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ANDREAS GRAF

Von Öl- und anderen Quellen
Texte Friedrich Gerstäckers als Vorbilder
für Karl Mays ›Old Firehand‹,
›Der Schatz im Silbersee‹ und ›Inn-nu-woh‹

Gerstäcker war, Alles in Allem, ein guter, ehrlicher Kerl und ein guter Schriftsteller. Das eine ist so selten wie das andere, und unsere an aufstrebenden wirklichen Talenten ziemlich arme Literatur sowohl wie der Kreis seiner Freunde haben in ihm ein Talent und einen Mann verloren.

Hans Wachenhusen(1)



Daß sich Karl May – vor allem in den ersten Jahren seiner schriftstellerischen Tätigkeit, also etwa zwischen 1874 und 1880 – auf der Suche nach Motiven für seine exotischen Erzählungen auch im Werk seines damals berühmten Kollegen Friedrich Gerstäcker umgesehen hat, ist bekannt. Für seine Erzählung ›Vom Tode erstanden‹ (1878) hat May Gerstäckers Erzählung ›Das Hospital auf der Mission Dolores‹ (1867) bzw. dessen Reisebericht ›Südamerika, Californien, die Südsee-Inseln‹, Bd. 1,(2) als Vorlage benutzt, und für seine Südseegeschichten ›Die Rache des Ehri‹ (1878) bzw. ›Der Ehri‹ (1879/80) und ›Tui Fanua‹ (1880) hat Karl May – worauf schon der provokante Pater Pöllmann einstens hinwies – auf Gerstäckers Erzählung ›Das Mädchen von Eimeo‹ (1868) zurückgegriffen. Dies haben Josef Höck und Thomas Ostwald in einer Untersuchung überzeugend belegt(3) – auch wenn May 1910 in seinem Interview mit E. E. Kisch behauptete, seine Vorlage sei eine alte Beschreibung von Indien gewesen, die Gerstäcker ebenfalls verwendet habe.(4)

   Auch daß May für seine Beschreibung der Rafters im ›Schatz im Silbersee‹ (1890/91) entsprechende Vorbilder bei Gerstäcker fand, ist eindeutig zu belegen. Wahrscheinlich handelt es sich bei der Vorlage Mays um den Text der frühen Gerstäcker-Skizze ›Rafters‹, die bereits 1846 in einer Zeitschrift erschienen war und seit 1848 in der Erzählungssammlung ›Mississippi-Bilder‹ auch in Buchform vorlag. Gerstäcker hat sich später noch öfter mit dem Thema ›Rafters‹ beschäftigt, beispielsweise in der Erzählung ›Unberufene Gäste‹(5) (1872). Ob dies auch in seinen Reiseberichten der Fall ist, wäre zu prüfen.


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Wie schon für den Fall Möllhausen gezeigt,(6) gibt es jedenfalls für derartige Nachforschungen auch bei Gerstäcker das Problem, daß dieser seine Schilderungen nicht selten mehrfach im eigenen Werk verwendet hat: zunächst im Reisebrief, dann in der Buchausgabe der jeweiligen Reisebeschreibung und außerdem in einem Roman dieses Schauplatzes und/oder in einer kleineren oder größeren Erzählung.


I. Gerstäckers Medienpräsenz

Der Zugriff auf Gerstäckers Werk lag für Karl May nahe, denn Gerstäcker war wenige Jahre zuvor (1872) gestorben – konnte sich also bei eventuell zu weit gehender Plagiierung nicht mehr persönlich wehren, was immer von Vorteil war – und er galt in Deutschland neben Balduin Möllhausen als vielleicht zuverlässigster literarischer Kenner jener nordamerikanischen Gegenden, die auch May mit literarischem Personal zu besiedeln soeben begonnen hatte. Als Neuling konnte May sich aus Gerstäckers Erzählungen zuverlässige geographische, ethnologische, soziale, zeitgeschichtliche u. ä. Informationen holen, die er sich sonst – was bekanntermaßen ebenfalls nicht selten geschah – mühsam aus zeitgenössischen Lexika hätte zusammensuchen müssen. Der Vorteil gegenüber dem Lexikon bestand vor allem darin, daß die entsprechende reale Situierung in einer Erzählung immer schon mit (fiktiver) Handlung unterlegt bzw. zusammengebunden war, was einem Autor mit ähnlichen Ambitionen stets zumindest eine erste Möglichkeit anbot, dem gewählten Terrain mit einer spannenden Handlung zu Leibe zu rücken – als (unfreiwilliger) Vorschlag sozusagen, als Angebot –, auch wenn die konkrete Handlung der jeweiligen Vorlage dann im Einzelfall modifiziert oder gar verworfen werden sollte.

   Allerdings war für einen jungen ambitionierten Autor mit einem solchen Vorgehen natürlich auch eine gewisse Gefahr verbunden. Einerseits war es legitim, sich bei seinen Recherchen in der Welt der gedruckten Worte bei den anerkanntermaßen besten Kennern derjenigen Weltgegenden umzusehen, die man selbst ebenfalls zum Gegenstand nehmen wollte; dies haben alle Autoren zu allen Zeiten selbstverständlich getan und tun es bis heute – das Lesepublikum fordert mit Recht, daß ein Autor aus den zuverlässigsten der zugänglichen Quellen schöpfen möge, ob er nun über den Wilden Westen, das Innere der Erde oder die Rückseite des Mondes berichtet. Andererseits war ausgerechnet Friedrich Gerstäcker derjenige deutsche Prosaautor des 19. Jahrhunderts, der vermutlich die massivste Medienpräsenz überhaupt aufzuweisen hatte – damit war für einen Neuling die Gefahr, beim Ab- bzw. Umschreiben erwischt zu werden, relativ hoch. Also war von Anfang an Vorsicht geboten.


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   Denn zwischen 1844 und 1872 erschienen mindestens 44 selbständige Buchausgaben Gerstäckers mit insgesamt 142 Bänden, im Durchschnitt also während eines Zeitraums von achtundzwanzig Jahren jeweils mindestens 5 Bände pro Jahr! Dazu kamen 20 vorwiegend amerikanische Romane, die Gerstäcker ins Deutsche übersetzte. Auch die unmittelbar nach seinem Tod erschienene Werkausgabe(7) umfaßte, obwohl keineswegs vollständig, 43 bzw. 44 Bände. Hinzu kamen Zeitungs- und Zeitschriften(vor)abdrucke von Erzählungen, Skizzen und Novellen zuhauf: Auch die Romane Gerstäckers wurden sämtlich in großen, meist überregional gelesenen Publikationen vorabgedruckt, beispielsweise in der ›Kölnischen Zeitung‹, damals dem führenden Organ für das Romanfeuilleton im deutschsprachigen Raum. Gerstäckers eigenhändiges Werkverzeichnis(8) erfaßt für den Zeitraum von 1844 bis 1872 ca. 420 Erzählungen, Novellen und Skizzen, d. h. in diesen achtundzwanzig Jahren sind – n e b e n den genannten Buchausgaben – durchschnittlich p r o J a h r 15 Erzählungen Gerstäckers in der Presse des deutschen Sprachraums erschienen! Dazu kamen außerdem noch die von dem genannten Verzeichnis meist nicht erfaßten ›Reisebriefe‹ Gerstäckers, die er während seiner langen Reisen ständig an deutsche Zeitungen sandte und die von diesen in regelmäßigen Abständen ebenfalls abgedruckt wurden. Solche Reisebriefe – gattungsmäßig eine Mischung aus Reisefeuilleton und aktuellem Korrespondentenbericht – erschienen beispielsweise während Gerstäckers zweiter Weltreise zwischen 1850 und 1852 kontinuierlich in den drei Cotta-Blättern ›Allgemeine Zeitung‹, ›Das Ausland‹ und ›Morgenblatt‹, und während seiner fünften (und letzten) großen Reise 1867/68 in der ›Kölnischen Zeitung‹. Der Autor war mithin über mehrere Jahrzehnte nicht nur auf dem Buch-, sondern auch auf dem Zeitschriften- sowie dem Zeitungsmarkt nahezu ununterbrochen präsent.

   Es dürfte kaum zu hoch gegriffen sein, wenn man schätzt, daß während eines Zeitraums von etwa dreißig Jahren im Durchschnitt keine einzige Woche vergangen ist, in der nicht irgendwo im deutschen Sprachraum irgendeine Fortsetzung irgendeiner Erzählung/Novelle/ Skizze oder irgendeines Romanes/Reisebriefes von Friedrich Gerstäcker in irgendeiner Zeitung oder Zeitschrift zu lesen gewesen ist. Abgesehen davon, daß eine solche beispiellose Medienpräsenz eines realistischen (Reise-)Erzählers in den Übergangsjahrzehnten zwischen Romantik und Realismus zweifellos einen bedeutenden Einfluß auf die allgemeine Durchsetzung realistischer Erzählformen gehabt hat – ein Bereich, der von der Literaturwissenschaft bislang völlig unerforscht geblieben ist –, barg diese Tatsache für einen Neuen im gleichen Erzählgenre, wie erwähnt, naturgemäß auch ein erhöhtes Risiko. Deswegen konnte man mit gutem Recht vermuten, Karl Mays Anleihen bei Gerstäcker seien eher peripher und die Motivsuche in dessen Revier


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beschränke sich weitgehend auf Nebensächlichkeiten. Die oben bereits genannten bekannten Beispiele scheinen eine solche Mutmaßung auch zu stützen. Deshalb muß es nicht wenig überraschen, wenn sich bei Gerstäcker auch solche Motive bereits finden, die für den Erzählkosmos Karl Mays mehr als nur am Rande wichtig sind – wie etwa Ölkatastrophe und Rettung, Eisenbahnüberfall, Henrystutzen oder ›Anhobbeln‹ der Pferde.(9)

   Karl May hat am Anfang seiner schriftstellerischen Laufbahn offenbar s y s t e m a t i s c h vor allem die (illustrierten) Familienzeitschriften seiner Zeit durchforstet, einerseits um zu sehen, welche Genres beim Publikum besonders gefragt waren, andererseits auf der Suche nach konkreten Motiven, von denen er sich inspirieren lassen konnte. Eine solche Behauptung ist leicht aufzustellen, im Einzelfall aber immer wieder schwierig zu belegen. Denn es besteht ja auch die Möglichkeit, daß es sich bei einzelnen Parallelen um zufällige Übereinstimmungen bzw. zufällige Funde des suchenden May gehandelt hat, und eben nicht um eine planmäßige Vorgehensweise. Daß May aber gerade im Fall Gerstäckers geradezu planmäßig vorgegangen ist – wohl, weil er in ihm ein echtes Vorbild sah, nach dem er seine eigene Laufbahn zu gestalten gedachte – scheint mir anhand der ›Old Firehand‹-Erzählung unzweideutig belegbar. Es handelt sich dabei nämlich um den einzigen mir bislang bekannten Fall, daß e i n e May-Erzählung eindeutig von m e h r e r e n Gerstäcker-Texten beeinflußt ist. Das heißt für mich: Karl May hat sich ganz bewußt Gerstäcker als Vorlagenspender herausgesucht, weil dieser in seiner ganzen Art – literarisch ebenso wie persönlich – den eigenen Ambitionen am adäquatesten schien.

   Mays ›Old Firehand‹ ist von mindestens zwei Gerstäckertexten deutlich beeinflußt: von ›Im Petroleum‹ und ›In der Prärie‹. Dabei erhellt, wie ich meine, gerade die relativ komplizierte Publikationsgeschichte dieser Texte das Systematische am Vorgehen Mays. Zwar sind diese beiden Gerstäcker-Geschichten im selben Sammelband veröffentlicht worden, und es läge zunächst nahe, diese erste und einzige Buchausgabe für die Vorlage Karl Mays zu halten – zumal sich darin noch eine Reihe weiterer Texte findet, die zumindest als Inspirationsquellen für May gedient haben können, etwa die bereits erwähnte Erzählung ›Unberufene Gäste‹ oder der bekannte Text ›Meine Selbstbiographie zu einem Bilde der Gartenlaube‹ oder auch ›Die Javanesin‹ und die Skizze ›Eine Stunde in einem Lager der Sioux‹. Doch so einfach ist es nicht.

   Die Buchausgabe,(10) der vorletzte Band von Gerstäckers ›Gesammelten Schriften‹, erschien postum erst 1879, also vier Jahre n a c h dem ersten bekannten Abdruck von ›Old Firehand‹. Das Problem löst sich jedoch, wenn man sich den Inhalt dieses Sammelbandes genauer ansieht. Nahezu sämtliche Erzählungen darin wurden nämlich zwischen etwa 1868 und 1872 erstmals in Zeitschriften abgedruckt. Diese Zeitschriften


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hat Karl May also durchgesehen. Da nun die beiden für ›Old Firehand‹ als Vorlagen in Frage kommenden Texte in zwei v e r s c h i e d e n e n Zeitschriften zu unterschiedlichem Zeitpunkt publiziert worden sind, muß man zwingend von einer gewissen Planmäßigkeit im Vorgehen Karl Mays ausgehen. ›In der Prärie‹ erschien 1868 in ›Die Illustrirte Welt‹,(11) ›Im Petroleum‹ wurde 1871 in ›Das Buch der Welt‹(12) abgedruckt. Da die gebundenen Jahrgangsbände dieser Zeitschriften üblicherweise gesammelt und meist auch von Leihbibliotheken verliehen wurden, war es für einen Interessenten keine Schwierigkeit, zu einem bestimmten Zeitpunkt die Bände verschiedener Zeitschriften aus unterschiedlichen Jahren vorliegen zu haben. Ein solches Verfahren darf man für Karl May vermuten. Doch selbst wenn man annimmt, daß May die in Frage kommenden Gerstäcker-Texte nacheinander und mit längerem zeitlichen Abstand zur Kenntnis genommen hat, so steht – neben dem ganz offensichtlichen speziellen Interesse für gerade diesen Schriftsteller – auch fest, daß May die Texte mit hoher Wahrscheinlichkeit erst frühestens ab Mai 1874 kennengelernt hat: Denn im Juli 1868 bzw. im Juli 1871, als die entsprechenden Zeitschriftenhefte erschienen, war May noch in Osterstein bzw. in Waldheim inhaftiert, und in den dortigen Anstaltsbibliotheken – sofern er überhaupt Zugang dazu hatte – dürfte er wohl kaum mit druckfrischen Exemplaren von meist über Kolporteure vertriebenen Zeitschriftenheften versorgt worden sein.


II. Die Ölkatastrophe

›Old Firehand‹ ist die früheste bislang bekannt gewordene längere Wildwest-Erzählung Karl Mays. Sie besteht aus mehreren Episoden, von denen die ersten beiden deutlich von Gerstäcker beeinflußt sind. In der ersten Episode geht es um die Ölkatastrophe in New Venango, woraus der namenlose Ich-Erzähler das Mädchen Ellen rettet; hier hat Gerstäckers ›Im Petroleum‹ Pate gestanden. Und in der zweiten Episode verhindern Winnetou und der Ich-Erzähler einen von Parranoh ausgeheckten Überfall auf die Bahn: Hier diente Gerstäckers ›In der Prärie‹ als Vorlage. Ob analog dazu etwa noch weitere Episoden – z. B. der Überfall auf Old Firehands Talkessel oder die Ribanna-Geschichte – von Gerstäcker (oder anderen) inspiriert sind, ließ sich bislang nicht zweifelsfrei feststellen.(13)

   Die Ölbrand-Episode in ›Old Firehand‹ ist für Karl May die erste von zahlreichen, später immer wieder variierten Schilderungen einer Brandkatastrophe auf einer Ölbohrstelle. Sie fand zwanzig Jahre später, kaum verändert, Eingang in den zweiten Band der ›Winnetou‹-Trilogie. Weitere Ölbrandkatastrophen schilderte May in den frühen Erzählungen ›Der Oelprinz‹ von 1878(13a) – nicht zu verwechseln mit dem


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gleichnamigen Jugendroman aus dem Jahr 1894! – und in ›Three carde monte‹ von 1878(13b) (später eingegangen in ›Old Surehand II‹). Den faktischen Hintergrund der Ölkatastrophe in ›Old Firehand‹ bildet ein tatsächliches Ereignis am Kanawha River im Jahr 1863, von dem bislang nicht geklärt ist, wie Karl May davon erfahren hat:(14) vermutlich über einen zeitgenössischen Zeitungsbericht. Daß May für verschiedene andere Aspekte seiner Ölbrandschilderungen darüber hinaus noch weitere Quellen benutzte, ist sehr wahrscheinlich. Denn schon in seinem ›Schacht und Hütte‹-Beitrag ›Ein Lichtspender‹ (1875) hatte May über die Petroleumgewinnung geschrieben: Besonders ergiebig sind Pennsylvanien und Westvirginien, im Ersteren der Venango-County mit dem Oil-creek und im Letzteren das Kanawhathal.(15)

   Die zeitgenössischen Blätter haben immer wieder über die Petroleum-Regionen Nordamerikas berichtet; so hieß es beispielsweise noch 1886 in ›Vom Fels zum Meer‹, wo auch eine brennende Ölquelle abgebildet ist: »Die ältesten Oelfelder befinden sich in Venango County zu beiden Seiten des Oil Creek.«(16) Dabei bewegten die deutsche Öffentlichkeit in erster Linie die Schicksale der glücklichen Finder von Ölquellen, für die nicht selten über Nacht der amerikanische Traum wahr geworden war: ›Das Buch für Alle‹ brachte 1874 eine Erzählung mit dem Titel ›Der Oelkönig‹,(17) in der es über diese Bezeichnung hieß: »Man benannte damit alle Leute, die durch Spekulation in dem kürzlich entdeckten und verwertheten Petroleum reich geworden. Man konnte in den Städten Pennsylvaniens diese Leute in Dutzenden sehen.«(18) Und bereits ein Jahrzehnt zuvor war in der ›Gartenlaube‹ der Artikel ›Die nordamerikanischen Oelprinzen‹ erschienen, in dem es u. a. heißt: »Wie durch einen Zauberstab aus den schmutzigen, schlüpfrigen Oelquellen Pennsylvaniens an's Tageslicht gerufen, entstand plötzlich eine neue Geldaristokratie, und ›Oel-Prinzen‹ und ›Oel-Prinzessinnen‹ fahren jetzt in glänzenden Equipagen durch unsere Straßen und Parks«.(19)

   An gleicher Stelle wurde auch schon über einige Deutsche berichtet, denen das Glück in dieser Weise hold gewesen war: »Auch einige unserer deutschen Landsleute haben im Oellande ihr Glück gemacht. Ein gewisser Rind, Besitzer der ölreichen Rindfarm, ist ein wahrer Petroleum-Rothschild; ein anderer, um auch kleinere Beispiele zu erzählen, Namens Peter Haas, aus dem Hessischen gebürtig, welcher noch im Jahre 1861 als Wagenknecht im Quartiermeisteramt unter dem Schreiber dieser Zeilen diente, kehrte 1862 aus dem [Bürger-]Kriege zurück und kaufte mit den Ersparnissen seines Soldes eine kleine Farm, worauf er früher gearbeitet hatte. Vor fünf Wochen verkaufte er sein Eigenthum an eine Actien Gesellschaft für die nette runde Summe von zweihundertundfünfzigtausend Dollars baar und einer Leibrente von fünftausend Thalern. Er heirathete eine deutsche Nähmamsell und lebt jetzt als


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vergnügter Rentier in der Nähe von Philadelphia.«(20) Möglicherweise hat man hier den realen Kern des Schicksals von Konrad Werner vor sich, der in Karl Mays Roman ›Satan und Ischariot II‹ als deutscher Öl-Millionär zwar keine Nähmamsell, aber immerhin eine Strumpfwirkerstochter heiratet.(21)

   Daß neben solchen Texten auch Gerstäckers Erzählung ›Im Petroleum‹ zweifelsfrei als wichtiges Vorbild Karl Mays zu nennen ist, hat vor vielen Jahren bereits Herbert Meier festgestellt.(22) Wie bei Karl May werden auch im letzten Kapitel der Gerstäcker-Geschichte (Überschrift: ›Die Katastrophe‹) ein verbrecherischer Ölhändler unschädlich gemacht, eine Frau aus der Feuersbrunst gerettet und ein Mädchen namens Ellen (!) vom Held des Abenteuers – der sich Bart und Haupthaar versengt – als Frau heimgeführt. Auch der erzählerische Blick ist derselbe wie bei Karl May: von oben in das Tal hinein. Obwohl die Geschichte insgesamt eine typische May-Story geworden ist, sind bei näherer Betrachtung sogar noch einige direkte Formulierungen und Situationen Gerstäckers darin wiederzufinden:

›Old Firehand‹(23)

Mit einigem Bedenken musterte ich meinen äußeren Adam, welcher mir allerdings nicht sehr courfähig erschien. Die Moccassins waren mit der Zeit höchst offenherzig geworden; die Leggins glänzten, da ich sie bei der Tafel als Serviette zu gebrauchen pflegte, vor Fett; das sackähnliche, lederne Jagdhemde verlieh mir den würdevollen Anstand einer von Wind und Wetter maltraitirten Krautscheuche ... Aber ich befand mich ja nicht im Parkete eines Opernhauses ... und hatte auch gar keine Zeit, mich zu ärgern, denn, noch war ich mit meiner Selbstinspektion nicht fertig, so hielt die Reiterin schon vor mir ... (S. 107)

›Im Petroleum‹(24)

Es war ein junger Mann von etwa zweiunddreißig Jahren, mit blonden krausen Haaren und eben solchem Bart, aber etwas verwildert in seiner ganzen Erscheinung, wie man hier allerdings in der Oelregion die meisten Herren gehen sah. Wer konnte bei der Arbeit, und selbst zwischen allen diesen öligen Häusern, auch immer sauber und adrett erscheinen? (...) Der junge Fremde trug einen sehr hübsch gemachten, aber schon arg mitgenommenen lederfarbenen Rock von englischem Stoff; vorn an der linken Schulter war ein Loch hineingerissen - ebenso am rechten Ellenbogen, und Fettflecken zeigte er überall. Auch war sein rechter Stiefel durch Querschnitte veranlaßt worden, etwas bequemer zu sitzen, und die gestopften Knie an den Beinkleidern verriethen außerdem, daß er auch diesen Körperteil strapaziert haben mußte. Die großen blauen Augen (...) hafteten erst einen Moment wie staunend auf der jungen Dame (...) (S. 498f.)


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... in demselben Augenblicke geschah ein Donnerschlag, als sei die Erde unter uns mitten aus einander geborsten. (124) Zuckte da der erste Blitz des nun ausbrechenden Gewitters, und ein Donnerschlag folgte, als ob er die Erde auseinanderreißen wollte. (S. 529)
... sah ich im obern Theile des Thales, da, wo der Bohrer thätig gewesen sein mußte, einen glühenden Feuerstrom fast fünzig Fuß in die Höhe steigen, welcher flackernd oben breit auseinanderfloß und, wieder zur Erde niedersinkend, mit reißender Schnelligkeit das abfallende Terrain überschwemmte. (ebd.) Einen prachtvollen, aber fürchterlichen Anblick bot die flowing well, deren aus Brettern bestehende gasdurchdrungene Umhüllung im Nu verbrannte. Wie aber die darunter stehenden Tanks, die zuerst ihren Feuerstrahl gen Himmel gesandt, explodiert und geborsten waren, strömte der lavaähnliche Inhalt in reißender Schnelle den Hang hinab. (S. 528)
Zugleich drang ein scharfer, stechender, gasartiger Geruch in die Athmungswerkzeuge, und die Luft schien von leichflüssigem, ätherischem Feuer erfüllt zu sein. (ebd.) »Da kommt der ganze Duft wieder einmal in einem Strom den Hang herauf. Das reine Gas, daß man ordentlich ersticken möchte.« »Wir haben hier allerdings zu viel Gas in der Luft« (...) Hier, in der That, war der Gasgeruch so stark, daß er das Athmen erschwerte (S.494/511)
Ich ... stand mit einem einzigen Sprunge mitten unter der vor Schreck fast todestarren Gesellschaft ... »Lichter aus, sonst brennt in zwei Minuten das ganze Thal!« Ich sprang von einem der brennenden Armleuchter zum andern; aber da oben im Zimmer brannten die Lampen auch ... Dazu hatte die Fluth des hochaufsprühenden Oeles, welches sich mit unglaublicher Raschheit über das ganze obere Thal ausbreitete, jetzt den Fluß erreicht ... »Rettet Euch! Lauft, lauft um Gottes Willen! Sucht die Höhen zu gewinnen!« (ebd.) Noch stand Barkers freundliches Haus, aber der glühende Strom hatte es schon erreicht, schoß an der Seite darunter hin und setzte es vorn und hinten zu gleicher Zeit in Brand (...) George Franklin sprang die Stufen hinauf und rannte gegen die Thür, die in das Wohnzimmer führte - sie war verschlossen, aber ein einziger Fußtritt sprengte sie aus ihren Angeln. Drinnen fand er die vor Angst rathlose Familie um die ohnmächtige Mutter geschaart. »Fort, um Gottes willen, fort!« schrie er in Todesangst. »In wenigen Minuten schwimmt um dies Haus ein Feuermeer (...)« (S. 529)
Mich um weiter Niemand kümmernd, riß ich Ellen empor in meine Arme und saß im nächsten Augenblicke mit ihr im Sattel ... Der Bergpfad, welcher mich nach New-Venango geführt hatte, war uns verschlossen; denn der Gluthstrom war schon an ihm vorübergefluthet. Ohne Weiteres bog er sich (...) nieder, hob sie wie ein Kind in seine Arme, und mit dem Rufe: »Rasch, Ellen! rufe die Dienstboten, fort mit Euch, oder Ihr seid verloren!« sprang er zum Hause hinaus - floh seitwärts ab, wo er noch offene, von der glühenden Masse


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Nur abwärts konnten wir Rettung finden ... (ebd.) nicht bedeckte Strecken sah (...) (S. 529)

Insgesamt hat Karl May aus einer bei Gerstäcker gemächlich ausgebreiteten Geschichte, die erst im letzten Kapitel ihre Dramatik bekommt, eine eigenständige, wesentlich spannendere, von sinnlicher Phantastik bis in den letzten Erzählwinkel ausgeleuchtete Story gemacht. Dies ist nicht zuletzt auch ein Ergebnis der Ich-Perspektive, die bei Gerstäcker noch ausschließlich auf dessen Reiseberichte beschränkt bleibt. Auch für die bei May in solchen Fällen typischen ›Verbesserungen‹ bzw. bewußten Veränderungen der realen Szenerie finden sich einige Beispiele. So explodieren etwa bei Gerstäcker die Öltanks, als das Feuer näher kommt, während es bei May die Ölquelle selbst ist; Gerstäcker untermalt seine Katastrophenszene – in dramaturgisch ungeschickter Doppelung – noch mit einem heftigen Gewitter, während May dessen Donnerschlag der Ölexplosion zuschreibt.(25)


III. Der Eisenbahnüberfall

Gerstäckers ›In der Prärie‹ ist vermutlich die einzige der sowieso nur eine Handvoll Indianer-Erzählungen des Autors, die mit einen relativ hohen Anteil an äußerer Aktion aufwartet. In fünf Kapiteln beschreibt der Autor »die meergleiche Prairie«(26) am Platte River in Nebraska, durch die, westlich der Stadt Omaha (vgl. ›Old Firehand‹, S. 109), die neue Eisenbahnlinie führt. Ein Trupp Cheyennes reißt, angestiftet von einem verräterischen Weißen, die Schienen auf, um den ankommenden Güterzug zum Entgleisen zu bringen. Dies gelingt, die Indianer machen große Beute. Als der Weiße, mittlerweile alleine unterwegs, aus Habgier zwei seiner indianischen Bundesgenossen ermordet, wird er von deren Häuptling getötet.

   Der Zusammenhang mit der Eisenbahn-Episode in ›Old Firehand‹ ist überdeutlich, auch wenn May mit Winnetou einen ›edlen‹ Indianer eingeführt hat – den es in dieser Form bei Gerstäcker nirgends gibt (einzige Ausnahme: die Titelheldin der Erzählung ›Nebrasca‹, 1868) – und durch die Ich-Perspektive einen völlig anderen Blick auf die gesamte Szenerie wirft. Zwar beobachten Winnetou und der Ich-Held den Ogellalla-Trupp, der unter Führung des Weißen Parranoh die Bahngleise aufreißt, um reiche Beute zu machen, und insoweit ist die Perspektive noch ganz dieselbe wie bei Gerstäcker. Sie greifen aber nun ins Geschehen aktiv ein, halten die Bahn auf, kämpfen mit den Indianern und vereiteln den Überfall. Zwar hat May, wie schon bei der Ölbrand-Episode, zahlreiche Einzelheiten seiner Vorlage verändert, doch auch diese Änderungen waren ihrerseits bereits bei Gerstäcker angelegt. So


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sind die Indianer bei Gerstäcker vom Stamm der Sheyennes und keine Ogellalla, doch erwähnt Gerstäcker ausdrücklich, daß diese mit den Sioux Ogellalla verwandt und befreundet sind (S. 566); bei Gerstäcker wird ein Gütertransport überfallen, bei May ist es ein Transport mit Bahnarbeitern – allerdings war ein Gütertransport vorgesehen, auf den Parranoh es auch abgesehen hatte. Bei May wie Gerstäcker ist es ein verräterischer Weißer, der die Indianer zu ihrer Tat anstiftet, bei beiden kommt dieser schließlich zu Tode. Wie bei Gerstäcker der Häuptling im Gespräch mit dem Weißen das Wesen der Eisenbahn nicht recht versteht, so staunt auch Winnetou im Gespräch mit dem Erzähler über das ›Feuerroß‹. Auch Einzelheiten hat May einfach getauscht: Bei Gerstäcker hat der Indianer einen »Operngucker«, bei May hat der Ich-Erzähler ein Fernrohr und räsonniert nur über solch moderne Hilfsmittel in Indianerhand; bei Gerstäcker haben die Zugbegleiter Henrybüchsen, bei May ist es der Erzähler, bei Gerstäcker haben diese Büchsen vierzehn Schuß, bei May fünfundzwanzig usw. Einige der deutlicheren Parallelen seien im folgenden aufgelistet.

›Old Firehand‹ ›In der Prärie‹
»Da drüben am Pfade des Feuerrosses liegen die rothen Männer«, rief er. »Sie stecken hinter dem Rücken der Erhebung, aber ich sah eins ihrer Pferde.« (S. 140) »Wir liegen hier offen in der Prairie, und wenn das Feuerroß der Weißen vorbeikommen sollte, so sind sie gewarnt, und unser Plan ist vielleicht (...) gescheitert.« (S. 541)
Kaum hatte ich das Glas am Auge, so fiel mir eine lange, grade Linie auf ... Zwar war die Entfernung selbst für das scharfe Gesicht eines Indianers eine sehr bedeutende; aber ich hatte während meiner Streifereien mehrere Male in den Händen dieser Leute Fernrohre gesehen. Die Cultur schreitet eben unaufhaltsam vorwärts (S. 139f.) Ueber die Schulter trug er allerdings den aus einer weißen Wolfshaut gefertigten Köcher mit dem kurzen, straff gespannten Bogen und den mit eisernen Spitzen bewehrten Pfeilen, über der andern Schulter aber hing ihm ein richtiges Doppelglas, ein sogenannter Opergucker, in fein saffianem Futteral (...) (S. 539)
Jetzt machte sich das Nahen der Wagen durch ein immer vernehmlicher werdendes Rollen bemerklich, welches nach und nach zu einem Geräusche anwuchs, das dem Grollen eines entfernten Donners glich. (S. 141) Da plötzlich zuckte er zusammen und bog sich vorwärts - ein dumpfes, grollendes Geräusch, wie das ferne Rollen eines Donners, traf sein Ohr (...) (S. 545)
Der Maschinist mußte das Zeichen durch die Glastafeln des Wetterschutzes sofort bemert [!] haben (ebd.) Die amerikanischen Locomotiven sind nämlich für den Locomotivführer außerordentlich praktisch gebaut (...) nach vorn öffnen zwei Fenster von


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starkem Glas, während sie jeden Zug abhalten, an beiden Seiten die unumschränkte Aussicht über die ganze Bahn. (S. 551)
»... Jedenfalls haben sie geglaubt, daß dieser Zug Güter und wie gewöhnlich nur fünf bis sechs Leute bei sich habe. Glücklicher Weise aber haben wir einige Hundert Arbeiter geladen ...« (ebd) Der jetzige Zug bestand, außer der Locomotive und dem Tender, aus acht Wagen mit ziemlich wertvoller Ladung (...) Es waren nur sechs Menschen auf dem Zug (...) (S. 548)
Ich hatte einen Henrystutzen mit fünf und zwanzig Kugeln im Kolben, gegen Reiter eine fürchterliche Waffe, die ich auch nach Kräften gebrauchte. (S. 156) Jeder von ihnen trug aber seine zwei Revolver am Gürtel, und ein halb Dutzend Henrybüchsen, mit denen man vierzehn Kugeln in einem Strich abfeuern konnte, standen ebenfalls im Packwagen befestigt. (S. 548)

Die Eisenbahn und Eisenbahnüberfälle spielen eine wichtige Rolle im Werk Karl Mays; schon in den Kolportageromanen ist dies der Fall. In ›Der verlorne Sohn‹ wird ein Zug gestoppt und ein Gefangener daraus befreit, in ›Die Liebe des Ulanen‹ wird ein Zug zum Entgleisen gebracht, und in ›Waldröschen‹ spielen sich wichtige Szenen im Bahnabteil ab. In ›Winnetou II‹ hat May sowohl die Ölbrand- als auch die Eisenbahn-Episode aus seiner frühen Erzählung ›Old Firehand‹ modifiziert übernommen. Und in ›Winnetou I‹, dem ambitionierten Versuch eines Abenteuer-Entwicklungs-Romans,(27) läßt May seinen Ich-Helden sogar Bahnarbeiter sein - ein Zeichen dafür, welche phantasiestimulierende Macht für ihn auch in späteren Jahren noch die Konfrontation dieses Symbols des technischen Fortschritts mit amerikanischer Wildnis hatte. Daß May auf eine Vorprägung dieses später von ihm immer wieder variierten Musters ausgerechnet bei Gerstäcker gestoßen war, dürfte nach den oben angestellten Überlegungen kein Zufall gewesen sein.(28) Gerade den aufstrebenden Schriftsteller Karl May hat das Bild Gerstäckers in der damaligen Öffentlichkeit sicher sehr interessiert. Gerstäcker war  d e r  schreibende deutsche Weltreisende schlechthin, und es war bekannt, daß er sein Arbeitszimmer in genau jenem exotischen Ambiente ausstaffiert hatte, das auch May später aus echten oder angeblichen Reisemitbringseln für seine Schreibumgebung herzustellen bemüht war: Waffen, Bilder und Jagdtrophäen an den Wänden, exotische Sitz-, Liege- oder Rauchgelegenheiten im Raum. Angetan mit Kaftan, Fez und Krummdolch: So saß auch Gerstäcker gelegentlich an seinem Schreibtisch. Im Jahr 1868 schrieb zum Beispiel eine Zeitschrift zu einer Abbildung Gerstäckers, die diesen mit Pfeife und Fez zeigte: »Der kühne und berühmte Reisende befindet sich gegenwärtig wieder in Amerika. Er hat die Oelregion besucht, ist mit den Indianern zusam-


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mengekommen und gedenkt seine unermüdlichen Wanderungen nach da- und dorthin fortzusetzen, um sich mit neuen Erfahrungen zu bereichern und dieselben für seine deutschen Landsleute zu verwerthen.«(29)

   Ölregion und Indianer – beides verwendete Karl May wenig später für seine ›Old Firehand‹-Geschichte. Auch die nachmaligen verschämten Hinweise der ›Hausschatz‹-Redaktion auf den angeblich auf Reisen befindlichen Autor May haben in solchen Meldungen über Gerstäcker, die sich häufig in den damaligen Zeitschriften finden, ihr reales Unterfutter, vor dem nicht zuletzt auch die für heutige Betrachter zuweilen nur schwer verständliche Gutgläubigkeit des damaligen Publikums angesichts der Old-Shatterhand-Legende überhaupt erst einsehbar wird. Nimmt man das Urteil Robert Prutz' über Gerstäcker zum Maßstab, dann wird besonders deutlich, wie sehr – neben dem Reisenden Gerstäcker – auch der Schriftsteller Gerstäcker für seine Zeitgenossen bereits genau jenen Typus darstellte, den May zu dieser Zeit noch – bekanntermaßen sehr erfolgreich – für sich herzustellen versuchte: den phantastischen Erzähler. »Gerstäcker erinnert«, schrieb Prutz, »(...) an Carl Spindler; es ist dieselbe unverwüstliche Erfindungskraft, dieselbe Ueppigkeit der Phantasie, dieselbe Plastik der Darstellung, aber freilich auch derselbe rohe Naturalismus und derselbe Mangel an Selbstkritik, dieselbe Hinneigung zu einer leichtfertigen, fast fabrikmäßigen Production.«(30)

   Diesem Urteil mag man aus heutiger Sicht zwar nicht mehr unbedingt beistimmten, denn Gerstäckers Bedeutung für die deutsche Literatur liegt sicher eher bei seiner Rolle als Wegbereiter des erzählerischen R e a l i s m u s denn als Autor exotischer Phantastik. Dennoch hat vermutlich gerade diese zeitgenössische Sicht Karl May besonders interessiert.

   Aufgrund der vorgestellten Funde sei eine Vermutung gewagt. Mays ›Old Firehand‹ besteht aus mehreren Episoden, die insgesamt wenig organisch miteinander verbunden sind. Schon aufgrund dieses Befundes könnte man, bei der bekannten, ineinander schachtelnden Arbeitsweise Mays – die übrigens unbedingt einmal systematisch und umfassend untersucht gehört – vermuten, daß dieser längeren Erzählung eine oder mehrere kleinere Erzählungen Mays voraufgegangen sind, die dann erst zu ›Old Firehand‹ verschmolzen wurden. Die Entdeckung von z w e i Quellen könnte eine solche Vermutung zusätzlich stützen. Dann gäbe es also vielleicht einen ›Ur-Ölbrand‹ – als welcher sich eine frühere Fassung der kurzen ›Oelprinz‹-Erzählung herausstellen könnte, deren Ölbrandpassagen teils wörtlich identisch sind mit entsprechenden Stellen in ›Old Firehand‹ – sowie einen ebensolchen ›Ur-Eisenbahnüberfall‹ Karl Mays – der noch zu entdecken wäre.


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IV. Die Tramps

»Diese Menschen wollen betrogen sein; ja, man thut ihnen den größten Gefallen, und sie sind außerordentlich erkenntlich dafür, wenn man ihnen ein X für ein U vormacht.«

Karl May: Der Schatz im Silbersee(31)



Ähnlich heterogen strukturiert wie die ›Firehand‹-Erzählung ist auch der wesentlich umfangreichere und fünfzehn Jahre später entstandene Jugendroman ›Der Schatz im Silbersee‹. »Mangel an innerer Stringenz der Handlungsführung«(32) ist nur einer der kompositorischen Vorwürfe, die ein literarischer Purist May hier machen könnte. Eine solche Feststellung hat insofern besonderes Gewicht, als es sich bei diesem Roman um das – neben der ›Winnetou‹-Trilogie – mit Abstand erfolgreichste Werk Karl Mays handelt.(33) Vorstellungen von inhaltlicher Geschlossenheit und ausgewogener formaler Proportionalität – gemeinhin klassische Kriterien bei der Beurteilung von Kunst und Literatur – sind also zur Erklärung des Publikumserfolges populärer Texte nur sehr eingeschränkt zu gebrauchen. Umgekehrt wird vielleicht eher ein Schuh draus: Gerade die Vielgestaltigkeit eines Werkes, seine Schauplatz- und Szeneriewechsel, die Unterschied- bzw. Gegensätzlichkeit seiner Figuren und die Widersprüchlichkeit seiner Handlungsmotive und -stränge scheinen den Erfolg populärer Literatur auszumachen. Das Publikum dieser Literatur verlangte offenbar eher nach Abwechslung als nach Stetigkeit.

   Die Vorlagen für den ›Schatz im Silbersee‹ speisen sich, soweit bislang feststellbar, aus mindestens fünf verschiedenen Quellen, die sich schwerpunktmäßig ungefähr den verschiedenen Kapiteln des Romans zuordnen lassen (was hier unter ›Quellen‹ verstanden wird, dazu unten mehr). Die Quellen sind fast alle in der May-Forschung schon einmal erwähnt worden. Doch erst die folgende Zusammenstellung vermag ihre Bedeutung für den Gesamttext des Romans wirklich zu verdeutlichen.

1. Kap.: Auf dem Arkansas River
2. Kap.: Die Tramps
3. Kap.: Bei den Rafters
4. Kap.: Auf Butlers Farm
5. Kap.: Am Eagle-Tail
6. Kap.: Bei den Utahindianern
7. Kap.: Eine Indianerschlacht
8. Kap.: Am Silbersee
Quelle: Karl May: ›Inn-nu-woh‹
Quelle: ›Die Gartenlaube‹
Quelle: Gerstäcker: ›Rafter‹
Quelle: Zeitungsmeldung
Quelle: N. N.
Quelle: Möllhausen
Quelle: Möllhausen
Quelle: Möllhausen


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Daß May für das erste Kapitel des Romans auf seine erste Indianererzählung ›Inn-nu-woh‹ zurückgegriffen hat, ist weithin bekannt. Auch die Vorlage für sein zweites Kapitel, der kurze ›Gartenlaube‹-Text ›Die Tramps‹,(34) wurde schon gelegentlich erwähnt,(35) Gerstäcker als Quelle für das Rafters-Kapitel haben Höck/Ostwald(36) vermutet, und die deutlichen Möllhausen-Bezüge habe ich früher an gleicher Stelle belegt.(37)

   Kennzeichnend für Mays Umgang mit seinen Quellen ist die geschickte Integration des ›Gartenlaube‹-Artikels in die allgemeine Situationsskizze am Beginn des ›Tramp‹-Kapitels. May beginnt das Kapitel mit einem ausdrücklichen, durch doppelte Anführung gekennzeichneten ›Zitat‹, das er als Behauptung eines neueren Geographen (41) ausgibt. Allerdings handelt es sich bei der Stelle keineswegs um ein wörtliches Zitat aus seiner Quelle, sondern um eine Kurzzusammenfassung des viel längeren ersten Abschnitts des ›Gartenlaube‹-Artikels sowie, was die Anmerkung zum politischen Hintergrund des Geschehens angeht, um die Einfügung späterer Ausführungen des Zeitschriftenautors zu diesem Thema. Die bei May kurz darauf folgenden Ausführungen über den sozialen Hintergrund der Landplage (ebd.) usw. fassen dagegen andere Passagen seiner Vorlage so genau und mit zahlreichen wörtlichen Übernahmen zusammen, daß man bei diesen Stellen weit eher von einem Zitat sprechen könnte. Karl Mays Eingangspassage hat demnach erzählerisch genau die der eigentlichen Funktion eines Zitates entgegengesetzte Wirkung: Es weist nicht auf die Quelle hin, sondern soll von ihr ablenken. Indem nämlich die allgemeinen Ausführungen als angebliches Zitat ›nachgewiesen‹ werden, entsteht für die kurz darauf folgenden, viel genaueren Beschreibungen, die nun tatsächlich fast wörtlich übernommen wurden, eine Art Tarnungseffekt nach dem Prinzip von Poes ›Purloined Letter‹: Die beste Leserablenkung ist das freimütige Quelleneingeständnis.

Silbersee (S. 41f.)

»Die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind trotz oder vielmehr infolge ihrer freisinnigen Institutionen der Herd ganz eigenartiger sozialer Landplagen, welche in einem europäischen Staate vollständig unmöglich sein würden.« ...

Gartenlaube (S. 790ff.)

Die Vereinigten Staaten sind zu verschiedenen malen von verheerenden Landplagen heimgesucht worden. Die Heuschrecken (...) Coloradokäfer (...) gelbes Fieber und Indianermetzeleien sind periodisch wiederkehrende, wie es scheint unvermeidliche Uebel, an die man sich nachgerade gewöhnt hat. Die schlimmste und gefährlichste aller bisherigen Heimsuchungen haben indeß erst die letzten Jahre entwickelt: die Landplage der ›Tramps‹, der modernen Zigeuner Nordamerikas. (...) die Tramps sind im Verlauf einiger Jahre zu


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Silbersee (S. 41f.) Gartenlaube (S. 790ff.)
einem socialen Uebel herangewachsen, zu dessen Ausrottung die gewöhnlichen Mittel der Staatsgewalt nicht mehr auszureichen scheinen.
Als zu einer gewissen Zeit ein schwerer Druck auf Handel und Wandel lag, Tausende von Fabriken stillstanden und Zehntausende von Arbeitern beschäftigungslos wurden, begaben sich die Arbeitslosen auf die Wanderung, welche vorzugsweise in westlicher Richtung erfolgte. Die am und jenseits des Mississippi liegenden Staaten wurden von ihnen förmlich überschwemmt. Dort trat bald ein Scheideprozeß ein, indem die Ehrlichen unter ihnen Arbeit nahmen, wo sie dieselbe fanden, selbst wenn die Beschäftigung nur eine wenig lohnende und dabei anstrengende war. Sie traten meist auf Farmen an, um bei der Ernte zu helfen, und wurden deshalb gewöhnlich Harvesters, Erntearbeiter, genannt. Der Druck, der seit 1873 auf allen Geschäften lag, das Stillstehen der meisten Fabriken und die daraus folgende Arbeitslosigkeit Tausender, namentlich in den größeren Städten, erzeugte einen Nothstand unter der Arbeiterbevölkerung, der von Jahr zu Jahr sich steigerte. (...) So begannen diese Wanderzüge, meist in westlicher Richtung; sie wurden ursprünglich keineswegs nur von Vagabonden unternommen, sondern zum großen Theil von ehrlichen Arbeitern, die Verdienst und Brod auf dem Lande suchen wollten, namentlich in der Erntezeit (...) Sie führten deshalb anfangs häufig den Namen: ›harvesters‹ (Ernte-Arbeiter). Die Bezeichnung: ›tramp‹ (Vagabund) trat aber sehr bald an dessen Stelle.
Die arbeitsscheuen Elemente aber vereinigten sich zu Banden, welche von Raub, Mord und Brand ihr Leben fristeten. Die Mitglieder derselben sanken schnell auf die tiefste Stufe sittlicher Verkommenheit herab und wurden von Männern angeführt, welche die Civilisation meiden mußten, weil die Faust des Strafgesetzes sich verlangend nach ihnen ausstreckte. (...) Ein Gährungs- und Scheideproceß trat bald ein. Die besseren Elemente suchten und fanden Arbeit und Brod und in manchen Fällen wohl auch eine Heimath, aber die Hefe blieb zurück und ging bald in totale menschliche Fäulniß über. Waren diese Menschen schon vorher arbeitsscheu gewesen, so machte sie das anhaltende Vagabondiren zu ausgesprochenen Feinden jeglicher Arbeit, zu faulen, nichtwürdigen Strolchen, die schnell auf der niedrigsten Stufe moralischer Verkommenheit anlangten. Verstärkt durch den Abschaum der Gesellschaft, durch Tagediebe und Verbrecher aller Art, die sich ihnen anschlossen, wurden sie zu dem, was sie heute sind, zu einer wahren Pest (...)
Diese Tramps (Vagabunden) erschienen gewöhnlich in größeren Haufen, Die Tramps ziehen meistens in kleinen Gesellschaften von drei bis sechs Mann


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Silbersee (S. 41f.) Gartenlaube (S. 790ff.)
zuweilen bis dreihundert Köpfe stark und darüber. Sie überfielen nicht bloß einzelne Farmen, sondern selbst kleinere Städte, um sie vollständig auszurauben. Sie bemächtigten sich sogar der Eisenbahnen, überwältigten die Beamten und bedienten sich der Züge, um schnell in ein andres Gebiet zu gelangen und dort dieselben Verbrechen zu wiederholen. Dieses Unwesen nahm so überhand, daß in einigen Staaten die Gouverneurs gezwungen waren, die Miliz einzuberufen, um den Strolchen förmliche Schlachten zu liefern. umher. (...) Zuweilen erscheinen die Tramps in größeren Haufen, manchmal 2 bis 300 Mann stark. Dann bemächtigen sie sich der Eisenbahnen, überwältigen die Beamten, nehmen einen Zug in Beschlag und setzen ihre Reise herrenmäßig per Eisenbahn fort (...) Solche Haufen statten gelegentlich kleineren Städten einen Besuch ab (...) Im Staate Iowa (...) mußte der Gouverneur die Staatsmiliz auffordern, sich bereit zu halten, die Bürger vor der überhandnehmenden Frechheit des Gesindels zu beschützen.

May folgt also, wie so oft, seiner Quelle ziemlich genau, auch das typische Besserwissen kommt wieder vor (in der ›Gartenlaube‹ sind es »meistens« kleinere Gruppen, nur »zuweilen« größere Haufen, bei May ist dies aus erzähltechnischen Gründen gewöhnlich so) - nur eine längere Passage des von ihm verwendeten Abschnitts der Vorlage (vgl. die erste Auslassung im dritten Abschnitt) läßt er aus verständlichen Gründen aus. Im ersten Teil der fortgelassenen Passage geht es um den Tramp-Terror gegen einzelnstehende Farmen, im zweiten Teil bringt der ›Gartenlaube‹-Autor aus seiner eigenen Umgebung ein Beispiel für Tramps, die Eisenbahnschienen aufgerissen haben - beide Motive hat May als willkommene Anregung dazu betrachtet, sie im weiteren Verlauf des ›Silbersee‹-Romans als Hintergrundwissen für eigenständige Episoden zu verwenden. Aus diesem Grund werden sie hier komplett angeführt.


Angriff auf Farmen

Der Farmer wohnt meist allein, umgeben von seinen Ländereien, und kann daher im Falle der Noth nicht auf augenblickliche Hülfe von seinen Nachbarn rechnen. Darauf baut der Tramp seinen Plan. Er erscheint plötzlich im Farmhaus, dessen Besitzer vielleicht abwesend im Felde ist. Er verlangt von der Frau zu essen, und aus Furcht giebt diese ihm, was sie hat. Im besten Falle verläßt er die Farm, wenn er sich satt gegessen hat, in vielen Fällen aber endet der Einfall weit trauriger, besonders wenn sich die Vagabonden stark genug fühlen. Nun wird der Frau Gewalt angethan, der zu Hülfe eilende Mann ermordet und das Gehöft in Brand gesteckt. (Gartenlaube, S. 791, 1. Spalte)


Eisenbahnüberfall

Vor einigen Monaten - um nur ein Beispiel anzuführen - wurden etwa dreißig Meilen vom Wohnsitze des Schreibers die Eisenbahnschienen von zwei Tramps


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nächtlicherweise aufgerissen; als der Zug in der Morgendämmerung herankam, bemerkte der Zugführer die losgerissenen Schienen eben noch rechtzeitig genug, um die Locomotive rückwärts arbeiten zu lassen. So traf sie die Unglücksstätte mit geschwächter Kraft; der Zug blieb theilweise auf dem Geleise, und nur die vordersten Wagen, die Locomotive und der heldenmüthige Führer lagen zerschmettert am Fuße des Bahndammes. Die Verbrecher wurden später eingebracht und erwarten ihr Urteil. (Ebd.)

Karl May hat im späteren Verlauf seines Romans die ›Gartenlaube‹-Vorlage nochmals benutzt, und zwar ausgerechnet eine Stelle aus dem zweiten Teil des Artikels, der in polemisch-berechnender Weise die Tramps mit der kommunistischen Bewegung in Verbindung bringt. »Dasselbe Princip, welches den wilden Träumen dieses gemeinen Communismus zu Grunde liegt: leben wollen, ohne zu arbeiten – dieselbe Wuth gegen Jeden, der etwas besitzt, und das diebische Gelüst, das zu nehmen, was Andere sich mit Mühe und Arbeit errungen haben: all dies finden wir bei den Tramps wieder« – so der Autor der ›Gartenlaube‹.(38) Bei May heißt es von der Rede des rothaarigen (!) Anführers auf dem Tramp-Meeting: »Er sagte, der Reichtum sei ein Raub an den Armen und man müsse also den Reichen alles nehmen, was sie haben. Er behauptete, der Staat dürfe von dem Unterthan keine Steuern erheben und man müsse ihm also alles Geld, welches er in den Kassen habe, wieder wegnehmen. Er sagte, daß die Tramps alle Brüder seien und schnell sehr reich werden könnten, wenn sie seinen Vorschlägen folgen wollten.« (S. 168f.)(39) Allerdings ist die Tendenz der Aussage bei May, berücksichtigt man die Art und Weise ihrer Einbettung in einen Schatzsuche-Roman, eine ganz andere als noch beim Schreiber der ›Gartenlaube‹: Dieser erweist sich als simpler Antikommunist, indem er eine bedeutende politische Bewegung seiner Zeit durch unziemlichen Vergleich mit Verbrechern abzuqualifizieren sucht; May dagegen zeigt die Tramps deutlich als Betrüger, die sich einer revolutionären Rhetorik nur bedienen, um leichter ihrem Verbrecherhandwerk nachgehen zu können – der Inhalt der Aussage, nämlich der Gedanke von der Unerträglichkeit des Gefälles zwischen Reich und Arm, bleibt bei May völlig unangetastet. Schließlich handelt es sich ja auch bei der zentralen Botschaft des ›Silbersee‹-Romans, die in der finalen kollektiven Ausbeutung von Old Firehands Gold- und Silbermine ihren treffenden Ausdruck findet, um eine gewissermaßen vulgärkommunistische Idee: Glück und Reichtum für alle!


V. Die Rafters

Ähnlich wie bei dem ›Tramps‹-Artikel ging May auch mit der Vorlage für sein ›Rafters‹-Kapitel um, wie die folgenden Vergleiche zeigen.


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Silbersee (S. 82f.) Gerstäcker: Rafters (S. 561-64)(40)
Diese Rafters sind eine ganz eigene Art der Hinterwäldler. Sie stehen zwischen den Farmern und Fallenstellern mitten inne. Während der Farmer zur Civilisation in näherer Beziehung steht und zu den seßhaften Leuten gehört, führt der Trapper, der Fallensteller ein beinahe wildes Leben, ganz ähnlich dem Indianer. Die Flößer oder Rafter, wie sie der Amerikaner nennt, sind eine ganz besondere und den wildesten Landstrichen der Vereinigten Staaten eigene Menschenrace, und stehen in ihrem ganzen Wesen etwa zwischen dem westlichen Farmer und dem Trapper oder Fallensteller, welcher letztere dann wieder den Uebergang von ihnen zu den Indianern bildet.
Auch der Rafter ist nicht an die Scholle gebunden und führt ein freies, fast unabhängiges Dasein. Er streift aus einem Staate in den andren und aus einer County in die andre. Menschen und deren Wohnungen sucht er nicht gern auf, weil das Gewerbe, welches er treibt, eigentlich ein ungesetzliches ist. Allerdings gehören sie mit zu den Backwoodsmen oder Hinterwäldlern, aber auf jeden Fall zu der romantischsten Klasse derselben, denn der Rafter ist unabhängig und frei, wie der Fallensteller, d. h. an keinen bestimmten Grund und Boden gebunden, streift mit Axt und Büchse bewehrt aus einer County in die andere, aus einem Staat in den andern; und ohne Menschen und Wohnungen aufzusuchen, verräth erst das Niederprasseln der uralten Waldriesen dem keineswegs freudig überraschten Farmer seine Gegenwart.
Das Land, auf welchem er Holz schlägt, ist nicht sein Eigentum. Es fällt ihm auch nur selten ein, zu fragen, wem es gehört. Findet er passende Waldung und ein zum Verflößen bequemes Wasser in der Nähe, so beginnt er seine Arbeit, ohne sich darum zu kümmern, ob der Ort, wo er sich befindet, Kongreßland ist oder schon einem Privateigentümer gehört. Er fällt, schneidet und bearbeitet die Stämme, sucht sich dazu nur die besten Bäume aus, verbindet sie zu Flößen und schwimmt auf denselben dann abwärts, um das erbeutete Gut irgendwo zu verkaufen. Der Rafter treibt aber ein gesetzloses Gewerbe, denn er schlägt das Holz, das er später auf dem Fluß hinunter bewohnteren Gegenden zuflößt, nicht weniger als auf seinem eignen Land, sondern entweder auf sogenanntem ›Congreß-Land‹, was noch durch keinen Farmer oder Squatter in Besitz genommen, oder auf schon vermessenen und verkauften Grundstücken. Beides kümmert ihn wenig; er sieht nicht nach Grenzen und Marken, er sucht nach Stämmen, wenn er am Ufer irgend eines entlegenen Wasserlaufes hinschlendert, und hat er die gefunden, nun so geht's scharf und unverdrossen an's Werk (...) Nachher schwimmt er mit seinem erbeuteten Gut den Strom hinab in den Missouri oder Arkansas, Mississippi oder irgend einen andern


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Silbersee (S. 82f.) Gerstäcker: Rafters (S. 561-64)(40)
großen Strom, und verkauft seine Stämme in der nächsten Stadt oder Sägemühle.
Der Rafter ist ein nicht gern gesehener Gast. Zwar ist es wahr, daß manchem neuen Ansiedler der dichte Wald, den er vorfindet, zu schaffen macht, und daß er froh wäre, denselben gelichtet vorzufinden; aber der Rafter lichtet nicht. Er nimmt, wie gesagt, nur die besten Stämme, schneidet die Kronen ab und läßt sie liegen. Unter und zwischen diesen Wipfeln sprossen dann neue Schößlinge hervor, welche durch wilde Reben und andre Schlingpflanzen zu einem festen Ganzen verbunden werden, gegen welches die Axt und oft sogar auch das Feuer nur wenig vermag. Wenn aber auch in jenen wilden Theilen des Landes Holz noch im Ueberfluß, ja so stark wächst, daß es die größte und fast alleinige Sorge des Ansiedlers ist, dieses zu vertilgen und fortzuschaffen, so thun die Rafter im Allgemeinen dennoch viel mehr Schaden als Nutzen, denn sie wählen sich natürlicher Weise nur die gesundesten, kernigsten Bäume aus, fällen diese, hauen das Oberholz, da wo es zuerst auszweigt und nicht mehr zu Planken benutzt werden kann, ab und lassen dieses nun wo es gefallen liegen.

   Wie man sich leicht denken kann, verwandeln sie dadurch eine solche überdies schon dicht mit Unterholz bewachsene Landstrecke in eine undurchdringliche, unbenutzbare Wildniß, denn zwischen den also niedergeschmetterten Baumwipfeln, die oft dicht aneinander gereiht liegen, sprossen verworrene, tiefwurzelige Schößlinge empor, Schlingpflanzen und wilde Reben verbinden die einzelnen zu einem festen Ganzen, und der Farmer, der nach Jahren kommt, um den sonst vortrefflichen und nur zu fruchtbaren Boden urbar oder nach der Landessprache ›klar‹ zu machen, findet eine vegetabilische Wand, die der Axt und Hacke, ja der feuchten Lage wegen selbst dem Feuer Trotz bietet.

Dennoch bleibt der Rafter meist unbelästigt, denn er ist ein kräftiger und kühner Gesell, mit welchem in der Wildnis, fern von aller Hilfe, nicht so leicht jemand anzubinden wagt. Allein kann er natürlich nicht arbeiten, sondern es thun sich stets mehrere, meist vier bis acht oder zehn zusammen. Zuweilen kommt es auch vor, daß die Ge- Wenn es aber auch gegen die Gesetze ist, auf fremdem oder Congreß-Land Holz in einer andern Absicht zu fällen, als in der, sich daselbst niederzulassen, wenn auch die benachbarten Farmer oft entrüstet über solche Eingriffe in ihre Rechte sind, so bleiben die Thäter doch fast stets ungestraft. Wer sollte sich in einer Wildniß, Meilen weit von


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sellschaft aus noch mehr Personen besteht; dann fühlt sich der Rafter doppelt sicher, denn mit einer solchen Anzahl von Menschen, welche um den Besitz eines Baumstammes ihr Leben auf das Spiel setzen würden, wird kein Farmer oder sonstiger Besitzer einen Streit beginnen.

   Freilich führen sie ein sehr hartes, anstrengungs- und entbehrungsreiches Leben, doch ist am Ende ihr Lohn kein geringer. Der Rafter verdient, da ihm das Material nichts kostet, ein schönes Stück Geld.

jeder menschlichen Wohnung entfernt, einer Bande wohlbewaffneter, tollkühner Gesellen entgegenstellen, die nichts zu verlieren haben und jeden Stamm, den sie erbeuten, höher als ihr eigenes Leben achten. Selten herrscht so viel Gemeinsinn unter den Pionnieren, daß sie sich ernstlich zusammenrotten und den Eindringlingen entgegentreten.

   (...) Solche Raftergesellschaften bestehen immer aus wenigstens vier bis sechs Männern, da sie, der mächtigen Klötze wegen, die sie sägen und wälzen müssen, gezwungen sind, bedeutende Kräfte zu mustern. Sechs bis acht ist die gewöhnliche Anzahl (...)

Während die andren arbeiten, sorgt ein Kamerad oder sorgen zwei oder mehrere, je nach der Größe der Gesellschaft, für die Ernährung derselben. Das sind die Jäger, welche tagsüber und oft auch während der Nacht umherstreifen, um »Fleisch zu machen«. In wildreichen Gegenden ist das nicht schwer. Mangelt es aber an Wild, so gibt es viel zu thun; der Jäger hat keine Zeit übrig, Honig und andre Delikatessen zu suchen, und die Rafters müssen auch diejenigen Fleischstücke essen, welche der Hinterwäldler sonst verschmäht, sogar die Eingeweide. Indessen ist Einer von der Gesellschaft (und hat sich diese sehr zahlreich zusammengefunden, so werden es Mehrere) zum Jäger erwählt, und dieser zieht nun, ohne sich weiter um irgend eine Arbeit zu kümmern, und sowie der Lagerplatz fest bestimmt ist, in den Wald nach Beute aus. (...)

   In wildreichen Gegenden hat ein solcher Jäger ein bequemes und freies Leben; leicht kann er erlegen, was die Arbeiter brauchen, und die müßige Zeit benutzt er dann, wilden Honig zu suchen und Otterfallen zu stellen. Geräth er aber in eine wildarme Gegend, wo die Mast vielleicht einmal recht schlecht ausgefallen, oder kürzlich erst die Indianer gejagt haben, so gehört freilich sein Geschäft zu den mühevollsten, und er muß von Tagesanbruch bis in die sinkende Nacht, ja oft auch in dieser noch mit der Kienfackel den Wald durchstreifen, um Fleisch zu erhalten und die Holzschläger nicht darben zu lassen. In diesem Falle wird auch jedes Stück, selbst Vorderblätter und Hals, was der amerikanische Jäger sonst nie ißt, sorgfältig aufbewahrt und getrocknet und überhaupt auf eine höchst ökonomische Art Haus gehalten.


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May hält sich eng an seine Vorlage, deren Struktur er ebenfalls übernimmt; die Übereinstimmungen sind zum Teil wörtlich, teils wurden Aussagen zusammengefaßt bzw. in den Abschnitten vertauscht. Nur einen Abschnitt Gerstäckers hat May ausgelassen, worin es um das sog. ›Schulland‹ geht; dieses Thema hat Gerstäcker selbst später noch einmal aufgegriffen und in seiner bereits erwähnten Geschichte ›Unberufene Gäste‹ eigenständig gestaltet. Dagegen sind auch hier wieder die maytypischen kleineren Veränderungen seiner Vorlage zu beobachten, diesmal ins Drastische: Sind Gerstäckers Rafters bei Wildmangel ausnahmsweise auch einmal bereit, »Vorderblätter und Hals« ihrer Beute zu verspeisen, so essen sie bei May – die Eingeweide.

   Die obigen Belege dürften hinreichend gezeigt haben, daß Karl May während der Arbeit am ›Schatz im Silbersee‹ noch einmal den Band ›Mississippi-Bilder‹ von Friedrich Gerstäcker zur Hand genommen hat, um darin nach Erzählmotiven zu suchen. Denn in diesem Sammelband befindet sich die ›Rafter‹-Erzählung.(41) Nun ist die Vermutung aufgetaucht, Karl May habe sich, außer bei ›Inn-nu-woh‹, für den ›Silbersee‹-Roman auch noch bei anderen bereits vorliegenden eigenen Texten Anregungen geholt, vorzugsweise bei seinem vier Jahre zuvor entstandenen Kolportageroman ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹.(42) In der Tat findet sich in diesem Roman auch über die Rafters der folgende kurze Abschnitt: »Ein Rafter ist nichts weiter als ein Holzdieb. Er verbindet sich mit andern Rafters zu einer Bande, welche eine passende Stelle im Congreßland oder in dem Besitzthume eines Andern aufsuchen, die besten Bäume niederschlagen, zu Flössen verbinden und stromabwärts bringen, um sie zu verkaufen. Kein einziger Baum, der ihnen auf diese Weise Geld einbringt, war ihr rechtmäßiges Eigenthum. Sie sind Forstspitzbuben, Holz- und Wilddiebe, und zwar die gefährlichsten, welche es nur giebt; denn wenn der rechte Eigenthümer kommt, um ihr Treiben sich zu verbitten, so lachen sie ihn doch nur aus und schießen ihn unter Umständen gar ohne Weiteres todt.«(43)

   Das Zitat verdeutlicht mehreres – und verrätselt damit die Arbeitsweise bzw. Werkschronologie Mays um so mehr. Denn es dürfte klar sein, daß auch die Stelle aus dem Kolportageroman letztlich auf Gerstäckers Schilderungen beruht, nur daß dessen Angaben hier noch stärker zusammengefaßt sind. Entweder hat also May Gerstäckers Rafterschilderung in den ›Mississippi-Bildern‹ zweimal mit einem zeitlichen Abstand von einigen Jahren benutzt – nämlich einmal für ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ und ein andermal für ›Schatz im Silbersee‹ –, oder es gibt noch einen weiteren, bislang unbekannten frühen May-Text (vor 1885) mit einer längeren Rafters-Schilderung, die ihrerseits dann Eigenquelle für die beiden späteren Fassungen gewesen ist. Beide Erwägungen hätten jeweils gute Argumente für sich.


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VI. New Orleans, Quellen und Ähnliches

Diese Quelle trug ihren Namen mit vollem Rechte.
Karl May: Das Vermächtnis des Inka(44)



Schon Höck/Ostwald hatten betont, daß Mays Verwendung von Gerstäcker-Texten im Fall des ›Schatz im Silbersee‹ noch erstaunlich spät stattfindet, »zu einer Zeit, während der er eigentlich schon genügend Kenntnisse haben mußte, um solche Szenen auch selbst zu gestalten.«(45) Abgesehen davon, daß die hierin deutlich werdende Annahme, May habe in späterer Zeit normalerweise keine Quellen mehr benutzt, ein Irrtum sein könnte, dürfte doch die Lösung dieses Rätsels mit der Entstehungsgeschichte des Romans zusammenhängen. May hat den kompletten Roman innerhalb der letzten vier Monate des Jahres 1889 geschrieben, wobei zwei Drittel des Gesamttextes bereits nach zwei Monaten vorlagen, »was einer wöchentlichen Arbeitsleistung von 100 Seiten entspricht, nicht gerechnet Erfindung und Materialstudium«.(46) Zwischendurch mußte er noch drei Erzählungen für Kürschner verfassen und der ›Hausschatz‹-Redaktion den Schluß seines ›Sendador‹-Romans schicken – bei einem solchen Schreibpensum bietet sich der verstärkte Rückgriff auf eigene frühere bzw. fremde Texte zur Ankurbelung der strapazierten Phantasie geradezu an.

   Auch der kürzlich erfolgte Fund des Artikels ›Ein vergessenes Land‹ in einer deutsch-amerikanischen Zeitung stützt diese Vermutungen. Der Artikel ist fast vollständig und wörtlich identisch mit dem fiktiven Zeitungsartikel, den Old Firehand im ›Silbersee‹-Roman einem Tramp aus der Tasche zieht (S. 185f.). Allerdings wirft auch dieser Fund, wie meist, mehr neue Fragen auf, als er alte klärt.(47)

   Überhaupt ist davon auszugehen, daß trotz der relativ großen Zahl bislang nachgewiesener Quellen für den ›Schatz im Silbersee‹ längst noch nicht alle ausgemacht sind. Beispielsweise harren Mays Vorlagen für die Beschreibung der Dampfschiffe noch ebenso der Entdeckung wie die Quellen für das Totem (S. 68f.), die rollende Prairie (S. 97), den Kanal (S. 233f.), die Utah-Stämme (S. 387f.), die indianische Zeichensprache (S. 536), den Grand River (S. 543f.), das Felsenlabyrinth (S. 552)(48) oder die Architektur des Silbersees und seiner Insel (S. 589f.).(49)

   Zwar gibt es auch zu einzelnen dieser Punkte Quellen v e r m u t u n g e n, doch kommt ihnen noch keine wirkliche Beweiskraft zu. Denn unter ›Quellen‹ verstehe ich grundsätzlich nur solche Texte, für die sich abschnittweise wörtliche Übereinstimmungen mit May feststellen lassen, die im Umfang deutlich über Halbsätze hinausgehen – deren Funktion als Quelle also  e i n d e u t i g  ist. Alle anderen Texte, bei denen May sich ›möglicherweise‹ bedient haben ›könnte‹, insbesondere bloße Stoff-


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oder Motivparallelen, bleiben hier bewußt unberücksichtigt. Die Stoff- und Motivkohärenz des Abenteuer- und speziell des Indianerromans hatte in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts international einen solch hohen Standard erreicht, daß Zuschreibungen auf diesem Niveau – wenn sie sich als Quellenstudien geben – ans Beliebige grenzen.(50) Aus diesem Grund wird hier auf mögliche Parallelen des ›Silbersee‹-Romans mit Mays ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹, einem Roman von Gustave Aimard oder Werken von Robert von Schlagintweit nicht näher eingegangen.(51)

   Natürlich liegt es nahe, nachdem Mays Benutzung von Gerstäckers ›Mississippi-Bildern‹ nachgewiesen ist, diesen Sammelband insgesamt einmal genauer zu betrachten und auf weitere mögliche Quellen – entweder für ›Schatz im Silbersee‹ oder andere May-Texte – hin zu untersuchen. Besonders interessant in dieser Hinsicht ist Gerstäckers Erzählung ›Die Silbermine in den Ozarkgebirgen‹. Der Begriff Ozark, von May nur selten verwendet,(52) taucht nämlich tatsächlich auch im ›Schatz im Silbersee‹ einmal auf (S. 70), wenn auch als Städte- und nicht als Gebirgsname.

   In Gerstäckers Erzählung beobachten zwei westliche Jäger in einer steilen Gebirgsschlucht eine Gruppe braunhäutiger Spanier, die regelmäßig einmal im Jahr dort auf geheimnisvolle Weise verschwinden, um dann nach einer gewissen Zeit mit Maultieren, vollbepackt mit Silber, wieder aufzutauchen. Der eine der beiden versucht seit drei Jahren vergeblich, die alte Silbermine, von der auch »schon seit Jahren die Cherokesen«(53) erzählen, zu entdecken, doch die Stelle ist zu gut getarnt. Diesmal lauern die beiden den Spaniern auf und ermorden einen Mann, wobei auch einer der beiden zu Tode kommt. Der andere flieht, doch dann »stürzte er mit dumpfem Fall und lautem Angstschrei in die tiefe, gähnende Schlucht an seiner Seite hinab.«(54) Seitdem hat sich zwar keiner der Spanier mehr im Gebirge blicken lassen, doch »auch die Silbermine am Hurricane ist noch nicht von den dort Wohnenden entdeckt, und vergebens haben bis jetzt die Jäger ein Geheimniß zu ergründen versucht, um das zu bewahren schon so viel Blut vergossen wurde.«(55)

   Man könnte vermuten, in dieser kurzen Erzählung habe man den Kern für Mays immer wieder beschriebene Gold- oder Silberbesitzer zu sehen, die bei einem ihrer regelmäßigen Besuche im Schatzversteck von Schurken beobachtet und dann ermordet werden, etwa in ›Winnetou I‹ oder dem ›Vermächtnis des Inka‹, jenem Jugendroman, den May im Anschluß an den ›Schatz im Silbersee‹ verfaßte. Doch die Parallelen sind insgesamt zu allgemein, um dazu hier Genaueres sagen zu können. Das gleiche gilt für einige andere Erzählungen aus den ›Mississippi-Bildern‹, etwa die Indianergeschichten ›Der Osage‹ und ›Die Rache des weißen Mannes‹. Eingehenderer Betrachtung wert sind sicherlich auch


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die Dampf- bzw. Flatbootschilderungen in ›Die Sclavin‹, ›Sieben Tage auf einem amerikanischen Dampfboot‹ oder ›Flatbootmen‹.

   Direkt fündig wird man aber erst, wenn man die kleine Gerstäcker-Skizze ›New Orleans‹ näher betrachtet – die merkwürdigerweise im selben Jahrgang derselben Zeitschrift zuerst erschienen war wie schon die Rafters-Geschichte.(56) Die ›New Orleans‹-Geschichte hat erkennbar als Quelle gedient für den Anfang von Mays erster Indianergeschichte ›Inn-nu-woh‹ (1875).

›Inn-nu-woh‹(57)

Die Jahreszeit, in welcher der gelbe Jack und das schwarze Fieber den Aufenthalt in New-Orleans für den Weißen gefährlich machen, war eingetreten, und wer nicht von der eisernen Nothwendigkeit festgehalten wurde, der beeilte sich, die dünsteschwangere Atmosphäre des unteren Mississippi zu verlassen und die Niederungen des Stromes mit höher gelegenen Orten zu vertauschen.

   Die vorsichtige Aristokratie der Stadt hatte sich längst unsichtbar gemacht. Diejenigen, welche aus Rücksicht für ihr Geschäft noch zurückgeblieben waren, beeilten sich, fortzukommen; denn schon erzählte man sich von mehreren plötzlichen Sterbefällen, und auch ich hatte meine wenigen Habseligkeiten zusammengepackt und stand, das Dampfboot erwartend, am Landeplatze, um nach St. Louis zu gehen, wo Verwandte meiner Ankunft warteten.

›New Orleans‹(58)

(...) öde wird New-Orleans im Spätsommer und Herbst. Das pestartige, gelbe Fieber breitet seine bleiernen Schwingen über die Stadt aus, und ihre Bewohner fliehen an die Ufer der benachbarten See, oder hinauf in den Norden, um dem grimmen, erbarmungslosen Feind zu entgehen. Kein menschliches Wesen läßt sich dann, wenn es nicht dringende Noth treibt, in der freien, vom Gifthauch der benachbarten Sümpfe geschwängerten Luft blicken, an den Messingknöpfen der Schellenzüge hängen die todkündenden Boten der Seuche (...) - breite Streifen schwarzen Trauerflors. (S. 621)

   (...) Der belebteste Teil von New Orleans ist übrigens unbestritten der Theil der Levée, an dem die Dampfbootlandung, die sich fast bis zum untern Markt hinabdehnt, liegt. (S. 623) (...) Daneben aber (...) wogt, sobald die kühle Abenddämmerung naht, die Aristokratie von New-Orleans (S. 624)

   (...) In den heißen Nachmittagsstunden ist die Rhede überhaupt am ödesten: Jeder, den nicht dringende Geschäfte treiben, sucht da die Kühle der Häuser. (S. 627)

Für seinen ersten Absatz übernimmt Karl May ziemlich genau einen Absatz Gerstäckers, nur daß er – in einer mittlerweile als typisch erkannten Weise – aus dem »pestartige(n) gelbe(n) Fieber« gleich zwei verschiedene Phänomene macht, nämlich den gelbe(n) Jack und das schwarze Fieber. Nach demselben Verfahren komponiert er seinen zweiten Abschnitt, der aus verschiedenen Sätzen Gerstäckers zusam-


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mengestellt ist, die sich zudem auf zwei verschiedene Weisen der Flucht beziehen: Gerstäcker schildert nicht nur die Flucht vor dem Fieber aus der Stadt heraus, sondern auch die Flucht vor der Hitze in die Häuser – in diesem Zusammenhang etwa ist bei ihm auch von der Aristokratie der Stadt die Rede, die bei May nun allerdings nicht die kühlen Häuser aufsucht, sondern den fieberfreien Norden.


VII. Gerstäcker / May

Vorläufig ist festzuhalten, daß Gerstäckers Bedeutung als Quelle für Karl May offenbar erheblich ist. Über zahlreiche weitere Beispiele ließe sich spekulieren: etwa darüber, ob dessen ›Die Menagerie im Urwalde‹(59) nicht eine weitere Quelle für ›Inn-nu-woh‹ bzw. ›Schatz im Silbersee‹ sein könnte; oder auch darüber, ob nicht manche Schilderungen in der Skizze ›Die Bewohner der westlichen Prairien‹, etwa von der Rolle der Indianerinnen beim Martern von Feinden,(60) in ›Winnetou I‹ und in den ›Schatz im Silbersee‹ (S. 424) Eingang gefunden haben. Dies kann im Rahmen der hier vorgelegten kurzen Erörterungen jedoch nicht geschehen.

   Eins ist jedenfalls deutlich: Karl May hat sich sowohl in seiner Frühphase als auch später intensiv mit Friedrich Gerstäcker befaßt. Bestimmte Motive oder Eigenschaften, die man zunächst für maytypisch halten möchte, stammen eindeutig von Gerstäcker, etwa der Henrystutzen,(61) die brennende Ölquelle, der Eisenbahnüberfall oder das Anhobbeln.(62) Funde wie diese schmälern allerdings, meine ich, das Urteil über Karl Mays erzählerische Kompetenz keineswegs. Im Gegenteil. Die genannten Quellen dienen ja stets nur für ein einzelnes Motiv, nicht für komplette Handlungsstränge als Vorbild; erzählerisch zum Leben erweckt wurden sie erst von May – dies wird um so deutlicher, wenn man sich die Vorlagen in ihrer Gesamtheit vor Augen hält. Die Lebendigkeit und sinneanregende Prägnanz Karl Mays ist darin kaum zu finden.

   Erörterungen über Mays spezifische literarische Kreativität können auf der Grundlage solcher Quellenuntersuchungen eigentlich erst beginnen. Die übernommenen Motive sind zahlreich, dennoch wurden sie von Karl May zu einer Handlung verschmolzen, die jeder seiner Leser sogleich als ›typisch‹ erkennt. Vor diesem Hintergrund ist die Frage: Wie hat der Sachse das gemacht? aktueller denn je. Insofern ist exakte Quellenforschung der Schlüssel zu vielfältigen weiterführenden Aspekten der May-Forschung und zum Verständnis der Literatur- und Mentalitätsgeschichte und des Literatursystems im 19. Jahrhundert: die Werkchronologie wird abgesichert bzw. neu definiert, evtl. noch verschollene Texte (s. o.) können erschlossen und eine Arbeitsbibliothek


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(zu einem bestimmten Zeitpunkt) in ihrem Mindestbestand rekonstruiert werden; Brüche und Kontinuitäten mit der Erzähltradition sind einzugrenzen, Schwerpunkte in der Quellenbenutzung zu beschreiben (War diese eher traditions- bzw. zeitabhängig oder individuell? Wie ist das Verhältnis von fiktionalen und Sachvorlagen? usw.) – und die Frage nach der ›Modernität‹ Karl Mays scheint auf. Wäre nicht evtl. gerade sein unverschämt-unbefangener(63) bzw. professionell-kreativer Umgang mit den Quellen ein Zeichen dafür, daß er sich in die bleischwer lastenden bildungsbürgerlichen Parameter seiner Zeit hinein- und gleichzeitig wieder daraus hervorzuarbeiten begann?



1 Hans Wachenhusen: Armer Gerstäcker! Ein Erinnerungsblatt. In: Der Hausfreund. 15. Jg. (1872), S. 632ff. (634)

2 Friedrich Gerstäcker: Reisen. 1. u. 2. Bd. (Südamerika – Californien). Stuttgart 1853 (Cotta)

3 Vgl. Josef Höck/Thomas Ostwald: Karl May und Friedrich Gerstäcker. In: Karl-May-Jahrbuch 1979. Bamberg/Braunschweig 1979, S. 143-88. Kleinere Gerstäcker/May-Parallelen finden sich auch bei Wolfgang Bittner: Friedrich Gerstäcker – Spannend, widerborstig und widersprüchlich. (Nachwort) in: Friedrich Gerstäcker: Die Regulatoren in Arkansas. Stuttgart 1987, S. 577-90.

4 E. E. Kisch: Im Wigwam Old Shatterhands. In: Ders.: Hetzjagd durch die Zeit. Reportagen. Frankfurt a. M. 1974, S. 52

5 Zeitschriftenfassung: Allgemeine Familien-Zeitung. 4. Jg. (1872). Nr. 41, S. 789f. In Gerstäckers eigenem Verzeichnis findet sich die Skizze unter dem Stichwort ›Flößer‹ (Gerstäckers Werkverzeichnis ist abgedruckt in: Gerstäcker-Verzeichnis. Hrsg. von Manfred R. W. Garzmann/Thomas Ostwald /Wolf-Dieter Schuegraf. Braunschweig 1986, S. 25-41 (41). / Buchausgabe: ›Kleine Erzählungen und nachgelassene Schriften‹ in: Gesammelte Schriften. Zweite Serie. 20. Bd. Volks- und Familien-Ausgabe. Jena o. J. (1879) (Costenoble)).

6 Vgl. Andreas Graf: »Habe gedacht, Alles Schwindel«. Balduin Möllhausen und Karl May – Beispiele literarischer Adaption und Variation. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1991. Husum 1991, S. 324-63 (324).

7 Friedrich Gerstäcker: Gesammelte Schriften. Jena 1872-79 (Costenoble)

8 Vgl. Anm. 5

9 Bei Gerstäcker meist ›Aushobbeln‹, z. B.: »Aushobbeln nennt der Amerikaner das Zusammenbinden der Vorderbeine des Pferdes, damit sich dieses zwar langsam von der Stelle bewegen kann, um sein Futter zu suchen, aber doch nicht im Stande ist, fortzulaufen.« (Friedrich Gerstäcker: Schwarz und Weiß. Aus dem Farmerleben Missouris. In: Ders.: Aus zwei Welttheilen. Gesammelte Erzählungen ( = Gesammelte Schriften. Bd. 13). Jena o. J. (3. Auflage (1. Auflage 1853) – Costenoble), S. 107, Anmerkung.)

10 Wie Anm. 5

11 Die Illustrirte Welt. 18. Jg. (1868/69), Nr. 1 (S. 1-6), Nr. 2 (S. 17-22), Nr. 3 (S. 29-32); der Jahrgang begann im Juli 1868.

12 Das Buch der Welt. 31. Jg. (1871/72), Nr. 1 (S. 12-16), Nr. 2 (S. 17ff.), Nr. 3 (S. 42-48); der Jahrgang lief (lt. Titelkopf der Zeitschrift) vom 1. Juli 1871 bis Juni 1872.

13 Old Firehands Talkessel ist möglicherweise vorgebildet in einem Indianerroman, der zahlreiche untersuchenswerte Parallelen zu Karl May enthält: Paul Margot: Die Gefangenen der Apachen. Erlebnisse unter den Indianern Nordamerika's. 2 Bände. Leipzig 1868 (F. W. Grunnow). Darin heißt es u.a.: »Der schmale Pfad, der sich zu ihrem Schlupfwinkel wand, war leicht zu vertheidigen, krystallhelles, kühles Wasser sprudelte aus einer Spalte, durcheilte in munterem Lauf das Innere des ganzen Berges und stürzte an dessen Rückseite als mächtiger Wasserfall tosend in's Thal. Der obere,


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abgeflachte Bergrücken bot hinreichendes Futter für die Pferde, welche, in einem Felsenkessel versteckt, in Gemeinschaft einiger Kühe weideten; Waffen und Beute aller Art bargen die geschlossenen Höhlengänge (...)« (Bd. 1, S. 224)

   Möglich ist auch, daß die Erzählung ›Die Both Shatters‹, von der der bisher früheste bekannte Abdruck 1882 erschien (in: Für alle Welt. 5. Jg. (1881)), viel früher entstand und veröffentlicht wurde und ein Vorläufer der Firehand-Geschichte ist. Inhaltlich sind gerade die Parallelen zum Ribanna-Erzählstrang sehr groß.

13a Karl May: Der Oelprinz. In: Frohe Stunden. 2. Jg. (1878)

13b Karl May: Three carde monte. In: Deutscher Hausschatz. V. Jg. (1878/79)

14 Vgl. Rudolf Benda: Der Ur-Ölbrand. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 31/1977, S. 29f.

15 Karl May: Ein Lichtspender. In: Schacht und Hütte. 1. Jg. (1875/76), S. 62; Reprint Hildesheim-New York 1979

16 C. H. Houthumb: Aus den Oelregionen Pennsylvaniens. In: Vom Fels zum Meer. 5. Jg. (1886), Sp. 760-79 (766 – Brennende Ölquelle Sp. 774)

17 Das Buch für Alle. 9. Jg. (1874), S. 18-23

18 Ebd., S. 23

19 Die Gartenlaube. Jg. 1865, S. 79f. (80)

20 Ebd.

21 Auch über deutsche Ölvorkommen, etwa in der Ortschaft Ölheim bei Peine, hat die zeitgenössische Presse immer wieder berichtet. Vgl. Valerius: Die Petroleum-Fundstätten Deutschlands. In: Die Gartenlaube. Jg. 1881, S. 632ff.; Alfred Schütze: Die Petroleum-Bohrwerke in Oelheim. In: Ebd., S. 634f. Außerdem: Die Erdölquellen in Pennsylvanien, Virginien und Ohio. In: Aus der Heimath. Glogau. 3. Jg. (1861), Sp. 605-08; Sigismund Landsberger: Von den Petroleum-Quellen Amerikas. In: Die Gartenlaube. Jg. 1880, S. 151f.

22 Vgl. Herbert Meier: Vorwort. In: Karl May: Kleinere Hausschatz-Erzählungen; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1982, S. 8.

23 Karl May: Aus der Mappe eines Vielgereisten. Nr. 2. Old Firehand. In: Deutsches Familienblatt. 1. Jg. (1875/76), S. 107; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1975

24 Der Gerstäcker-Text wird hier nicht nach der von May benutzten Zeitschriftenausgabe zitiert, sondern – um einer erleichterten Überprüfbarkeit willen – nach der Buchausgabe, wie Anm. 5, S. 483-543, die, soweit ich sehe, mit der Zeitschriftenfassung identisch ist.

25 Den Anstoß zu seiner Geschichte hatte Gerstäcker beim Besuch der pennsylvanischen Ölfelder während seiner letzten Reise im Jahr 1867 erhalten. Er berichtete davon in einem seiner ›Reisebriefe aus America‹ für die ›Kölnische Zeitung‹. Von einer Explosion o. ä. ist dort allerdings nicht die Rede. Vielmehr heißt es: »Aber die Speculation ließ mich vollkommen kalt. Ich freute mich, den eigenthümlichen Platz gesehen zu haben, weiter nichts, und nach drei Tagen, wo meine Kleider dermaßen den Petroleumgeruch angenommen hatten, als ob ich eine Woche lang in dem kostbaren Oel gelegen hätte, glaubte ich Alles genau genug gesehen zu haben, um meine Reise wieder fortsetzen zu können ...« (Kölnische Zeitung Nr. 256 vom 15. September 1867).

26 Auch hier wird nach der Buchausgabe zitiert: wie Anm. 5, S. 535-79 (535).

27 Vgl. Gerhard Neumann. Karl Mays ›Winnetou‹ – ein Bildungsroman? In: Jb-KMG 1988. Husum 1988, S. 10-37.

28 Anders als im Fall der Öl-Episode geht Gerstäckers Eisenbahnüberfall-Geschichte auf eine reales Ereignis zurück, von dem der Autor auch in seinen Reisebriefen berichtete. Da es sich bei dieser Schilderung immerhin um den realen Kern einer der bekanntesten May-Episoden handelt, sei diese hier vollständig wiedergegeben:

»Am 14. [September 1867], Abends 6 Uhr, brachen wir [per Eisenbahn] gen Westen auf. Die Gegend um Omaha bis in etwa 12 Meilen Entfernung von der Stadt ist niedriges Hügelland, noch mit Büschen bewachsen und zum großen Theile bebaut. Die Maisfelder standen freilich blattlos, denn die Heuschrecken, die Plage der Prairieen, hatten alles Grün davon sauber abgefressen und an vielen Stellen sogar die Kolben angegriffen.


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   Nach 12 Meilen öffnete sich die weite Prairie, ohne Baum, ohne Strauch, und als die Nacht anbrach und sich dunkel auf der Steppe lagerte, kamen Einem doch allerlei wunderliche Gedanken. Es ist, wie sich nicht gut läugnen läßt, ein eigenthümliches Gefühl, über eine Strecke in toller Eile dahin zu rasseln, wo die Wilden noch vor sehr kurzer Zeit, bei aufgerissenen Schienen, im Hinterhalte gelegen hatten und mit wildem Geheul über den in einander gebrochenen Zug hergefallen waren, und wer konnte sagen, ob sie sich nicht diesen nämlichen Abend wieder für eine ähnliche Heldenthat ausersehen? Aber ein klein wenig Gefahr gehört nun einmal dazu, um eine sonst monotone Fahrt doch in etwas interessant zu machen, und außerdem waren wir Alle gut genug bewaffnet, um irgend einer wilden Horde schon einiger Maßen Respect einzuflößen. Keinenfalls wurde die Fahrt während der Nacht unterbrochen, und als die Sonne schon wieder hell und klar am Himmel stand, erreichten wir die Stelle, an welcher in jener Nacht die Cheyennes unter ihrem Häuptlinge Wagelikehu Kuka oder Truthahnbein (turquey leg) ihre blutige Arbeit vollbracht hatten.

   Dort waren die Schienen aufgebrochen gewesen, und als die Maschine aus dem Geleise gerieth und umstürzte und die nachfolgenden Güterwagen sich überschlugen, wurden die Insassen noch einen Augenblick im Zweifel gelassen, ob nicht vielleicht ein Zufall das Unglück herbeigeführt, denn es scheint, als ob sich die im Hinterhalt liegenden Indianer gescheut hätten, gleich unmittelbar gegen den am Boden liegenden schnaubenden, sprudelnden und Feuer auswerfenden Koloß vorzuspringen. Aber das dauerte nicht lange; sie fanden ihr Werk, bei dem man vermuthet, daß ihnen weißes Gesindel behülflich gewesen, völlig gelungen, und das Kriegsgeheul der Cheyennes gellte in die Ohren der ihrem Geschick Verfallenen. Nur Einem von Allen gelang es, in der Dunkelheit und indem er an der Bahn zurückrannte, zu entkommen, bis er einen noch folgenden Zug traf und von diesem aufgenommen werden und ihn warnen konnte; er hätte sonst wahrscheinlich ein ähnliches Schicksal gehabt, und indessen mordeten und scalpierten die Wilden, was sie fanden, plünderten den Zug und steckten ihn dann in Brand.

   Jetzt zeigen nur noch verbogene Schienen, rostige Eisenplatten und aus dem Tender geworfene Backsteine, wie eine kleine Strecke mit verbrannter Prairie an der Nordseite der Bahn die Stelle an, wo die Schauderscene Statt gefunden, und daneben hin keucht wieder die Locomotive unverdrossen ihre Bahn, und lange Güterzüge führen täglich Massen neuen Materials gen Westen in die Steppe hinaus, um das andere Ende der vom Stillen Meere her ebenfalls in Angriff genommenen Bahn zu erreichen und sich mit dieser zu verbinden. Weder Tomahawk noch die Pfeile der Indianer sind im Stande, das Werk aufzuhalten.« (Kölnische Zeitung Nr. 288 vom 17. Oktober 1867)

   Auch die Presse berichtete in jenen Jahren regelmäßig vom Fortgang der Arbeiten an den amerikanischen Bahnen. Vgl. z. B. ›Die Union-Pacific-Eisenbahn‹ (Kölnische Zeitung Nr. 242 vom 21 August 1868) oder ›Die Eisenbahn durch den nordamericanischen Continent‹ (ebd. Nr. 336 vom 3. Dezember 1868). Auch das Schicksal der Indianer war der deutschen Tagespresse immer wieder Hinweise wert, wie beispielsweise der interessante Artikel ›Indianische Blutrache‹ (ebd. Nr. 208 vom 28. Juli 1868) belegt.

29 Friedrich Gerstäcker. In: Zu Hause. Geschichten und Bilder zur Unterhaltung. 3. Jg. (1868), S. 142ff. (142 – Bild S. 148)

30 Robert Prutz. Friedrich Hackländer und Friedrich Gerstäcker. In: Die deutsche Literatur der Gegenwart. 1848-1858. Bd. 2. Leipzig 21860 (Voigt & Günther), S. 175-84 (182)

31 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 4: Der Schatz im Silbersee. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 251 – Künftig werden Zitate aus dem ›Schatz im Silbersee‹ durch Seitenangaben in Klammern nach dieser Ausgabe zitiert.

32 Christoph F. Lorenz: Einführung. »Der lange Marsch zum Silbersee«. In: Karl May: Der Schatz im Silbersee. In: Der Gute Kamerad. 5. Jg. (1890/91); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1987, S. 3

33 Gesamtauflage aktuell: 3,2 Millionen; Angabe nach Wolfgang Hammer: ›Der Schatz im Silbersee‹ – Eine Strukturanalyse. In: Jb-KMG 1997. Husum 1997, S. 292-330

34 Die Tramps. Eine neue Landplage der Vereinigten Staaten. In: Die Gartenlaube. Jg. 1878 (Nr. 48) S. 790ff.


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35 Lorenz, wie Anm. 32, S. 35f.; Jens Kiecksee: Die Tramps – oder Was einem Seltsames bei Quellenuntersuchungen widerfahren kann. In: M-KMG 88/1991, S. 50f.

36 Höck/Ostwald, wie Anm. 3, S. 179-82

37 Graf, wie Anm. 6, S. 341-45 und 360f.

38 Gartenlaube, wie Anm. 34, S. 791, Spalte 2

39 Kiecksee (wie Anm. 35) hat also nicht ganz recht, wenn er meint, May habe diese Passagen unberücksichtigt gelassen.

40 Friedrich Gerstäcker: Rafters. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10: Mississippi-Bilder. Licht- und Schattenseiten transatlantischen Lebens. Jena (1874?; 4. Auflage 1878? – Costenoble), S. 559-73

41 Daß May den Zeitschriftenabdruck in ›Das Ausland‹ von 1846 zur Hand hatte, ist unwahrscheinlich, aber selbstverständlich ebenfalls nicht völlig ausgeschlossen.

42 Vgl. hierzu den Aufsatz von Hammer: Der Schatz im Silbersee, wie Anm. 33.

43 Karl May: Deutsche Herzen, deutsche Helden. Dresden 1885-87, S. 1042f.; Reprint Bamberg 1976

44 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 5: Das Vermächtnis des Inka. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1990, S. 242

45 Höck/Ostwald, wie Anm. 3, S. 182

46 Hans Wollschläger/Hermann Wiedenroth: Editorischer Bericht. In: May: Der Schatz im Silbersee, wie Anm. 31, S. 647f.

47 Vgl. Wilhelm Brauneder: »Ist das wahr, ist das möglich?«. Zu Mays Quellen ein Beispiel. In: M-KMG 107/1996, S. 34ff. Der aufgefundene Artikel stammt aus der in Lawrence/Kansas erscheinenden Zeitung ›Germania‹ von 1881. Da man ausschließen kann, daß May diese Zeitung gelesen hat, ergeben sich folgende Möglichkeiten: 1. Der Artikel ist, was häufig vorkam, unverzüglich auch von einer Zeitung im Deutschen Reich nachgedruckt worden – dann hat May ihn da gefunden und fast zehn Jahre aufgehoben, bevor er ihn verwendete; 2. Der Artikel ist – was ebenfalls häufig vorkam – aufgrund seines kuriosen Charakters viele Jahre lang durch diverse Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland gewandert, bis er von May, in relativer zeitlicher Nähe zur ›Silbersee‹-Abfassung, gefunden und unmittelbar verwendet wurde; 3. Der Artikel ist in Amerika noch viele Jahre durch die Gazetten gewandert, bis er endlich gegen Ende des Jahrzehnts dann auch nach Europa herüberkam und von May, wieder in relativer zeitlicher Nähe usw. ... Die beiden letzten Möglichkeiten scheinen mir die wahrscheinlichsten zu sein.

48 Vorlagen für die beiden letztgenannten Motive sind vermutlich bei Balduin Möllhausen: Reisen in die Felsengebirge. Bd. 2. Leipzig 1861, zu finden.

49 Die besondere, auffallend phallisch strukturierte Form des Silbersees bedürfte einer eigenen Studie: Ein durch eine Staumauer künstlich entstandener See, in dessen Mitte sich eine Insel befindet, die eigentlich die Spitze eines auf dem ursprünglichen Cañongrund errichteten Turmes darstellt, durch die man heimlich hinunter auf den Grund des Sees steigen und dort das Silber finden und dann mittels eines gemauerten Ganges auf diesem entlanggehen und ungesehen das rettende Ufer erreichen kann ... Einen ähnlichen Unterwassergang gibt es auch in Mays Kolportageromanen ›Der Weg zum Glück‹ (Vgl. Karl May: Der Weg zum Glück. Dresden 1886-88, S. 2446, 2456 und 2490; Reprint Hildesheim-New York 1971) und ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ (Vgl. May: Deutsche Herzen, deutsche Helden, wie Anm. 43, S. 1023).

50 Zwar sind auch Untersuchungen zu Motivparallelen innerhalb des Mayschen Œvres bzw. mit anderen Abenteuerautoren legitim und sogar sehr notwendig – nur handelt es sich dabei keinesfalls um Quellenstudien. Vielmehr müßten solche Untersuchungen detailliert belegen, welche Motive May wo, wie und warum mit welchen erzählerischen Konsequenzen weiterentwickelt bzw. modifiziert hat. Zum weiteren sei hier dringend auf die kritischen Anmerkungen von Helmut Lieblang: »Sieh diese Darb, Sihdi ...«. Karl May auf den Spuren des Grafen d'Escayrac de Lauture. In: Jb-KMG 1996. Husum 1996, S. 183f., verwiesen.

51 Vgl. Wolfgang Hammer: Gustave Aimards Roman ›Freikugel‹ als Inspirationsquelle Karl Mays. In: Jb-KMG 1995. Husum 1995, S. 141-64. Die Parallelen zum ›Silbersee‹ dort S. 151ff. – Im Karl-May-Handbuch ist davon die Rede, Werke von Robert von


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Schlagintweit – die May sämtlich in seiner Bibliothek hatte – könnten ebenfalls als Quelle für den Roman in Frage kommen (Erich Heinemann: Werkartikel ›Der Schatz im Silbersee‹. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 343). Leider ist diese Behauptung nirgends belegt. Bei einer kursorischen Durchsicht sämtlicher in Frage kommender Bücher Schlagintweits bin ich auf keine direkte Parallele gestoßen. Allerdings ist in einem Werk ausführlich von den Silberminendistrikten in Nevada die Rede (Robert von Schlagintweit: Die Pacific-Eisenbahn in Nordamerika. Cöln und Leipzig 1870, S. 120 und öfter), in einem anderen wird der betrügerische Gebrauch des Kartenspiels Monte erwähnt (Ders.: Die Santa Fe- und Südpacificbahn in Nordamerika. Köln 1884, S. 128) und eine ausführliche Schilderung der beinahe unglaublichen Spurenlesekünste der Cowboys gegeben (ebd. S. 77-80) – letzteres tatsächlich eine so interessante Schilderung, daß man sie als Quelle für May in Betracht ziehen könnte (Schlagintweit zitiert die Schilderung vollständig aus einem Werk von Heinrich Lemcke); vgl. hierzu aber auch Lieblang, wie Anm. 50, S. 132-36.

52 Der Name taucht auch in den May-Werken ›Winnetou III‹, ›Der Pfahlmann‹, ›Old Surehand III‹ und ›Deutsche Herzen, deutsche Helden‹ auf. An diesen Stellen ist jedoch kein Zusammenhang mit Gerstäcker erkennbar.

53 Gerstäcker: Mississippi-Bilder, wie Anm. 40, S. 51

54 Ebd., S. 62

55 Ebd., S. 63

56 Beide Geschichten wurden im Jahr 1846 in der täglich erscheinenden Zeitschrift ›Das Ausland‹ abgedruckt. Diese Tatsache läßt zumindest theoretisch die Möglichkeit offen, daß May als Vorlage nicht erst die Buchausgabe benutzt hat, sondern daß ihm der vierzig Jahre alte Zeitschriftenband zur Verfügung stand. Darin finden sich zwei weitere Geschichten Gerstäckers, die unter diesem Aspekt genauer betrachtet werden müßten: ›Die Regulatoren und das Lynchgesetz‹ (Nr. 136) und ›Die Indianer‹ (Nr. 54-59). Letztere ist eine – für Gerstäcker insgesamt eher untypische und vielleicht deshalb wenig bekannte – längere Abhandlung über die Indianer im allgemeinen, die sozusagen den damals neuesten Kenntnisstand widerspiegelt, Religion, Medizinmänner, Calumet, Tomahawk, Anschleichen, Skalpiermesser, Leggins, Gerben der Felle, Wigwams, Beerdigungsriten, Kriegstänze, Skalpieren, Schmuck, Büffel und Rednertalent der Indianer betreffend.

57 Karl May: Aus der Mappe eines Vielgereisten. Nr. 1. Inn-nu-woh, der Indianerhäuptling. In: Deutsches Familienblatt. 1. Jg. (1875/76), S. 8; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1975

58 Zitiert nach Gerstäcker: Mississippi-Bilder, wie Anm. 40

59 Gerstäcker: New Orleans. In: Ders.: Aus zwei Welttheilen, wie Anm. 9, S. 569/570; Ders.: Die Menagerie im Urwalde, ebd., S. 571-605

60 »Ueberhaupt hat die Indianerin keineswegs den reich weiblichen Charakter, der ihr so gern in Gedichten beigelegt wird. Die alten Damen besonders spielen bei allen solchen Gelegenheiten, wo ein gefangener Feind zu Tode gemartert werden soll, eine sehr hervorragende und völlig active Rolle, denn sie gerade sind es, welche die meisten Qualen ersinnen und mit kalter Grausamkeit ausführen.« (Gerstäcker: Die Bewohner der westlichen Prärien. In: Kleine Erzählungen, wie Anm. 5, S. 680)

61 Diese tauchen bei Gerstäcker mehrfach auf, vgl. oben S. 355 und 356, Höck/Ostwald, wie Anm. 3, S. 184

62 Vgl. Anm. 9 sowie die Erwähnung in ›Die Silbermine in den Ozarkgebirgen‹ (in: Gerstäcker: Mississippi-Bilder, wie Anm. 40) S. 51.

63 Gerstäcker hat auch einige Jahre in Dresden gewohnt, er war dort sogar in einem literarischen Zirkel tätig. Das Risiko für May, als ›Plagiator‹ entdeckt zu werden, war am gleichen Ort – wenn auch zu späterem Zeitpunkt – also wohl nicht gering. Doch bedenkt man die psychische Struktur Karl Mays, so war gerade dies, die Gefahr, ertappt zu werden, möglicherweise ein zusätzlicher Kitzel für ihn (vgl. dazu: Kurt Langer: Die Bedeutung der Angstlust in Karl Mays Leben und Werk. In: Jb-KMG 1986. Husum 1986, S. 268–76). Insofern funktionieren diese literarischen ›Diebstähle‹ ganz ähnlich wie schon Mays frühere, reale Diebstähle: Sie bildeten jeweils die Anlässe für – einesteils literarische, andernteils ›reale‹ – Lügengeschichten.


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