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HANS-OTTO HÜGEL


Kulturelle Gemeinschaft von Autor und Leser
Zu einigen Erzähltraditionen Karl Mays*



Vor fünfzehn Jahren hat das Schiller-Nationalmuseum in Marbach eine Karl-May-Ausstellung eingerichtet, die die Sammlung Heinz Neumann präsentierte. Bei der Arbeit an dieser Ausstellung und an dem Begleitheft1 interessierte mich an Karl May der unvergeßliche Eindruck der Jugendlektüre. Ich wollte wissen, warum las ich so gerne immer wieder diese grünen Bücher? Warum blieben mir dabei bestimmte Szenen im Gedächtnis? - Welche Szenen? Es sind dies die Szenen, in denen die Hauptfigur, der Ich-Erzähler, seine glanzvollen Auftritte hat. Szenen, die ganz Verschiedenartiges zeigen. Die komisch sein können oder spannend sind oder uns die Kraft und den Geist des Helden plastisch vor Augen führen. Die Erzählungs- und Erlebnisform dieser und ähnlicher Szenen faßte ich als ›inszeniertes Abenteuer‹2 auf; ein Vorschlag, der damals von der Kritik auch innerhalb der Karl-May-Gesellschaft durchweg positiv gewertet worden ist.3

  Wenn ich mich heute erneut Karl May und diesen erzählerischen Höhepunkten, denn das sind sie, zuwende, dann, weil ich es für notwendig halte, neben den damals gewählten zentralen Begriff des ›inszenierten Abenteuers‹ noch andere zu setzen. ›Inszeniertes Abenteuer‹ beschreibt einiges, aber nicht alles, läßt einige geistes- und kulturgeschichtlich wichtige Linien, in denen Karl Mays Werk steht, in den Blick kommen, aber nicht alle. So geht etwa dem Kampf mit Blitzmesser oder dem Wettkampf mit Intschu tschuna (im 1. Band von ›Winnetou‹) eigentlich der Charakter des Inszenierten, also des als Schaustück Geplanten, ab. Anderes, wie das Zähmen eines arabischen Vollbluts oder das Schaureiten vor Beduinen, ist weniger ein Abenteuer als vielmehr eine zirzensische Darbietung. Eine differenziertere Beschreibung läßt automatisch einen differenzierteren Blick auf für das Werk wichtige Traditionen zu. Ich will also heute das vor 15 Jahren Erarbeitete weniger korrigieren als vielmehr ergänzen; ergänzen, um die auch von der Karl-May-Forschung in der Zwischenzeit immer wieder herausgestellte für May »charakteristische Mischung«4 besser begreifen zu können.

  Die Karl-May-Forschung, die vor allem von der Karl-May-Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten vorangetrieben worden ist, hat sich




* Vortrag, unter dem Titel ›Der Virtuose Kara Ben Nemsi‹ gehalten am 20. 9. 1997 auf der 14. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Erlangen.


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neben den biographischen Recherchen vornehmlich vier Aufgaben gestellt. So wurde das Spätwerk Mays nicht nur von Arno Schmidt, sondern auch von Spezialisten der Karl-May-Gesellschaft herausgehoben; es wurden eine große Anzahl von Reprints vorgelegt, die die Wirkungs- und Entstehungsgeschichte, die Urfassungen des Werks und der Figur erst begreifen lassen. Schließlich wurden in jüngster Zeit verstärkt Untersuchungen zum Aufbau, zur Form der Abenteuererzählungen, vor allem zu ›Old Surehand‹ und zum ›Schatz im Silbersee‹, vorgelegt, und last but not least, es wurden Untersuchungen zu Karl Mays Quellen vorgenommen. Hierbei ging es und geht es zumeist um die Selbständigkeit bzw. die Art und Weise der Quellenbenutzung Mays; im Extremfall um die Frage: Plagiat, Epigonentum oder eigenständige künstlerische Verarbeitung. Detailliert wurde vielfach gezeigt, wie Karl May seine Quellen auswertet, wie Studieren und Erzählen, Erzählen und Studieren zusammengehen. Zum Teil wird die Quellenforschung auch kombiniert mit Fragen nach der Psychologie und der Bildungsgeschichte des Autors.

  Quellenforschung neigt von sich aus dazu, Unbekanntes, Fernliegendes, vor allem aber Einzelnes, sonst wäre es im eigentlichen Sinn ja keine Quelle, neben das Werk zu halten und Übereinstimmungen und Einflüsse nachzuweisen. Dabei wird - das liegt in der Natur der Sache - Naheliegendes, allgemein Bekanntes beiseite gelassen oder dessen Bedeutung für das Werk unterschätzt. Ich möchte daher heute noch einmal wie vor 15 Jahren versuchen, »bekannte Umstände in neuem Licht« zu sehen,5 und anhand von drei Beispielen, die allesamt glanzvolle Auftritte des Helden schildern, auf drei für Karl Mays Werk wichtige (?) kultur- und literaturgeschichtliche Traditionslinien bzw. Erzählmuster hinweisen, die für Karl May und seine Leser des 19. Jahrhunderts ganz selbstverständlich waren.

  Mein erstes Beispiel stammt aus den ersten Seiten von ›Die Liebe des Ulanen‹. An dieser Stelle sieht sich der soldatische Superheld, ein Herr von Königsau, nachdem er gerade seine große Liebe wiederentdeckt hat, in seiner Verkleidung als buckliger Hauslehrer von einem Arzt durchschaut. Er versucht, der Gefahr zu entgehen, wird aber von dem Arzt gestellt. Anstatt den Hauslehrer zu entlarven, schildert der Arzt unvermittelt dem verkleideten Ulanen ein Kriegserlebnis:


»Bei Gitschin passirte es mir, daß ich den Verbandplatz wechselte und dabei vor ein preußisches Ulanenregiment gerieth, welches zur Attaque vorstürmte. Ich sah, daß ich nicht weichen konnte und zermalmt werden würde, besonders da mich in demselben Augenblicke ein Granatsplitter gefährlich verwundete und zu Boden riß. Ich erhob unwillkürlich in flehender Stellung die Arme. Die Lanzenspitzen der Ulanen flogen wie ein brausender Wald daher und befanden sich kaum noch hundert Schritte von mir entfernt. Es war ein furchtbarer, aber militärisch schöner Anblick.«6


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Es war ein furchtbarer, aber militärisch schöner Anblick. Diese Sätze sind zwölf Jahre nach dem deutsch-französischen Kriege, dessen Entstehungs- und Vorgeschichte der Roman zum Thema hat, 1883 geschrieben. Auch nach Kriegsende wurde weiter aufgerüstet, und die Kriegsmaschinerie machte den deutschen Bürgern trotz des gewonnenen Kampfes angst. Im Nachkriegsdeutschland, das zugleich ein Vorkriegsdeutschland war, lag über dieser Angst zwar der trügerische Schein des Sieges, daher nahm man nicht nur den Schrecken, sondern auch die Schönheit wahr: und faßte beide in die schaurig-schöne Formel vom ›furchtbaren, aber militärisch schönen Anblick‹.

  Die erzählte Gegenwart läuft für den Zuhörer, den verkleideten Ulanen, parallel zu dem Kriegserlebnis, das der Arzt sich erinnernd zurückholt. Der Arzt war damals in höchster Lebensgefahr gewesen, der Ulan ist es jetzt. Damals wurde der Arzt von dem Ulanen gerettet, heute ist der Arzt sein Retter, zumindest nicht sein Verräter.

  Im Augenblick der Gefahr ist der Arzt ›entrückt‹ und ›außer sich‹; seine körperliche Unbeweglichkeit ist Ausdruck der seelischen Teilnahmslosigkeit. Er erlebt die Gefahr nicht, sondern betrachtet sie von außen, wie einen entsprechenden Holztisch aus der Gartenlaube. Daher kann er beteiligt-unbeteiligt alle Schrecken des Krieges exakt wahrnehmen: »Das heransausende Regiment bildete eine fest geschlossene, eisenstarrende Masse; man sah, es werde unwiderstehlich Alles vor sich niederreißen ... Ich sah rechts und links die fürchterlichen Lanzen hervorragen; ich hörte den Donner des Hufgestampfes; ich sah gerade vor uns das Aufblitzen der österreichischen Batterien; ich hörte das Brüllen der Kanonenschlünde ...«

  Aus dem Zustand äußerster Wachheit fällt der Arzt unvermittelt in den der Bewußtlosigkeit. » ... ich hörte noch das Schnellfeuer der Vertheidiger, dann entschwand mir im Getöse und im Tumult des wilden Kampfes die Besinnung. ... Als ich wieder zu mir kam, lag ich zwischen den Kanonen der eroberten Position; ein preußischer Regimentsarzt kniete ... bei mir, und dabei stand der Premierlieutenant, welcher mich gerettet hatte.«

  Der verkleidete Ulan reagiert ähnlich. Auch er nimmt, gefangen von der Erzählung des Arztes, seine Gefahr nicht wahr. Er hörte wortlos zu; aber seine Augen leuchteten und seine Wangen glühten. Er schien das Gefährliche seiner jetzigen Lage ganz vergessen zu haben ... Wie der Arzt taucht auch der Ulan, nachdem die Gefahr vorüber ist, unvermittelt aus der Trance auf, funktioniert übergangslos wie eine Maschine und reagiert perfekt auf seine Lage. Nur der Ablauf der Ereignisse wird umgedreht. Das Schema bleibt gleich. Der Arzt wurde aus größter Gefahr unvermittelt in Geborgenheit gebracht, der Ulan sah sich plötzlich aus größter Sicherheit in Gefahr gestürzt.

  Sie sehen, wie streng die Szene komponiert ist. Technisches Können hat May. Dies würde noch deutlicher, wenn hier der Zusammenhang


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dieser Szene mit dem Romanganzen ausgeführt würde. Aber vielleicht reizt es Sie, noch einmal nachzulesen.

  Warum aber stellt May Wachheit und Bewußtlosigkeit, totale Geborgenheit und außergewöhnliche Gefährdung so hart nebeneinander? Genügt es als Antwort, einfach die grelle Erzählfarbe der Kolportage zu konstatieren? Denn die Kolportage erzählt nicht allmählich, es gibt bei ihr keine fließende, sich entwickelnde Motivierung. Sie kennt keine stringente Aufeinanderfolge der Ereignisse. Sie entwickelt sich nicht, sie springt; motiviert nicht das Innere der Figuren psychologisch, sondern setzt alles in ›Außen-Bilder‹ um.

  Die Kolportage zeigt, der Schauerromantik ähnlich, keine geordnete Welt! Ihre Helden kontrollieren das Geschehen nicht, wie es bald die Detektive tun werden; obwohl auch sie vielfach geradezu mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet sind. Das Spionageunternehmen des Ulanen ist bis zum letzten perfekt geplant und durchgeführt, und doch wurde er schon bei der ersten Annäherung an das feindliche Gebiet entlarvt. In der Kolportage ist stets die Bereitschaft vorhanden, daß Sicherheit in größte Gefahr umschlägt und daß umgekehrt aus der größten Not die Helden plötzlich in Geborgenheit aufwachen. Die grelle Erzählfarbe der Kolportage verweist auf eine aus den Fugen geratene Welt, deren Entwicklung als sprunghaft, nicht mehr als kontinuierlich bzw. natürlich erlebt wird.

  Die Kolportage ist literarische Ersatzneurose und Kompensation des optimistischen Grundzuges des Jahrhunderts. Sie hält die Ängste der Leser wach, die für die Segnungen des Zeitalters bezahlen mußten. Nicht nur der Stoff, auch die Formensprache dieser Romane vermittelt ihre Aktualität. Die Gefahr, die die Helden in ihrem Alltag umstellt, ihre traumhaften, ja, traumatischen Erlebnisse verweisen auf entsprechende Erfahrungen der Leser mit ihrer Wirklichkeit.

  Ich bin Ihnen noch die Art und Weise schuldig, wie der Arzt gerettet wird:


»Da bemerkte ein Officier meine emporgestreckten Hände; er spornte sein Pferd zu doppelter Eile, in weiten, tigergleichen Sätzen kam er voraus- und herangesprengt, und indem er an mir vorüberschoß, bog er sich zu mir herab, faßte mich mit starker Faust beim Arme, riß mich empor, warf mich vor sich über seine Kniee und nahm nun wieder Fühlung mit den Seinen. Das geschah so exact, so elegant und mit solcher Entwickelung einer ungeheuren Körperstärke, als habe er sich für diesen Fall besonders eingeübt.«7


Der Held ist nicht nur einfach Retter in höchster Not, er ist geradezu ein Künstler. Es genügt nicht mehr, das Richtige zu tun, das Richtige muß auch noch mit artistischer Eleganz getan werden. Daß dies für einen unvoreingenommenen Leser ganz unrealistisch und überspannt wirkt, ist belanglos. Die Leser waren nicht unvoreingenommen. Sie waren artisti-


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»Ein Husarenstückchen. (...) Ein Theil der Wiener Garnison hatte vor allerhöchsten Herrschaften Revue zu passiren. Zu solch einem Schauspiel glänzender Art läuft Alt und Jung überall, ebenso da, wo der Liberale über den Militarismus zetert, wie da, wo er selbst im Bürgermilizrock Parade macht. Die Schuljungen bis zum kleinsten riskieren lieber eine Portion Schläge, als daß sie dem Rasseln der Trommeln und dem Schmettern der Trompete von der Schulbank aus zuhörten. ›Das Eisen ziehet den Mann an‹, hat schon Vater Homer gesagt; um so weniger widerstehen ihm die leichten Jungen. Ein solches Wiener Pflänzlein hatte sich auch mit davon gemacht, war aber bald von der Menge abseits und für sich allein so in's Spielen gerathen, daß es Alles um sich vergaß. Es steckt mit Eifer Holzstückchen in einen Erdhaufen; ob diese einen Wald oder einen Zaun vorstellen sollten, war noch unbestimmt, als plötzlich eine von ihm unerkannte Gefahr dem stillen kleinen Spiel und Leben zugleich zu enden drohte. Ein Husarenregiment stürmte herein; es ritt in ganzer Schwadronbreite - für den armen Knaben war ebenso wenig Entlaufen, wie für die Reiter das Halt! möglich. Die ersten Pfer de,die den Kleinen sahen, würden sicherlich rechts und links ausgewichen sein,


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sche Kunststückchen ihrer Helden gewöhnt. Sie verlangten sie als Dreingabe selbst dann, wenn der Held sich nach getaner Arbeit sofort in Reih und Glied einordnen muß. Der Beifall, der in der Schlacht für die kunstvolle Heldentat nicht gespendet werden kann, wird fünf Jahre später nachgeholt, er geht dem Helden nicht verloren.

  Woher kommt diese merkwürdige Verbindung des Vorbildhaften mit dem Unterhaltsamen? Warum gibt der Erzähler der wie selbstverständlich sich ereignenden Rettung eines Hilflosen, der eigentlich ein Gegner ist, zugleich etwas Artistisch-Unterhaltsames? Die erste Antwort erhält man, wenn man feststellt, daß May diese Anekdote nicht er-,sondern gefunden hat. Heinz Neumann hat mich vor 15 Jahren bei der Vorbereitung zur Marbacher Ausstellung auf eine ganzseitige Abbildung aus der ›Gartenlaube‹ des Jahres 1877 und den beigegebenen Text aufmerksam gemacht (s. Abb.). Karl May tauscht die militärische Bezeichnung aus: Husar gegen Ulan, er wechselt die Nationalität, macht aus dem württembergischen einen preußischen Ulanen und verlegt den Ort vom Manöver in den Krieg. Der Kern der Anekdote bleibt aber gewahrt: der Zusammenfall des Furchtbaren, aber ›militärisch Schönen‹ mit dem Humanen und Kühnen ebenso wie das Elegante der Bewegung. (Die Schilderung der Gartenlaube spricht von »Carrière«, ein Ausdruck der Reitkunst.) Gleich ist übrigens auch die abwesende Haltung des Geretteten - das Kind ist sich der Gefahr nicht bewußt, der Arzt nimmt die seine nicht wahr. Vor allem aber: auch das In- und Miteinander von Unterhaltendem und Belehrendem ist gewahrt geblieben, wenn auch May es anders füllt als das Vorbild. Rekurriert ›Die Gartenlaube‹, was das Belehrende/Vorbildhafte angeht, auf den Konflikt Disziplin versus Menschlichkeit, so stellt May die deutsch-österreichische Versöhnung in den Mittelpunkt. Sie führt hier sozusagen die Regie. May und ›Die Gartenlaube‹ akzentuieren den ideologischen Part je-




aber die hinter ihnen kamen, hätten Alles unter ihre Hufe getreten. Schon hielt man das Kind für verloren. Da sprengte ein Husar mitten aus dem Gliede hervor, und in rasender Carrière des Pferdes gog er sich so tief nieder, daß er den Jungen bei dem Westchen packen und zu sich auf den Sattel nehmen konnte, bis es ihm möglich war, das barfüßige Kerlchen am sichern Rand des Revueterrains abzusetzen. Die Geschichte ist lange her, aber beim Regiment - damals Würtemberg-Husaren - soll sie und der Name des Mannes, der sieses Husarenstückchen wagte, noch fortleben. Es wird erzählt, daß auch indiesem Fall, wie leider so oft, die Gesetze der Humanität mit denen der Disziplin in Widerspruch gerathen seien, denn dem Husaren sei zwar dafür, daß er mit (...) Lebensgefahr ein Kinde gerettet, ein Ehrenzeichen verliehen, aber zugleich dafür, daß er auf eigene Faust, ohne Erlaubniß und Meldung, aus dem Gliede herausgeritten, die für dieses Vergehen bestimmte Strafe dictirt worden. Unser Bild, von Professor  W a g n e r   in München, feiert die schöne That, wie sie es verdient.« (Die Gartenlaub. Jg. 1877, S.874f.)


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doch nicht einseitig. Sie überlassen es dem Leser, ihn zu aktualisieren. Machen ein Angebot, setzen auf Unterhaltung, nicht auf Propaganda.8 Ein Zusammen-Auftreten von Unterhaltung und Belehrung gehört seit spätestens zweitausend Jahren, seit Horaz, zur europäischen Kultur. Insofern ist es zu wenig, bloß das Miteinander von Unterhaltung und Belehrung zu konstatieren, um eine direkte literatur- bzw. geistesgeschichtliche Verbindung zu belegen. Aber: Das Ineinander von Unterhaltung und Belehrung, wie May und ›Die Gartenlaube‹ es realisierten, ist - und dies ist entscheidend - weder einfach ein gleichberechtigtes Verhältnis wie bei Horaz. Dieser spricht vom Sowohl-als-auch des Nutzens und des Erfreuens, das der Dichter geben müsse. Schon gar nicht zielt es wie in der Aufklärung darauf ab, die Unterhaltung als notwendige Dienstmagd der Belehrung herauszustellen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind die Gewichte umgedreht. Nunmehr hat die Unterhaltung die Vorhand. Ernst Keil, der Herausgeber der ›Gartenlaube‹, formulierte sein Programm treffend mit den Worten: »So wollen wir euch unterhalten und unterhaltend belehren. Über das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben, wie der Duft auf der blühenden Blume.«9 ›Poesie‹, das klingt gediegen ›elegant‹, »Hauch der Poesie« sagt aber schon, daß es mit der Poesie nicht so genau genommen werden soll. Keil visiert mit diesem Ausdruck kein Prinzip an, wie es mit dem Humor den poetischen Realisten seinerzeit zur Verfügung stand. Er will die Wirklichkeit nicht verklären, sondern mit ihr unterhalten. Unterhaltung ist in der ›Gartenlaube‹ nicht nur keine der Belehrung dienende Funktion, sie ist auch keine partielle Funktion mehr. Sie trägt vielmehr das ganze Medium. Ernst Keil hat mit der ›Gartenlaube‹ die Familienzeitschrift und mit der Familienzeitschrift und dem sie bestimmenden Erzählprinzip die Unterhaltung im modernen Sinne erst erfunden. (Der Wunsch nach Unterhaltsamem ist dem Menschen sicher angeboren, Unterhaltung ist jedoch eine kulturhistorische Norm.)

  Mays Erzählung entspricht in der angeführten Szene aus ›Die Liebe des Ulanen‹ wie überhaupt in seinem erzählerischen Werk diesem Unterhaltungsbegriff des 19. Jahrhunderts. Die für May eigene Mischung ist, zumindest was die Verbindung von Unterhaltung und Belehrung angeht, Fortführung des Standardprogramms der Familienzeitschriften. May schreibt nicht nur für Familienzeitschriften, sondern er schreibt - selbstverständlich - im Ton der Familienzeitschriften, dem Zentralmedium seiner Zeit (das im Kulturvergleich heute nur dem Fernsehen an die Seite gestellt werden kann). Es ist überhaupt nicht »erstaunlich«, daß »Münchmeyer sich für das Projekt seines Redakteurs erwärmen konnte, eine Zeitschrift nicht nur zur Unterhaltung, sondern auch ›zur Belehrung‹ zu konzipieren«, wie ein Kommentar zu ›Schacht und Hütte‹ gemeint hat.10 Das In- und Miteinander von Unterhaltung und Belehrung bei Dominanz der Unterhaltung, so daß gleichsam das Ganze


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durch-, nicht überzuckert mit Unterhaltung war, gehört vielmehr zu den grundlegenden Lese- und Kulturerfahrungen, die Autor und Leser in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gemein hatten.

  Mit dem Herausarbeiten einer Erzählhaltung, die dem Familienblatt adäquat war, ist gewiß nicht Mays ganzer Stil erklärt - schließlich ließ sich im Familienblatt vieles unterbringen. Trotzdem denke ich, daß ohne das Bewußtsein der Entsprechung von Abenteuererzählung mit dem Geist des Familienblatts man Mays eigene Mischung nicht wirklich verstehen kann. Um nur auf sattsam Bekanntes zu verweisen: Es gab in den Familienzeitschriften Rubriken für Technik - siehe den Henrystutzen -, für Geographie - siehe den Grundgestus der Reiseerzählungen -, für Historisches und Politisches - siehe das Bild der Türkei, das Bild der sterbenden indianischen Nation -, für Komik und Humor - siehe Halef, David Lindsay.

  Bei der zweiten der drei Auftrittsszenen, die ich betrachte, geht es mir um das Profil der Hauptfigur, nicht wie bei der ersten um eine die gesamte Erzählung grundierende Haltung.

  Auf dem Weg nach Treska Konak bei der Verfolgung von Manach el Barscha und den beiden Aladschy werden Kara Ben Nemsi und seine Begleiter von einem einheimischen Bekannten namens Israd durch das Land der Skipetaren geführt. Als Israd gewahr wird, was für üble Burschen die Verfolgten sind, warnt er Kara Ben Nemsi vor einem Hinterhalt: »Du hast ja gar keine Idee, mit welcher Sicherheit hierzulande der Czakan geworfen wird, und kein Mensch ist im stande, einen auf ihn geschleuderten Czakan abzuwehren.«11 Der Leser des vorangegangenen Bandes, der den Kampf mit dem Miriditen noch in frischer Erinnerung hat, weiß jetzt, was kommt. Kara Ben Nemsi selbst ist diese unglaubliche Tat gelungen. Im Dialog wird die Geschichte der Czakan-Abwehr kurz nachgeholt, und daraufhin bewundert Israd Kara Ben Nemsis Czakan gebührend: »Es ist ein außerordentlich schöner Czakan, und ich dachte, du hättest ihn irgendwo gekauft, um recht kriegerisch zu erscheinen. Trotzdem ist er unnütz in deiner Hand, denn du verstehst nicht, mit ihm zu werfen. Oder hättest du dich bereits in dieser Kunst versucht?« Die Wahl des Wortes Kunst statt eines neutralen Ausdrucks (etwa Metier) ist bedeutsam. Sie unterstreicht den technischen Aspekt des Beilwerfens; betont, daß für das Beherrschen der Waffe Üben notwendig ist. Es kommt dann, wie Sie alle wissen, zu der Herausforderung Kara Ben Nemsis durch Israd: «Effendi, du mußt verzeihen, daß ich so eifrig bin. Was bin ich gegen dich! Und dennoch wird es mir schwer, deinen Worten zu glauben. Ich will dir gestehen, daß ich ein Czakanwerfer bin, der es mit jedem andern aufnimmt. Darum weiß ich, welche Jahre der Uebung es erfordert, Meister dieser Waffe zu werden. Leider habe ich mein Beil nicht bei mir.« Kara Ben Nemsi und Israd wetten, wer der bessere Werfer ist. Wie es sich gehört, natürlich mit ungleichem Einsatz: gegen


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die »Fünf oder sechs Piaster nur«12 setzt Kara Ben Nemsi deren hundert. Die Gefährten nehmen die Rolle der Zuschauer ein; sie sind, sozusagen als Stellvertreter des Lesers, vom Sieg Kara Ben Nemsis überzeugt. Der Wettkampf wird eingeleitet mit drei Übungswürfen. Wie bei einem Jongleur, der die Spannung und den Wert seiner Vorführung erhöht, indem er auf einer geringen Schwierigkeitsstufe etwa fallenläßt, so verbirgt auch Kara Ben Nemsi bei den Versuchswürfen sein Leistungsvermögen: Trotzdem gerieten die beiden nächsten Probewürfe scheinbar noch schlechter, als der erste.13 Im Wettkampf zeigt sich, daß Kara Ben Nemsi von einem ernsthaften Gegner herausgefordert wird. Seine Fertigkeit war wirklich nicht unbedeutend. Er traf alle drei Male den Stamm, aber nur beim letzten Mal blieb die Axt in demselben stecken.14 Kara Ben Nemsi aber - wie könnte es anders sein - ist ihm weit überlegen. Eingeleitet und wenigstens ein Stück weit erklärt wird die Meisterschaft Kara Ben Nemsis mit der indianischen Technik, die er anwendet. Jetzt mußte ich nach indianischer Art und Weise werfen, wenn ich treffen sollte. Ich holte aus, wirbelte den Czakan um den Kopf und erteilte ihm jene rotierende Bewegung, welche beim Billardspiel als ›Effekt‹ bezeichnet wird. [Übrigens: es müßte statt Effekt selbstverständlich Effet heißen, May übersieht, daß das französische Effet sowohl die Effekten als den Billard-Effet meint.] Das Beil sauste, sich um sich selbst drehend, am Boden hin, stieg empor, senkte sich dann plötzlich wieder nieder und fuhr in den Stamm der Esche, in welchem es sitzen blieb. Der für das Publikum überraschende Meisterwurf wird entsprechend bejubelt, wie im Zirkus das Kunststück des Artisten.

  Kara Ben Nemsi setzt noch einen weiteren Meisterwurf obendrauf, um deutlich zu machen, daß sein Erfolg nicht dem bloßen Zufall zu verdanken war. Diese zweite Demonstration in nochmals gesteigertem Schwierigkeitsgrad ist wichtig. Denn erst sie belegt die vollkommene Beherrschung des Gerätes. Der Ich-Erzähler trifft nicht nur, sondern ist sich dessen vollkommen sicher und vermag daher genau zu beschreiben, welche Bahn der Czakan einnehmen wird. Abgeschlossen wird die Szene mit einer Vorausdeutung: Mir aber war es lieb, gesehen zu haben, daß ich mich auf meine Hand verlassen könne. Diese Vorausdeutung bleibt bemerkenswerterweise unerfüllt. Zwar wird Kara Ben Nemsi später mit Czakan-Kämpfern sich auseinandersetzen, Wurftechniken spielen dabei aber keine Rolle. Die Szene ist also nicht ausschließlich legitimiert, weil sie Gelegenheit zu waffentechnischer Übung gibt. Und es heißt ausdrücklich, dieser Versuch war eigentlich ein kleiner Unsinn ...15 Der Wettkampf ist eine Spielerei, dient der Unterhaltung, ist eine Schaustellung. Insofern läßt sich hier wirklich von einem inszenierten Vorgang sprechen. Und Momente des Inszenierens durch die Ich-Figur haben sich vielfach gezeigt (etwa im verzögerten Erzählen der Miriditen-Episode oder in dem spannungserzeugenden Verfehlen des Ziels


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bei den Übungswürfen). Vom inszenierten Abenteuer aber läßt sich hier nicht sprechen. Zum Abenteuer gehören Geplantes und Unerwartetes. Daher wird hier im strengen Sinn kein Abenteuer, sondern eine zirzensische Veranstaltung geboten.

  Und aus dem Repertoire des zeitgenössischen Zirkus hat May auch wesentliche Elemente, wie die Herausforderung des Publikums durch den Artisten oder das Preiswerfen, übernommen.

  Mit der Feststellung, daß die Ich-Figur hier einen Zirkus-Artisten gibt, sind sein Verhalten und der kalkulierte Aufbau der Szene aber nicht präzise beschrieben. Zum Zirkusartisten paßt zwar, daß der Wettkampf vor Zuschauern und zur Unterhaltung, als Spiel geboten wird, aber dem entgegen steht der ernsthafte Sinn, der dem Spiel doch beigemengt ist - selbst wenn im nachhinein diese Übung sich als überflüssig erweist. Daß die Übung von Beginn an  a u c h  ein ernsthaftes Gesicht hat, ist schon in der Einleitung durch Israd angelegt. Kara Ben Nemsi ist ja geradezu gezwungen, Israd die Angst zu nehmen. Vom Begriff des Zirzensischen her läßt sich auch nicht die Bedeutung verstehen, die das Handwerkszeug in der Szene zugemessen bekommt. Ebenso gibt es für die Rolle der Technik, die ausführlich erklärt wird, aus dem Bereich der Zirkuskultur des 19. Jahrhunderts kein Vorbild. Schließlich läßt sich vom zirzensischen Wettkampf her nicht verstehen, warum der Ich-Erzähler ein geradezu absolutes, eigentlich übernatürliches Beherrschen des Handwerkszeuges zeigt. Der vierte Wurf ist schließlich mehr als nur Demonstration einer schwer faßbaren, die Grenzen des Gewohnten sprengenden Fähigkeit, wie wir es bei einem Zirkusartisten auch antreffen. Er ist, nimmt man ihn wörtlich, so wie manche Leser es tun, Vorführung eines schier menschenunmöglichen Vermögens. Man greift zu kurz, wenn man solche hyperbolisch wirkende Vorführung augenzwinkernd als Aufschneiderei oder ausschließlich psychologisch als Kompensationsschilderung verstehen will. Vielmehr nimmt der Leser dem Erzähler diese Schilderung ab, weil sie ihm vertraut vorkommt, weil das von May Erzählte Muster-Erzählungen gleicht, die der Leser kennt.

  Selbstverständlich nicht in dem Sinn, daß der Leser Geschichten von Hundert-Meter-Würfen erinnert. Der Leser erinnert nicht die Eigenschaften, die die Figur im Detail sich zuschreibt, sondern das Muster, das der Figur Profil, Sinn gibt. Einer Figur, die wie ein Künstler das Absolute anstrebt, für die ihr Handwerkszeug wichtig ist, die für das Erlangen ihrer Kunstfertigkeit Übung braucht, diese aber nicht nur oder nur zum Teil zeigt und zugibt, die eine Sache betreibt, die zugleich wichtig und unwichtig, Unterhaltung und Ernst ist; einer Figur, die etwas kann und dies, einschließlich des Bewußtseins von ihrem Können, zeigt; und die, indem sie ihre Fertigkeiten vorführt, also Sachdarstellung betreibt, zugleich sich selbst darstellt. (Was bei Karl May besonders deutlich in dem ihm eigenen indianischen Stil des Beilwerfens sich formu-


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liert.) Mit andern Worten, Kara Ben Nemsi zeigt sich hier in der Rolle eines Paganinis, eines Liszt, also eines Virtuosen. Zieht man Konzertkritiken Paganinis, Liszts oder Robert Schumanns zu Rate, die in den populären Zeitschriften verbreitet waren, finden sich genau jene Elemente, die ich hier als strukturbildend für die Czakan-Szene herausgearbeitet habe. Der Virtuose ist Sach- und Selbstdarsteller zugleich, er vollbringt im Falle des Musikvirtuosen - jedenfalls in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts - eine Interpretation der Musik und gibt zugleich eine Selbstdarstellung. Die Auseinandersetzung um die Berufsvirtuosen drehte sich gerade um diesen Punkt, der auch in der Ambivalenz von Ernst und Unernst sich offenbart. Ernsthaft gilt der Virtuose, wenn er der Musik dient, unernst, wenn er sich herausstellt. Und wie der Teufelsgeiger mit seinem Instrument Menschenunmögliches zeigt, zeigt Kara Ben Nemsi dies mit dem Czakan. Ja, selbst für die Wettkampfsituation gibt es in der Geschichte der Virtuosen Vorbilder - so sind zahlreiche Klavier- oder Geigenwettkämpfe aus Wien und Berlin überliefert. Und auch die merkwürdige Doppelheit von Üben und Nichtüben spiegelt sich in der Geschichte des Virtuosen im 19. Jahrhundert: Paganini verbarg sein Üben, Schumann stellte es extra heraus. Die Figur des Virtuosen in die Abenteuer-Erzählung zu übertragen - und dies ist neben den interpretatorischen Hilfen, die der Virtuosenbegriff bei der Textanalyse bietet, der fruchtbarste Aspekt meines Arguments - lag dabei für Autor und Leser nahe, waren doch die Virtuosen im 19. Jahrhundert die Stars schlechthin. Und wenn ein Abenteurer wie bei May als Star, also als ein Medienphantom begriffen werden sollte, war es geradezu zwangsläufig, daß er die Züge eines Virtuosen erhielt bzw. als Virtuose verstanden wurde.

  So glanzvolle Momente der Virtuose Kara Ben Nemsi/Old Shatterhand in den von ihm inszenierten Auftritten erlebt, in denen er sich heraus- und darstellen kann, so wenig teilt sich in diesen Szenen sein Charakter mit. Je mehr der Selbstdarsteller sich hervorkehrt, desto mehr geht er in der Rolle des Virtuosen auf, wird zur bloßen Perfektionsmaschine. So daß man mit gewissem Recht, jedenfalls wenn man es auf diese Szenen bezieht, davon sprechen kann, daß Karl Mays Heldengestalten »als Individuen (...) bar jeder Eigenschaft« auftreten.16 Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand zahlen den Preis, den in der Folge viele Stars zahlen mußten. Die Rolle überwältigt die Person; je erfolgreicher der Virtuose bei seiner Darbietung ist, desto größer wird die Distanz zu den Mitmenschen, die zum Zuschauer degradiert werden und als solche keine personale Beziehung mehr zu dem wie ein Star entrückten Virtuosen haben. Allerdings, Kara Ben Nemsi/Old Shatterhand tritt im erzählerischen Werk nicht permanent als Virtuose auf. Ja, die Virtuosen-Rolle bleibt beschränkt auf eng umrissene, abgeschlossene Sequenzen, die für den Fortgang der Handlung häufig ohne Folgen bleiben. Zwi-


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schen den glanzvollen Auftritten ist der Ich-Erzähler auch Gefährte, Führer, (Gesprächs-)Partner, reisender Naturforscher und zeigt in diesen Funktionen zahlreiche Charaktereigenschaften, auf deren ideologische oder ideelle Implikation vielfach hingewiesen wurde.

  Neben diesen Funktionen, die teils menschlich kommunikativ grundiert, teils aus dem allen Abenteuererzählungen übergeordneten Reisezweck abgeleitet sind, übernimmt der Ich-Erzähler zuweilen noch Aufgaben, die aus einem üblicherweise scharf umrissenen Berufsbild abgeleitet wurden. Wie die virtuosen, so sind auch diese Berufsauftritte als General, als Arzt oder als Kellermeister17 nicht in einem einheitlichen Grundton gehalten. Mal sind sie abenteuerlich, mal interessant, mal komisch. Trotzdem haben sie etwas Gemeinsames und bilden geradezu einen zusammengehörenden Motivkomplex, der der Ich-Figur eine bestimmte Kontur verleiht und sie in eine - so glaube ich - bisher weitgehend übersehene Tradition einordnet.

  Betrachten wir hierzu das Auftreten von Mays Held als ›General‹. Wie Sie alle wissen, kommt es gegen Ende von ›Durch Wüste und Harem‹ zu einer großen Kesselschlacht zwischen je drei Beduinenstämmen. Auf der einen Seite stehen die Haddedihn, die Abu Mohammed und die Alabeïde, auf der anderen die Obeïde, die Abu Hammed und die Dschowari; bekanntlich siegen die Erstgenannten, weil sie einem überaus geschickten militärischen Berater, nämlich Kara Ben Nemsi folgen. Kara Ben Nemsi rät den Haddedihn »nicht wie die Araber, sondern wie die Franken (zu) kämpfen«,18 d. h. in den knappen Worten Sir David Lindsays »Ah! Kein wilder Angriff, sondern militärische Körper! Evolution! Choc! Taktik! Strategie! Feind umzingeln! Barrikade! Prächtig! Herrlich! Ich auch mit! Ihr seid General, ich bin Adjutant!«19 Kara Ben Nemsi überzeugt zunächst den Scheich der Haddedihn, indem er eine Rede über europäische Kriegskunst20 hält. Nach der Theorie folgt die Praxis. Kara Ben Nemsi drillt die befreundeten Beduinen, führt mit ihnen ein Manöver durch, bei dem der von ihm ausgearbeitete Plan einer Kesselschlacht geübt wird, ordnet ein Kommunikations- und Überwachungssystem an und führt dann die Truppen auch auf das Schlachtfeld bzw. befehligt einen wichtigen Truppenteil. Selbstverständlich gelingt alles nach Plan, und Kara Ben Nemsi heimst nicht nur den Dank der Beduinen ein, sondern hat auch noch die schöne Befriedigung, daß seine Absicht, mit der er sein Eingreifen begründet, die Grausamkeiten zu mildern, welche bei diesen halbwilden Leuten ein Sieg stets mit sich bringt, am Ende bestätigt wird. Der Sieg wird errungen, »ohne viele Tote zu haben«.21 Und Kara Ben Nemsi setzt sogar eine christlich-humane Behandlung der Gefangenen und politisch vernünftige Friedensbedingungen durch.

  So wichtig dieser ideologisch-moralische Aspekt ist, mir kommt es auf etwas anderes, auf die gegenüber dem Virtuosen so ganz verschie-


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denartige Selbstdarstellung des Ich-Erzählers an. Während der Ich-Erzähler bei den Virtuosen-Auftritten eine ungebrochene und glanzvolle Bestätigung seiner überragenden Fähigkeiten zu erzielen wünscht, gibt er sich hier von Anfang an merkwürdig distanziert. So versieht er schon seine Rede über die europäische Kriegskunst mit dem Kommentar: ich, der Laie im Kriegswesen ...22 Und auch gegenüber David Lindsay witzelt er über sich und seinen Adjutanten: »Würden uns beide wundervoll ausnehmen in diesen Stellungen! Ein General, der von der Kriegführung soviel versteht, wie das Flußpferd vom Filetstricken, und ein Adjutant, der nicht reden kann!«23 Und was vielleicht noch wichtiger ist, auch später nimmt er sich immer wieder zurück. So wehrt er ab, die Scheichs nach dem Sieg eingehender zu beraten: »Ich kann nichts anderes sagen, als was ich bereits gesagt habe. Ihr werdet das Richtige treffen.«24

  Es hat also den Anschein, daß Kara Ben Nemsi bei der Übernahme einer Tätigkeit, für die in Europa ein genaues Berufsbild existiert, eher Skrupel hat, sich als perfekter Profi zu profilieren, als bei den eigentlich viel ungewöhnlicheren und schwierigeren Virtuosentätigkeiten. Warum aber, wenn die Übernahme von - im engeren Sinn - Berufsrollen offenkundig solche Schwierigkeiten macht, auf diese Motive nicht ganz verzichten? Gewiß - die Überlegenheit Europas kommt hierdurch schön heraus, und diese zu zeigen ist, wie bekannt, wesentlich für die Idee eines, modern gesprochenen, cross culture novel. Diese Begründung läßt aber bei den ähnlich gelagerten Berufsausübungen als Kellermeister, z. T. auch bei denen als Arzt, sich nicht anführen. Ich denke daher, daß die Berufsfertigkeiten des Ich-Erzählers einfach dadurch motiviert sind, daß sie zu einem vom Leser wie vom Autor erinnerten Bild des Abenteurers gehören, das dem Ich-Erzähler für seine Charakteristik wichtig ist. In der Tat gibt es für solche Anwendung und Übertragung von Kulturtechniken, wie sie Kara Ben Nemsi als General, Kellermeister oder Arzt zeigt, ein alles überstrahlendes Vorbild in Robinson Crusoe, dem Vorbild eines Abenteurers und Helden eines Abenteuerromans schlechthin. Wohlgemerkt, Karl May übernimmt für sein Bild vom Abenteurer nicht Defoes protestantische Ideologie, und selbstverständlich sind Mays Romane von Grund auf anders konstruiert als die Defoes: May erzählt in der Weite des Raums, ist gleichsam auf der Flucht. Defoes Ich sucht Besinnung im begrenzten Raum der Insel: Aber, Karl May fügt bei der Konstruktion seiner Ich-Figur ganz selbstverständlich additiv dem Abenteuer-Ich eine Crusoe-Seite hinzu - feiert den gebildeten Europäer als autarkes, alle Kulturtechniken anwendendes und damit kulturrealisierendes Wesen.

  Mays eigene Mischung erweist sich also als sehr heterogen. Zeitgenössisches, der Stil der Familienzeitschriften, findet sich ebenso wie die virtuose Selbstdarstellung des Ich-Erzählers, die auf zukünftige Ich-Konstitution verweist. Und es gibt ebenso Traditionelles, wie die von


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Crusoe übernommene kulturelle Autarkie-Idee des Abenteurers. So zusammengesetzt dies in der Analyse erscheint, so gut paßt alles zusammen und wirkt gar nicht heterogen; denn nichts oder kaum etwas ist allein von May erfunden. Vielmehr gründet alles in einer historischen Erfahrung, die Autor und Leser gemein haben.



1 Das Begleitheft ist erschienen als: Marbacher Magazin 21 (1982). Hrsg. von Bernhard Zeller.

2 Vgl. Hans-Otto Hügel: Das inszenierte Abenteuer. In: Ebd., S. 10-32.

3 Vgl. Helmut Schmiedt: Literaturbericht. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1983. Husum 1983, S. 257-60.

4 Christoph F. Lorenz: Vom ›Selfman‹ zum ›Helden des Westens‹. Zur Abenteuerkonzeption und Integration früher Erzähltexte in Karl Mays ›Old Surehand II‹. In: Karl Mays »Old Surehand«. Hrsg. von Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Paderborn 1995, S. 191

5 Schmiedt, wie Anm. 3, S. 260

6 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. II Bd. 9: Die Liebe des Ulanen I. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Bargfeld 1994, S. 35 - die folgenden Zitate ebd., S. 35f. - Zur Rolle dieser Passage im Roman-Ganzen siehe Martin Krichbaum: Die Legende von Gitschin. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 105/1995, S. 26-29.

7 Ebd., S. 35

8 Zum Begriff der Unterhaltung vgl. Hans-Otto Hügel: Unterhaltung durch Literatur, Kritik, Geschichte, Lesevergnügen. In: Medien zwischen Kultur und Kult. Festschrift für Heribert Heinrichs. Hrsg. von Rudolf Keck/Walther Thissen. Bad Heilbrunn 1987, S. 95-111; Ders.: Unterhaltungsliteratur. In: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hrsg. von Helmut Brackert/Jörn Stückrath. Reinbek 61996, S. 280-95; Ders.: Ästhetische Zweideutigkeit der Unterhaltung. Eine Skizze ihrer Theorie. In: montage/av 2(1993), S. 119-41.

9 Zit. nach Hügel: Unterhaltung durch Literatur, wie Anm. 8, S. 106

10 Christoph F. Lorenz: Unterhaltung und Belehrung. Zum Olms-Reprint ›Schacht und Hütte‹. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 47/1981, S. 39

11 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VI: Der Schut. Freiburg 1892, S. 11 - die folgenden Zitate ebd., S. 11f.

12 Ebd., S. 13

13 Ebd., S. 15

14 Ebd., S. 16 - die folgenden Zitate ebd., S. 16f.

15 Ebd., S. 13 - das folgende Zitat ebd.

16 Annette Deeken: »Seine Majestät das Ich«. Zum Abenteuertourismus Karl Mays. Bonn 1983, S. 140

17 So in dichter Folge im 10. und 11. Kapitel von: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892

18 Ebd., S. 398

19 Ebd., S. 401

20 Ebd., S. 398 - das folgende Zitat S. 398f.

21 Ebd., S. 455

22 Ebd., S. 398

23 Ebd., S. 401

24 Ebd., S. 455





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