlornen Sohn‹ wirklich herangezogen haben, da Hilda dort ganz ähnlich argumentiert wie Coopers Judith.(52) Für ›Leilet‹ und die andern Frühwerke Mays dürfte dagegen der biographische Bezug vorzuziehen zu sein, zumal sich auch in späteren Werken entsprechende Spuren finden, denen wir hier nicht nachgehen können.

   Als Einleitung von Bernhardts Bericht wird nun zweitens sein Zustand geschildert: Sein Bruder, als Arzt, ist besorgt über den leidenden, kranken Eindruck, den er macht, und erfährt, daß Bernhardt sein Liebesglück verloren hat und seine einzige Hoffnung auf ihn setzt, da er die Verhältnisse besser kenne und vielleicht noch Rat wisse – was sich später bewahrheitet.

   Bei Schiller hat sich nach der Entdeckung der gemeinsamen Liebe beider Brüder etwas Ähnliches ergeben: Der ältere hatte versucht, in der Ferne die Geliebte zu vergessen,(53) war darüber aber todkrank geworden und konnte nur durch schleunige Rückkehr gerettet werden. Bei May war dagegen die Trennung unfreiwillig geschehen; das ist nun der Inhalt von Bernhardts Bericht, der zunächst sein Liebesglück mit Warde betrifft.


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   Dieser mittlere Teil verwendet viele Motive aus Brehms ›Eine Rose des Morgenlandes‹, ist aber viel kürzer; er beschränkt sich zumeist auf dessen mittleres Drittel, in dem das fast tägliche Beisammensein der Liebenden auf dem flachen Dach des Nachbarhauses beschrieben wird. Aus Brehms ›Reise-Skizzen‹ entnahm May die Unterscheidung zwischen den moralisch verkommenen männlichen Levantinern(54) und ihren wunderbaren Frauen, den im Orient einzigen, denen sich ein Lebensglück anvertrauen läßt (Leilet 57). Neu sind jedoch die Küsse,(55) mit denen Bernhardt bald das Mädchen überfällt, obwohl er im Gegensatz zu Brehm bei der ersten Begegnung zunächst nicht sprechen kann. Dagegen fehlt bei ihm die bei Brehm so packend beschriebene Beschränkung der sprachlichen Möglichkeiten, die ihn zu eifrigem Lernen des Arabischen veranlaßt. Gemeinsam ist beiden der überschwengliche Eindruck, den Warde macht.

   Im letzten Drittel seiner Erzählung berichtet Brehm, wie er wegen des Antritts der Sudanreise Warde verlassen mußte und auf ihre Bitte, sie mitzunehmen, nicht eingehen konnte. Davon übernimmt May nur den Gedanken, daß das Mädchen »... mit Freuden nach dem Schiffe (ging), denn sie hoffte Dich dort zu finden.« (Leilet 59). In Wirklichkeit hatte ihr Schwager sie nach Landessitte einem reichen Ägypter zur Frau gegeben, der mit ihr sofort abgereist war, so daß Bernhardts Bewerbung zu spät kam. Alle Nachforschungen waren vergeblich geblieben; daher schließt er seinen Bericht mit den Worten: »So sind Monde verflossen und haben mir nichts weiter gebracht, als die Ueberzeugung, daß ich verzichten muß ... – was ist aus mir geworden?« (ebd.) Selbst die Wohnung habe er aufgeben müssen, um nicht etwa durch die Schwester etwas zu erfahren!

   Gerade an diese Wohnung aber knüpft sich (als Abschluß dieses Unterteils) eine Hoffnung: Da sie noch leer steht, will der Ich-Held sie zu beziehen versuchen und erwähnt dann die ihm geglückte Entführung Leïlets, um den Bruder weiter zu ermutigen. Unter Mißbrauch von Joh 20, 29 (»Selig sind, die nicht sehen, und doch glauben, aber am allerseligsten sind, die nicht glauben und doch sehen.« – Leilet 59)(56) lädt er ihn ein, sie kennenzulernen, und behauptet, selbst seine Warde könne sich mit ihr nicht vergleichen (ebd.). Dadurch erfährt Bernhardt nun endlich, daß auch sein Bruder verliebt ist: »... diese Krankheit scheint in unserer Familie epidemisch zu werden« (Leilet 59) – was er ja anfangs in seinem Brief (ebd. 25) nicht für möglich gehalten hatte. Damit ist dieser Unterteil beendet, und auf dem Weg zum Hotel d›Orient nimmt dann das Unglück seinen Lauf ...

   Im 3. Unterteil gestaltet May ganz frei aus Eigenem, soweit ich sehe. Unterwegs begegnen die Brüder zwei Männern, Abrahim-Arha zusammen mit einem andern, den Bernhardt als seinen levantinischen Nachbarn bezeichnet. Für ihn ist das ein erster Lichtblick, denn Abrahim-


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Arha war es ja, den er bei jenem einmal gesehen hatte! So meint er, das Kommen des Bruders bringe ihm Glück, und will den beiden folgen; die haben sich aber schon selbst auf ihre Spuren gesetzt. Der Ich-Held dagegen wird von einer furchtbaren Ahnung gepackt, als sei mir ein Keulenschlag mitten hinein in's tiefste Herz versetzt worden (Leilet 71); noch spricht er nicht aus, was er aus Bernhardts Worten zu folgern gezwungen ist, und eilt nur vorwärts. Das furchtbare Geheimnis der Schillerschen Brüder steht vor seiner Enthüllung.

   Der Ich-Held führt seinen Bruder in sein Zimmer, schiebt ihn dann ins Nebengemach, wo Leïlet sich aufhält, und hört, wie sie einander jubelnd begrüßen: wie von einer riesigen Faust niedergestreckt, brach ich zusammen (Leilet 71). Nach dem Erwachen wird ihm alles erklärt, auch der Zug aus Hauffs Märchen, daß der Besitzer dem Mädchen einen andern Namen gegeben hatte. Der hatte freilich bei May, wo es nur um ein einziges Mädchen ging, dessen Name im Briefe des Bruders nicht einmal erwähnt war, die Entdeckung des Verhängnisses nur um die kurze Zeit verzögert, die zwischen dem Besuch beim Bruder und dessen Eintritt ins Hotelzimmer vergangen war: ein deutlicher Beweis für die Entlehnung.

   Von ganz anderem Gewicht ist der Umstand, daß Mays Schilderung hier sich kaum von der seines Zusammenbruchs nach der Verhaftung wegen angeblichen Uhrendiebstahls unterscheidet, die er in ›Mein Leben und Streben‹(57) beschrieben und in den Werken wiederholt gespiegelt hat. Bedeutet das, daß er außerdem noch einen vergleichbaren Zusammenbruch durch Verlust eines geliebten Mädchens erlitten hat, oder handelt es sich einfach um die Übertragung jener schrecklichen Erfahrung auf eine andere Situation?

   Auf den ersten Blick scheint dies letztere wahrscheinlicher zu sein, da in anderen Werken den Haupthelden nichts Ähnliches widerfährt – wenn man nicht hierzu rechnen will, daß im ›Verlornen Sohn‹ Robert Bertram bei dem Versuch, Fanny von Hellenbach zu Hilfe zu eilen, von einem Polizisten niedergeschlagen wird.(58) Dazu kommt, daß bei der Einarbeitung von ›Leilet‹ in ›Giölgeda padishanün‹ dieser letzte Teil wegfiel; hatte er also für May keine bleibende Bedeutung, oder handelt es sich nur um seinen grundsätzlichen Verzicht auf alles Erotische für die Reiseerzählungen? Schon dieser Umstand kann Bedenken hervorrufen, und weitere treten hinzu.

   Bei Nebenfiguren taucht nämlich dieses Motiv nicht nur einmal auf. In ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ ist es der von den Frauen umsonst umworbene Rittmeister Günther von Langendorff,(59) der für Tschita Feuer fängt; aber sie hatte bereits einen Verlobten, und sie liebte ihn,(60) so daß er zugrunde gegangen wäre, hätte er sich nicht – genau wie Schillers Helden – auf Reisen begeben. May löst das Problem dadurch, daß Tschita eine Schwester hat, Magda, die Langendorff freilich auch lange


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vergeblich suchen muß, bevor er – aus dem Roman verschwindet. Wie soll man sich das erklären?

   Der auffällige Umstand, daß etwa ein Jahr früher der May noch deutlicher abbildende Buchbinder Wilhelm Heilmann im ›Verlornen Sohn‹(61) gleichfalls im weiteren Verlauf vergessen wurde, läßt einen inneren Zusammenhang vermuten, so daß sich der Verdacht auf Verdrängung verstärkt.

   In ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ kompliziert sich alles aber noch dadurch, daß Langendorffs Freund Karl von Zimmermann, der um seinetwillen auf Magda verzichtet hatte, sie zuletzt doch bekommt!(62) Deutet das darauf hin, daß May an eine immer noch schmerzende Wunde rührte?

   Denn sogar im Spätwerk gibt es dann in ›Winnetou IV‹ die Erzählung des alten Trappers Max Pappermann,(63) hinter der sich »allem Anschein nach eine Autobiographie« verbirgt.(64) Da treten wie in ›Leilet‹ drei Männer auf, die sich um Aschta bewerben: Tom Muddy, der sie nicht nur liebte, sondern auch haßte und damit Abrahim-Arha gleicht; Wakon, der sie liebt und heiraten soll, also Bernhardts Stelle einnimmt; und der Erzähler, dem es bei dieser Nachricht ist, »als ob ich ... einen schweren Faustschlag gegen die Stirn bekommen hätte.«(65) Zwar besteht keine nähere Beziehung zwischen ihm und seinem glücklichen Nebenbuhler, aber er bringt ein noch größeres Opfer als der Ich-Held in ›Leilet‹. Wird hier also doch ein tiefgreifendes Erlebnis Mays dargestellt? Ekkehard Koch, dem freilich Günter Scholdt in manchem widerspricht,(66) sieht darin eine symbolische Darstellung der Brandmarkung Mays durch seine Jugendsünden, trotz der Einkleidung als Liebesgeschichte.(67) Aber angesichts der unbestreitbaren Ähnlichkeit mit der Szene in ›Leilet‹ müßte man dann annehmen, May habe im Abstand von rund vierzig Jahren zweimal auf fast dieselbe Weise versucht, seine Vergangenheit aufzuarbeiten! Ist das wahrscheinlich?

   Zudem könnten wir eine einschlägige Erfahrung Old Shatterhands in ›Krüger Bei‹ nachlesen, wenn Heinrich Keiter das Kapitel ›In der Heimath‹ nicht gestrichen hätte! Zwar findet sich die betreffende Stelle, nur wenig überarbeitet, in dem Radebeuler/Bamberger Band ›Professor Vitzliputzli‹, blieb aber bisher fast unbeachtet: Nach Verlust der Geliebten läuft Old Shatterhand in den Wald, wird von einem Gewitter überrascht und fast vom Blitz erschlagen: »Ich stand wie betäubt«.(68) Sollte das nicht ausreichen, eine direkte biographische Spiegelung anzunehmen, dort wie in ›Leilet‹? Ich wage das nicht zu entscheiden. Einerseits gibt es nirgends in der bisher nachgewiesenen, für ›Leilet‹ benutzten Literatur eine so extreme Reaktion des Helden,(69) so daß man May selbst dies Motiv zuschreiben muß, wenn man nicht eine weitere, bisher unbekannte Quelle annehmen will. Anderseits spielt die Frage, ob er in seiner Jugend wirklich eine so tiefgreifende Enttäuschung in ei-


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ner Liebesbeziehung erlitten habe, bisher in der Forschung keine wesentliche Rolle; fast alles konzentriert sich auf die Frage möglichen Liebesentzugs (oder seines Gegenteils) in der Kindheit, als könne es solche Erschütterungen später gar nicht mehr geben. Wir müssen also weitere Untersuchungen abwarten.(70)

   Mit dem Eintreffen des Levantiners und Abrahim-Arhas im Hotel beginnt die Entscheidung, die der Ich-Held trotz des kaum verwundenen Zusammenbruchs allein in die Hand nimmt (Leilet 71). Sie gliedert sich in vier Szenen:


a) Der Diener Omar-Arha wird hereingerufen und beauftragt, jeden, der den Raum verlassen wolle, niederzuschießen;

b) Abrahim-Arha wird als Wüstenräuber entlarvt (Omar-Arha fungiert als Zeuge) und alles Geraubte von ihm zurückgefordert; daß der Levantiner Warde/Leïlet für das Beutegut verkauft hatte, wird obendrein ins Feld geführt.

c) Abrahim-Arhas Verteidigung, er sei von höchster Stelle begnadigt worden, die auf seine oben erwähnte Gleichsetzung mit Harrihdi zurückgeht, wird durch den Hinweis auf die Macht des deutschen Konsuls entkräftet; die Reaktion des Levantiners macht diesen als Hehler verdächtig.

d) Dann aber erfolgt innerhalb einer Seite der völlig unerwartete Umschwung: »... wir wollen Worte der Versöhnung miteinander sprechen!« (Leilet 72). Nicht, wie üblich, in einem spannenden Dialog, sondern in einer kurzen Zusammenfassung wird das Zustandekommen einer Übereinkunft geschildert: Abrahim-Arha verzichtete auf Warde und ich auf eine gerichtliche Verfolgung gegen ihn.(ebd. 73) May weist darauf hin, daß der Held damit kein Opfer brachte, da das geraubte Gut doch verloren und eine Bestrafung durchaus zweifelhaft war, man somit alles in solcher Lage Mögliche erreicht hatte. Letztlich beruht die ganze Szene darauf, daß in der Gerichtsverhandlung keine Entlarvung Abrahim-Arhas nötig gewesen war und dieser hier in die Falle tappen konnte.

Offenbar gestaltet May all dies aus Eigenem. Hat es vielleicht etwas mit seinem erstaunlich friedfertigen Verhalten gegenüber dem Buchhalter Scheunpflug zu tun beim Wiedersehen nach Verbüßung der ersten Haftstrafe?(71) Auch dort wird festgestellt, daß ihm niemand seine Karriere verderben könne, da er niemals beabsichtigt habe, Volks- oder gar Fabrikschullehrer zu bleiben: eine Parallele zu dem leichtherzigen Verzicht auf das von Abrahim-Arha Geraubte. Insofern könnte May tatsächlich seinen damaligen Zusammenbruch hier mit ganz andern Bildern dargestellt haben.


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   Der Schluß geht dann wieder auf Schiller zurück, aber in bezeichnender Abänderung: Nicht mehr die Fähigkeit eines der Brüder, auf die gemeinsame Geliebte zu verzichten, gibt den Ausschlag, sondern die ältere Liebe des Mädchens zu Bernhardt, obwohl auch dieser bereit ist, sie aufzugeben. Bei Schiller dagegen läßt sie widerspruchslos über sich verfügen, wie es ja seinerzeit das Los vieler Mädchen war, und gesteht erst nachher, bei ihrem innerhalb Jahresfrist erfolgendem Tode, daß sie den andern Bruder geliebt habe. Der aber war nach Batavia ausgewandert und blieb zeitlebens unverheiratet – so wie May es schon im ›Old Firehand‹ Winnetou hatte sagen lassen, als er um seines Freundes willen auf Ribanna verzichtete.

   Ein solcher Schluß wäre aber Mays Art nicht entsprechend gewesen, die in der Regel »eine heilvolle, durch kein Unrecht mehr gefährdete Zukunft eröffnet«, wie Jürgen Wehnert formuliert.(72) Darum muß seine Novelle auch anders schließen als Schillers Erzählung, die mit dem Tode des von beiden Brüdern geliebten Mädchens ja tragisch endet, auch für den, der nicht ohne sie hätte leben können und sie deshalb zur Frau bekommen hatte. Wie aber wäre ein für alle Beteiligten befriedigender Schluß herbeizuführen? Abrahim-Arha hätte ja auf jeden Fall verzichten müssen, und auch für den Ich-Helden gab es keine andere Lösung, so daß er für jenen sich einer Regung des Mitleid nicht erwehren konnte (Leilet 73). Verblüffenderweise sind so die Protagonisten des Guten und des Bösen beide vom gleichen Schicksal betroffen, was noch einmal dagegen sprechen sollte, Abrahim-Arha eine Vaterrolle zuzuweisen.

   Da May bei dem übersichtlichen Personenbestand der Novelle nicht wie später in ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ einfach ein weiteres Mädchen als Deus ex machina auftauchen lassen konnte, griff er zu einem erstaunlichen Mittel: dem radikal abgekürzten Schluß. Zwar ist man auch sonst bei ihm zuweilen überrascht von der Plötzlichkeit des Endes; aber hier tritt einerseits noch eine sonderbare Mischung von Ernst und gezwungen wirkendem Witz hinzu (schon vorher hatte Omar-Arha bei der Entlarvung des Räubers unpassende Bemerkungen gemacht), andererseits eine befremdliche Art, die Lösung auszudrücken: Warde scheint beide Brüder in gleichem Maße in ihre Liebe einzuschließen! Daher könnte man argwöhnen, May habe unter großem Zeitdruck geschrieben oder der Schluß sei unsachgemäß gekürzt worden. Beidem steht entgegen, daß für die späteren Nachdrucke nichts geändert wurde; wenigstens für Roseggers ›Heimgarten‹ sollte man das sonst erwarten dürfen.

   Oder kann man den sonderbaren Schluß als Indiz dafür werten, daß May hier nicht ernsthaft engagiert gewesen sei, also wenigstens nicht auf die Aufarbeitung einer enttäuschten Liebe geschlossen werden dürfe? Das wäre wohl vorschnell geurteilt angesichts der Tatsache, daß er auch später, vor allem nach der Schilderung von Winnetous Tod 1882(73)


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(nicht mehr bei der Erweiterung der Szene für ›Winnetou III‹!) keine angemessenen Worte für den Gemütszustand des Ich-Helden findet, obwohl er damals aus einer wirklichen Betroffenheit heraus geschrieben haben muß.(74) Wir haben also den Vorgang aus sich selbst zu deuten.

   Worin besteht nun Mays Lösung, der Zukunft alles Tragische zu nehmen? Darin, daß er sie einfach ausschließt, indem er seine Novelle in dem Augenblick enden läßt, da sich die zwangsläufige spätere Trennung noch nicht abzeichnet: in der gemeinsamen, tränenreichen Umarmung der Brüder und des geretteten Mädchens als Ausdruck ihrer gegenseitigen Liebe und Dankbarkeit. Davon soll auch alles Weitere bestimmt werden, ganz gleich, wie es sich im einzelnen gestalten mag! Zwei Kleinigkeiten baut May ein, um das deutlich zu machen: die Szene dauert lange, lange, ... als wären wir Kinder (Leilet 73) – bei Kindern spielt der Gedanke an Späteres noch keine Rolle. Und dann platzt Omar-Arha hinein und hätte gern »auch Jemanden, den ich umarmen könnte« (ebd.), und wenn es Abrahim-Arha wäre – auf möglichst alle, nicht nur auf lange Zeit, soll die Liebe ausgedehnt werden! Mit diesem (leider unerfüllbaren) Wunsch schließt die Novelle.

   Fassen wir kurz das Ergebnis unserer Untersuchung zusammen: Vor dem Hintergrund bis ins einzelne gehender authentischer Schilderungen, die zumeist Brehms ›Reise-Skizzen‹ entnommen sind, spielt sich eine Handlung ab, deren tragische Verwicklung May Schillers Bericht verdankt: der Liebe zweier Brüder zum gleichen Mädchen, ohne daß sie darum wüßten. Veranlaßt durch Motive aus Hauffs Märchen, vermehrt um Einzelheiten aus Brehms ›Gartenlaube‹-Erzählung, kommt es zur Entführung des verkuppelten Mädchens aus dem Harem, nachdem im Retter die Liebe erwacht ist, deren Aussichtslosigkeit – vielleicht unter dem Einfluß von Chateaubriands ›Atala‹ – das rätselhafte Verhalten des Mädchens andeutet. Den Verfolgern kann wegen früherer Verbrechen Verzichtleistung abgerungen werden. Da beide Brüder – wie bei Schiller – bereit sind, selbstlos der Geliebten zu entsagen, entscheidet deren ursprüngliche Liebe – gegen Schiller.

   Fragt man, wie es zur Verbindung dieser z. T. doch recht verschiedenartigen Quellen gekommen sein könnte, so bietet sich dafür das Motiv der beiden Brüder um so mehr an, als man ja annimmt, May habe unter dem Fehlen eines Bruders gelitten. In Hauffs Märchen erzählt ein Bruder die Rettungstat des andern; in Brehms ›Reise-Skizzen‹ ertrinkt Brehms Bruder im Nil, nachdem er selbst ihm noch Hauffs ›Morgenrot‹ zugesungen hatte (Brehm 268f.); die ›Gartenlaube‹-Erzählung war nötig, um Hauffs Fatme Leben zu verleihen. Schillers Bericht aber bot nicht nur gleichfalls ein dramatisches Geschehen zwischen zwei Brüdern, sondern stellte zugleich die Verbindung zu dem von Brehm und Hauff gebotenen Mädchen unter neuem Aspekt dar, und die Geheim-


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nistuerei von Chateaubriands Heldinnen erleichterte die Verschmelzung so verschiedenartiger Stoffe.

   May hat also durch zumeist ganz freie Verwendung vorgegebener Motive aus heute weitgehend unbekannten älteren Quellen eine nicht nur spannende, sondern auch inhaltlich wertvolle Novelle komponiert, die wohl zur Bewältigung eigener Traumata mit beitragen sollte und trotz einiger Schwächen, zumal am Schluß, noch heute den Leser anspricht. Ich meine, sie kann sich durchaus neben den entsprechenden Kapiteln von ›Durch Wüste und Harem‹ behaupten. Die Einzelheiten ihrer Umarbeitung und die Weiterverwendung wichtiger Motive in späteren Werken Mays zu untersuchen, wäre eine zusätzliche reizvolle Aufgabe.



1 Karl May: Leilet. In: Feierstunden am häuslichen Heerde. 1. Jg. (1876/77); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1994 (künftig: Leilet)

2 Wie eine Vergleichslesung zeigt und Ekkehard Bartsch bestätigt, ist der Abdruck in Karl May's Gesammelte Werke Bd. 71: Old Firehand. Bamberg 1967, S. 162-232, keine Wiedergabe der ›Heimgarten‹-Erzählung, sondern eine bearbeitete Fassung von ›Leilet‹. Zu Pater Pöllmanns Kritik der ›Rose von Kahira‹ werde ich in den Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) Stellung nehmen, da dies hier zu weit führen würde. Von ›Entführt‹ sind wenige Abschnitte in Karl May: ›Scepter und Hammer‹/›Die Juweleninsel‹. Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1978, S. 335, 340 und 349, abgedruckt.

3 Karl May: Giölgeda padishanün. In: Deutscher Hausschatz. VII. Jg. (1880/81); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1977

4 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892

5 Z. B. in: Gert Ueding: Die Rückkehr des Fremden. Spuren der anderen Welt in Karl Mays Werk. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1982. Husum 1982, S. 17; ferner Hermann Wohlgschaft: Große Karl-May-Biographie. Paderborn 1994, S. 272

6 Sie decken sich vielfach mit den Ergebnissen von Jürgen Wehnerts Untersuchung ›... und ich das einzige lebende Wesen in dieser Wildnis. Zur Innovation des Ich-Helden bei Karl May‹ (in: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1987, S. 5-38 (Sonderband Text + Kritik)).

7 Vgl. Bernhard Kosciuszko: ›Leilet‹ – ›Eine Rose des Morgenlandes‹. In: M-KMG 63/1985, S. 26; ebd., auf den Seiten 27ff., wird Brehms ›Gartenlaube‹-Text faksimiliert. Zur Vorlage Hauff vgl. Thomas Ostwald/Siegfried Augustin: Zur Werkgeschichte. In: Karl May: Die Rose von Kahira/Die falschen Excellenzen. Neudruck der Veröffentlichung in Peter Roseggers Zeitschrift ›Heimgarten‹. II. Jahrgang, 1878, Graz-Braunschweig 1977 (Reihe ›Werkdruck-Reprints‹, Verlag A. Graff), unpag. (S. 72ff.).

8 Auf Alfred Edmund Brehm: Reise-Skizzen aus Nord-Ost-Afrika. Jena 1853 als Quelle Mays für ›Leilet‹ weist Fritz Maschke: Karl May und Alfred Brehm. In: M-KMG 7/1971, S. 19ff., hin; Brehms Werk ist wieder zugänglich in einer gekürzten und bearbeiteten Ausgabe: Alfred Edmund Brehm: Reisen im Sudan 1847-1852. Hrsg. von Helmut Arndt. Tübingen 1975; nach dieser Ausgabe wird hier unter Verwendung der Sigle ›Brehm‹ zitiert.

9 Friedrich Schiller: Eine großmütige Handlung aus der neuesten Geschichte. In: Württembergisches Repertorium der Litteratur 1782. In: Schillers Werke. Nationalausgabe. 16. Bd. Erzählungen. Hrsg. von Hans Heinrich Borcherdt. Weimar 1954, S. 3-6; der Text wird als Anhang am Schluß dieses Aufsatzes abgedruckt.

10 Wehnert, wie Anm. 6, S. 25

11 Kosciuszko, wie Anm. 7


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12 Vgl. in dem Fragment ›Ange et Diable‹ aus der Haftzeit Mays Zustimmung dazu, den Teufel nicht mehr mit Schwanz, Bockfüßen und Hörnern darzustellen, sondern das diabolische durch Disharmonie einzelner an und für sich schöner Züge wiederzugeben. (Karl May: Hinter den Mauern und andere Fragmente aus der Haftzeit. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 131).

13 Karl May: Nach Sibirien. In: Frohe Stunden. 2. Jg. (1878), S. 741; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1971

14 Ebd., S. 773

15 Karl May: Der Brodnik. In: Deutscher Hausschatz. VI. Jg. (1879/80), S. 694; Reprint in: Karl May: Kleinere Hausschatz-Erzählungen. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/Regensburg 1982

16 May: Wüste und Harem, wie Anm. 4, S. 100

17 Karl May: Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde. Dresden 1882/84, S. 18; Reprint Leipzig 1988ff.

18 Karl May: Die Felsenburg. In: Deutscher Hausschatz. XX. Jg. (1894), S. 28; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1980

19 Karl May: Die Liebe des Ulanen. In: Deutscher Wanderer. 8. Bd. (1883-85), S. 5; Reprint Bamberg 1993

20 Karl May: Durch das Land der Skipetaren. In: Deutscher Hausschatz. XIV. Jg. (1887/88), S. 188 und 191; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1978 (Buchausgabe: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IV: In den Schluchten des Balkan. Freiburg 1892, S. 524, 536)

21 Hans Wollschläger: Der »Besitzer von vielen Beuteln«. Lese-Notizen zu Karl Mays ›Am Jenseits‹ (Materialien zu einer Charakterananlyse II). In: Jb-KMG 1974. Hamburg 1973, S. 158

22 Vgl. Ernst Bloch: Urfarbe des Traums. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 11.

23 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVI: Im Lande des Mahdi I. Freiburg 1896, S. 260; Manfred Hecker wies darauf hin, daß Brehm die Krokodilhöhlen von Monfalut besucht hat; vgl. Alfred Schneider: Nochmals: Karl May und Alfred Brehm. In: M-KMG 8/1971, S. 14; der entsprechende Text aus Brehm: Reise-Skizzen, wie Anm. 8, S. 362-67, wird in den M-KMG 8/1971, S. 15-20, wiedergegeben. Meine Argumentation wird nicht dadurch hinfällig, daß Bernhard Kosciuszko (»In meiner Heimat giebt es Bücher ...«. Die Quellen der Sudanromane. In: Jb-KMG 1981. Hamburg 1981, S. 64-87 (75f.)) nachgewiesen hat, daß nicht dieser Brehm-Text, sondern ein ähnlicher Text des Afrikaforschers Ernst Marno (›Aus allen Welttheilen‹ 1874) May für den ›Mahdi‹ als Vorlage gedient hat. Für die frühe Erzählung ist eine Motiv-Abhängigkeit dennoch möglich.

24 Wehnert, wie Anm. 6, 16ff.

25 Ebd, S. 29

26 Vgl. dazu Eduard Engel: Erfolg. In: Karl-May-Jahrbuch 1932. Radebeul 1932, S. 214.

27 Karl May: Old Firehand. Aus der Mappe eines Vielgereisten Nr. 2. In: Deutsches Familienblatt. 1. Jg. (1875/76), S. 176; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1975

28 Vgl. Wilhelm Vinzenz: Feuer und Wasser. Zum Erlösungsmotiv bei Karl May. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 26/1980, S. 25.

29 Vgl. Walther Ilmer: Mit Kara Ben Nemsi ›im Schatten des Großherrn‹. Beginn einer beispiellosen Retter-Karriere. In: Jb-KMG 1990. Husum 1990, S. 291.

30 Vgl. ebd.

31 Vgl. Siegfried Augustin / Rudolf Beissel: Quellen und Vorbilder Mays. Vorstudien zu einer Monographie. In: Vom Lederstrumpf zum Winnetou. Autoren und Werke der Volksliteratur. Hrsg. von Siegfried Augustin und Axel Mittelstaedt. München 1981, S. 67f.

32 Ingrid Hofmann/Anton Vorbichler: Das Islambild bei Karl May. Wien 1979, besonders S. 187ff. und 193f.

33 Ein Beispiel dafür sind die fünf Gerichtsverhandlungen in ›Deadly Dust‹; vgl. dazu Wolfgang Hammer: Die Rache und ihre Überwindung als Zentralmotiv bei Karl May. In: Jb-KMG 1994. Husum 1994, S. 60f.


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34 Karl May: Wanda. In: Der Beobachter an der Elbe. 2. Jg. (1875), S. 430; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1974

35 Ebd., S. 431

36 Karl May: Die Rose von Ernstthal. In: Deutsche Novellen-Flora. 1. Bd. (1874/75), S. 187; Reprint in: Karl May: Unter den Werbern. Seltene Originaltexte Bd. 2. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/Gelsenkirchen 1985

37 Ganz in diesem Sinne sagt in ›Der Weg zum Glück‹ der Zigeuner Jeschko von sich und seinem Bruder: »Wir Beide lernten ein und dasselbe Mädchen kennen ... Er war hübscher als ich, und sie hatte ihn also lieber als mich ...« (Karl May: Der Weg zum Glück. Dresden 1886/88, S. 1496; Reprint Hildesheim-New York 1971)

38 Karl May: Das Buch der Liebe. Dresden 1875/76; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Regensburg 1988. Hrsg. von Gernot Kunze (Bd. I: Textband), S. 250

39 Vgl. Vinzenz, wie Anm. 28, S. 24.

40 Leipziger Zeitung. Nr. 198. 20. 8. 1864. Zitiert nach Klaus Hoffmann: Zeitgenössisches über »ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes«. Pressestimmen aus dem Königreich Sachsen 1864-1870. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 112

41 Ebd., S. 117

42 Hainer Plaul: Alte Spuren. Über Karl Mays Aufenthalt zwischen Mitte Dezember 1864 und Anfang Juni 1865. In: Jb-KMG 1972/73. Hamburg 1972, S. 241

43 Ebd., S. 242; mich persönlich berührt manches spätere Photo Mays ähnlich, zumal Nr. 122 in: Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Der große Karl-May-Bildband. Hrsg. von Gerhard Kußmeier und Hainer Plaul. Hildesheim-New York 1978, und auch das dem 3. Band von ›Old Surehand‹ ursprünglich beigegebene.

44 Hainer Plaul: Auf fremden Pfaden? Eine erste Dokumentation über Mays Aufenthalt zwischen Ende 1862 und Ende 1864. In: Jb-KMG 1971. Hamburg 1971, S. 158

45 Karl May: Der verlorne Sohn. Dresden 1884/86, S. 2215f.; Reprint Hildesheim-New York 1970ff.

46 Ebd., S. 2394

47 Ebd., S. 2231; dies ist übrigens schon die Einstellung Judiths in Coopers ›Wildtöter‹!

48 Ebd.

49 Ebd., S. 2259

50 James Fenimore Cooper: Der Wildtöter. Frankfurt a. M. 1977 (Insel Taschenbuch), z. B. S. 13 und 49ff.

51 Ebd., S. 49

52 Ebd., S. 473

53 Dies Stichwort fällt bei May im ›Verlornen Sohn‹, wie Anm. 45, S. 2398, im Blick auf von Hagenau und Hilda Holm, wo es freilich keinen rivalisierenden Bruder gibt. – Schillers Bericht spiegelt sich auch sonst gelegentlich in Mays Werken, nirgends aber so deutlich wie hier; z. B. lieben im ›Waldröschen‹ zwei Brüder Straubenberger das gleiche Mädchen (May: Waldröschen, wie Anm. 17, S. 1596), im ›Verlornen Sohn‹ zwei Brüder Hauck (May: Verlorner Sohn, wie Anm. 45, S. 2400ff.).

54 Brehm bringt in den ›Reise-Skizzen‹ einige Beispiele dazu: man vergleiche nur, was er auf S. 40 über die Griechen schreibt.

55 Auch hierfür gibt es in den ›Reise-Skizzen‹ immerhin die Parallele, daß Brehm im Dorf Koe ein wunderhübsches Mädchen um einen Kuß bittet – allerdings vergeblich!

56 Dergleichen findet sich mehrfach bei May, vor allem in Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIV: Old Surehand I. Freiburg 1894, S. 105, 167, 174; vermutlich eine Folge der Überfütterung mit Bibelsprüchen auf dem Seminar, vgl. dazu: Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 95; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul.

57 May: Leben und Streben, wie Anm. 56, S. 109

58 May: Verlorner Sohn, wie Anm. 45, S. 242

59 Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden. Dresden 1886/87, S. 1197; Reprint Bamberg 1976; die Frage, ob der Schluß auch von May herrührt, wird unterschiedlich beantwortet.

60 Ebd.

61 May: Verlorner Sohn, wie Anm. 45, S. 999ff.


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62 May: Deutsche Helden, wie Anm. 59, S. 2604

63 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXIII: Winnetou IV. Freiburg 1910, S. 142-51

64 Ekkehard Koch: Winnetou Band IV. Versuch einer Deutung und Wertung 1. Teil. In: Jb-KMG 1970. Hamburg 1970, S. 140

65 May: Winnetou IV, wie Anm. 63, S. 148

66 Günter Scholdt: Vom armen alten May. Bemerkungen zu ›Winnetou IV‹ und der psychischen Verfassung seines Autors. In: Jb-KMG 1985. Husum 1985, S. 102-51, bes. S. 113f.

67 Koch, wie Anm. 64, S. 141f.

68 Karl May's Gesammelte Werke Bd. 47: Professor Vitzliputzli. Radebeul (1927), S. 148; die beiden ersten Erzählungen enthalten Teile jenes Kapitels in der Bearbeitung von Franz Kandolf, wie in einer Vorbemerkung angegeben wird.

69 In ›Atala‹ vergiftet sich die Titelheldin angesichts ihrer aussichtslosen Lage – und dann hätte ihr doch geholfen werden können!

70 Wohlgschaft, wie Anm. 5, S. 65, rechnet mit derartigen Folgen der unglücklichen Liebe Mays zu Anna Preßler.

71 May: Leben und Streben, wie Anm. 56, S. 108

72 Wehnert, wie Anm. 6, S. 5

73 Karl May: Im »wilden Westen« Nordamerika's. In: Feierstunden im häuslichen Kreise. 9. Jg. (1883)

74 Vgl. Hammer, wie Anm. 33, S. 62.


Anhang


Friedrich Schiller

EINE GROSSMÜTIGE HANDLUNG, AUS DER NEUSTEN GESCHICHTE


Schauspiele und Romanen eröffnen uns die glänzendsten Züge des menschlichen Herzens; unsre Phantasie wird entzündet; unser Herz bleibt kalt; wenigstens ist die Glut, worein es auf diese Weise versetzt wird, nur augenblicklich und erfriert fürs praktische Leben. In dem nämlichen Augenblick, da uns die schmucklose Gutherzigkeit des ehrlichen Puffs bis beinahe zu Tränen rührt, zanken wir vielleicht einen anklopfenden Bettler mit Ungestüm ab. Wer weiß, ob nicht eben diese gekünstelte Existenz in einer idealischen Welt unsre Existenz in der wirklichen untergräbt? Wir schweben hier gleichsam um die zwei äußersten Enden der Moralität, Engel und Teufel, und die Mitte – den Menschen – lassen wir liegen.

   Gegenwärtige Anekdote von zween Teutschen – mit stolzer Freude schreib’ ich das nieder – hat ein unabstreitbares Verdienst – sie ist wahr. Ich hoffe, daß sie meine Leser wärmer zurücklassen werde als alle Bände des ›Grandison‹ und der ›Pamela‹.

   Zwei Brüder, Baronen von Wrmb., hatten sich beide in ein junges vortreffliches Fräulein von Wrthr. verliebt, ohne daß der eine um des andern Leidenschaft wußte. Beider Liebe war zärtlich und stark, weil sie die erste


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war. Das Fräulein war schön, und zur Empfindung geschaffen. Beide ließen ihre Neigung zur ganzen Leidenschaft aufwachsen, weil keiner die Gefahr kannte, die für sein Herz die schröcklichste war – seinen Bruder zum Nebenbuhler zu haben. Beide verschonten das Mädchen mit einem frühen Geständnis, und so hintergingen sich beide, bis ein unerwartetes Begegnis ihrer Empfindungen das ganze Geheimnis entdeckte.

   Schon war die Liebe eines jeden bis auf den höchsten Grad gestiegen; der unglückseligste Affekt, der im Geschlechte der Menschen beinah so grausame Verwüstungen angerichtet hat als sein abscheuliches Gegenteil, hatte schon die ganze Fläche ihres Herzens eingenommen, daß wohl von keiner Seite eine Aufopferung möglich war. Das Fräulein, voll Gefühl für die traurige Lage dieser beiden Unglücklichen, wagte es nicht, ausschließend für einen zu entscheiden, und unterwarf ihre Neigung dem Urteil der brüderlichen Liebe.

   Sieger in diesem zweifelhaften Kampf der Pflicht und Empfindung, den unsre Philosophen so allzeit fertig entscheiden und der praktische Mensch so langsam unternimmt, sagte der ältere Bruder zum jüngern: »Ich weiß, daß du mein Mädchen liebst, feurig wie ich. Ich will nicht fragen, für wen ein älteres Recht entscheidet. – Bleibe du hier, ich suche die weite Welt, ich will streben, daß ich sie vergesse. Kann ich das – Bruder! dann ist sie dein, und der Himmel segne deine Liebe! – Kann ich es nicht – nun dann, so geh auch du hin -– und tu ein gleiches.«

   Er verließ gählings Teutschland und eilte nach Holland – aber das Bild seines Mädchens eilte ihm nach. Fern von dem Himmelstrich seiner Liebe, aus einer Gegend verbannt, die seines Herzens ganze Seligkeit einschloß, in der er allein zu leben vermochte, erkrankte der Unglückliche, wie die Pflanze dahinschwindet, die der gewalttätige Europäer aus dem mütterlichen Asien entführt und fern von der milderen Sonne in rauhere Beete zwingt. Er erreichte verzweifelnd Amsterdam, dort warf ihn ein hitziges Fieber auf ein gefährliches Lager. Das Bild seiner Einzigen herrschte in seinen wahnsinnigen Träumen, seine Genesung hing an ihrem Besitze. Die Ärzte zweifelten für sein Leben, nur die Versicherung, ihn seiner Geliebten wieder zu geben, riß ihn mühsam aus den Armen des Todes. Halbverwest, ein wandelndes Gerippe, das erschröcklichste Bild des zehrenden Kummers, kam er in seiner Vaterstadt an – schwindelte er über die Treppe seiner Geliebten, seines Bruders. »Bruder, hier bin ich wieder. Was ich meinem Herzen zumutete, weiß Der im Himmel. – Mehr kann ich nicht.« Ohnmächtig sank er in die Arme des Fräuleins.

   Der jüngere Bruder war nicht minder entschlossen. In wenigen Wochen stand er reisefertig da: »Bruder, du trugst deinen Schmerz bis nach Holland. – Ich will versuchen, ihn weiter zu tragen. Führe sie nicht zum Altar, bis ich dir weiter schreibe. Nur diese Bedingung erlaubt sich die brüderliche Liebe. Bin ich glücklicher als du – in Gottes Namen, so sei sie dein, und der Himmel segne eure Liebe. Bin ich es nicht – nun dann, so möge der Himmel weiter über uns richten! Lebe wohl. Behalte dieses versiegelte Päckchen, erbrich es


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nicht, bis ich von hinnen bin. – Ich geh nach Batavia.« – Hier sprang er in den Wagen.

   Halb entseelt starrten ihm die Hinterbleibenden nach. Er hatte den Bruder an Edelmut übertroffen. Am Herzen dieses zerrten beide, Liebe und Verlust des edelsten Manns. Das Geräusch des fliehenden Wagens durchdonnerte sein Herz. Man besorgte für sein Leben. Das Fräulein – doch nein! Davon wird das Ende reden.

   Man erbrach das Paket. Es war eine vollgültige Verschreibung aller seiner teutschen Besitzungen, die der Bruder erheben sollte, wenn es dem Fliehenden in Batavia glückte.

   Der Überwinder seiner selbst ging mit holländischen Kauffahrern unter Segel und kam glücklich in Batavia an. Wenige Wochen, so übersandte er dem Bruder folgende Zeilen: »Hier, wo ich Gott dem Allmächtigen danke, hier auf der neuen Erde denk’ ich deiner und unsrer Lieben mit aller Wonne eines Märtyrers. Die neue Szenen und Schicksale haben meine Seele erweitert, Gott hat mir Kraft geschenkt, der Freundschaft das höchste Opfer zu bringen: Dein ist – Gott! hier fiel eine Träne – die letzte – Ich hab’ überwunden – Dein ist das Fräulein.

   Bruder, ich habe sie nicht besitzen sollen, das heißt, sie wäre mit mir nicht glücklich gewesen. Wenn ihr je der Gedanke käme – sie wäre es mit mir gewesen – Bruder! Bruder! schwer wälze ich sie auf deine Seele. Vergiß nicht, wie schwer sie dir erworben werden mußte. – Behandle den Engel immer, wie es itzt deine junge Liebe dich lehrt. – Behandle sie als ein teures Vermächtnis eines Bruders, den deine Arme nimmer umstricken werden. Lebe wohl. Schreibe mir nicht, wenn du deine Brautnacht feierst. Meine Wunde blutet noch immer. Schreibe mir, wie glücklich du bist. – Meine Tat ist mir Bürge, daß auch mich Gott in der fremden Welt nicht verlassen wird.«

   Die Vermählung wurde vollzogen. Ein Jahr dauerte die seligste der Ehen. – Dann starb die Frau. Sterbend erst bekannte sie ihrer Vertrautesten das unglückseligste Geheimnis ihres Busens: sie hatte den Entflohenen stärker geliebt.

   Beide Brüder leben noch wirklich. Der ältere auf seinen Gütern in Teutschland, aufs neue vermählt. Der jüngere blieb in Batavia und gediehe zum glücklichen, glänzenden Mann. Er tat ein Gelübde, niemals zu heiraten, und hat es gehalten.

(Schillers Werke. Nationalausgabe. 16. Bd. Erzählungen. Hrsg. von Hans Heinrich Borcherdt. Weimar 1954, S. 3-6)


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