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ANDREAS GRAF


Lektüre und Onanie
Das Beispiel des jungen Karl May, sein Aufenthalt auf dem Seminar in Plauen (1860/61) - und die Früchte der Phantasie



»Schriftsteller lesen nicht zum Spaß«, sollte Garp später in eigener Sache schreiben.
John Irving1



I. Der Artikel des Dr. Pfaff


Im März 1860 veröffentlichte der Bezirksarzt Dr. med. Emil Richard Pfaff aus Plauen einen kleinen Fachartikel, der für einige Aufregung bei den zuständigen Stellen sorgen sollte. Der Artikel erschien im zweiten Jahrgang der neu gegründeten ›Monatsschrift für exacte Forschung auf dem Gebiete der Sanitäts-Polizei‹, und Dr. Pfaff war sich des Zündstoffs durchaus bewußt, den seine siebeneinhalb Seiten lange Auslassung mit dem Titel ›Das Internat in öffentlichen Schulanstalten von medicinpolizeilichem Standpunkte aus betrachtet‹ enthielt. Denn er schickte auch einen Bericht mit seinen Erkenntnissen zu diesem Thema eigenhändig an die zuständige Kreisdirektion. Die Sache zog Kreise und gelangte schließlich bis vor das sächsische ›Königliche Hohe Ministerium des Cultus und öffentlichen Unterrichts‹.

  In seinem Artikel2 - der hier zunächst etwas ausführlicher dokumentiert werden soll - setzte sich Dr. Pfaff sehr kritisch mit der Institution der Internate überhaupt auseinander. Er stützte dabei seine Ausführungen auf konkrete Beispiele und mit genauen Daten unterfütterte Beobachtungen, die er an einem konkreten Internat, nämlich einem sächsischen Schullehrer-Seminar, gemacht hatte. Daß es sich bei dieser, ihm als Beispiel dienenden, Anstalt nur um das Schullehrer-Seminar in Plauen handeln konnte, mußte auch weniger eingeweihten Lesern sofort klar sein, denn außer seinem Namen hatte Dr. Pfaff auch seinen Beruf und Wohnort am Beginn des besagten Artikels mitgeteilt.

  Der Arzt hebt hervor, daß er sich seinem Thema nicht vom pädagogischen Gesichtspunkt her nähern werde, sondern allein »in medicinalpolizeilicher Hinsicht« (116), sprich: unter dem Aspekt gesundheitsbehördlicher Vernunft. Die Diskussion der pädagogischen Vorzüge »dieser Art der modernen Jugenderziehung« (116) wolle er den


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Pädagogen überlassen, doch er betont zugleich, daß es auch unter diesen »viele giebt, die dieser Erziehungsmethode alle Vorzüge überhaupt absprechen.« (116f.) Damit ist das argumentative Terrain abgesteckt, und der geübte Leser ahnt bereits jetzt deutlich, daß Dr. Pfaff insgesamt von Internaten - »worunter man das enge Beisammenwohnen der Zöglinge einer Anstalt zum Behufe der Ermöglichung einer steten Aufsicht von Seiten der Lehrer versteht« (116), wie er amtsdeutsch verschnörkelt definiert - überhaupt nichts hält. Und genau so ist es auch. Denn die Internierung von Schülern widerspricht nach Auffassung des couragierten Arztes den »Principien der Humanität« (117). Er schreibt: »Welch einen psychisch-deprimierenden Einfluss auf die Jugend das immerwährende Eingesperrtsein und eine stete, strenge Beaufsichtigung übt, wird nur der genügend ermessen, der sich in seiner Jugend eine Zeit lang in einer ähnlichen Lage befunden hat« (117). Entwicklungsmöglichkeiten »edler Charaktereigenschaften« gingen den Eingesperrten verloren, da nur »der Umgang mit Menschen« vor Unbeholfenheit und Einseitigkeit zu schützen vermöge und allein menschlicher Kontakt auch Gelegenheit biete, Menschenkenntnis zu erlangen.

  Hinzu komme ein weiterer wichtiger Aspekt. Denn »ueberall wo das Internat im strengsten Sinn gehandhabt wird« (117), geschehe dies unter Vernachlässigung der körperlichen Bedürfnisse der Zöglinge, deren Bewegungsfreiheit eingeengt werde, was wiederum ihrer allgemeinen Gesundheit abträglich sei. Anders als die Schüler an Lehranstalten ohne Internat, die meist blühend und gesund aussähen, müßten »die bleichen Gesichter der ihrer Freiheit beraubten Zöglinge das Mitleid eines jeden Menschenfreundes« (118) erregen. Die Einrichtung solcher abschirmender Internate widerspreche den Bedürfnissen der Zeit, da sich doch gegenwärtig immer mehr Stimmen erhöben gegen die »zunehmende Schwächlichkeit und Entnervung des menslichen [!] Geschlechts« (118) und es jetzt darum gehen müsse, »die ätiologischen Momente« des Verfalles von Körperkraft und Gesundheit der Menschen ausfindig zu machen.

  Im Königreich Sachsen, so betont der Arzt nun, spürbar um diplomatisches Geschick bemüht, bevor er mit seinen kritischen Ausführungen detailliert fortfährt, stehe »das Schulwesen im Allgemeinen auf einer weit höheren Stufe, als in manchem anderen Staate« (118), deshalb sei auch die Volksbildung höher, und zwar sei dies so »Dank der Intelligenz und Humanität der Schulbehörden« - hierzu muß man wissen, daß die Zeitschrift, in der Dr. Pfaff dies alles schrieb, im Berliner Verlag von Julius Springer erschien, also nicht in Sachsen, sondern in Preußen! Die sächsischen Volksschulen seien zwar gelegentlich überfüllt und manchmal auch schlecht belüftet, ansonsten aber durchaus zweckmäßig eingerichtet, auch die Gymnasien und Realschulen medizinalpolizeilich kaum zu beanstanden - aber bei den Internaten, und hier vor allem


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»den sächsischen Schullehrer-Seminaren« (119), da liege doch einiges im argen, »was durchaus nicht gut geheissen werden« könne; hier bestehe für die Behörden nämlich geradezu »die Verpflichtung, (...) sachgemäße Abänderungen« zu treffen.

  Nach diesen allgemeinen Erörterungen wird Dr. Pfaff konkret. Er faßt nun »eine dieser Anstalten«, die ihm, wie man sehen wird, genauestens bekannt ist, »speciell in's Auge« - nämlich eben das SchullehrerSeminar in Plauen. Und die Verhältnisse dort spotten - nicht nur nach heutigen Maßstäben - jeder Beschreibung. »Die Anstalt hat gegenwärtig 92 Zöglinge, welchen zur Hauptsache 3 Zimmer als Wohn-, Arbeits- und Unterrichtszimmer zugleich angewiesen sind.« (119) Der Arzt gibt die Längenmaße dieser drei ungefähr quadratischen Zimmer mit universeller Funktion genau an - sie sind alle etwa sechs Meter lang und breit sowie vier Meter hoch - und stellt fest: »Die Seminaristen befinden sich von früh 5 1/2 bis nach 9 Uhr Abends mit nur kurzen Unterbrechungen in einem und demselben engen Raume« (119), wobei im Winter, wenn aufgrund der strengen Kälte die Fenster nicht geöffnet würden, von »einer angemessenenen Ventilation keine Rede« sein könne. Zwar würden die Schüler in einzelnen Fächern gelegentlich in anderen Räumlichkeiten unterrichtet, und auch für die Mahlzeiten gebe es einen Speisesaal; doch die 21 Seminaristen der ersten und zweiten Klasse, die 27 Schüler der dritten und vierten Klasse sowie die 34 Proseminaristen müßten sich »in den erwähnten Wohn-, Schul- und Arbeitszimmern (...) tagtäglich durchschnittlich 12 Stunden lang aufhalten«. Das unter hygienischen Aspekten katastrophale Ergebnis eines solchen beengten Beisammenlebens beschreibt der Arzt anschaulich: »Kommt man des Abends in einen dieser mit allerhand menschlichen Ausdünstungen imprägnierten Räume, so hält man sich fast unwillkürlich für die ersten Augenblicke das Taschentuch vor die Nase, ein Gefühl des Mitleids gegen die blassen jungen Leute, welche diese Luft Tag für Tag einathmen müssen bemächtigt sich der Seele und man fragt sich: Ist es möglich, dass die jugendlichen Organismen sich hier normal entwickeln können?« (119f.)

  Dem Mangel an frischer Luft korrespondiert der Bewegungsmangel. Die vormittags fünf bis sechs und nachmittags ebenfalls fünf bis sechs Stunden, die die Schüler in denselben Räumen verbringen müssen, werden zwar von gelegentlichen Aufenthalten im Freien unterbrochen, doch bei ungünstiger Witterung fällt auch diese Erholung weg: »Denn Turnhallen sind meist nicht vorhanden und da es auch meistens, wie in der oben erwähnten Einrichtung [Plauen!], an einem geräumigen Saale fehlt, in welchem die Zöglinge sich angemessene körperliche Bewegung machen können, so bleiben die jungen Leute auch während der Freistunden in ihren engen Schulräumen und es verlängert sich demnach der tägliche Aufenthalt in denselben von 12 bis auf 16 Stunden.« (121f.)


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Bei ungünstiger Witterung, die im Winter bekanntlich bis zu acht oder vierzehn Tagen anhalten könne, müßten »die Zöglinge förmlich stubensiech werden« (122).

  Mit einer abschließenden, etwas überraschenden Volte - von der man als heutiger Leser durchaus den Eindruck haben kann, diese letzte Seite des Aufsatzes von Dr. Pfaff sei dessen eigentlicher Inhalt bzw. ein wirksam präsentierter ›Skandal‹, der den zuvor vorgebrachten Argumenten möglichsten Nachdruck verleihen soll - wendet sich der Arzt nun, außer dem Belüftungs- und Bewegungsmangel, noch einem anderen ›Problem‹ zu. Gegen Internate müßten nämlich auch deshalb gewichtige Bedenken vorgebracht werden, weil »durch das enge Beisammenwohnen junger Leute sexuelle Verirrungen leicht einreissen« (122)! Was damit gemeint ist, wird nun in einer verklausulierten, mit lateinischen Zitaten unterfütterten Sprache ausgeführt, deren Sinn für die Zeitgenossen - nicht zuletzt durch die stereotype Verwendung bestimmter Formulierungen - gleichwohl völlig eindeutig war. »Wenn aber in solchen Anstalten von den Knaben, die denselben blühend übergeben wurden, einer nach dem anderen langsam verwelkt, so kennt der Arzt die Ursache, der aufmerksame Lehrer ahnt sie. Es ist die geheime, traditionelle, furchtbar contagiöse Krankheit, die wie ein Fluch auf dem Systeme des engen Beisammenwohnens junger Menschen ruht, es ist die ansteckende Krankheit, deren Träger des Contagiums das Internat selber ist, und die nicht unwesentlich zur Entnervung des Menschengeschlechts beigetragen hat« (122f.) - gemeint ist natürlich die sexuelle Selbstbefriedigung, die Onanie, auch wenn Dr. Pfaff dies so offen in seinem Artikel nicht ausspricht. Zweiflern hält der Arzt entgegen, er habe persönlich »den bravsten, wahrheitsliebendsten und offensten jungen Mann« als Zeugen befragt, von diesem eine »freimüthige Anwort« erhalten und damit »einen Blick in das innere Wesen der Anstalt« getan.

  Was im vorliegenden Zusammenhang die Beobachtungen des Arztes natürlich besonders bedeutsam macht, ist die Tatsache, daß zu jener Zeit, für die Dr. Pfaff das sächsische Lehrerseminar zu Plauen so eindringlich beschreibt, auch der achtzehnjährige Karl May dort die zweite und später die erste Klasse besuchen sollte. Schon früher hatte Pfaff die mangelhafte Beleuchtung der Arbeitszimmer im Seminar beanstandet, woraufhin die »Anschaffung noch einiger Lampen« beschlossen worden war. In seinem Bericht für das Jahr 1859 an die Kreisdirektion wendete sich der Arzt gegen das fortgesetzte Sitzen der Seminaristen »auf den schmalen, eng beisammen stehenden Schulbänken«. Er forderte »die Einführung eines täglich mindestens einstündigen gymnastischen Unterrichts« sowie gesonderte, vom Wohnbereich getrennte Arbeitszimmer.3


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II. Die Untersuchung


Die Kreisdirektion in Zwickau, als übergeordnete Behörde, nahm den Bericht des Arztes ernst - auch wenn sie sich nicht enthalten konnte, daran »eine gewisse Creativität« zu rügen. Pfaffs Vorwürfe zum Belüftungs- und Bewegungsmangel waren nämlich Wasser auf ihre Mühlen, forderte sie doch schon seit einiger Zeit vom sächsischen Kultusministerium eine Turnhalle sowie Bewegungs- und Aufenthaltsmöglichkeiten für die Seminaristen. Seither galt der Beschaffung weiterer Räumlichkeiten, einer Vermehrung des Turnunterrichts und besserer Ventilation in Plauen erste Präferenz. Zu einer Verdoppelung des Raumangebots kam es 1864 durch einen Neubau, eine Turnhalle wurde 1865 eingeweiht. Doch vor allem Pfaffs Vorwurf, die Zöglinge in Plauen oblägen »sexuellen Verirrungen«, alarmierte die Behörde; sie ließ deshalb verschiedene Untersuchungen anstellen, um dem Phänomen auf die Spur zu kommen. Was eines ihrer Mitglieder, Kirchenrat Gotthilf Ferdinand Döhner, ihr daraufhin in einem achtseitigen Bericht unterbreitete, war in der Tat bemerkenswert.

  Döhner fuhr am 26. August 1860 nach Plauen und befragte zunächst den Seminardirektor Johann Gottfried Wild (1802-1878) »bezüglich der angeblich herrschenden Seuche«.4 Der Seminarleiter war ahnungslos; zwar sei ihm vor einigen Jahren einmal »ein der Onanie verfallener Seminarist bekannt geworden«, dieser sei jedoch, da »ein ohnehin verdorbenes Subject«, von der Anstalt entfernt worden. Am nächsten Tag sucht Döhner den Bezirksarzt Dr. Pfaff persönlich auf und erfährt von diesem, daß »die fragliche Sache in fast beklagenswerther Weise unter einer großen Menge der Seminaristen herrschend« sei. Der Arzt kann dem Geistlichen sogar den Brief eines Proseminaristen vorlesen - des in seinem Artikel erwähnten »wahrheitsliebenden (...) jungen Mannes« -, in dem dieser »eine Schilderung des eingerissenen Verderbens, jedoch nur im Allgemeinen, und ohne nähere Angabe über die der Onanie verfallene Zöglingszahl« gibt. Der Arzt hatte sich selbst, um weitere Klarheit zu gewinnen, an einen anderen Seminaristen gewendet und von diesem eine regelrechte Tabelle mit Angabe der Namen derjenigen Zöglinge erhalten, »die Onanisten seien«, und zwar getrennt in Mitschüler, bei denen sich der Berichterstatter sicher sei (»Wirkliche«), und solche, für die er es vermute (»Muthmaßliche«). Diese Tabelle legt der Arzt dem Kirchenrat nun vor.


ZahlWirklicheMuthmaßl.
Seminar Cl.I10  5  2
   "   "   II11  7  2
   "   "   III23  8  7
   "   "   IV20  4  6





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Der Geistliche empfindet die in diesen Rubriken zum Ausdruck kommenden Resultate als »schauderhaft«: auf 64 Seminaristen der Klassen eins bis vier kommen demnach 41 »wirkliche resp. muthmaßliche Onanisten«.

  Nunmehr schreitet der Kirchenrat zur Inspektion der Räumlichkeiten. Da dem erwähnten Brief zufolge »der Ort der traurigen Verirrungen vorzüglich der Schlafsaal sein soll«, werden dort, mit tätiger Unterstützung des hilfsweise herbeigerufenen Oberlehrers und Vizedirektors August Wilhelm Kühn (1826-1895), die Betten untersucht: »wobei wir 3 derselben befleckt fanden«. Dieses gegenüber den von der Tabelle nahegelegten Zahlen unerwartet niedrige Resultat gibt zu weiterführenden Überlegungen Döhners Anlaß, in denen Funktion und Möblierung der Schlafsäle eine bedeutsame Rolle spielen: »Möglich bleibt übrigens, daß der Briefeschreiber den Schlafsaal nicht gerade als Ort nächtlicher Verirrungen hat bezeichnen wollen; denn auch bei Tage kann er wegen der in der Reihe aufgestellten Schränke von den Seminaristen leicht dazu aufgesucht werden, wie ich denn wirklich auch einige darin fand«.

  Nun wird unter Beteiligung sämtlicher Seminarlehrer eine Konferenz abgehalten. Dabei kommen zwar einzelne Fälle von Onanie, die »vor längerer Zeit« geschehen seien, zur Sprache; doch als der kreisbehördliche Inspizient seine umfänglichen Mitteilungen macht, ist man »verwundert und erstaunt« - weder dem Seminardirektor Wild noch dem Lehrerkollegium hatte der Bezirksarzt Pfaff seine Kenntnisse zuvor mitgeteilt. Nach längerer Diskussion über die Glaubwürdigkeit des jugendlichen Briefschreibers kommt man überein, dem Untersuchungsbeamten noch einen anderen, »völlig zuverlässigen, unbescholtenen und wahrheitsliebenden Seminaristen« als Kronzeugen anzugeben. Die Wahl fällt einstimmig auf einen Seminaristen der zweiten Klasse namens Sparschuh, einen »höchst liebenswürdigen, auch von seinen Mitschülern sehr geliebten Jüngling«. Der Kirchenrat spricht längere Zeit allein mit dem Schüler Sparschuh und erfährt von diesem, daß »wohl an die Hälfte, wie er sich ausdrückte, des Seminars der Onanie verfallen« seien. Darunter gebe es viele, die »in ihren Herzen zerrüttet seien« und ihm gegenüber »jammern und alles Leid beseufzen«. Einer seiner Mitschüler habe »sich ihm schriftlich entdeckt«, woraufhin er, »wiederum schriftlich, weil er sich schäme, dergleichen Dinge zu besprechen«, diesem davon abriet; und tatsächlich habe er von ihm »jüngst die Versicherung erhalten (...), daß ›er es nicht mehr tue‹.« Nachdem der Kirchenrat nun seinerseits den besorgten jungen Mann eindringlich ermahnt hat, sich auch weiterhin in solcher Weise »seiner gefallenen Commilitonen anzunehmen« und sich zu diesem Behufe auch »mit andern guten Seminaristen« zu »verbinden«, wird er mit einem Segen entlassen. Abschließend wird Oberlehrer Kühn von dem Kirchenrat angewiesen, »in der von mir angebahnten Weise noch wei-


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tere Erörterungen anzustellen und unter Zuziehung der besseren und unbefleckt gebliebenen Jünglinge so viel wie irgend möglich auf die Besserung der Onanisten (...) zu wirken«.

  In seinem Schreiben an die Kollegen der Kreisdirektion, das er am nächsten Tag verfaßt, rät Döhner dringend davon ab, gegen die onanierenden Schüler »irgendwie strafend oder auch nur inquisitorisch zu verfahren«. Er meint, daß deren Mehrzahl »das Elend und schimpflichen Zug fühlen, unter dem sie seufzen, und sich nach Hilfe sehnen«, welche aber »nur in seelsorglicher Weise geboten« sei, und zwar nicht nur durch die Lehrer, sondern auch »durch den besten Theil der Seminaristen selbst«, die er hierzu herangezogen wissen will. Damit »dem jetzt eingenisteten Uebel nach und nach gesteuert werden« kann, hält der Kirchenrat jedoch weitere konkrete Maßnahmen für nötig, die insgesamt auf eine Erweiterung der Bewegungsmöglichkeiten der Schüler hinauslaufen. Die räumlichen »Quantitäten« müssen aufgestockt werden; außerdem fordert er die früher schon öfter erbetene Anlage von Lauben auf dem Gelände des Seminars sowie die Erbauung eines Kegelschubes: »zu erheiterndem Aufenthalt in demselben sommerseits, Gelegenheit zum Turnen während des Winters«. Darüber hinaus seien »öftere Spaziergänge« geboten, vor allem »in sonntäglichen Nachmittagsstunden«, sowie schließlich insgesamt »eine größere Freiheit im Ausgehen« für die Schüler.

  Die Kreisdirektion sendet diesen Bericht ihres Mitglieds Döhner, zusammen mit einer weiteren statistischen Untersuchung des Oberlehrers Kühn sowie dem Artikel Pfaffs, an das sächsische Kultusministerium mit der Bitte um weitere Instruktionen. In ihrem Begleitschreiben5 zeigt sich die Kreisdirektion zerknirscht über das »höchst traurige und mehrfach beklagenswerthe« Resultat ihrer Untersuchungen - in die die 28 Proseminaristen Plauens noch nicht einmal mit einbezogen seien - und schlägt zwei Punkte als Problemlösung vor. Zum einen unterstützt sie die Forderung Döhners nach der Anlegung von Lauben und eines Kegelschubes, sie wünscht sich darüber hinaus die »baldigste Erbauung einer Turnhalle«; zum anderen will sie von Strafmaßregeln und Ausschlüssen von Schülern aus dem Seminar absehen, da es nur durch die »Zusicherung ihrer Straflosigkeit gelungen ist, sie zu offenen Geständnissen zu bestimmen«. Denn »das Uebel« habe das Seminar »noch nicht soweit moralisch vergiftet«, daß nicht doch eine »zu versuchende Rettung der Gefallenen« möglich sei, zumal »der bessere Theil« der Zöglinge die Gefallenen bemitleide und ihnen helfen wolle. Bei »ernster väterlicher Zucht und Ueberwachung« sei deren Rettung möglich. Im übrigen möge das hohe königliche Ministerium erwägen, ob in dieser Sache nicht eine Information der Direktoren der anderen Schulen und Seminare ratsam sei.


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III. ›Problem‹ und Lösungsversuche


Die Antwort des Kultusministeriums an die Kreisdirektion mit Datum vom 10. Oktober ist nicht überliefert.6 Die Onanisten-Tabelle des Oberlehrers Kühn, die dieser »auf Grund fortgesetzter Nachforschungen« erstellte, bestätigt und präzisiert jedenfalls die Angaben des Bezirksarztes deutlich.7 Kühn hat ebenfalls nur die vier Seminarklassen befragt; man erwägt jedoch, ihn damit zu beauftragen, »seine Nachforschungen in vorsichtiger Weise« auch auf das Proseminar auszudehnen. Kühn geht von 63 Zöglingen aus. Von diesen haben 34 »das Laster der Selbstbefleckung« während ihres Aufenthaltes im Plauener Seminar nicht getrieben, während 29 »längere oder kürzere Zeit sich befleckt« haben. Von den vierunddreißig zuerst Genannten seien 25 »ganz rein geblieben«, während 9 »vor ihrem Eintritt ins Seminar« nicht frei davon waren, dies aber »bei ihrer Aufnahme bereits überwunden« hatten. Von diesen neun jetzt Bekehrten hätten 3 das Laster »als Knaben in Albernheit getrieben«, einer sei »von Nachbarskindern verführt« worden, die beiden anderen »wußten eine erste Veranlassung nicht anzugeben«; einer habe es auf dem Gymnasium in Plauen getan, einer sei in der Bürgerschule in Plauen und zwei auf der Bürgerschule in Zwickau »durch Mitschüler verführt« worden, ein weiterer habe auf dem Seminar zu Woltersdorf onaniert, der letzte schließlich sei »durch Erwachsene verführt« worden.

  Auch die 29 aktuell tätigen Onanisten des Seminars hat Oberlehrer Kühn selbstverständlich genauer befragt und klassifiziert. Von diesen neunundzwanzig haben 17 das Laster erst im Seminar »zu treiben angefangen«, und zwar hat auch bei ihnen meist »thatsächliche Verführung stattgefunden«. Von den 12 Schülern, die die inkriminierte Sache schon bei ihrer Aufnahme »an sich« hatten, haben 3 sie aus der Bürgerschule zu Plauen mitgebracht, 2 aus dem dortigen Gymnasium bzw. der Realschule, jeweils einer aus den Schulen zu Breitenbrunn und Adorf (wobei der letztere dazu angab, in Adorf sei »beinahe die ganze erste Knabenklasse diesem Laster ergeben gewesen«), 3 hatten es »aus dem Vaterhause« mitgebracht, einer aus Elsterberg - und einer schließlich »aus der Schule zu Ernstthal u. dem Seminar zu Waldenburg«.

  Mit dem letztgenannten Schüler kann nach Lage der Dinge nur einer gemeint gewesen sein: der Seminarzögling Karl May. Er war der einzige Schüler des Plauener Seminars, der aus Ernstthal stammte und auch das Seminar in Waldenburg besucht hatte.

  Die Seminarlehrerschaft zu Plauen beschäftigte sich auch in den nächsten Monaten weiterhin eingehend mit dem ihr so unerwartet zum Problem gewordenen Sachverhalt. Oberlehrer Kühn, der zugleich Leiter des Proseminars war, in dem jüngere Schüler auf die vier Klassen des eigentlichen Seminars vorbereitet wurden, befragte nun auch noch sei-


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ne 35 Proseminaristen und gelangte - unweigerlich, möchte man sagen - zu ganz ähnlichen Ergebnissen, die er dann ebenfalls in einem eigenen Bericht nebst anliegender Tabelle zusammenfaßte.8 Danach waren 12 Proseminaristen geständig, in Plauen onaniert zu haben,9 davon hatten es »mitgebracht«, 3 »in der Anstalt (...) zu treiben angefangen«; von den 23, die »sich nicht befleckt« hatten, hatten 19 »das Laster (...) niemals getrieben«, während 4 es »in ihrer Kindheit« getan hatten, aber nach ihrem Eintritt in die Anstalt »geheilt worden« waren. Als Anlaß geben viele »Verführung« an, und zwar durch Mitschüler oder Erwachsene; auch Einzelheiten weiß der Oberlehrer aufzuführen, denn diese Verführung sei dadurch geschehen, daß die Ahnungslosen »die Ausübung des Lasters bei ihnen« - nämlich den Kundigen - »gesehen, oder daß sie unzüchtige Reden von ihnen gehört, oder daß sie von ihnen dazu überredet worden seien und man es ihnen vorgemacht habe.«

  Damit hatte Kühn, freilich unwillkürlich, einen kleinen Katalog menschlichen Lernens ganz allgemein vorgelegt: Anschauung, Neugier, Nachahmung. Auch zu den Räumlichkeiten, wo im Plauener Seminar »das Laster getrieben« wurde, weiß der Lehrer kenntnisreich Auskunft zu geben: denn es »wurden insbesondere Bett und Abtritt, von einem auch der Oberboden genannt«.

  Seminardirektor Wild mußte am Ende des Jahres 1860 notgedrungen den größten Teil seines jährlich abzuliefernden Rechenschaftsberichtes den »traurigen sexuellen Verirrungen« seiner Schüler widmen.9 Dabei nahm er zu der leidigen Angelegenheit die bereits von der Kreisdirektion gegenüber dem Ministerium eingeschlagene Marschroute auf - vorsichtige Deeskalation der Situation nach außen (Verzicht auf Bestrafung) -, ergänzt durch »konsequente« Maßnahmen nach innen (»seelsorgliche« Behandlung). Wild hätte auch kaum ernsthaft mehr als die Hälfte seiner Schüler des Seminars verweisen können, ohne ein beträchtliches Aufsehen zu erregen. Schließlich hatte Bezirksarzt Dr. Pfaff, wie schon im Bericht der Kreisdirektion an das Ministerium gerügt worden war, seine Wahrnehmungen direkt »in einer verbreiteten ausländischen Zeitschrift« - nämlich, wie gesagt, einer preußischen - publiziert, statt zuvor dem Seminardirektor und der vorgesetzten Konsistorialbehörde davon Mitteilung zu machen. Die Sache mußte jetzt, nachdem sie einmal angestoßen war, konsequent ihren behördlichen Gang gehen; eine interne Regelung, ein Unter-den-Teppich-Kehren war nicht mehr möglich. Das ist zwar ein ausgesprochener Glücksfall für die biographische, kulturhistorische und sexualwissenschaftliche Forschung, denn Quellen aus erster Hand sind für diese Zeit äußerst rar; allerdings war es sicher auch eine bittere Pille für Seminardirektor Wild, die dieser notgedrungen schlucken mußte, denn im Verständnis der Zeitgenossen stand nicht weniger als der gute Ruf seiner Anstalt und vor allem der pädagogischen Fähigkeiten des gesamten Kollegiums


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in Frage. Freilich hatte schon seine vorgesetzte Behörde in ihrem Bericht an das Kultusministerium die Pädagogen vorbeugend in Schutz genommen, indem sie - in reichlich gewundener Formulierung - schrieb, dem Kollegium dürfte »daraus, daß es nicht schon früher das so weit um sich gegriffene Verderbniß erkannt hat, ein Vorwurf wohl nicht zu machen sein«.

  Direktor Wild persönlich läßt alle ertappten bzw. geständigen Onanisten - das waren einschließlich der Proseminaristen über 50 Schüler, darunter auch der achtzehnjährige Karl May - zu Einzelgesprächen zu sich kommen, »um dem Uebel zu steuern und die Gefallenen mit Gottes Hilfe zu retten«. Er setzt dazu außerdem auf »fortgesetzte Beobachtung und sorgfältige Beaufsichtigung der Zöglinge« sowie auf »mehrmaliges Erinnern an die Heiligkeit des 6. Gebotes« und auf »eindringliche Warnungen vor der fraglichen Versündigung«. Die Schilderung des Erfolgs seiner »seelsorglichen« Bemühungen an die vorgesetzte Behörde mußte Direktor Wild allerdings in sehr vorsichtige - um nicht zu sagen nebulöse - Worte fassen; der heutige Leser kann durchaus den Eindruck gewinnen, als habe der erfahrene Pädagoge seinen eigenen Beteuerungen nicht so ganz getraut. »Mehrere erklärten«, schreibt er, »daß sie wohl früher, aber im Seminar nie in dieser Beziehung sich vergangen hätten; die Andern betheuerten, daß sie, seitdem sie zur Erkenntniß der Verwerflichkeit u. Schändlichkeit der Verirrung gekommen seien, sich fest vorgenommen hätten, sich nie wieder in der Art zu versündigen, und daß sie diesem Vorsatze bisher treu geblieben seien«.

  Die Schüler müssen jeder, und zwar mehr als einmal, »mit ihres Namens Unterschrift« bestätigen, daß sie die diesfälligen Ermahnungen entgegengenommen haben und ihre Versprechen, sich zu bessern, »als im Angesichte Gottes gegeben« betrachten. Sie werden »eindringlich ermahnt, ohne Unterlaß zu wachen u. zu beten, um nicht wieder auf den Weg des Verderbens zu geraten«. Zusätzlich zu diesen Maßnahmen des Direktors werden die Schüler nun auch von »sämmtliche(n) Collegen (...) genau beobachtet«, außerdem wird »in den Lectionen öfter« vor der betreffenden Verirrung gewarnt, und auch die Lehrer versuchen »einzelne Verdächtige durch Einzelgespräche zur Vermeidung der Sünde« zu bewegen. Außerdem wird zu einer systematischen Bespitzelung durch andere Mitschüler aufgerufen, die zu Verrat und Bruch der Solidarität mit ihren Lerngefährten und Altersgenossen aufgefordert werden. Einige der älteren Seminaristen, die »ihre Reinheit betheuerten« - sie werden namentlich aufgeführt, Karl May ist nicht dabei -, sollen »ihre Mitschüler (...) unterstützen«, sich »der Gefallenen nach Christenpflicht in brüderlicher Liebe« annehmen, und darüber hinaus entsprechende »Wahrnehmungen zur Kenntnis des Direktors oder des Lehrercollegiums (...) bringen«.


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  Als Problembewältigungsstrategie nach innen wird von Direktor und Lehrerschaft also ein umfangreiches Maßnahmenpaket geschnürt; es reicht von Einzelbefragungen und Wiederholung der Befragung, Einzelermahnungen, teils mit Unterzeichnen eines ›Keuschheitsvertrages‹, bis zu kollektiver Ermahnung und täglichem Erinnern, wiederholten Gebeten und schließlich zu Überwachung und Verrat durch Mitschüler. Denkbar sind zudem die bereits erwähnten Bettenkontrollen sowie die damals üblicherweise empfohlenen ›Vorbeugemaßnahmen‹ wie verstärkte sportliche Betätigung oder kalte Bäder. Das war natürlich insgesamt das Maßnahmenpaket einer repressiven, christlich durchdrungenen und zutiefst sexualfeindlichen Gesellschaft, die keinerlei Respekt vor der Individualität ihrer jungen Bürger hatte und vor der Unverletzlichkeit ihrer Intimsphäre. Ob irgendeine dieser Maßnahmen mehr bewirkt hat als eine fortgesetzte und tiefsitzende Verängstigung der Schüler sowie eine weitreichende und möglicherweise tief verwundende Stigmatisierung des Sexuellen überhaupt, muß heftig bezweifelt werden. Gegen menschliche Grundtriebe ist mit Gebeten genauso wenig anzukommen wie mit Fasten gegen Hunger.

  Insgeheim mag das der Direktor Wild ebenfalls so gesehen haben. Denn was den Erfolg aller dieser Maßnahmen angeht, so gibt er sich gegenüber seiner vorgesetzten Behörde auffallend - und auch auffallend verklausuliert - kleinmütig. So hatten ja, für die Klassen eins bis vier, von 63 Seminaristen nahezu zwei Drittel, nämlich 38, zugegeben, schon einmal masturbiert zu haben; davon outeten sich aber ›nur‹ 29 als derzeit tätige Onanisten, also etwas weniger als die Hälfte. In seinem Jahresbericht schrieb Wild nun, es seien aufgrund der beschriebenen Maßnahmen »in der letzten Zeit keine bezüglichen Wahrnehmungen gemacht« worden, beziehungsweise man habe »die Ueberzeugung gewonnen (...) , daß wenigstens die Mehrzahl gegenwärtig das Laster nicht mehr betreibt.« Also die »Mehrzahl« - dies war aber, s. o., streng genommen auch vorher schon der Fall gewesen.

  Direktor Wilds Schreiben an die Kreisdirektion war mithin nichts anderes als eine als Erfolgsbericht getarnte Kapitulation vor der menschlichen Natur. Sein finaler Seufzer im Jahresbericht zu dieser Sache unterstreicht das (ungewollt?): »Möge der Geist Gottes die Gebesserten vor jedem Rückfall künftig bewahren.« Seiner vorgesetzten Behörde wiederum, der Kreisdirektion, blieb in ihrem Bericht an das Ministerium nur ein fragwürdiger ›Triumph‹: nämlich die Gewißheit, daß sich die Onanie-Debatte, anders als Dr. Pfaff behauptet hatte, durchaus nicht als Argument gegen die Institution der Internate verwenden ließ. Hatten doch die Untersuchungen Kühns im Proseminar zweifelsfrei ergeben, daß »das Uebel« auch »anderwärts weiter verbreitet ist, als man gewöhnlich annimmt«, und also »geschlossene Anstalten es nicht allein erzeugen« - denn von den Proseminaristen be-


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wohnte kein einziger das Anstaltsgebäude, sondern »in der Stadt zerstreute Privatwohnungen«!

  Besonders auffällig an dem vorliegenden Fall ist für den heutigen Leser, daß in keinem der Berichte und keiner Tabelle jemals deutlich zur Sprache kommt, warum genau die Masturbation ein solches Problem sein soll. Hätten diese hochbesorgten Lehrer, fragt man sich unwillkürlich, die armen Jungs nicht einfach in Ruhe ihrem harmlosen Hobby nachgehen lassen können? Doch eine solche Sichtweise übersähe die teils schwerwiegenden religiösen und ›wissenschaftlichen‹ Einwände, die viele Zeitgenossen damals immer noch gegen die Masturbation vorbrachten. Die Onanie-Debatte zog sich, wie wir sehen werden, in den sechziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts bereits seit hundert Jahren hin, und es waren vor allem Pfarrer, Lehrer und Mediziner - eben die beteiligten Berufsgruppen auch am hier geschilderten ›Casus‹ -, die sich immer wieder rege an dieser Diskussion beteiligten.

  Der wiederholte Hinweis auf das ›6. Gebot‹ in den Berichten Wilds und Kühns macht deutlich, daß es sich bei der Masturbation im christlichen Verständnis um eine ›Sünde‹ handelte. Noch heute werden beispielsweise, wie das folgende Zitat belegt - wobei besonders auf den uns später noch beschäftigenden Zusammenhang mit ›Lektüre‹ hingewiesen sei -, in einschlägigen katholischen sogenannten ›Beichtspiegeln‹ reuige Sünder zur Masturbation befragt: »Wahre ich den Anstand bei der Wahl meiner Lektüre, der Filme und Lokale, die ich besuche (...)? Oder lasse ich mich treiben und von der sexuellen Begierde beherrschen? (...) Habe ich die Selbstbefriedigung gesucht? (...) Habe ich den Schöpferwillen beachtet? (...) Respektiere ich die gottgewollte Ordnung auch gegenüber den Menschen des gleichen Geschlechts? (...)«.10 Die Gewißheit des ›Sündigen‹ der Selbstbefriedigung war auch im 19. Jahrhundert in einer christlich-kirchlich geprägten Gesellschaft vielen so selbstverständlich, daß keiner der aktiv Beteiligten an der Plauener Untersuchungsaktion das eigene Tun, etwa auch die moralische Zulässigkeit der intensiven Befragungen, mit denen ganz selbstverständlich in die Intimsphäre der Schüler eingedrungen wurde, oder auch die schon fast grotesken Rechercheergebnisse und ihre Tabellierung, irgendwie in Frage stellte. Es war Sünde, basta. Nur vielen der Schüler war das nicht klar gewesen: ihnen mußte erst, wie der Direktor ebenfalls seufzend betont, mühsam eingeimpft werden, daß das, was sie bis dahin als entspannendes Vergnügen geschätzt hatten, eine verwerfliche Handlung sei, ja daß sie damit angeblich sogar gegen ein ›Gebot Gottes‹ verstießen.

  Neben den religiösen Einwänden wurden, vor allem von ärztlicher Seite, wie wir noch sehen werden, häufig medizinische Argumente gegen die Selbstbefriedigung angeführt. Schon Bezirksarzt Dr. Pfaff sprach ja von Ansteckung (»Contagium«), Seuche, Krankheit und


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»Entnervung«. Insofern war seine Publikation dieses Falles in einer der neuen Zeitschriften zur ›Hygiene‹ - die gerade erst von Leuten wie Robert Koch, Max Pettenkofer oder Rudolf Virchow als wichtiges Problem für die individuelle und kollektive Gesundheit erkannt worden war11 - nur konsequent gewesen.



IV. Die Jugend des Ich-Erzählers


»Wer einen Knaben seinen Busenfreund nennt,
ist selbst noch ein Knabe; das merke dir.«
Karl May: »Weihnacht!«12


Für einen sensiblen und sowieso schon äußerst verunsicherten jungen Mann - wie Karl May es damals mit ziemlicher Sicherheit gewesen ist - müssen die Vorkommnisse auf dem Lehrerseminar Plauen schrecklich demütigend gewesen sein, zugleich beschämend und zutiefst angsterregend. Denn auch ihn betrafen die geschilderten Vorkommnisse; und zwar vermutlich - angesichts des ihm kurz zuvor widerfahrenen Rauswurfs aus dem Seminar in Waldenburg, wegen des ominösen ›Kerzendiebstahls‹ - in einer ganz besonders beängstigenden und verunsichernden Weise. Denn May war, das mußte ihm klar sein, als mit dieser ›kriminellen‹ Vorgeschichte neu hinzugekommener Seminarist, im Falle eventueller exemplarischer Bestrafungen sicher das schwächste Glied in der Kette. Ein neuerlicher Ausschluß stand für ihn also durchaus zu befürchten; die Tatsache, daß die Kreisdirektion dem Ministerium von ›Exklusionen‹ abriet, belegt ja nur zusätzlich, daß dies die gängige und auch früher schon praktizierte Problemlösung war.

  Direktor Wild hatte in seinem Jahresbericht die Ankunft des späteren Schriftstellers eigens erwähnt: »Zufolge Hoher Verordnung vom 16. Mai trat am 2. Juni der vormalige Waldenburger Seminarist Karl Friedrich May aus Ernstthal als Zögling in die Anstalt ein.«13

  Man kann sich lebhaft vorstellen, wie sehr die leidige Angelegenheit das Seminar fast ein halbes Jahr lang, etwa zwischen August und Dezember 1860, in Atem gehalten hat. Zwar wird in den verschiedenen Berichten immer wieder die Vorsicht und Behutsamkeit betont, mit der man vorgegangen sei. Doch wurden immerhin mehr als einhundert Schüler von Oberlehrer Kühn einzeln befragt, manche sogar mehrmals; danach ließ zusätzlich Seminardirektor Wild alle jene, die »die Sünde eingestanden hatten«, bei sich erscheinen - also einschließlich der Proseminaristen 54 Schüler! -, und zwar »nach und nach einzeln«, und sogar »manche zu wiederholten Malen«. Es haben also, alles in allem, in einem Zeitraum von fünf Monaten wohl an die zweihundert Sitzungen, Gespräche und Ermahnungen stattgefunden; es wurde ein investigatorischer Aufwand betrieben, der, wie oben gezeigt, in keinem Verhältnis


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zum erreichten Ergebnis gestanden haben dürfte, der aber unter der Schülerschaft des Seminars bestimmt für erhebliche Verunsicherung und Wirbel gesorgt hat und manche - nun aus anderem Grund - durchwachte Nacht. Angst ging um, ein Klima der Denunziation herrschte, dazu kamen Scham und tiefe Verletztheit. Bei einem Autor wie Karl May, der später nachweislich immer wieder und beinahe systematisch eigene Erlebnisse in seinen Geschichten ver- und umarbeitete - vor allem pflegte er demütigende oder entwürdigende Situationen in grandiose Erfolgsgeschichten umzuschreiben -, wäre es schon sehr merkwürdig, wenn sich nicht auch diese gravierende Episode in seinem umfangreichen literarischen Werk gespiegelt wiederfände. Und tatsächlich ist das auch der Fall; nur hat dies bislang kein Interpret erkannt, beziehungsweise, wo es doch der Fall war, hat man vorgezogen, darüber nicht zu schreiben.

  In erster Linie sind es zwei Texte Karl Mays, die für eine nähere Betrachtung der Plauener Episode in Betracht kommen. Dies ist erstens die sog. ›Einleitung‹, nämlich der in Deutschland spielende, mehr als hundert Seiten umfassende Anfang des bemerkenswerten Wildwestromans ›»Weihnacht!«‹ (aus dem Jahr 1897), und zweitens die erst vor wenigen Jahren aufgefundene Lektüre-Polemik ›Ein wohlgemeintes Wort‹ (von 1882). Darüber hinaus sind grundsätzlich alle späteren Aussagen Mays zur Sexualität und sexuellen Belangen, soweit sie dingfest gemacht werden können, von Bedeutung; ich denke besonders an die diversen Charakterisierungen seiner ersten Frau, Emma Pollmer, vor allem in dem Werk ›Frau Pollmer, eine psychologische Studie‹.



1. Beim ›Alten‹


Zunächst zum Beginn des ›»Weihnacht«‹-Romans: Üblicherweise wird diese Episode, wenn die May-Biographik sie überhaupt zur Kenntnis nimmt, der Waldenburger Zeit zugeordnet.14 Und es mag tatsächlich sein, daß sich in diesem Romananfang  a u c h  Situationen aus Waldenburg spiegeln, etwa einzelnes der bekannten Kerzenepisode, die ja laut May zu Weihnachten sich abgespielt haben soll, während die hier beschriebenen Plauener Vorgänge ihrerseits an Weihnachten 1860 bereits weitgehend abgeschlossen gewesen sein dürften; daß jedoch das überwiegende biographische Sickergut der ›»Weihnacht!«‹-Episode aus der Plauener Zeit stammt und sich die dort beschriebenen Vorgänge damit um den zuvor dargestellten Onanie-Sachverhalt drehen, das scheint mir überdeutlich. Im folgenden wird deshalb, ungeachtet einzelner möglicher Einsprengsel aus anderen biographischen Schichten, das Augenmerk vorwiegend auf literarische Ablagerungen aus der Plauener Zeit - bzw. des Onanie-Sachverhalts - gerichtet und diese gesondert heraus-


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gefiltert. Die Bezüge sind, wie ich denke, für jedermann offenkundig; irgendwelche interpretatorischen Verrenkungen, die sich eventuell des Vorwurfs von Willkür aussetzen, müssen nicht unternommen werden.

  In Karl Mays Selbstbiographie aus dem Jahr 1910 wird die Plauener Zeit mit zwei kurzen Sätzen abgetan: Ich erlangte ohne weiteres die Genehmigung, meine unterbrochenen Studien auf dem Seminar in Plauen fortzusetzen. Ich kam dort in dieselbe Klasse, also in die zweite, und bestand nach zurückgelegter erster Klasse das Lehrerexamen ...15 Daß es ganz so ohne weiteres in Wirklichkeit nicht ablief, hat schon Hainer Plaul in seinen umfangreichen Anmerkungen zum Nachdruck der Autobiographie dargelegt.16 Wie nachhaltig sich jedoch auch die sechzehn Plauener Monate - May wurde in das Seminar am 2. Juni 1860 aufgenommen, und er bestand seine Abschlußprüfungen am 9., 10. und 12. September 186117 - tatsächlich in die Seele des späteren Schriftstellers eingegraben haben müssen, das erhellt in seinem ganzen Umfang erst aus der Kenntnis der ›»Weihnacht!«‹-Episode und dem ›Wohlgemeinten Wort‹.

  Der Beginn des ›»Weihnacht!«‹-Romans18 besteht aus der Schilderung verschiedener Vorkommnisse aus der Jugendzeit eines Ich-Erzählers namens May, des späteren Old Shatterhand, der von seinem Jugendfreund Carpio mit dem Spitznamen ›Sappho‹ belegt wird. Der Roman war im Rahmen der Etablierung der sogenannten ›Old-Shatterhand-Legende‹ der erste, in dem der Schriftsteller Karl May seiner Leserschaft in jetzt unmißverständlicher Weise zu verstehen gab, was er früher meist nur angedeutet hatte: daß er nämlich als reale Person mit seiner fiktiven Old-Shatterhand-Gestalt identisch sei. Der Roman erschien im selben Jahr, in dem May auch jene mehrere Monate währende ›Lesereise‹ kreuz und quer durch deutsche Lande unternahm, auf der er selbst den ›Starkult‹ um seine Person systematisch schürte - etwa durch Anzeigen, die er in die jeweiligen Lokalblätter einrücken ließ -, und wo er die angebliche Identität von realem Schriftsteller und fiktiver Hauptgestalt auch in zahllosen mündlichen Erzählungen vor fasziniert lauschenden ›Fans‹ behauptete.19 Die einleitende, in der deutschen Heimat des Erzählers spielende Episode läßt sich in zwei Abschnitte gliedern: der erste spielt auf einem ›Gymnasium‹ (das der reale Karl May nie besucht hat) und wird zusammengehalten von den Ereignissen um ein unglaublich langes Gedicht, das der junge Ich-Erzähler verfaßt hat, und der zweite Abschnitt beschreibt eine winterliche Wanderung vom sächsischen Erzgebirge nach Böhmen, und er wird bestimmt von den Auseinandersetzungen mit dem pubertär-homoerotisch gefärbten Verhältnis des jugendlichen Helden zu seinem etwas merkwürdigen Jugendfreund Carpio.

  Liest man ›Gymnasium‹ als ›höhere Schule‹, dann wird das tertium comparationis zu ›Lehrerseminar‹ deutlich. Weniger deutlich sind für


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den unbefangenen Leser zunächst die vielfältigen Windungen und Schamgefühle, die den jugendlichen Erzähler ob der Tatsache quälen, daß er heimlich ein - zugegeben ziemlich langes - Gedicht verfaßt und damit am entsprechenden Wettbewerb eines Unterhaltungsblattes teilgenommen hat. Als er sogar den ersten Preis gewinnt, wird sein Talent offenkundig, und der Direktor, der »Alte«, bestellt ihn zu einer - merkwürdig zweifelhaften - ›Belobigung‹ zu sich. Der Ich-Erzähler befindet sich zu der Zeit in noch ganz unreifem Alter,20 und das Gedicht habe er, fast möchte ich sagen, verbrochen (10). Ein ... übelwollender Mitschüler (11) hat es gestohlen, um ihn damit anzuschwärzen, freilich mit dem gegenteiligen Erfolg. Über den Anlaß für sein Gedicht gibt der Erzähler an: meine Armut und wer weiß was sonst noch für gute oder nicht gute Gründe, »drückten mir« ... »die Feder in die Hand« (ebd.) -   w a s  der junge May auf dem Seminar tatsächlich in der Hand hielt, ist nach dem oben dargestellten Sachverhalt kaum zweifelhaft; auch die kurz darauf folgende Aussage, daß der Wert eines Poems nicht mit seiner Länge zu wachsen pflegt (ebd.), entpuppt sich nach experimentellem Austausch zweier Buchstaben (Poems/Penis) als kaum noch verhülltes Statement zur vergleichenden Tätigkeit jugendlicher Onanisten aus späterer, ›erwachsener‹ Sicht. Als er das Gedicht mit den sage und schreibe zweiunddreißig Strophen in den Briefkasten geworfen hat, wird der Schüler von tiefen Gewissensbissen gequält, die sogar mit bestimmten medizinisch-psychiatrischen Symptomen einhergehen.


... mit mir ging eine Veränderung vor. Wer mich beobachtete, der mußte unbedingt bemerken, daß ich ein schlechtes Gewissen hatte. Meine Haltung kam mir unmännlich und mein Gang schlottrig vor; die Augen verloren ihre bisher nach vorn gerichtete Direktion und begannen, sich vorzugsweise und verstohlen bald nach rechts und bald nach links zu richten, ob mir die zweiunddreißig Strophen vielleicht anzusehen seien. Kein Brot, selbst das ganz trockene, wollte mir mehr schmecken; der Schlaf streikte, und wenn er seine Pflicht einmal that, so träumte ich von allerlei Ungeheuerlichkeiten, z. B. von einem großen Briefkasten, welcher in Gestalt einer blauen Riesenkröte auf mein Bett gekrochen kam und mich so lange drückte, bis ich mit einem Schrei erwachte.

  Meine Arbeiten fertigte ich mit derselben Gewissenhaftigkeit wie vorher, aber sie wurden mir schwerer als früher; meine roten Wangen wurden blaß; ich magerte ab und wurde wortkarg wie eine Stimmgabel, die auch nur dann erklingt, wenn man ihr einen Stoß versetzt. Es war eine schwere, eine schlimme Zeit! Und sie dauerte übermäßig lang. (12)


Der auffallend gequälte Humor dieser literarischen Schilderung erweist sich für den aufmerksam gewordenen Leser nunmehr als nur unzureichende Camouflage bedrückender realer ›Erlebnisse‹. Denn was Karl May in der zitierten Passage tatsächlich beschrieben hat, das ist nahezu komplett jene ›Symptomatik‹, wie sie die Onanie-Kritik, seit der einflußreichen Schrift des schweizerischen Arztes Tissot im 18. Jahr-


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hundert, für Masturbierende unermüdlich und fast zwei Jahrhunderte lang behauptete! Schlechtes Gewissen, ›unmännliche‹ Haltung, schlottriger Gang, unklarer Blick, Appetit- und Schlaflosigkeit, Träume von allerlei Ungeheuerlichkeiten, Unfähigkeit zu konzentrierter Arbeit, Blässe, allgemeiner Verlust der Gesundheit - dies alles galt für bestimmte Mediziner und Pädagogen noch während des gesamten 19. Jahrhunderts (und teils bis tief ins 20. Jahrhundert hinein) als die typischen, körperlichen und geistigen Symptome des tätigen Onanisten. Tissot beschrieb das beispielsweise folgendermaßen: »Erschöpft durch die beständigen Anstrengungen ihrer Natur, verfallen endlich solche Patienten in allerley Krankheiten des Gehirns, in Schwermuth, in ein Unempfindlichkeit und Steifigkeit der Glieder (Catalepsis), und Fallsucht, sie werden schwach am Verstande, blöde von Sinnen, schlaff an Nerven usw. (...) so werden sie nie etwas Vortreffliches leisten, weil ihre schlimme Gewohnheit sie zu demjenigen erforderlichen Grade der Aufmerksamkeit, ohne welchen man es in keiner Sache weit bringen kann, unfähig macht.«21

  Die fortwährenden Erkundigungen, Einzelgespräche und »seelsorgliche(n)« Maßnahmen des Plauener Direktors Wild und seiner Kollegen müssen, gerade für den nur gnadenweise wieder aufgenommenen Karl May, eine schwere, eine schlimme Zeit gewesen sein. Zumal wenn man bedenkt, daß er gegenüber Oberlehrer Kühn eine bereits relativ lange anhaltende Onanisten-Karriere hatte eingestehen müssen. Als einziger Schüler hatte er zugegeben, der ›Selbstbefleckung‹ bereits auf zwei anderen Schulen nachgegangen zu sein, nämlich außer auf dem Seminar in Waldenburg auch schon in der Elementarschule zu Ernstthal.22 Letztere hatte er von ungefähr 1848 bis 1856 besucht. May hat demnach eigener Aussage gemäß mindestens von seinem zwölften bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr onaniert; das ist übrigens, diese Bemerkung sei hier vorsichtshalber zwischengeschoben, in keiner Weise irgendwie ehrenrührig oder auch nur ungewöhnlich, sondern schlicht zu allen Zeiten mehr oder weniger gängige Praxis gewesen - vor allem, auch das sei bereits angedeutet, für Menschen mit besonders reger Phantasie. Zum despektierlichen ›Casus‹ wurde die Sache erst durch die inquisitorische Penetranz eines Schulkollegiums, das gegenüber höheren Instanzen auf eigene Ent-Schuldigung bedacht war. Erst jetzt, also durch Untersuchungen, Verhöre, Beschuldigungen, Beteuerungen, Bespitzelungen, Verrat, Gebets- und Bußmarathon sowie die davon hervorgetriebenen bzw. potenzierten wahrscheinlichen Notlügen und Heimlichkeiten mögen quälende Schuldgefühle entstanden sein. Vor diesem Hintergrund erst wird das obige May-Zitat ganz verständlich. Es zeugt von Scham und Schuldgefühlen ebenso wie von der auch hier wieder sich erweisenden enormen Adaptionsfähigkeit Karl Mays, der für die Schilderung seiner Verwundungen, seiner Leibes- und See-


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lennöte ganz opportunistisch den Standpunkt bzw. die klinischen Beschreibungstopoi der ›gegnerischen‹ Seite übernimmt und sie dabei in einer Weise um- und sich anverwandelt, deren dialektische Mechanik auch schon aus anderen Zusammenhängen bekannt ist.23

  Der Erzähler der ›»Weihnacht!«‹-Episode legt Wert auf genaue Datenangaben: Ende Juli hat er sein Gedicht in den Kasten geworfen, am ersten Oktober ist Einsendeschluß, am ersten November soll die Entscheidung fallen. Genau in diesem Zeitraum fand im Jahr 1860, wie oben gezeigt, auch der Plauener Aushorchungs-Marathon statt. Eines dieser peinlichen Verhöre beim Direktor schildert May auch in seiner Romaneinleitung - wobei hier noch einmal betont sei, daß dabei vermutlich auch Überblendungen mit den entsprechenden Verhören der Waldenburger Zeit eine Rolle spielen. ... diese Angelegenheit hat jedenfalls für den Erzähler eine sehr unangenehme Wirkung (13). Er wird zu einem Gespräch beim »Alten« bestellt: Und nun kommt es - - - es ist da; das fürchterliche Verhängnis nämlich! (ebd.) Und: Wer Gymnasiast entweder war oder noch ist, der weiß, wen ich mit diesem »Alten« meine, und wird mein heimliches Grauen zwar nicht ermessen und nachfühlen aber doch wenigstens ahnen können. (ebd.) Zwar hat der Schüler am Wochenende bei diesem sogar einen Freitisch und darf dann als Nachgenuß der Lieblingskatze seiner Frau den Rücken krabbeln (ebd.) - doch jetzt muß er zum Verhör antreten:


Es war am sechsten November, nach der letzten Vormittagsstunde, als ich zum »Alten« gerufen wurde. Zwei Treppen hinauf, jede zwanzig Stufen, auf jede zwanzig Schläge meines Herzens, macht in Summa achthundert; weniger sind es wahrscheinlich nicht gewesen. Ich klopfte an, trat ein und - sah nichts, weil meine Augen nebelten. Es vergingen einige Augenblicke; der Nebel teilte sich, und ich sah den Gewaltigen mit Augen, als ob er mich durchbohren wolle, vor mir stehen.

  »May!« erklang es in seinem tiefsten Baß.

  Ich verbeugte mich. Was ich für ein Gesicht gemacht habe, das weiß ich nicht, denn nur er hat es gesehen und mir nichts darüber angedeutet.

  »May!!«

  Ich verbeugte mich wieder.

  »May!!!«

  Dritte Verbeugung; aber nun war ich entschlossen, mich nicht mehr zu bücken.

  »Sie - - sind - - ja - - ein - - ganz - - -« (13f.)


... »infernalischer Charakter«, möchte man, nun wiederum den Waldenburger Seminardirektor zitierend, Mays literarischen Direktor ergänzen.

  Zwar geht es auch hier immer noch um das - zugegeben reichlich lange - Gedicht des jungen May, weshalb auch dieses Zitat insgesamt in einem humoristisch gemeinten Kontext steht. Dennoch kommt der angstbesetzte Realvorgang deutlich unter der literarischen Überformung zutage. Der »Alte« wirft dem jungen Mann die Form seines Gedichtes vor,


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in dem er sich »stundenlang in Knüppelversen« (!) ergehe, und er zeigt ihm einen inkriminierenden Brief: »... ein Brief, nicht an Sie, sondern an mich. Sie bekommen ihn natürlich nicht zu lesen - - - fällt mir gar nicht ein« (14), in dem man eine Spiegelung der schriftlichen Zeugenaussage in Händen des Arztes sehen kann. Der Direktor erzählt dem Zögling aber bloß, daß dieser den ersten Preis der Zeitschriftenredaktion gewonnen hat, und auf diese Weise hat der Autor Karl May, wie er dies auch in anderen Zusammenhängen immer wieder zu tun pflegt, flugs eine totale reale Niederlage in einen großartigen literarischen Sieg umgemünzt. Der Grandiositätsgewinn aus dieser Szene nimmt für den jungen literarischen Helden in der Folgeszene, einem Gespräch mit dem Kantor, noch weiter zu, denn die Anschwärzereien des Mitschülers kommen ans Tageslicht, und »die Sache wird noch vor die Konferenz kommen.« (19) Der Kantor: »Ich habe ihn nur deshalb noch nicht zur Anzeige gebracht, um ihn mit meinem Verweise und einem tüchtigen Aerger davonkommen zu lassen. ... Hätten Sie die Anzeige gewollt, so wäre sie erfolgt; nun aber soll er noch einen kräftigen Rüffel unter vier Augen bekommen und dabei erfahren, daß er die übrige Straflosigkeit nur ihrer Fürbitte verdankt.« (20) Auch hier klingen, neben möglichen Waldenburger Bezügen, Plauener Ereignisse an: der ausdrückliche Hinweis auf Straflosigkeit, das Vieraugengespräch und das ›positive Einwirken‹ eines Seminaristen auf seine Mitschüler.

  Der Gewinn des Preises hat für den jungen Schüler May, den literarischen, unerwartet ›unangenehme‹ Folgen: Es stellt sich nämlich heraus, daß er seine Mitschüler infiziert hat, angesteckt, daß nun eine Seuche ›contagiös‹ in der Schule umläuft, die den Lehrern, die auf allfällige Korrektheit bedacht sind, immer peinlicher wird - nein, es ist hier nur die Dichteritis, nicht die Onanitis, aber genau darauf läuft die Spiegelung natürlich hinaus. Das nun anhebende allgemeine ›Verseschmieden‹ - man vergleiche zu diesem Begriff die Lesart Arno Schmidts zu Mays ›Geisterschmiede‹24 - führt nämlich schließlich dazu, daß die ganze Lehrerschaft sich ... so erbost fühlte, daß unter dem Vorsitze des bereits genannten »Alten« beschlossen wurde, gegen diesen Unfug ohne Nachsicht vorzugehen. Die nun folgenden Verweise und anderen Strafen erreichten zwar ihren Zweck, hatten aber leider für mich die Folge, daß ich, der vorher so Vielumworbene, nun wie eine Selters- unter lauter Champagnerflaschen gemieden wurde. (23)

  Was May anläßlich seiner Internierung in Waldenburg an bitteren Worten über die zeitgenössische Seminarpädagogik schreibt, darf man getrost und wohl weitgehend ohne Abstriche auch auf das Lehrerseminar in Plauen anwenden. Der Unterricht war kalt, streng, hart. Es fehlte ihm jede Spur von Poesie. ... ich aber mit meiner religiösen Liebesbedürftigkeit fühlte mich erkältet und zog mich in mich selbst zurück. Ich vereinsamte auch hier, und zwar mehr, viel mehr als daheim.25 Im Zusam-


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menhang mit der absoluten Poesielosigkeit des hiesigen Unterrichtes26 bzw. der Seelenlosigkeit dieses Seminarunterrichtes27 berichtet May dann, zunächst einigermaßen überraschend, aber dafür in der Wortwahl desto aufschlußreicher, von meiner Vergiftung.28 Er meint damit im Zusammenhang zunächst die Form- und Ideenlosigkeit des Lernstoffs; was er aber anschließend über seine Ängste schreibt und das Bedürfnis, sich anzuvertrauen, das wirkt dann doch eher wie eine heimliche Beschreibung seiner Nöte während der Plauener Onanie-Inquisition bzw. die nachträgliche Verinnerlichung der diesbezüglichen Erzieherphrasen - zwecks eigener, auch innerer Exkulpierung. Ich begann, Angst vor mir zu bekommen, und arbeitete unausgesetzt an meiner seelischen Gestalt herum, mich innerlich zu säubern, zu reinigen, zu ordnen und zu heben, ohne fremde Hilfe in Anspruch nehmen zu müssen, die es ja auch gar nicht gab. Ich hätte mich wohl gern einem unserer Lehrer anvertraut, aber die waren ja alle so erhaben, so kalt, so unnahbar, und vor allen Dingen, das fühlte ich heraus, keiner von ihnen hätte mich verstanden; sie waren keine Psychologen.29



2. Die Busenfreunde


Hier nun, in der Einsamkeit dieser Situation - die noch verstärkt wird dadurch, daß der andere Mitschüler ihn mit einem Haß bedachte, der mir manchen Aerger bereitete (22) -, kommt in der ›»Weihnacht!«‹-Episode die Freundschaft des Ich-Erzählers mit seinem Busenfreund Carpio besonders zum Tragen. Diesen Namen trägt der Freund, wie es heißt, nach der lateinischen Bezeichnung für Karpfen, weil er außer mit mir, nicht viel zu sprechen (23) pflegte.30 Carpio: das könnte außerdem auch eine sarkastisch-ironische, vertrackt hintergründige Travestie auf ›Carpe diem‹ sein, die lateinische Version jener ›Nutze den Tag‹-Spruchweisheit von pietistischer Tätigkeitsmoral und Wohlanständigkeit, der auch May, zumal im Lehrerseminar, sicher häufig begegnet ist: auf Häkeldeckchen war der Spruch in frommen Haushaltungen ebenso beliebt wie als populärer Wandschmuck. Dagegen bleibt merkwürdig unklar bzw. uneinsichtig, warum der Erzähler, der Schüler May, seinen doch ebenfalls sehr bemerkenswerten Spitznamen trägt: Sappho. Hier versagte offenbar Mays Fähigkeit, einen deutlich erinnerten biographischen Sachkomplex für den Romanzusammenhang mit dem ansonsten dort üblichen camouflierenden Wortwitz seines - hier, wie gesagt, immer etwas gequält wirkenden - Humors zu überziehen. Die Schüler hatten, heißt es, nach einem Spitznamen für ihn gesucht, der ein Dichtername sein sollte - und gaben ihm schließlich einen weiblichen. Man hing mir den Namen Sappho an, und als ich mich sträubte, dies zu dulden, bewies man mir, daß es keinen bezeichnenderen geben könne, weil


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Sappho die berühmteste Dichterin des Altertums und durch die unübertreffliche Reinheit und Schönheit ihrer Verse ausgezeichnet sei. Was konnte ich thun? Ich mußte mich fügen! (33) Diese Begründung ist zunächst wenig überzeugend, denn es hätten - man denke etwa an Vergil, Horaz, Ovid oder Homer - genügend ›unverfängliche‹, zudem männliche Dichternamen des Altertums zur Verfügung gestanden. Die Namenwahl muß mithin noch eine ganz eigene, uneingestandene Bedeutung haben. Die ließ der Autor May aber vorsichtshalber unerklärt, weil der Sachverhalt durch jede mögliche nähere Erörterung sowieso nur in ein gewissermaßen ›schiefes‹ Licht gerückt worden wäre, das den Erzählzusammenhang dann gesprengt bzw. diesen in einer Weise dem unterschwelligen Thema geöffnet hätte, die Karl Mays literarischen Intentionen in dem Moment nicht entsprach - wenn der Bereich nicht sowieso seine gestalterischen Fähigkeiten zu diesem Zeitpunkt überfordert hätte.

  Sappho galt damals und vielfach bis heute (historisch möglicherweise ganz unzutreffend) als  d i e  klassische Protagonistin der lesbischen Liebe, als dichtende, poetische Repräsentantin der weiblichen Homosexualität. Die Wahl gerade dieses Kosenamens im Rahmen der Jugendgeschichte des späteren Schriftstellers Old Shatterhand, dem Superhelden und Alter ego Karl Mays, überschreitet bei weitem den humoristisch sein sollenden Rahmen, in dem die gesamte Carpio-Sappho-Geschichte erzählt wird. D. h. im Rahmen der Erzählfiktion selbst wird für diese Namensgebung keine einleuchtende Erklärung geboten, auch nicht zwischen den Zeilen; vorsichtige Deutungen müssen also notgedrungen die Fiktion verlassen und zusätzlich biographisches Material u. ä. für eine Interpretation heranziehen. So sieht Arno Schmidt, der den Namen Carpio hervorhebt, hier die Vorstellungen »›Dame Dichtkunst Invertiertheit‹« gebündelt, wobei die Invertiertheit sein besonderes Augenmerk findet.30a Meines Erachtens läuft es letztlich, auf die eine oder andere Weise, nahezu zwangsläufig auf den dargestellten autobiographischen Sachverhalt des Masturbierens hinaus.

  Schon vor dreieinhalb Jahrzehnten hat Hainer Plaul, der Nestor der seriösen biographischen Karl-May-Forschung, als er die Plauen-Akte entdeckt hatte, angedeutet, May habe auf dem Lehrerseminar möglicherweise nicht »ausschließlich Automasturbation« betrieben, sondern es könne »dort ebensogut schon zu mutueller Masturbation gekommen sein«.31 Mutuell, das heißt: gegenseitig, wechselseitig - und genau dies legt die Lektüre der Carpio-Sappho-Geschichte, wenn man die Plauen-Akte damit vergleicht, nahe: daß nämlich der Schüler Karl May in Plauen - vermutlich auch schon vorher, auf dem Seminar in Waldenburg oder auf der Volksschule in Ernstthal - die Masturbation nicht ausschließlich allein betrieben hat, sondern auch, wie dies ja schon Oberlehrer Kühn gewissenhaft beschrieben hatte, gemeinsam mit anderen.


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Dies dürfte übrigens zu allen Zeiten und bis heute, wie auch die allgemeine Erfahrung lehrt, unter Jungen häufiger Brauch gewesen sein. Man vergleiche dazu etwa, als instruktive und sehr kundige literarische Schilderung, die berühmte Episode am Beginn des dritten Kapitels von Günter Grass' Novelle ›Katz und Maus‹, die amüsanterweise noch in den sechziger Jahren, als Buch und Film, in konservativen Kreisen erheblichen Staub aufgewirbelt hat.32

  Die Carpio-Sappho-Geschichte wird hier also, kurz gesagt, als literarische Spiegelung realer homoerotisch-masturbatorischer Erfahrungen verstanden, die der junge Karl May in seiner Jugend, in Plauen und (evtl.) anderswo, mit Klassenkameraden bzw. Altersgenossen gemacht haben muß. Vollständig ausgedeutet werden können dieses komplexe Thema und seine Spiegelung im ›»Weihnacht!«‹-Roman dabei im Rahmen des Vorliegenden keinesfalls; es sollen nur einige der augenfälligsten Textstellen mit kurzen Hinweisen versehen werden. Beiläufig angemerkt sei dazu hier noch, daß damit selbstverständlich noch wenig ausgesagt ist über die sexuelle Orientierung des erwachsenen Karl May. Ob bei diesem also die - allen Menschen eigene - homosexuelle Komponente der psycho-sexuellen Persönlichkeit vorwiegend latent blieb oder ob sie, wie Arno Schmidt offenbar angenommen hat, irgendwann manifest wurde, darüber ist mit dem folgenden noch nichts ausgesagt. Homoerotische Erfahrungen werden, in der Adoleszenz-Phase der körperlichen und psychischen Entwicklung und nicht selten gerade im Zusammenhang mit (gemeinsamer) Masturbation, auch von vielen vorwiegend heterosexuell geprägten Männern und Frauen gemacht. Ob die beiden geschilderten Busenfreunde also im Arno-Schmidtschen Sinn Freunde von ›Hintern‹ oder doch eher vielleicht von Busen waren, das läßt sich aufgrund des literarischen Befundes allein keinesfalls sagen.

  Die in der ›»Weihnacht!«‹-Episode geschilderte gemeinsame Fußwanderung Carpios und Sapphos erweist sich vor diesem Hintergrund als eine literarisch idealisierte Initiationsreise zweier spätpubertierender Jünglinge sowie als einsichtige Schilderung einer tiefen Freundschaft, die ebenso von liebevollem Verständnis geprägt ist wie von gelegentlichen erotischen bzw. sexuellen Abenteuern. Ein echter, wirklicher Schulkamerad und Jugendfreund ist mir nie beschieden gewesen,33 schrieb May später in seiner Autobiographie. Diese Behauptung kommt der Wirklichkeit vermutlich sehr nahe, sie bedarf jedoch, wie jeder Satz in dieser vorwiegend als Rechtfertigung angelegten Lebensgeschichte, angesichts der ›»Weihnacht!«‹-Episode einer besonders sorgfältig abwägenden Betrachtung. Literarisch gesehen ist nämlich nicht allein Sappho als (Teil-)Spiegelung des jungen Karl May anzusehen, sondern auch Carpio hat eine eigene Funktion als Alter ego seines Autors: der eine als grandiose, der andere als lächerliche Variante. Hier


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spiegelt May mithin beides, Wunsch wie Wirklichkeit: die tiefe Sehnsucht eines hochbegabten, aufgrund der Bildungsarmut seiner Umgebung geistig unterforderten und eklatant vereinsamten Jungen nach ungeteilter Freundschaft und Aufmerksamkeit  u n d  die realen - vermutlich nicht immer und ohne Einschränkung freudvollen - Erlebnisse mit einem (oder mehreren) Mitschülern in Plauen und anderswo.

  Ich lag zufolge meiner Neigung, meiner Zukunftspläne und aus noch anderen Ursachen mehr über den Büchern als meine Mitschüler und mußte mich darum von Zeit zu Zeit einmal tüchtig körperlich ausarbeiten, was durch eine weite Gehtour am besten geschehen konnte (23), heißt es über den Anlaß der Wanderung im Roman. Der Schüler May lag - also nicht: saß - über den Büchern, er liest, und zwar auch aus anderen Ursachen, und er will sich deshalb körperlich ausarbeiten. Die beiden Schüler haben vor der Reise wie alle bedeutenden Menschen ein »Rendezvous« verabredet (24). Über den gegenseitigen Umgang dabei heißt es: Wir pflegten unsere beiderseitige Barschaft zwar nicht in eine gemeinsame Reisekasse zu verschmelzen, aber doch der eine mit den Mitteln des andern zu rechnen, was zur Folge hatte, daß der, welcher mehr besaß, sich stets bemühte, heimlich dafür zu sorgen, daß der gegenwärtig Aermere nicht unter seinem augenblicklichen Proletariat zu leiden hatte. Es kamen da Beispiele von Selbstlosigkeit und Aufopferung vor, welche wirklich rührend waren (24). Auch wenn man dieser Stelle, um das erzählte Dickicht ein wenig zu lichten, nicht unbedingt mit einer vulgär-freudianischen Interpretationsmachete zu Leibe rücken will, die aus dem Komplex ›Geld‹ schlichtweg ein ›Gold‹ resp. ›Sperma‹ macht und damit das beschriebene ökonomische Hin und Her, mit viel Fingerspitzengefühl für den jeweils anderen, zu einem entsprechend eindeutig sexuellen, so wird dennoch, denke ich, auch bei schlichterer Betrachtungsweise hinreichend deutlich, daß hier liebevolle und gegenseitige Rücksichtnahme zweier fast noch halbwüchsiger Jungen geradezu zelebriert und gefeiert wird. Ob die realen Erlebnisse Mays mit den anderen Seminaristen - beim Onanieren oder auch sonst - so schön und beglückend waren, wie es diese Stelle suggeriert, mag man durchaus bezweifeln. Der besserwisserisch-old shatterhandeske Ton, der vielfach nolens volens auch in der Einleitung schon durchkommt und der immer auch ein wenig von oben herab über Carpio berichtet, spricht eine andere Sprache: die Sprache tiefer Verletzung, welche kompensatorisch in ihr grandioses Gegenteil verwandelt wird. Carpio, der im Wilden Westen dann Old Jumble heißen wird, verwechselt und verdreht alles und jeden. Wie er der literarischen, so begegnet May der gegenständlichen Wirklichkeit: verhüllend, vertauschend, verbessernd, produktiv und dialektisch fortschreibend, mit einer zum Teil verblüffenden, zum Teil verblüffend naiven Chuzpe, was die schiere ›Wahrheit‹ angeht, das profan Tatsächliche.


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  Die beiden Schüler marschieren auf dem Gebirge zwischen Sachsen und Böhmen (24f.), pendeln dabei unstet zwischen Oesterreich und Sachsen hin und her (25), um mit den schwankenden Wechselkursen der jeweiligen Währung kleine Gewinne zu machen. Sie sind Grenzüberschreiter, Grenzverletzer, was sie tun, geschieht in Heimlichkeit, und es geht mit - humoristisch sorgfältig verhüllten - Schuldgefühlen einher, die noch Jahrzehnte später, wenn nämlich Old Shatterhand/May am Schreibtisch sitzt und die Geschichte zu Papier bringt, den Gestus des Ver- und Enthüllens hervortreibt. Dieser Schauplatz - gemeint sind Erzgebirge und Böhmerwald, man kann sich aber durchaus auch einen der von Oberlehrer Kühn aufgelisteten Orte darunter vorstellen, etwa die Bodenkammer - war uns lieb geworden, und es gehörte schon ein ungewöhnlicher Entschluß nach einer vorhergehenden langen Konferenz dazu, wenn wir einmal einen andern wählten. Eigentlich hatte diese treue Anhänglichkeit auch einen weniger psychischen Grund, den ich, nachdem wir ihn so lange geheimgehalten haben, heut doch einmal verraten will. Ich kann das nun ohne größere Gefahr thun, weil wir jetzt doch nicht mehr da oben herumsteigen und also andere, ebenso würdige Menschen von den Vorteilen unseres Geheimnisses profitieren lassen können. (25) Sie fragen sich: Wie steht heut der Gulden? So und so! Hm! - - (ebd.), manchmal stehn die Thaler schlecht (ebd.), manchmal stehen die Gulden schlecht (26). Die Phallussymbole häufen sich nun auf den entsprechenden Seiten: die Wechselkursgewinne werden in sauren Gurken oder andern nahrhaften Dingen angelegt (ebd.), Regenschirme gab es natürlich nicht; das wäre unmännlich gewesen, Spazierstöcke auch nicht; unsere Wanderstäbe wuchsen, ihrer Erlösung harrend, in irgend einem Busche. Ueberröcke? Pfui. Wir waren deutsche Jünglinge! (27) Carpio trägt zudem eine Zeichenmappe in einem alten, verwaisten Fernrohrfutterale mit sich, doch - aufgrund des Wetters - waren unsere Finger vor Kälte so steif, daß wir den Bleistift nicht regieren konnten. Sappho hat eine Botanisiertrommel umhängen, darin ist das Reisegepäck nebst Toilettenartikeln: ich werde mich hüten, sie zu verraten! Viele Nummern aber waren es nicht! (Ebd.) Auch Mit Cigarren waren wir sehr gut versehen (28), die werden aber - die Wanderung wandelt sich zur Schmuggeltour - versteckt: Wir steckten sie also in die Stiefelschäfte. (Ebd.) Nun folgt eine Aufzählung der Schmuggelgüter, aber: Noch andere Dinge anzuführen, würde indiskret sein. (Ebd.) Auf der Schmuggeltour - gemeinschaftliches Verbergen wertvoller Kleingüter vor unberufenen Augen und Transport derselben unmittelbar am Körper - gelangt man u. a. auch nach Asch (ebd.), einem Örtchen in der Nähe von Eger.

  Im Verlauf der Reise erweist sich vor allem Carpio immer mehr als problematische Gestalt. ... seine hervorragendste Eigentümlichkeit war eine Zerstreutheit (33f.), seine Zerfahrenheit (34) - für die Zeitgenossen ein typisches Erkennungsmerkmal von Onanisten34 -: er wurde ängst


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lich und beging in dieser Befangenheit noch viel größere Fehler als vorher. (Ebd.) Immer wieder beteuert er, dieses oder jenes beruhe auf einem Versehen von meiner Schwester (31), und begründet das folgendermaßen: Solche Tollheiten können doch unbedingt nur bei Personen vorkommen, welche keine Masculina, sondern entweder Feminina oder Neutra sind (ebd.) - Spiegel einer schwankenden Geschlechtsrollenidentität bzw. deren spielerischer Überschreitung. Carpio besitzt, seinem Freund Sappho zufolge, einige Eigenschaften, welche leicht seine ganze Zukunft in Frage stellen konnten (33), er hat keine Thatkraft und faßt alles womöglich beim Schwanz anstatt beim Kopfe an (ebd.). Außerdem liebte er es, der einfachsten Sache eine größere Bedeutung, als sie besaß, beizulegen (ebd.) - ein ziemlich deutlicher Hinweis darauf, daß dem Autor Karl May halbwegs bewußt gewesen sein muß, welche Ereignisse er hier unterschwellig beschrieb.35 Der Ich-Erzähler berichtet, er habe sich, wenn ich mit ihm allein war, ebenso kindlich unbeholfen wie er selber (34) gegeben. Dadurch hatte ich ihn wahrscheinlich noch fester als früher an mich gekettet. Wir schienen zwei unbedachtsame Kinder zu sein; ... Er glaubte, selbständig zu handeln; in Wirklichkeit aber war ich es, nach dem er sich richtete, ohne es zu wissen (ebd.) - Umschreibung einer Verführungssituation par excellence.

  Damit soll es hier genug der Beispiele sein. Es ließen sich aus dem gesamten Roman zahlreiche weitere Belegstellen anführen, etwa der ausgedehnte Dialog über ›Buttermilch‹ (35-37) oder die unerwartete Rezitation des - zugegeben ziemlich langen - Gedichts, das durchgängige Thema ›Schuld‹, der breit inszenierte Wurst- und Käsediebstahl (67ff.) oder das Sterben des Vaters von Frau Hiller, das von liebevoller Zuwendung der Jugendlichen begleitet und von dem alten Mann mit dem Rat »unterschreibt nichts, nichts - - - sonst bringt er euch noch an den Bettelstab« (100) abgeschlossen wird; wobei man an die von einigen Seminaristen unterschriebenen Keuschheitsgelöbnisse denken mag. Auch die Amerikahandlung ist für diesen Sinnkomplex weiter von Bedeutung. Am Schluß, ›im Schnee‹, läßt der Autor Carpio an völliger Entkräftung sterben - nicht ohne daß zuvor das überlange Gedicht noch einmal präsentiert wird.

  Insgesamt ist die Schilderung des Carpio-Sappho-Verhältnisses jedoch nicht allein mit Motiven eines tiefsitzenden Schuldgefühls durchtränkt. Die insgesamt doch auch sehr liebe- und verständnisvolle, hinwendungsbereite Schilderung Carpios und seiner Schwächen deutet vielmehr darauf hin, daß dieser Zusammenhang für den Autor May, der fast vierzig Jahre später auf eine entscheidende Phase seiner Jugend zurückblickt, auch mit dem starken Bedürfnis nach echter Kommunikation, nach Liebe und väterlicher oder mütterlicher Führung verbunden war. Immerhin enthielt das, was er literarisch verkleidet erzählte, die Geschichte seiner frühesten und vermutlich ersten sexuellen Erlebnisse.


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  Übrigens wird in ›»Weihnacht!«‹ auch noch mit bemerkenswerter Genauigkeit beschrieben, wie oder vielmehr womit die ›befleckten‹ Seminarschüler in Plauen wieder auf den rechten Weg gebracht werden sollten: nämlich mit Traktätchen, frommen Blättern, Erbauungsschriften usw. - mit christlicher Kolportage. Der dubiose Prayer-man, der im zweiten Kapitel auftaucht, handelt mit solcher Ware. Herumziehende Traktätchenhändler machen kein übles Geschäft (125), sagt der nunmehr zu Old Shatterhand gewordene Ich-Erzähler. Er meint damit Nordamerika, doch wer dafür das sächsische Erzgebirge einsetzt, geht wohl kaum fehl. Der Erzähler schaut sich den Inhalt des kleinen Handkoffers des Hausierers an: Es waren Predigten und fromme Abhandlungen ...; auch kleine Gebetbücher und Liedersammlungen gab es dabei; doch stießen mich die meisten Titel schon ab. Da stand zu lesen: »Himmelsrettung eines räudigen Erdenschafes«, »Psalterklänge auf fünf Seelensaiten«, »Kanzeldonner für verfluchte Menschenschlangen«, »Religiöses Fernrohr zur Entdeckung des Wegs zur Seligkeit«. Ich mag vielleicht unrecht haben, aber solche Bezeichnungen empören mich (125f.) - typische Titel, wie sie fliegende Händler, die im 19. Jahrhundert oft in pietistischem Auftrag und/oder für die rege ›innere Mission‹ unterwegs waren, überall in Deutschland zuhauf feilboten.36 Man kann sich gut vorstellen, daß solche Schriften in Plauen und anderswo - zwecks »seelsorglicher« Verwendung - in regem Gebrauch waren.



V. Ein aufschlußreiches Wort


Karl Mays literarische Auseinandersetzung mit den beschämenden und erniedrigenden Plauener Ereignissen, die aus harmloser Selbstbefriedigung einen vermutlich zutiefst schambesetzten ›Schuldkomplex Onanie‹ (bzw. Sexualität) gemacht haben, beschränkt sich jedoch keineswegs auf - wie auch immer - verschlüsselte Spiegelungen in seinem Erzählwerk. Vielmehr hatte May sich bereits im Jahr 1882, chronologisch also etwa halbwegs zwischen den Plauener Ereignissen und dem Erscheinen des ›»Weihnacht!«‹-Romans, in bemerkenswert ausdrücklicher Weise mit der Onanie, ihren Ursachen und angeblichen ›Folgen‹ auseinandergesetzt. Und zwar in seinem erst vor wenigen Jahren wieder entdeckten Artikel ›Ein wohlgemeintes Wort‹,37 in dem er sich vor allem mit den Folgen ›falscher‹ Lektüre auseinandersetzt.

  Am Schluß dieses Artikels, sozusagen als Conclusio seiner vorhergehenden Ausführungen, wendet sich May gegen die schablonenhafte Machart der Ritter- und Räuberromane, und zwar vor allem gegen deren sexuelle bzw. erotische Seite. Die geschlechtliche Liebe, kritisiert May die Romane, dominirt das Leben in allen seinen Erscheinungen und Gestaltungen. Unter ihrer Macht muß sich alles Andere beugen;


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kräftige Selbstbeherrschung, edle Verzichtleistung ist eines mannhaften Ritters unwürdig, und die freundliche Fee, welche über die Erde wandelt, um die Herzen in heiliger Sympathie zu einen, wird gezwungen, die Göttin des Hasses, die Beschützerin des Bösen und die Schirmherrin menschlicher Begierden zu sein. (133) Dies führe dazu, daß in diesen Romanen die Liebe im Kothe der Sünde untergeht, daß deshalb ein Leser dieser Art von Literatur vor der Zeit reif würde und daß die Sinnlichkeit nunmehr sein ganzes Denken und Sinnen (ebd.) umfange. Natürlich beschreibt Karl May hier seine eigenen Erfahrungen mit der Leihbibliotheksliteratur seiner Zeit. Der Leser, so May weiter, werde ein Sclave zerrüttender erotischer Gefühle (ebd.) (diese Worte sind im Original gesperrt gesetzt), er wende sich einer schädlichen promiskuitiven bzw. sinnlichkeitsorientierten Lebenshaltung zu, und er verschwendet die Kräfte seines Körpers und Geistes in Vergnügungen, die er von der Zukunft erwarten und auch dann nur in den Stunden der Erholung suchen sollte. (Ebd.) Es ist deutlich, daß May hier vor allem von der angeblichen Wirkung dieser Lektüre auf junge Menschen spricht (von der Zukunft erwarten) und daß er sich dabei, gänzlich widerstandslos, aller sexualfeindlichen Injurien seiner Zeit wie selbstverständlich bedient.

  Und das gilt auch für die zeitgenössische Anti-Onanie-Propaganda. Denn er fährt fort: Und findet er die Befriedigung, die so Verderben bringend ist, weil sie immer neues und heftigeres Bedürfniß erweckt, nicht auf gesellschaftlichem Wege, so zieht er sich in die Einsamkeit zurück und wird von den üppigen Bildern seiner überreizten Phantasie zur Anwendung jenes geheimen und unheilvollen Giftes getrieben, welches so zerstörend auf die körperliche und moralische Gesundheit unserer jetzigen Jugend wirkt und dem wir den Mitleid erregenden Anblick so vieler greisen Jünglinge und Jungfrauen verdanken. (Ebd.) Damit beantwortet Karl May die schon von Plaul gestellte Frage nach den »sicherlich vorhanden gewesenen Objekten seiner Pollutionsträume«38 weitgehend selbst: Vorlagen für Mays jugendliche Phantasien waren die leichtbekleideten Damen und kraftstrotzenden Ritter und Räuber aus den zahllosen Leihbibliotheksbänden, die er selbst, nach Ausweis seiner Autobiographie, zu Hunderten verschlungen hatte. Er schreibt dazu erläuternd: Wollten diese Beklagenswerthen - die infizierten Leser - unsre Fragen offen und ehrlich beantworten, so würden wir erfahren, daß weitaus die Meisten von ihnen die Nahrung für ihre nur in der Verborgenheit zu befriedigenden Leidenschaften aus denjenigen Büchern nehmen, vor welchen zu warnen die Aufgabe dieses Aufsatzes ist (ebd.). Allen Erziehern empfiehlt May, einen konsequenten Vertilgungskrieg gegen dieses gefährliche Gezücht zu unternehmen, und auch Erwachsene sollten ihre Lectüre einer genauen und sorgfältigen Prüfung unterwerfen und alles Unreine rücksichtslos ausmerzen. (Ebd.)

  Eine solche auch sprachlich verblüffende Wendung, wie sie hier von


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May deutlich wird, also diese Volte vom jungen Mann, der selbst unter inquisitorischer Onanie- und sicher auch Lektürekontrolle zu leiden hatte, hin zum gnadenlos opportunistischen Verfechter eben dieser fragwürdigen Prinzipien, die das Leiden - nämlich quälende Scham- und Schuldgefühle - überhaupt erst verursachten, mag den heutigen Leser einigermaßen verwundern. Vor dem Hintergrund der rigiden sexual- und körperfeindlichen Moral des 19. Jahrhunderts, wo sogar noch in den neunziger Jahren beispielsweise die Schriften von Emile Zola indiziert wurden, wäre alles andere jedoch, wenn man wie May eine Karriere als Schriftsteller anstrebte und zudem mit einer kriminellen Vorgeschichte belastet war, nur wenig erfolgversprechend gewesen. Er mußte sich der herrschenden Moral anpassen, notfalls auch um den Preis der Selbstverleugnung, wollte er nicht die Gefahr noch weitergehender gesellschaftlicher Ächtung heraufbeschwören. Hält man sich dies vor Augen, dann kann man sich auch in etwa die kalte Panik vorstellen, die den jungen Redakteur May - eben erst nach langen Jahren aus dem Zuchthaus entlassen - im Verlag Münchmeyer überfallen haben muß, als es dort Mitte der siebziger Jahre, anläßlich des ›Buches der Liebe‹ bzw. des ›Venustempels‹, ausgerechnet wegen ›unsittlicher Schriften‹ zu einer polizeilichen Hausdurchsuchung kam. Der Vorwurf der ›Unsittlichkeit‹ war nicht erst seitdem, wie wir gesehen haben, zu einem Trauma für den Schriftsteller Karl May geworden, das ihn, aufgrund unzureichender persönlicher Souveränität im Umgang mit der sexuellen Sphäre, noch in den Scheidungsauseinandersetzungen mit seiner ersten Frau und bis zu seinem Lebensende gefangen hielt. Es wäre deshalb nur wenig überspitzt, wenn man behauptete, daß es schließlich auch genau das war - nämlich ein zwanghafter und unreflektierter Umgang mit der gesellschaftsweit grassierenden Prüderie -, was ihn am Ende umbrachte.39

  Denn auch die Selbstbiographie ›Mein Leben und Streben‹ aus dem Jahr 1910 ist ja bekanntlich eine Rechtfertigungsschrift, und zwar vor allem insofern, als sie sich intensiv, systematisch und durchgängig mit der damaligen ›Lektürekritik‹ auseinandersetzt, deren inhaltliche Argumente sie sich, sofern sie ins argumentative Konzept passen, weitgehend zu eigen macht.40 Wie ein frühes Kapitel dieser Autobiographie wirkt denn auch Mays bereits zitierter, allerdings dreißig Jahre zuvor entstandener lektürekritischer Aufsatz ›Ein wohlgemeintes Wort‹ - und das vielleicht aufschlußreichste Wort, das immer wieder darin auftaucht, lautet Gift.

  May wendet sich in seinem Aufsatz keineswegs, wie dies einige der ersten Interpreten angenommen haben,41 in erster Linie gegen die zeitgenössischen Kolportageromane - wie auch er sie vom gleichen Jahr an zu verfassen begann, in dem er diese Polemik schrieb. Vielmehr schrieb er sich eine schon länger zurückliegende eigene Erfahrung vom Leib,


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die er nur notdürftig in ein aktuelles Gewand kleidete: er beschrieb nämlich seine Lektüre-Erfahrungen, die er in seiner Jugend in den diversen Leihbibliotheken mit der eigens für diese produzierten Literatur gemacht hatte. Vierzig Jahre später, für seine Autobiographie, sollte er vieles von dem, was er schon im ›Wohlgemeinten Wort‹ über Leihbibliotheken geschrieben hatte, noch einmal fast wörtlich wiederholen - nur den erotischen bzw. sexuellen Aspekt, der für ihn gleichwohl eine besondere Bedeutung hatte, ließ er diesmal aus sehr einleuchtenden Gründen unerwähnt: zu diesem späten Zeitpunkt waren nämlich die angeblichen ›Schlüpfrigkeiten‹, die er selbst verfaßt hatte, längst zu einem Totschlagargument konservativer Kulturschnüffler gegen seine gesamte Literatur geworden. Da wollte er kein Öl ins Feuer gießen, bzw. er versuchte geradezu zwanghaft, diesen ganzen Bereich von sich fernzuhalten.

  Als typische Leihbibliotheksliteratur galt seit Vulpius' Zeiten das Genre der Ritter-, Räuber-, Kloster-, Geister- und Schauderromane (129), das auch May hier als einziges ausdrücklich in den Blick nimmt. Die zahlreichen Titel bzw. Titelgestalten, die er nennt, sind fast alle authentisch bzw. lassen sich in ihrer Mehrzahl tatsächlich nachweisen oder sind bekannten Leihbibliothekstiteln nachgebildet. Der bereits vierzigjährige May, der gleichwohl erst am Beginn einer Schriftstellerkarriere steht, erinnert sich also an die Lektüre seiner Jugendjahre; er versucht diese Tatsache allerdings mit einem aktualisierenden Trick ein wenig zu kaschieren, indem er - durchaus zutreffend - davon spricht, dieses literarische Ungeziefer sei immer noch nicht vollständig ausgerottet, zumal gewisse Verlagshandlungen sich nicht scheuen, den alten Schmutz immer wieder aufzuklauben und in neuer Gewandung an den Mann zu bringen. (130) Der Autor bezieht sich mit dieser Feststellung auf ein reales Phänomen: nämlich auf die gängige Praxis der Kolportageverleger, die Ritter- und Räuberromane der ersten und zweiten Generation seit etwa den 1860er Jahren heftchenweise ein drittes Mal auf den Lesemarkt zu werfen. Karl May selbst kannte die Räuberromane vorwiegend aus der Hohensteiner Leihbibliothek der Witwe Engelhardt; manche Helden, deren Namen sich ihm besonders eingeprägt haben, nennt er sowohl bereits im ›Wohlgemeinten Wort‹ als auch viel später in ›Mein Leben und Streben‹, etwa die bekannten Sallo Sallini (ebd.) oder Himmlo Himmlini (132). ... ganz besonders aber in den sogenannten »Winkelbibliotheken«, schreibt er, seien diese Scharteken zu Hunderten zu haben (130); Winkelbibliotheken nannte man damals häufig solche kommerziellen Leihbibliotheken, die nur im Nebenerwerb betrieben wurden, und genau um eine solche hatte es sich bei der Leihbibliothek der Witwe Engelhardt gehandelt: sie war an eine Schankwirtschaft angegliedert gewesen.

  In einem fiktiven Dialog mit dem Vater eines jungen Leihbiblio-


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theksbesuchers, den May in seiner Polemik wiedergibt, schildert er deutlich eigene Erlebnisse: »Sein Pathe hat eine Leihbibliothek und giebt ihm so viel Bücher, wie er haben will. Alle Wochen liest er seine fünfe, sechse durch und erzählt die Geschichten von Anfang bis zu Ende wieder her. Und ist noch nicht ganz dreizehn Jahre alt!« (Ebd.) Den Inhalt dessen, was May selbst in diesem Alter in der Leihbibliothek in Hohenstein (und evtl. auch anderswo) zu lesen bekam und was nach eigenem Bekunden seine wollüstigen Phantasien beflügelt hat, bezeichnet er mit einer typischen, wenngleich zu jener Zeit bereits leicht angestaubten Metapher als Gift: Gift für den Körper, Gift für den Geist und Gift für das Herz. (Ebd.) Diesen Begriff und sein Wortfeld verwendet er noch öfter (133), er spricht von den gefährlichen Miasmen, die aus diesen Büchern strömten und die Leser verpest(en) (132), sogar von Krankheitsstoff (ebd.), der zur Ansteckung (133) führe. Mit dieser Begrifflichkeit erreicht May im Rahmen seiner Argumentation zweierlei: erstens koppelt er, indem er die Gift-Metapher wählt, für jedermann verständlich seine Ausführungen an den zu der Zeit bereits seit zwei Generationen geführten lektürekritischen Diskurs an, und zweitens nähert er sich damit so weit wie möglich auch der üblichen Redeweise der Onanieverächter, die ebenfalls, wenn sie die Selbstbefriedigung geißeln wollten, von ›Gift‹, häufig - wie May - von ›Pest‹ oder wie Bezirksarzt Dr. Pfaff von ›Seuche‹ zu sprechen pflegten; wobei das eine (Gift) eher ein älterer, das andere (Seuche) eher ein neuerer Ausdruck war. Der Lektürekritiker Wessenberg schrieb beispielsweise 1826: »In der That verhaucht die Masse schlechter Romane, gleich den pontinischen Sümpfen, ein feines Gift, den Unvorsichtigen todtgefährlich, die sich seinen Einwirkungen arglos überlassen.«42 Daß Karl May, was die ›theoretischen‹ Grundlagen seiner Lektüre-Polemik angeht, seiner Zeit eher ein bißchen hinterher hinkt, zeigt auch seine Verwendung des Begriffs Lesewuth (130), der nun wirklich bereits im 18. Jahrhundert manchen gebildeten Besserwissern dazu diente, die gerade sich regenden Lesebedürfnisse des breiten Volkes an den Pranger zu stellen.

  Bemerkenswert an Karl Mays früher Lektürepolemik scheinen mir, außer dem bereits genannten, im vorliegenden Zusammenhang vor allem noch zwei Punkte zu sein: zum einen der hohe Grad seiner Anpassung an die herrschenden bürgerlichen Normen in diesem Bereich, und zum anderen das - für ihn freilich entscheidende - Feld, für das er diese Anpassungsleistung offenbar nicht mehr zu erbringen bereit war: nämlich das der Phantasie. Leihbibliotheksbücher seien darauf berechnet, schreibt er, die Phantasie des Lesers zu ergötzen. (130) Der Autor schicke seine eigne erfindungsreiche Phantasie auf Entdeckungsreisen (130f.) und: Der Leser ist entzückt; er hat die Gegenwart vergessen und schwimmt auf den lustigen, trügerischen Wogen der ihm vorgezauberten Fata morgana. ... oft sinkt sein Arm [!], um der Phantasie Zeit und Raum


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zu glänzenden Luftschlössern zu geben. (131) Die an dieser Stelle deutlich werdende Ambivalenz gegenüber der Phantasie ist kennzeichnend für viele Schriftsteller und Künstler seiner Zeit; zahlreiche Künstlerautobiographien des 19. Jahrhunderts zeugen von einer unentschieden schwankenden Haltung gegenüber der Phantasie. Oft wird sie verurteilt, und im gleichen Atemzug als für die eigene Entwicklung grundlegend konstatiert. Der aus Dresden stammende Maler Wilhelm von Kügelgen (1802-1867) berichtet etwa in seinen vielgelesenen, für einen bestimmten Bereich geradezu gattungsprägend gewordenen ›Jugenderinnerungen eines alten Mannes‹43 von den spannenden Rittererzählungen seines Onkels, die bei ihm »eine frühzeitige Überreizung der Phantasie«44 bewirkt und diese in »unnatürliche Spannung gesetzt«45 hätten. Die Beschreibung der ersten Romanlektüre schwankt zwischen offener Faszination und Verurteilung: »Romane werden für nachteilig gehalten, weil sie die Phantasie erhitzen (...), und auch der meinige (...) trug in der Einsamkeit [!] des eigenen Zimmers dieselbe Frucht. Die mich umgebende Wirklichkeit nahm ein romantisches Gewand an, indem ich unwillkürlich die Züge des Gelesenen in sie hineintrug.«46

  Diese Unentschiedenheit in der Bewertung der eigenen frühen Lektüreerfahrung kann geradezu als typisch gelten für die bürgerlichen Künstler dieser Zeit. Sie ist individueller Ausdruck der zwiespältigen Haltung der Gesellschaft zum Lesen ganz allgemein: das Lesen war einerseits als wichtige Produktivkraft anerkannt, es galt aber andererseits - vor allem auch im Zusammenhang mit der Onanie-Diskussion - als mit vielfältigen Gefahren verbunden. Um die Produktivkraft des Lesens nutzen zu können und die drohenden Gefahren abzuwehren, wurde in bürgerlichen Familien schon früh eine literarische Pädagogik zwischengeschaltet. Bei Kügelgen war es die Mutter, die den Lesestoff zu steuern versuchte, bei Karl Immermann (1796-1840) der Vater. »Seit meinem zehnten Jahre«, schreibt Immermann in seinem Lebensbericht,47 »entbrannte in mir Lesehunger, der sich lange fortsetzte (...) Diese Krankheit erscheint fast allen Kindern, welche mit einigem Talent ausgestattet wurden. Der bloße Anblick eines Buches versetzt das damit behaftete Kind in eine Art von zitternder Begierde (...) Ich las, wessen ich nur habhaft werden konnte, und genoß die seligsten Stunden bei dem, was ich verstand und - nicht verstand. Reisebeschreibungen, Biographien, Romane, Schauspiele wurden verschlungen (...) Ich war unglaublich fertig im Schnellesen, und ein nicht gar zu dicker Band kostete mich selten mehr als einen Tag. Mein Vater aber, dem diese Wut gefährlich für die Sinne und die Phantasie seines Sohnes vorkommen mochte, erließ plötzlich das geschärfteste Edikt, daß ich nicht mehr lesen solle, als was er mir in die Hand gebe (...)«.48

  Im Rückblick werden übrigens solche zensierenden Eingriffe durch Erwachsene von fast allen Autobiographen als weitgehend wirkungslos


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empfunden. Die individuelle Lust der Leser hat sich noch stets durchgesetzt.

  Die am Begriff der Phantasie deutlich werdende Ambivalenz auch des Mayschen Standpunktes betrifft in gewisser Weise noch manche anderen Abschnitte bzw. Argumentationsfiguren des ›Wohlgemeinten Wortes‹. So bezeichnet er zwar das Lesen als Rausch und vergleicht den Gang zur Leihbibliothek mit dem Bestreben eines Süchtigen, sich eine neue Dosis Opium zu holen (131) - mit dem gleichen Begriff, Opium, beschrieb ungefähr zum gleichen Zeitpunkt auch Gottfried Kinkel seine ersten, von einer Bonner Leihbibliothek gespeisten Lektüreerfahrungen -, doch zeigt May sich zwei Seiten später erkennbar bemüht, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, und er betont, er sei durchaus weit entfernt von der Behauptung ..., daß die größte Schuld der sittlichen Korrumption auf das Lesen schlechter Bücher zu werfen sei (133). Allerdings müsse doch wohl schon der einzelne Fall - nämlich sein eigener, was er natürlich nicht sagt - Aufmerksamkeit und Theilnahme (ebd.) erregen.

  Ihn selbst hatte nämlich, wie wir wissen, als Schüler niemand anleitend und wohlwollend unter seine Fittiche genommen; entsprechend sehnsuchtsvoll war immer das Verlangen auch noch des späten May nach ›innerer Anleitung‹ - ein tiefwurzelndes Bildungsbedürfnis, das vielfältig ungesättigt blieb. Denn zensiert in der zitierten Weise wurde selbstverständlich nur in bürgerlichen Haushalten; proletarische Familien, wie diejenige, aus der Karl May stammte, waren in ihrem Bildungs- und Aufstiegshunger gezwungen, alles an Lektüre aufzunehmen, was sie in die Finger bekamen. Insofern waren die diesfälligen Bestrebungen seines Vaters, die May in der Autobiographie so sarkastisch beschreibt, nicht nur höchst verdienstvoll, sie hätten auch, vor dem gegebenen sozialen Hintergrund, gar nicht entscheidend anders verlaufen können. Was May im ›Wohlgemeinten Wort‹ also in Wirklichkeit beschreibt, das sind nicht so sehr die Folgen unpassender Lektüre, sondern vielmehr die fatalen Umstände mangelnder Bildung und vernachlässigender bzw. fehlgelaufener Erziehung aus sozialen Ursachen.



VI. Onanieverfolgung und Lektürekritik


Der offensichtlichste Zusammenhang zwischen Onanieinquisition und Lektürekritik besteht natürlich im gemeinsamen Bezug auf ›obszöne‹ oder ›erotische‹ bzw. ›pornographische‹ Literatur. Auch Karl May weist hierauf ausdrücklich hin; nicht alle Titel, die er in seinem Artikel nennt, sind Ritter- oder Räuberromane. Er führt als Beispiel u. a. auch das (fiktive?)49 Buch »Schatzkammer ehelicher Geheimnisse. Gedruckt zu Frankfurt 1719« (130) an, von dem er berichtet, es sei mit Zeichnungen


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versehen, die einen Erwachsenen erröthen gemacht hätten. (Ebd.) Nur wenige Jahre zuvor hatte er als Redakteur bei Münchmeyer eine vermutlich ganz ähnliche Produktion betreut, das ›Buch der Liebe‹, eine - ebenfalls illustrierte - weitgehend unverächtliche (und keinesfalls pornographische) Aufklärungsschrift über die Physiologie der menschlichen Sexualität und Fortpflanzung, wie sie gleichwohl sogar noch zu Beginn unseres Jahrhunderts von eifrigen Staatsanwälten vielfach beschlagnahmt und den Papiermühlen zugeführt wurden. Was die Herren Zensoren dabei zweihundert Jahre lang ganz besonders auf die Palme brachte, war die Tatsache, daß in diesen (oft freilich nur als solche getarnten) Aufklärungsschriften die menschliche Sexualiät fast zwangsläufig einen Autonomiestatus genoß. Dem Leser wurde erstens ziemlich deutlich, daß Geschlechtsverkehr Spaß macht, daß Sex zweitens auch als Selbstzweck seine Berechtigung hat und nicht allein zum Kinderzeugen und daß - und wie - es drittens möglich ist, unerwünschte Schwangerschaften zu verhüten. In einer Gesellschaft, die sich noch nahezu unangefochten unter Einfluß der christlichen Kirchen und ihrer rigiden Vorstellungen von Sexualmoral befand, reichte dies allein schon für staatliche Verfolgung aus.

  Bei Karl May wird en passant zudem einer der Hauptgründe deutlich, warum sowohl exzessive Lektüre als auch selbstgenügsame Onanie verpönt waren bzw. sogar in teils geradezu sadistischer Weise (man denke etwa an die Schreberschen Anti-Onanier-Maschinen) verfolgt wurden: beides lief dem protestantischen Tätigkeitsideal zuwider. May schildert eindringlich, daß der Leserausch bloß von der Wirklichkeit ablenke; im nackten Leben aber helfe kein Träumen, sondern hier giebt es Arbeit und Arbeit und immer wieder Arbeit. (131) Beim rauschhaften Lesen aber gehe die innere Kraft verloren, die Anforderungen der Alltäglichkeit zu erkennen und ihnen gerecht zu werden (ebd.); bei Frauen etwa, die den Inhalt irgend eines obscönen Buches ... verschlingen (130), führe dies zu Lüderlichkeit in ihrer Haushaltung (ebd.) und zu Löchern in ihren Strümpfen. Daß May übrigens hier seine erste Frau gemeint haben könnte, ahnt man, wenn man sich das bekannte Foto der jungen Emma als eifriger Heftchenleserin vergegenwärtigt.50

  Wenn May auch in seinen ›»Weihnacht!«‹-Roman, in dem sich die Plauener (und Waldenburger) Seminarzeit spiegelt, lektürekritische Passagen und Motivketten eingebaut hat, geschah dies also keinesfalls willkürlich. Mit kenntnislosen Indianerbüchern, heißt es etwa, werde der wohlberechtigte Wissensdurst der Jugend benutzt, um ein ungesundes Mischmasch zu teurem Preise (107) zu verkaufen. Bei dem armen Don Quijote Carpio haben alle möglichen Indianerbücher (323) dazu geführt, daß sich sein Verhältnis zur Realität völlig aufgelöst hat. Am Ende wird er nicht zuletzt auch daran, entkräftet und blaß, in den Armen seines starken berühmten Freundes sterben.


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  Der Nexus zwischen Onaniediskussion und Lektürekritik, den May in ›»Weihnacht!«‹ und ›Wohlgemeintem Wort‹ vor dem Hintergrund seines eigenen Lebenslaufs konsequent herstellt - einmal verschlüsselt, das andere Mal ausdrücklich -, ist durchaus keine Erfindung oder Eigenart dieses Abenteuerschriftstellers. Die Verbindung zwischen beiden Feldern pädagogischer Bemühungen bestand sei eh und je, sie ist nur von den Zeitgenossen nicht immer gleich offen ausgesprochen worden; deshalb ist sie - obwohl sozusagen auf der Hand liegend - bislang weder unter kulturhistorischem Aspekt, wie etwa bei Ludger Lütkehaus, der sich mit der Onaniedebatte beschäftigt hat, noch unter literatur- oder mediengeschichtlichem Gesichtspunkt wie etwa bei Georg Jäger, der sich mit der Schmutz- und Schunddebatte auseinandergesetzt hat, gesondert in den Blick genommen worden. Dabei sind die zeitgenössischen Zeugnisse, die beides miteinander in Zusammenhang bringen, im ganzen doch ebenso zahlreich wie aussagekräftig.

  Christian Gotthilf Salzmanns einflußreiche Onanie-Warnschriften ›Carl von Carlsberg‹ (1783/88) und ›Ueber die heimlichen Sünden der Jugend‹ (1787) beispielsweise wimmeln von Verweisen auf ›falsche‹ Lektüre, ebenso die im gleichen Jahr erschienene Broschüre ›Ueber Kinderunzucht und Selbstbefleckung‹.51 Darin wird behauptet, wollüstige Lektüre mache aus Jugendlichen regelmäßige Bordellgänger;52 im übrigen sei jede Art von Lektüre potentiell schädlich, von Ovid, Petronius, Plautus und Martial, Wieland und Miller sowieso, bis sogar zu den Anti-Onanie-Autoren Tissot und Salzmann; und von einer Schrift Lessings heißt es: »ich kenne (...) kein Buch, daß [!] der jugendlichen Einbildungskraft schändlichere Bilder vorführt«.53 Umgekehrt ist auch in der Schrift ›Ueber den sittlichen Einfluß der Romane‹ (1826)54 des aus Dresden stammenden Konstanzer Generalvikars J. H. v. Wessenberg, die sich um die angebliche ›Lesesucht‹ dreht, mehr oder weniger von nichts anderem die Rede als von dem gefährlichen Kitzel, den Romane »der Phantasie und der aufgeregten Sinnlichkeit geben.«55 Auch er vergleicht die Lektüre mit der »betäubende(n) Wirkung des Opiums«,56 geißelt die »Sucht nach blos sinnlicher Unterhaltung«57 und stellt die für ihn nur scheinbar rhetorische, bei Kulturkritikern aller Zeiten aber immer aufs neue beliebte Frage: »Würden wohl, wenn nicht eine solche Menge scham- und zuchtloser Romane gelesen würden, ihrer so viele im wirklichen Leben gespielt?«58 Wessenberg behauptet, »daß Dichtungen, die mittelst der Phantasie den Geschlechtstrieb erregen, (...) schon deswegen gefährdend sind, weil sie den Trieb vor dem Zeitpunkt wecken und reizen, den die weise Natur für ihn ausersehen hat«.59 Er glaubt deswegen ganz generell, daß Romanlektüre für Jugendliche ungeeignet sei.60

  Für Heinrich Heine - der selbst von Paris aus die Fernleihmöglichkeiten einer Kölner Leihbibliothek regelmäßig nutzte - war der Zu-


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sammenhang zwischen Leihbibliothekslektüre und Onanie durchaus eine immer wieder bespöttelte Selbstverständlichkeit. Dies wird beispielsweise in den ›Elementargeistern‹ (1835) deutlich oder auch in seinen ›Briefen aus Berlin‹ (1822), wo er der Aufzählung einiger bekannter Romantitel von Walter Scott, die in vielen Leihbibliotheken gleich im Dutzend vorhanden waren, einen bezeichnend obszönen Nebensinn abgewinnt: alle Frauen, heißt es, läsen diese Romane gerne, »besonders unsre gefühlvollen Damen. Diese legen sich nieder mit ›Waverley‹, stehen auf mit ›Robin dem Roten‹, und haben den ganzen Tag den ›Zwerg‹ in den Fingern.«61

  Daß sich in erotischen Erzählungen, etwa denen des seinerzeit ebenso berühmten wie unnötig berüchtigten Fischer-Althing, Masturbationszenen finden, kann kaum überraschen; daß dies häufig im Zusammenhang mit entsprechender Lektüre geschieht, ist da schon bezeichnender.62 Alberto Martino hat in seiner großen Darstellung der Geschichte der deutschen Leihbibliotheken die Stimmen zahlreicher Leihbibliothekskritiker, vor allem aus der sog. ›Lesewut‹-Diskussion des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts versammelt; dabei wird auf den Zusammenhang zur Onanie immer wieder offen oder implizit hingewiesen. Ein Kritiker von 1795 beispielsweise schreibt: »Schlüpfrige und schwärmerische Liebesgeschichten haben schon manche jugendliche Unschuld verdorben und den in der Natur liegenden Funken der edlen Liebe in Flammen der Unzucht verwandelt.«63 Oder eine Stimme aus dem Jahr 1801: »Wenn (...) durch schwärmerische und empfindsame Schriften auch Leidenschaften aufgeregt werden, die Phantasie aufgeregt, das Blut erhitzt und in eine unnatürliche Wallung gesetzt wird, wie zerstörend muß das Alles für die Gesundheit seyn!«64 Martino faßt die damalige Diskussion folgendermaßen zusammen: »Das Lesen wird verurteilt, da es die Einbildungskraft, auch in sexueller Hinsicht, freisetzte, einen Hang zur Freiheit und Unzufriedenheit mit dem eigenen sozialen Status hervorruft. (...) Die orthodoxe Geistlichkeit bekämpfte die Lektüre und insbesondere die rein unterhaltende Lektüre, da sie in der Autonomie des Lesens eine Gefährdung ihrer Einflußmöglichkeiten im religiösen und erbaulichen Bereich und eine Wurzel der zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft erkannte.«65

  Dies hatte sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts noch nicht geändert. Selbst ›Meyer's Conversationslexikon‹ informierte die Bürger darüber, daß die »Neigung zum Romanlesen« manchen Ärzten als Symptom einer beginnenden krankhaften Steigerung des Geschlechtstriebes gelte, weshalb das »Lesen schlechter und unpassender Romane«66 zu vermeiden sei. Und ein Züricher Pfarrer hob 1867 in einer Stellungnahme zur ›Schundliteratur‹ diesen Aspekt besonders hervor: »Wir verbitten uns alles Coquettieren und Liebäugeln mit der Sünde,


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alle übertünchte Lüsternheit, alles unreine Reizen der Phantasie, um so mehr, (...) wo die Gefahr geschlechtlicher Ausschreitungen groß ist.«67 Pfarrer und Lehrer waren mit ihren Bemühungen um eine ›Reinigung‹ des Lektüreangebots offenbar so erfolgreich, daß der Literaturkritiker Karl Rosenkranz 1853 klagte: »Unsere deutsche Literaturgeschichte ist durch das Zurechtmachen derselben für Mädchenpensionate und höhere Töchterschulen schon ganz kastriert worden.«68

  Auch diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren und leicht verzehnfachen.69

  Wie aus der vorstehenden Aufzählung wohl auch deutlich geworden ist, konnte in den Augen eifernder Pfarrer und Lehrer buchstäblich jedes Buch in den Verdacht geraten, schädlich zu sein, sprich ›die Wollust anzustacheln‹ und als Onaniervorlage zu dienen. Das galt auch für die Bibel, die ›Heilige Schrift‹. Noch 1893 forderte ein Kritiker: »Die Bibel, wie sie ist, die Bibel als Ganzes, gehört nicht in die Hände von Kindern.« Denn: »Bekanntlich enthält die Bibel, besonders in ihren alttestamentlichen Teilen, eine Menge sehr freimütiger und sehr weitgehender Andeutungen über Dinge, die wir sonst vor Kindern mit aller Sorgfalt geheim zu halten suchen, über Dinge und Vorgänge geschlechtlicher Art. (...) Gerade der Umstand, daß neben dem Erbaulichen das Anstößige in demselben Zusammenhang und in unmittelbarer räumlicher Nähe zu lesen steht, erweckt mit Recht die schwersten Bedenken.«70 Der Verfasser weist deshalb ausdrücklich darauf hin, daß 1875 in Sachsen »auf amtliche Veranstaltung« die erste »gereinigte« Schulbibel erschienen sei.



VII. Blutsbrüder in der Räuberhöhle


Wie sahen demgegenüber die Ritter- und Räuberromane aus, auf die sich Karl May und mit ihm Generationen anderer Lektürekritiker immer wieder bezogen? Schon Paul Englisch hatte in seiner ›Geschichte der erotischen Literatur‹ auf die besonderen erotischen Implikationen auch der Räuberromane hingewiesen. »Ein Räuber«, schrieb er 1927, »der sich außerhalb der Gesetze stellte, hielt sich auch in erotischer Beziehung nicht an die herkömmlichen Regeln, sondern suchte sich das Leckerste an Bettgenossin, wo er es findet.«71

  Karl May nennt zahlreiche Titel von Räuberromanen, sowohl in seiner Autobiographie als auch in der frühen Lektürepolemik. Um den darin für seine schriftstellerische wie persönliche Entwicklung liegenden Implikationen voll gerecht werden zu können, müßte man sie systematisch auswerten, was hier nicht geschehen kann. Statt dessen soll einer der von ihm mehrfach genannten Romane exemplarisch durchgesehen werden, und zwar ›Die Räuberhöhle auf Monte Viso‹ von Theo-


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dor Graeber. Diesen Roman hat Karl May nach eigenem Bekunden in seiner Jugend gelesen (also etwa zwischen 1850 und 1856), möglicherweise sogar mehrfach; der Titel hatte sich ihm dermaßen eingeprägt, daß er sich zweieinhalb Jahrzehnte später, als er das ›Wohlgemeinte Wort‹ (1882) schrieb, wieder an ihn erinnerte,72 und auch abermals fast dreißig Jahre später, beim Verfassen seiner Lebensgeschichte (1910), war ihm dieser Titel noch geläufig.73 Man darf also, schon was diese durchaus erstaunliche Erinnerungsleistung angeht (und ohne die Gefahr einer Überbewertung des einzelnen) von einem mindestens herausgehobenen Stellenwert dieses Romans für Karl Mays Persönlichkeit ausgehen - zumal der erhaltene Katalog der Leihbibliothek in Hohenstein diesen Titel tatsächlich aufweist.

  Der Verfasser Theodor Graeber hatte zwischen 1831 und 1834 sechs Räuberromane geschrieben, die sämtlich in Nordhausen beim Verlag von Ernst Friedrich Fürst erschienen, der sich auf dieses Genre spezialisiert hatte.74 ›Die Räuberhöhle auf Monte Viso‹ erschien dort 1834 mit dem Untertitel ›Eine Räubergeschichte aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts.‹75 Die Handlung spielt um das Jahr 1798 in der Nähe des tatsächlich existierenden Monte Viso in den Cottischen Alpen (südwestlich Turins). Robert, ein junger Mann, wird von Räubern gefangen und später von seinem Vater für 1000 Louidors freigekauft. Er hat sich dort aber in Aurelie verliebt, ein Mädchen, das bei den Räubern lebt und dessen Herkunft rätselhaft ist. »Voll und rund ragte ihr alabasterner Busen empor« (I 25), stellt Robert fest. Als er einen Überfall der Bande auf ein Landgut vereitelt, schwört ihm Recco, der Räuberhauptmann, furchtbare Rache: nichts könne ihn abhalten, »mich im Blute meines Erzfeindes (...) zu baden und zu besaufen« (I 57). Das Mädchen hat einen Vertrauten bei den Räubern, Rodrigo, der heimlich Briefe zwischen den beiden Liebenden befördert. Auch er wirft gelegentlich ein Auge auf das Mädchen: »Hingegossen auf dem rothsamtenen Sopha lag das reizende Wesen, und die schönen Umrisse ihres Körpers waren in dieser Lage sichtbarer denn je. Im Schlafe waren die Kleider etwas zurückgeschoben und der Busen hatte das verhüllende Tuch verloren. Wer hätte kalt bleiben sollen bei diesem Anblicke?« (I 95) Rodrigo stiehlt Recco einige Urkunden, die Aufschluß über Aurelies Herkunft geben können. Die Zeit bis zu ihrer Befreiung droht knapp zu werden, denn der Räuberhauptmann will sie zu seiner Frau machen. Als Recco mit dem Anführer einer anderen Bande Blutsbrüderschaft getrunken hat, verweigert sie unter einem Vorwand die Besiegelung dieses Aktes. Aurelie wird befreit, die Papiere beweisen, daß ihr wirklicher Name Lätitia lautet - die Freude - und daß ihr Großvater der Prior eines Klosters gewesen ist. Heirat.

  An diesem Punkt ist der erste von zwei Bänden beendet und auch die Geschichte ist eigentlich an ihrem logischen Endpunkt angekommen.


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Doch für achtzig Seiten des zweiten Bandes flickt der Autor Graeber nun noch einen erzählerischen Wurmfortsatz hintenan. Darin macht sich der Räuberhauptmann Recco, als Kavalier verkleidet, auf die Suche nach dem befreiten Mädchen. Dabei gerät er mitten in aufständischen ›Pöbel‹, der die Marseillaise singt und »Es lebe die Freiheit, nieder mit dem Adel« (II 30ff) skandiert. Robert wird in die revolutionären Wirren verwickelt und rettet dabei dem als Graf verkleideten Räuber das Leben. Zusammen mit dem Räuber und seiner Bande befreit Robert einen von aufständischen Bauern gefangenen Gutsherrn und seine Familie. Damit hat Recco, wie es heißt, »für diesmal seinem natürlichen Feinde Robert an Großmuth und Edelmuth nicht nachgestanden« (II 61), und außerdem ist jetzt das Eigentum, »vorzüglich der Bürger, (...) nicht mehr so gefährdet, und nur die Vornehmen und Adlichen hatten noch zu befürchten von der Aufgeregtheit des Volkes.« (II 69) Aurelie bekommt im folgenden eine Tochter, und Recco wütet weiter in der Auvergne als Räuber, später wird er in St. Flour hingerichtet. »Robert und Aurelie weinten bei der Nachricht seines qualvollen Todes eine Thräne des Mitleids.« (II 80) Damit ist dem Autor endgültig der erzählerische Atem ausgegangen, und die restlichen hundertsiebzig Seiten des zweiten Bandes werden mit einer ganz neuen Geschichte gefüllt, die mit dem Räuberroman überhaupt nichts zu tun hat: ›Die Rache des Weibes‹, eine schwülstige Liebesgeschichte, die freilich ebenfalls mit einigen erotischen ›Stellen‹ ausgestattet ist. Einmal beobachtet ein Voyeur eine Badende (II 94f.), ein andermal heißt es: »Das bergende Busentuch war Agnes entfallen, die nackten wogenden Brüste lagen zu Eduards Genusse da (...) Sie zitterte unter den Gluthküssen und den berührenden Händen Eduards« (II 200); ihre Entjungferung wird durch widrige Umstände gleichwohl knapp verhindert: »Schnell und mit einem zitternden Ach! entwand sie sich den Umarmungen Eduards.« (II 201)

  Die ›erotischen‹ Passagen des Romans, hier vollständig zitiert, mögen für heutige Leser ziemlich reizlos sein, für Konsumenten früherer Zeiten, ungeübte zumal, waren sie es vermutlich nicht ganz. Unter dem obligatorischen Motiv der verfolgten Unschuld boten Generationen von Autoren ihrer Leserschaft immer wieder stereotyp Gelegenheit zu entsprechender Stimulierung der Phantasie. Daß dies auch bei Karl May nachhaltig der Fall gewesen ist, hat er, wie gesehen, selbst geschildert. In vielen dieser Romane gelten Frauen als ›Gemeingut der Bande‹, wenn sie nicht sogar selbst ausdrücklich das Recht auf Liebe und freie Partnerwahl beanspruchen. Gelegentlich kommt es dabei zu regelrechten Plädoyers für eine »Emanzipation von den rigiden Moralvorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft.«76

  Doch über diesen konkreten erotischen Gesichtspunkt hinaus tauchen in den Räuberromanen immer wieder auch andere archaische


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bzw. archetypische Szenen, Motive und Rituale auf, die einerseits für die populäre Literatur nahezu aller Zeiten kennzeichnend sind, vom Märchen bis zum Kolportageroman und der Heftchenliteratur unserer Tage, die andererseits in ihrer je besonderen Ausprägung aber auch einiges auszusagen vermögen über die Zeit, der sie entstammen resp. über ihren nach- oder neuschöpfenden Autor bzw. dessen Leser. Ein Kennzeichen des Räuberromans unter gattungstypologischem Gesichtspunkt ist es beispielsweise, daß er formal zwar als Genre relativ deutlich abzugrenzen ist, konkret inhaltlich aber fast stets bestrebt bleibt, möglichst viele Erwartungs- und Rezeptionshaltungen zu bedienen. So schwankt in ein und demselben Werk die Handlung nicht selten zwischen aktionsreichem Abenteuergeschehen und empfindsamer Genreszene hin und her, die Sprache zwischen glühendem Liebes- und trockenem Traktatstil, die politische Haltung zwischen offenem Aufruhr und plattester Reaktion, die humanitäre Perspektive zwischen kollektivem Blutrausch und allgemeiner Völkerverständigung usw. Die literarischen Genres waren längst noch nicht so ausgeprägt wie seit Beginn unseres Jahrhunderts, deshalb mußte eine einzige Gattung noch alle möglichen anderen Genreanforderungen erfüllen, genau wie dies später auch die Kolportageliteratur tat. Diese Parallele weist übrigens darauf hin, daß beide Gattungen zu unterschiedlichen Zeiten ähnliche Publikumsanforderungen befriedigen mußten bzw. zu verschiedenen Zeiten einer ähnlichen Publikumsschicht als Lektüre dienten: im ersten Fall dem sich ausdehnenden Bürgertum, das gerade erst das breite Lesen für sich entdeckt, und im zweiten Fall, mehr als ein halbes Jahrhundert später, dem entstehenden Industrieproletariat, das sich ebenfalls erstmals dem extensiven Lesen zuwendet.

  Eine solche archaische Szene ist die erzählerisch vergleichsweise sorgsam inszenierte Blutsbrüderschaft zwischen Recco und dem Anführer der anderen Bande. Sie findet »in der Höhle« (I 192) statt, und Recco hält zuvor eine flammende Rede, in der er seine neuen Bundesgenossen darauf einschwört, künftig nicht zurückzuschaudern vor dem »Mord eines friedliebenden unschuldigen Kindes, Weibes oder Greises« oder davor, »die Brandfackel in die Häuser stilllebender Menschen, in die Hütte lumpiger Bauern, so wie in die Palläste stolzer Barone« (ebd.) zu schleudern. Wer ihm sein Wort einmal gegeben habe, der sei daran gebunden, Unfolgsamkeit werde mit dem Tod bestraft. Sie schwören ihm gemeinsame Treue und wollen allen seinen Befehlen, »und möchten sie noch so grausam sein«, gehorchen. »Recco schenkte jetzt einen Becher voller Wein, nahm ihn in die linke Hand, riß mit der rechten einen Dolch aus seinem Gürtel und ritzte sich in den linken Arm, daß das Blut herab in den Becher spritzte.« (I 192f.) Der andere Anführer tut ein gleiches, während die Bandenmitglieder staunend und schweigend »das blutige Schauspiel« verfolgen. Das Blut der beiden


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Anführer hat sich »im edlen Rebensaft mit einander vermählt« (I 193), Recco trinkt davon, und nach und nach alle anderen Räuber: »ein Jeder trank aus dem Becher, der durch die Vermischung des Rebensaftes mit Menschenblut für Mörder und Räuber den Stempel der Heiligkeit trug« (I 194). Dieses Ritual, bei dem es einem in Zeiten von Aids durchaus kalt den Rücken herunterlaufen kann, hat nicht nur eine deutliche homoerotische Komponente, indem es eine versammelte Männergesellschaft mittels Austausch von Körperflüssigkeit auf bündische Gemeinsamkeit verpflichtet, es ist zugleich eine heidnische Massenkommunion, deren Ablauf dem entsprechenden Höhepunkt des christlichen Gottesdienstes bewußt angeglichen ist; vor allem die darin angelegte kannibalische Komponente, die symbolische Kraftaufnahme und -übertragung durch Verspeisen fremder menschlicher Körpersubstanz, ist auch für den heutigen Leser durchaus noch von geradezu obszöner Faszination.

  Die mehrschichtige erotische Qualität der Szene wird betont und erweitert durch das Verhalten der Frau, Aurelie (d. i. die Goldene, Glanzvolle), die sich dieser Situation unvermittelt gegenüber sieht. Denn »als dieß vorbei war«, wird sie hereingerufen und soll, bleich und zitternd, der versammelten Runde »als neue Gebieterin« einen Becher kredenzen. Sie schenkt Wein ein, trinkt einen Schluck aus dem goldenen Becher, »und reichte ihn dann dem Hauptmann mit den Worten dar« (I 194), sie sei »ein Weib und nicht fähig, diesen Becher wie es wohl schicklich wäre, (...) zu leeren; (...) sie erröthete bei diesen Worten über und über und senkte ihren Blick verschämt zu Boden.« (I 195) Der Hauptmann »aber nahm den Becher aus Aureliens Hand und sprach: ›So leere ich ihn vollends (...)‹« (ebd.), leert ihn mit einem Zug und küßt »sein Weib«, woraufhin alle Räuber in donnernde Vivat-Rufe ausbrechen und ihrer vermeintlichen neuen Herrin »die schlaff herabhängende Hand« (ebd.) küssen. Auch diese Fortsetzung der Blutsbrüderschaftsszene ist bis in die Dialoge hinein dem christlichen Gottesdienst nachempfunden. Das Erröten der Frau verweist nochmals deutlich auf den auch erotischen Hintersinn dieser Massenvereinigung, der sich die Frau, als sie dafür vereinnahmt werden soll, durch ein listiges Berufen auf ihre Weiblichkeit gerade noch entziehen kann. Es mischen sich erzählerisch christliche Symbolik und heidnisches Blutritual zu einer Szene mit gleichenteils hetero- wie homoerotischen Qualitäten, deren Exklusivität nach außen und uterale Geborgenheit ebenso betont werden wie ihre interne Öffentlichkeit zur verbrüdernden Erschaffung einer neuen ›Familie‹, der patriarchalisch geführten Bande.

  Jene berühmte Blutsbrüderschaftsszene, die Karl May vierzig Jahre, nachdem er dies gelesen hatte, für ›Winnetou I‹ selbst schrieb, weist einige charakteristische Ähnlichkeiten und Unterschiede zu Graebers Räuberverbrüderung auf. Eine Frau spielt, wie sonst nicht gerade oft


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bei May, auch hier eine Rolle, jedoch anders als bei Graeber  v o r  der eigentlichen Szene, nicht danach. Als nach dem erfolgreichen Zweikampf des noch jungen und erst just mit einem ›Namen‹ versehenen Ich-Erzählers mit Winnetous Vater der Roman zu einem vorläufigen glücklichen Höhepunkt gelangt, erhält er von Nscho-tschi eine Pfeife mit von ihr geschnitztem Kopf geschenkt. Er lobt ihre kunstvollen Hände, sie errötete über dieses Lob.77 Nun restituiert sie die Vollständigkeit seiner männlichen Person, indem sie ihm Revolver, Messer, Munition und die sonstigen Gegenstände (331) wiederbringt. Es folgt die blutige Hinrichtung Rattlers, danach hält Winnetous Vater eine lange Rede, in der er den Mut Old Shatterhands lobt und ankündigt, diesen in den Stamm der Apachen aufzunehmen und zum Häuptling zu machen. Zur Bekräftigung seiner Aufnahme müsse er eigentlich mit jedem erwachsenen Krieger das Kalumet rauchen, doch könne dieser Akt durch eine Blutsbrüderschaft mit Winnetou abgekürzt werden. Der Stamm bekräftigt durch kollektive Zustimmung - nicht durch Vivat-Rufe, sondern durch ein dreimaliges »Howgh!« (360).

  Nun folgt die eigentliche Zeremonie, zu der Old Shatterhand als erstes einfällt, daß er das bereits kennt: aus seiner Lektüre. Also eine Blutsbruderschaft, eine richtige, wirkliche Blutsbruderschaft, von der ich so oft gelesen hatte! (Ebd.) Nun ritzt Intschu tschuna den Vorderarm seines Sohnes, läßt die Blutstropfen in eine Schale mit Flußwasser fallen, dann geschieht das gleiche mit Old Shatterhand, wobei sein Blut in einer anderen Schale aufgefangen wird. Ich leerte meine Schale und Winnetou die seinige. Es war Rio Pecos-Wasser mit einigen Blutstropfen, die man nicht schmeckte. (361) Damit ist der profane Akt abgeschlossen. Doch der Ich-Erzähler fühlt sich, wie zur Entschuldigung und um etwaigen Mißverständnissen vorzubeugen, bemüßigt, seinen Lesern eine längere Reflexion über das Geschilderte zu bieten. Dabei referiert er abergläubische Vorstellungen, die von abenteuerlich gestimmten Leuten - vielleicht denkt er dabei an Räuber - mit einer solchen Zeremonie verbunden würden, und betont die rein symbolische, also bildliche Bedeutung (ebd.) im vorliegenden Fall. Dennoch erwähnt er sogleich auch die wirklich erstaunliche Uebereinstimmung (362), die sich künftig zwischen Winnetou und ihm immer wieder gezeigt habe. Damit ist der Akt abgeschlossen, für den im Gesamtzusammenhang noch von Bedeutung ist, daß er das Mittelstück einer zeremoniellen Trias indianischer Feierlichkeiten bildet: Hinrichtung, Blutsbruderschaft, Totenfeier.

  Auch diese Blutsbrüderschaft ist also eine öffentliche Veranstaltung mit stellvertretend subjektiver Initiations- und kollektiver Integrations- und Abschirmungsfunktion nach außen (die allgegenwärtige Gefährdung des Stammes hatte die vorlaufende Handlung gezeigt). Anders als bei Graeber gibt es aber bei May nunmehr zwei Schalen, die zudem nicht aus Gold sind. Sie fungieren damit nicht mehr als ›Kelch‹, wie


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überhaupt die christliche Symbolik der Szene, auch in dem, was gesprochen wird, hier weitgehend ausgetrieben ist. Die Handlung und ›Wandlung‹ der Beteiligten ist vom Obszönen gereinigt, da auch die erotische Komponente weitgehend zurückgedrängt ist. Im Mittelpunkt steht jetzt, nicht zuletzt bedingt durch die Ich-Erzählperspektive, die Individualität der Beteiligten, nicht so sehr der Gesamtkörper des Kollektivs. »Die Seele lebt im Blute« (360) sagt Intschu tschuna. Damit ist jedoch auch hier die Aufnahme in den Stamm besiegelt, in eine Art exotisch idealer Großfamilie, die allerdings nicht von einem Hauptmann, sondern von mehreren Häuptlingen angeführt wird.



VIII. Interniert: anderthalb von zwölf Jahren


Der Häuptling des königlich-sächsischen Lehrerseminars zu Plauen war Johann Gottfried Wild. Ob auch er einen Zusammenhang gesehen hat zwischen der erschröcklichen ›Seuche‹ unter seiner Schülerschaft und deren Lektüre, ist nicht überliefert. Daß der Zusammenhang real bestand und sogar auch von zumindest einem der Schüler reflektiert worden ist, haben wir gesehen; daß Lesen zuweilen unkalkulierbare - nämlich auch literarische - Folgen hat, zeigt der zuletzt gebotene Abschnitt. Daß Schriftsteller also nicht einzig zum Vergnügen lesen, darauf hat John Irving, das Eingangsmotto zitiert ihn, in seinem großartigen Roman über ein Schriftstellerleben hingewiesen; daß Lektüre zuweilen geradewegs mit Kriminalität verbunden wurde, schreibt er nicht mehr. Hundert Jahre vor ihm war das gleichwohl ein geläufiger Topos. Im Sterbejahr des Plauener Seminardirektors, 1878, schrieb beispielsweise ein Leihbibliothekar: »Daß diese Lectüre nicht unschädlich war, erlebte der Verfasser selbst. Ein berüchtigter Dieb und Einbrecher gab im Untersuchungsverhör an, er sei zu solchen Verbrechen durch die Räubergeschichten, die er aus meiner Leihbibliothek gelesen, verleitet worden.«78 Zwanzig Jahre später, als die Schmutz- und Schunddebatte einem unrühmlichen Höhepunkt entgegentrieb, wurden die Bücher des einstigen eifrigen Leihbibliothekslesers Karl May nun ihrerseits für ganz ähnliche Delikte haftbar gemacht. Das Argument hatte sich seit dem 18. Jahrhundert nicht gewandelt - und die es vorbrachten hatten für ihren zensurierenden Furor immer noch staatlich-bürokratische Rückendeckung.

  Auch in dem Städtchen Plauen im Vogtland gab es, als May dort das Lehrerseminar besuchte, einige Leihbüchereien. Ob er, als glühender Leser, sich auch dort mit Lesestoff versorgt hat, ist unbekannt; zuzutrauen wäre es ihm. Im Jahr 1854 existierten jedenfalls bei Ottomar Frotscher sowie F. E. Neupert mindestens zwei Leihbibliotheken in Plauen, 1863 wahrscheinlich drei: zu den beiden genannten war die von


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Hohmann hinzugekommen.79 Alle drei hatten durchaus nennenswerte Bestände zu bieten: Neupert hatte einige Jahre später sogar einen gedruckten Katalog,80 Hohmann schaltete große Werbeanzeigen in lokalen Blättern, und als Frotscher zwanzig Jahre später seine Leihbibliothek verkaufen wollte, warb er damit, diese umfasse »circa 7000 Bände, incl. einiger hundert Bändchen in franz. u. engl. Sprache«.81 Wenn Seminardirektor Wild tatsächlich verwirklicht hat, was er zur Vorbeugung gegen die massenhafte Onanie in seiner Schule zumindest seiner vorgesetzten Behörde gegenüber ankündigte, nämlich den Schülern mehr der knapp bemessenen Freizeit einzuräumen, dann könnten sie diese auch zu Besuchen in einer der Leihbibliotheken verwendet haben - auch wenn dies vom Direktor nicht intendiert gewesen sein mag. Daß für Karl May der Aufenthalt in Plauen jedenfalls nicht ausschließlich aus strenger Seminardisziplin bestand, geht wohl aus der bekannten Äußerung des Hobble-Frank im ›Schwarzen Mustang‹ hervor, der zufolge man im dortigen sog. Tunnelrestaurant hervorragendes Bier und beste vogtländische Klöße zu sich nehmen könne.82



1. Ordnung für das Königreich


Tatsächlich waren solche kleinen Freiheiten, allerdings mit klaren Einschränkungen, auch nach der gültigen ›Ordnung der evangelischen Schullehrerseminare im Königreich Sachsen‹ von 1857 möglich - das Biertrinken für Seminaristen gehörte allerdings nicht dazu. Auf diese Richtlinien in vierundfünfzig Paragraphen ist, wer Näheres wissen will, aufgrund immer noch fehlender exakter Kenntnisse über die Lebenssituation Karl Mays in seiner Seminarzeit großenteils angewiesen. Die gedruckten Regularien83 sind aber bereits ziemlich aussagekräftig, zumal Indizien dafür sprechen, daß diese Ordnung, die nur wenige Jahre zuvor beschlossen worden war, in Plauen relativ genau umgesetzt worden ist.

  Die allgemeinen Bestimmungen verpflichteten die Lehrerseminare, und zwar in ihrem ersten Paragraph, nicht nur einen kenntnisreichen und sittlichen, sondern ausdrücklich auch einen »christlich-gläubigen und kirchlich gesinnten« Lehrerstand hervorzubringen. Vorgesetzte Behörde war die Kreisdirektion des Bezirks, und zwar in ihrer Eigenschaft als Konsistorialbehörde. In jedem Seminargebäude war eine kleine zwei- bis dreizügige Seminarschule untergebracht, an der auch die Seminarzöglinge zu Übungszwecken unterrichten konnten (§ 3). Im Kollegium durften »nur christlich und kirchlich gesinnte (...) Männer« (§ 5) angestellt werden; Oberlehrer und Direktor hatten »wo es sich thun läßt, Wohnung im Seminargebäude« (§ 6) zu nehmen. Aufnahme in das Seminar erfolgte »in der Regel« nicht vor dem 16. Lebensjahr (§ 8), Aspiranten durften keine körperlichen Gebrechen haben, und sie


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mußten u. a. einen Konfirmationsschein und ein Sittenzeugnis vorweisen, das »bürgerliche Unbescholtenheit und christlich-sittliche Führung« (§ 9) belegte. Die Ausbildung betrug vier Jahre, wobei besonders hoher Wert auf die musikalische Erziehung gelegt wurde.

  Die besonderen Bestimmungen betrafen die Haus-, Lehr- und Strafordnung. »Die Hausordnung ist die christliche Familienordnung für das Seminar« (§ 15), und sie galt nicht nur innerhalb, »sondern auch außer dem Seminare«, Kopf und Herz der Zöglinge sollten möglichst früh »zu Gott und zu ihrer Lebensaufgabe« - in dieser Reihenfolge - hingewendet werden. »Die Grundlage der Hausordnung bildet das Internat.« (§ 16) Die Erziehung dort solle »nicht blos zur Lehrfähigkeit« führen, sondern auch zu »innerlicher christlich-sittlicher Tüchtigkeit«; die Regularien legen Wert auf die Feststellung, daß die Internierung der Zöglinge »möglichst bald herzustellen« sei, sie ist zudem »auf alle Zöglinge, selbst auf diejenigen, deren Eltern am Seminarorte wohnen, auszudehnen.« Um die Schüler »zur Gesundheit, zur Einfachheit und Genügsamkeit« (§ 18) zu erziehen, sollten sie möglichst auch zu häuslichen Arbeiten herangezogen werden, damit sie »für ihre Bedürfnisse möglichst selbst sorgen lernen.« Aufstehens- und Schlafenszeit wurden von einem eigenen Paragraphen geregelt: »Die Zöglinge des Seminars verlassen im Sommer um 5 Uhr, und im Winter um 5 1/2 Uhr das Bett und legen sich um 9 1/2 Uhr, nach Befinden um 10 Uhr zur Ruhe. Die Zeit des Aufstehens und Schlafengehens aber hat der Hausmann des Seminars oder nach Befinden ein damit beauftragter Seminarzögling durch die Seminarglocke anzuzeigen.« (§ 19) Von den sechzehn Tagesstunden haben die Schüler fünf Stunden »freie Zeit«, nämlich morgens nach dem Aufstehen eine Stunde sowie mittags und abends je zwei Stunden. Beurlaubungen, etwa für Elternbesuche, durften nur sonntags nachmittags gewährt werden, ausnahmsweise auch an Wochentagen, dann aber nur in der unterrichtsfreien Zeit und niemals nach dem Abendessen (§ 22). Gesonderte Verbote betrafen das Tabakrauchen sowie »das Betreten öffentlicher Schankstätten« (§ 23), auch »Rohheiten und Unsittlichkeiten« außerhalb des Seminars wurden geahndet. Schüler der beiden obersten Seminarklassen konnten »ausnahmsweise und unter strengster Auswahl« die Genehmigung erhalten, »zum Behufe eines Nebenverdienstes in Familien einige Unterrichtsstunden zu ertheilen« (§ 24), doch durfte kein Zögling mehr als vier Stunden wöchentlich annehmen. Jeder Tag mußte mit einem Gebet begonnen und beschlossen werden, zu dem sich alle Schüler in Gegenwart des Direktors zu versammeln hatten, dabei wurde ein Abschnitt aus der Bibel vorgelesen oder es wurden einige Liedverse gesungen. »(...) wahre Innerlichkeit, durch rechtes Maß und heilsame Beschränkung« waren dabei das Ziel; die Gebetsstimmung sollte, wie eigens betont wird, »nicht etwa durch einen bloßen Gebetsmechanismus« gehemmt werden (§ 25). Montags hatten alle


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Zöglinge außerdem an einer Schulandacht im Hause teilzunehmen (§ 26) sowie zusätzlich an Sonn- und Feiertagen den örtlichen Gottesdienst zu besuchen (§ 27), wobei sie nachmittags dort noch »die kirchlichen Katechisationen als Zuhörer« besuchen mußten. Die »tägliche und nächtliche Beaufsichtigung der Seminarzöglinge« mußte vom Direktor gewährleistet werden.

  Was nun den Geist anging, in dem die Hausordnung gehandhabt werden sollte, so wurde eigens betont, daß die Schüler gefördert werden sollten, »ohne die Entwicklung der Individualität und eines tüchtigen Charakters innerhalb der Grenzen der Zucht und des Gehorsams zu beeinträchtigen.« (§ 30) Die »Lebensgemeinschaft zwischen Lehrern und Zöglingen« sollte »das Bild einer christlichen Familie im Großen« darstellen, wobei »weichlicher pietistischer Färbung« ebenso entgegengewirkt werden sollte wie »träger sinnlicher Versunkenheit.«

  Die Lehrordnung unterschied in Lehrfächer ersten und zweiten Ranges, d. i. in Haupt- und Nebenfächer. Es gab sechs Hauptfächer: Religionsunterricht, Katechetik, Musikalische Ausbildung, Muttersprache und Rechnen sowie Pädagogik, wobei die Reihenfolge zugleich die Wertigkeit beschreibt. D. h. die mit Abstand wichtigsten Fächer am Seminar waren Religion und Katechetik sowie ein ausgesprochen differenzierter Musikunterricht, wobei zu beachten ist, daß religiöse Themen auch in den anderen Haupt- und Nebenfächern immer wieder die Grundlage bildeten, bei Musik ebenso wie in Muttersprache oder Pädagogik. »Der christliche Religionsunterricht nimmt schon darum die erste und wichtigste Stelle im Seminarunterrichte ein, weil er die erste und wichtigste Grundlage, nicht blos ein Gegenstand, sondern das Princip und die lebendige Seele alles Elementarschul- und Volksunterrichts ist.« (§ 34) Er umfaßte Biblische Geschichte, Katechismuslehre, Bibelkunde, Liederkenntnis und Kirchen- bzw. Reformationsgeschichte. Die musikalische Ausbildung soll einesteils der individuellen Bildung des Lehrers zugute kommen, »seiner eigenen Veredelung«; sie ist aber, nach dem Religionsunterricht, vor allem dasjenige Fach, »was den Lehrer zum kirchlichen Dienste befähigt« (§ 36). Schüler »ohne alle musikalische Naturanlagen« dürfen deshalb nicht in ein Seminar aufgenommen werden. Gegenstände des Musikunterrichts sind Violin-, Klavier- und Orgelspiel sowie Gesang und Generalbaß. Dabei soll das Orgelspiel »die Seminaristen befähigen, einst das Amt eines Organisten würdig zu verwalten.« (§ 37) Im Gesangsunterricht müssen aus dem Gesangbuch des jeweiligen Bezirks die 60 bis 70 (!) »gangbarsten Choralmelodien« auswendig gelernt werden, alle übrigen sollen sicher nach Noten gesungen werden können. Als Aufgabe des Musikunterrichts wird vom Ministerium ausdrücklich hervorgehoben, »daß (...) der fast verloren gegangene geistlich- und kirchlich-musikalische Geschmack in dem Lehrerstande wieder erweckt und der Verweltlichung der Musik


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in der Kirche überhaupt und namentlich in dem modernen Orgelspiel gründlich gewehrt und abgeholfen werde.« (ebd.) Für die Fächer Deutsch und Rechnen hat das Ministerium nur wenige Sätze übrig, insgesamt nur eine Seite der gedruckten Seminarordnung; Religion und Katechetik war auf zwei, Musik sogar auf mehr als drei Seiten beschrieben worden. Dafür wird beim Fach Pädagogik, das vor allem in der letzten Klasse des Seminars eine Rolle spielen soll und dort »einen der wichtigsten Unterrichtsgegenstände« (§ 39) bildet, nochmals ausdrücklich betont, daß auch dieser Unterricht »vom christlichen Standpunkte zu ertheilen« sei, was natürlich als reaktionäre Abwehr moderner weltlicher Pädagogen wie Fröbel, Pestalozzi oder Diesterweg gemeint ist. Auch die Nebenfächer dienen ganz dem nämlichen Ziel, Geographie beispielsweise soll »namentlich auch zum Verständniß der heiligen Schrift« (§ 40) dienen.

  Schließlich spiegelt auch die Anzahl der wöchentlich zu erteilenden Unterrichtsstunden diese herausragende Bedeutung der religiösen Komponente, die mindestens ein Drittel des gesamten Unterrichts bestimmte.83a In den oberen beiden Klassen sollte der Katechismusunterricht wöchentlich vier Stunden umfassen, die biblische Geschichte drei; Gesang sollte mindestens drei, Generalbaß eine Stunde umfassen, die übrigen musikalischen Übungen wurden von der Anzahl der jeweiligen Schüler abhängig gemacht. Muttersprache wurde in den oberen Klassen in zwei Stunden unterrichtet, Rechnen ebenfalls zweimal wöchentlich; für Naturlehre, die ausschließlich in den oberen Klassen behandelt wurde, war eine Stunde vorgesehen, für Geographie und Geschichte zusammen zwei bis drei, für Geometrie eine und für Schönschreiben eine, für Zeichnen und Turnen je zwei. Zu diesen wöchentlich mindestens dreißig Unterrichtsstunden kamen die abendlichen Repetitorien der Tageslektionen und allsamstägliche Wiederholungen der Wochenlektionen noch hinzu (§ 44), wobei in der Gestaltung des Unterrichts »eine blos docirende Form« vermieden, statt dessen eine »populäre, allgemein faßliche, anschauliche, frische und lebensvolle Form« gewählt werden sollte (§ 41).

  Am Schluß der Seminarordnung werden Strafgrade festgelegt, die von 1) Öffentlichem Verweis vor dem Kollegium bzw. Seminar bis 5) »gänzliche Entfernung aus dem Seminare« reichen (§ 49). Zweck dieser Strafen sei es, »die christlichen Schul- und Kirchengemeinden« rechtzeitig »gegen untüchtige und unwürdige Lehrer« (§ 48) sicherzustellen. Als Gründe für die Verhängung der beiden schärfsten Strafgrade (viertens lautete auf »Entziehung der Beneficien«) wurden vor allem »sittliche Unwürdigkeit eines Zöglings für seinen künftigen Beruf« genannt, als Beispiele angeführt sind Trägheit, Widersetzlichkeit und ausdrücklich »Irreligiosität«, sowie »fleischliche Sünden und andere entehrende Handlungen« (§ 51)! Berücksichtigt man, daß unter diesen letztge -


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nannten Punkt, wie ja die sonstige Praxis zeigt, normalerweise auch Fälle von Onanie zu fallen hatten, dann wird deutlich, daß es sich bei der Veröffentlichung des Dr. Pfaff durchaus um einen diplomatisch geschickten Schachzug gehandelt haben könnte. Seine Publikation unter Umgehung des Direktors und der Konsistorialbehörde, zumal im preußischen ›Ausland‹, verhinderte, daß ein einzelner Sündenbock gesucht und stellvertretend für die anderen Seminaristen abgestraft werden konnte. Und die Überlegung, sämtliche Schüler zu entlassen, wird kaum ernsthaft angestellt worden sein. Man mußte sich also, gezwungenermaßen, so intensiv diagnostisch und ›therapeutisch‹ mit den Vorfällen befassen, wie es dann ja auch geschah - und wie es möglicherweise in der Absicht des Arztes gelegen hatte.

  Was nun die mehrfach zitierte, ganz besondere Betonung vielfältiger religiöser Hinsichten bei der Lehrerausbildung angeht, so ist hier auf einen bedeutsamen Aspekt aufmerksam zu machen, der in der gesamten bisherigen May-Forschung, einschließlich der ausdrücklich christlich motivierten, viel zu wenig bzw. überhaupt keine Beachtung gefunden hat: Bei der damaligen sächsischen (und preußischen) Lehrerausbildung handelte es sich nämlich keineswegs um eine solche, die, wie das bislang oft verkürzt bzw. geradezu mißverstanden worden ist, mehr oder weniger ähnlichen Anforderungen genügte wie eine heutige, also weltliche Lehrerausbildung. Vielmehr galt ein Lehrer nicht in erster Linie als Vermittler von Wissen, sondern als Erzieher. Und das hieß im damaligen Verständnis, daß er vor allem auch die religiöse Lebenshaltung seiner Schüler sicherstellen und sie zu funkionierenden Mitgliedern der - in diesem Fall - lutherischen Landeskirche zu machen hatte. In diesem Sinn war ein Lehrer, wie jeder Pfarrer, immer auch Theologe: also Prediger, Ausleger und Verteidiger der christlich-kirchlichen Lehre.

  Zu dieser ausbildungsbedingten Bedeutung der kirchlichen Lehre für jeden Lehrer kam eine weitere, ganz handfeste und materielle Abhängigkeit: Der direkte Vorgesetzte eines Lehrers vor Ort war nämlich der örtliche Pfarrer. Die Lehrer fungierten als deren Gehilfen, und zwar nicht allein beim Religionsunterricht, sondern sie waren Organisten an der Dorfkirche und häufig sogar Küster, die die Vorbereitung des Gottesdienstes zu besorgen hatten bzw. das regelmäßige Glockenläuten davor. Den Umfang dieser Hilfsdienste bzw. gegebenenfalls auch die Dispensierung davon bestimmte der Pfarrer. Daß es dabei nicht selten zu Zusammenstößen gekommen ist, wenn etwa der Lehrer ein allzu aufgeklärter Mann war, kann man sich leicht vorstellen. Jeder Verstoß eines Lehrers, etwa gegen die christlich-sittliche Moral und Weltordnung, wurde unweigerlich vom Ortspfarrer an das Konsistorium gemeldet. Strafen, Versetzungen, Lohnabzüge kamen immer wieder vor. Zwar hatte das liberale Bürgertum während der 48er-Revolution versucht, eine konsequente Trennung von Kirche und Staat herzustellen und damit


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auch diese entwürdigende Abhängigkeit der Volksschullehrer von kirchlichen Vorgesetzten zu beenden, doch es dauerte schließlich weitere siebzig Jahre, bis dies in Deutschland erstmals wirksam wurde.84

  Natürlich galt das vorstehend Gesagte auch für den Seminarabsolventen Karl Friedrich May. Auch in den ›Verhaltensregeln für Schulamtscandidaten im Königreiche Sachsen‹ hieß es über die Aufgaben der jungen Lehrer ausdrücklich: »Bei den ihm übertragenen Lehrer- und resp. Kirchendienstfunctionen hat er sich durchgängig nach den Anordnungen des Localschulinspectors oder Geistlichen zu richten und sich daher aller eigenmächtigen Veränderungen in Schul- und Kirchendienstgeschäften zu enthalten, in Zweifelsfällen sich des Pfarrers Rath und Anweisung zu erbitten und der letzteren willig Folge zu leisten« (§ 9).85 Ein weiterer Paragraph legte fest, daß der Kandidat, wenn er »für den Geistlichen den öffentlichen Gottesdienst zu besorgen« habe oder »zur Abhaltung von Betstunden mit Predigtlesen oder Catechisation verpflichtet« sei, dies »in schwarzer Kleidung« tun müsse; er durfte außerdem nur solche Gebete und Predigten verwenden, »auf welche er von dem Geistlichen verwiesen worden« war. Damit war die Abhängigkeit des angehenden Lehrers vom Ortsgeistlichen festgeschrieben. May hatte in dieser Hinsicht jedoch Glück, denn der Ortsgeistliche aus Ernstthal, Pfarrer Schmidt, war ihm wohlgesonnen und hat ihm mehr als einmal helfend beigestanden. Er sorgte beispielsweise durch persönliche Vor- und Fürsprache beim Konsistorium dafür, daß May nach seiner Entlassung in Waldenburg, entgegen der ausdrücklichen Bestimmung in den bereits zitierten Regularien, in Plauen seine Ausbildung außerplanmäßig beenden konnte. Weniger bekannt ist, daß Pfarrer Schmidt seinem Schützling danach in Ernstthal auch eine Stelle verschaffen wollte. May hatte kurz nach dem erfolgreichen Abschluß seiner Studien in Plauen bei der Superintendentur Chemnitz den Antrag gestellt, »seine Verwendung als Hilfslehrer oder Vicar in nicht zu weiter Entfernung von seinem Heimatorte«86 in Erwägung zu ziehen. Pastor Schmidt bat brieflich um einen Hilfslehrer, woraufhin ihm vom bereits mehrfach erwähnten Kirchenrath Döhner versichert worden war, »daß May seiner Vaterstadt Ernstthal zur Verwendung als Vicar überlassen werde.«87 Dazu kam es jedoch offenbar deshalb nicht mehr, weil May unterdessen bereits die Stelle an der Solbrigschen Fabrikschule angenommen hatte. Deutlich wird jedoch, daß May als Lehrer auch die Qualifikation zum Vikar erworben hatte; Vikare waren »Geistliche, welche einen Pfarrer in den Amtsgeschäften seines Kirchspiels unterstützen, und einen Theil seiner Verrichtungen besorgen.«88


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2. »Mancherlei gegen die Ordnung«




Im Alltag des Plauener Seminars wurde vieles von dem verwirklicht, was die Regularien vorsahen. Schon die eingangs zitierten Ausführungen Dr. Pfaffs über den Tagesablauf der Seminaristen entsprechen exakt der vorgesehenen Agenda. Auch eine Seminar- und Übungsschule bestand: ihre Schüler sangen bei den Abschlußprüfungen der Seminaristen. Die Seminaristen erhielten, wie aus dem Jahresbericht des Direktors hervorgeht, im Jahr 1860 u. a. »Praktische Anweisung zur Obstbaumzucht und Veredelung der Obstbäume« von einem Gärtner: auch das war als Möglichkeit so vorgesehen. Mit Strafarbeiten und Hausarrest wurden 1860 z. B. Schüler belegt, die ihre sonntägliche Erlaubnis, die Eltern zu besuchen, »eigenmächtig verlängern«. Die bedeutende Rolle der Musik - und die bemerkenswerte Ausstattung der Anstalt - geht u. a. aus der Tatsache hervor, daß Direktor Wild, obwohl er bereits über zwei Orgeln und vier Klaviere verfügte, das Ministerium um »noch eine Orgel und zwei bis drei Claviere« bat!

  Einem sensiblen und aufnahmebereiten Schüler wie Karl May mußten die inneren Widersprüche, die in den zitierten theoretischen Richtlinien für sächsische Lehrerseminare zwangsläufig zum Ausdruck kommen - Bildung zu vermitteln und zugleich christlich-kirchliche Religiosität; die Individualität zu entwickeln und zugleich Unterordnung unter patriarchalische Prinzipien -, in der Praxis besonders zu schaffen machen. Nach Mays gnadenweiser Aufnahme in Plauen legte die Kreisdirektion dem dortigen Seminardirektor nahe, »ihn bei der Aufnahme ernstlich zu ermahnen und bezüglich seines Verhaltens sorgfältig zu überwachen«.89 Damit stand May in Plauen sozusagen unter doppelter Zusatzbewachung: einmal als Täter von Waldenburg und sodann, wie gesehen, als bekennender Onanist. Er mußte, als er am 4. Juni, mit Ende der Pfingstferien, in Plauen aufgenommen wurde, zunächst »in einem Privathause ein Logis« suchen, da wegen Überfüllung »in dem Seminargebäude (...) kein Raum vorhanden« war.90 Er wohnte deshalb für einige Monate in einer Dachkammer (!), die zur Wohnung eines Kastellans gehörte, in der Inneren Neundorfer Straße.91 Als Aufnahmeprüfung mußte er u. a. einen Aufsatz über Johannes den Täufer verfassen, römische Geschichte repetieren und arithmetische Kopfrechenaufgaben lösen. Zwar ließen seine Antworten zu religiösen Fragen »manches zu wünschen übrig«, wie das Protokoll vermerkt, doch wird er trotzdem aufgenommen und noch einmal eigens zu »gutem sittlichem Verhalten gemahnt«.92

  Vermutlich hatte er tatsächlich die Erlaubnis, wie es in ›»Weihnacht!«‹ heißt, wöchentlich zwei Stunden Nachhilfsunterricht (zu) erteilen (13). Dennoch muß die Lehrerkonferenz ihm im September eine Schulstrafe zudiktieren. Denn: »May läßt sich Mancherlei gegen die


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Ordnung des Seminars zu Schulden kommen, scheint auch eine außerordentliche Neigung zur Lüge zu haben.«93 Auf der gleichen Konferenz wird aktenkundig, daß die Seminaristen einen »Verein zur Hebung des sittl. und wissenschaftlichen Sinnes« planen. Ob dies eine Frucht der anhaltenden Onaniebefragungen und -beobachtungen war? Das Protokoll der Dezember-Lehrerkonferenz kommt jedenfalls »bezüglich der sexuellen Verirrungen (...) zu der Ueberzeugung, daß die Mehrzahl von der betr. Verirrung zurückgekommen sei.«94 Ansonsten werden die Seminaristen belehrt, daß sie »in der Andacht nie ohne Gesangbuch zu erscheinen« haben. Die Januarkonferenz 1861 berät über die »Verunreinigung (...) namentlich der Abtritte«; außerdem werden die Schüler ermahnt, »die Thüren sanfter u. anständiger zu(zu)machen.«95 Im Februar wird Karl May zusammen mit drei anderen Schülern vor die Konferenz geladen, weil sie Musikübungen oder Unterricht versäumt haben. Sie müssen »ein Stück Noten abschreiben.«96 Ende März erhält er sein Abschlußzeugnis für die zweite Klasse mit der Hauptzensur Iia97 und wird für den Orgelunterricht in die erste Gruppe eingeteilt, die wöchentlich zwei Stunden erhält.98 Im August mahnt die Konferenz erneut die Schonung des Inventars bei den Seminaristen an, »namentlich der Trinkbecher, Reinhaltung der Zimmer, Bänke u. dgl.«; außerdem sollen Musikübungen keinesfalls mit anderen Schülern getauscht werden.99

  Im September wurde Karl May schließlich zur Abschlußprüfung zugelassen. Der schriftliche Teil fand am Montag, den 9. September 1861 statt. Die Examinanden mußten vormittags einen Aufsatz verfassen zum Thema »Was spricht für und gegen die Schulpflichtigkeit der Kinder von ihrem 7. Lebensjahre an«, nachmittags mußten Katechesen und Probevorträge abgefaßt und einige Rechenaufgaben gelöst werden. Am nächsten Tag war die Musikprüfung, für einen Choral »Himmel, Erde, Luft und Meer« war ein Präludium anzufertigen, außerdem wurden Gesang und Violinspiel, Klavier- und Orgelspiel sowie Harmonielehre geprüft. Zwei Tage später, am Donnerstag, den 12. September, wurde Karl May in einer Gruppe zusammen mit vier anderen Seminaristen mündlich geprüft: In Religion ging es dabei um die Römer- und Galaterbriefe des Paulus, in Schulkunde um die Volksschulverhältnisse vor und nach 1835, in Weltgeschichte um die Weissagung des Daniel; in Geographie mußten »die durch Industrie besonders ausgezeichneten Städte Sachsens nach den verschiedenartigen Zweigen«100 benannt werden, in Geometrie mußten Fragen zum Dreieck beantwortet werden. Zur Probekatechisation am Nachmittag mußte Karl May über Joh 4, 24 sprechen, dann einen freien Vortrag halten »über das Eigenschaftswort«. Danach hatte jeder Prüfling einen Choral mit den anwesenden Schulknaben zu singen und abschließend »eine Predigt aus der W. Hofackerischen Sammlung« vorzulesen. Damit war die Kandidatenprü -


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fung bestanden, May erhielt als »Hauptergebnis der Prüfung« die Note II, und auch das sittliche Verhalten wurde »zur Zufriedenheit« beurteilt.

  Karl May verbrachte, wenn man die Internate in Plauen und Waldenburg und die kurz darauf folgenden Gefängnisaufenthalte zusammenrechnet, von den ersten zweiunddreißig Jahren seines Lebens, also bis zur Entlassung aus Waldheim 1874, insgesamt fast zwölfeinhalb Jahre in mehr oder weniger geschlossenen Anstalten. Zwölf Jahre, das war der überwiegende Teil seiner Erwachsenenzeit bis dahin und immerhin noch die Hälfte der bewußten, auch der ›sehend‹ verbrachten Jahre. Es kann auch für Skeptiker wohl kein Zweifel darüber bestehen, daß diese anhaltende Internierung, die lange, ausschließlich in männlicher Gesellschaft und zudem unter repressiven Bedingungen verbrachte Zeit ihre tiefen Spuren in der Psyche, in Wesen und Charakter dieses danach so eminent erfolgreichen Schriftstellers hinterlassen haben müssen. Die Frage ist allerdings, worin diese Spuren genau bestehen und wie sie aussehen. Ich denke, daß auch zu dieser Frage das hier vorgelegte Material einige bemerkenswerte Anhaltspunkte liefern kann. Mays lebenslange, zwanghafte Dämonisierung der Sexualität etwa, die 1907 ihren eruptiven bösartigen Höhepunkt in der ›Studie‹101 über seine erste Frau fand, wurzelt mit einiger Sicherheit nicht zuletzt in früh implantierten Schuldgefühlen, jenem »Stachel im Rückenmark«, den auch Wilhelm Reich in seiner Lebensgeschichte beschreibt.102

  Karl May war stets, ob in Plauen oder Waldheim, Objekt der zeitgenössischen Pädagogik bzw. ihrer Erziehungs- und ›Zivilisierungs‹-Bemühungen. Als Phantast und leidenschaftlicher Geschichtenerzähler, als Lügner und Betrüger, als Onanist und Regelverletzer paßte er nicht ins enge Schema der bürgerlichen Normen; also versuchte man, ihn passend zu machen. In diesem Zusammenhang ist, zusätzlich zu den oben bereits vorgestellten Überlegungen zum Thema Onanierepression und Lektürekritik, grundsätzlich zu bedenken, daß, wie Katharina Rutschky es formuliert hat, »Unterdrückung und Leugnung« der Sexualität im 19. Jahrhundert »tendenziell mit Erziehung identisch«103 war. Wichtigstes Instrument der Pädagogen war dabei die »Vergeltungsangst«, und zwar als »Vorläufer des Gewissens«.104 Zu den uneingestandenen Beweggründen der damaligen Pädagogen meinte Wilhelm Reich, dessen Kindheit selbst noch nach solchen Maßstäben reguliert wurde (und der selbst ein eifriger Karl-May-Leser war): »Der Antrieb, die eigene Kindheit zu korrigieren, dürfte einer der typischsten Motive des Willens zu erziehen sein.«105 Damit hat er vermutlich, wenn man sich die eingangs zitierten Sätze des Dr. Pfaff genau ansieht, den Nagel - zumindest was die Onanievermeidung angeht - auf den Kopf getroffen. Daß diese ›Korrektur der eigenen Kindheit‹, was den Umgang mit der Onanie betrifft, schließlich auch bei Karl May selbst - der


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sich immer auch als ›Lehrer seiner Leser‹ verstanden hat - wirksam wurde, zeigten nicht zuletzt seine Lektürepolemik ›Wohlgemeintes Wort‹ sowie, weit darüber hinaus, seine um so heftigeren Anpassungsbemühungen an die ihn - als ehemaligen Zuchthäusler - verachtende Gesellschaft.

  Karl May begegnete diesem ihm vermutlich nicht selten entgegenschlagenden Mißtrauen und der anhaltenden Verständnislosigkeit keineswegs mit christlicher Demut oder gar Unterwürfigkeit, sondern zunächst mit einem hohen Grad an Arroganz und Hochmut. Wer das früheste überlieferte Foto von ihm betrachtet, das ihn um 1875 als Redakteur zeigt,106 der erkennt in Haltung und Blick, daß mit diesem Mann, zumindest wenn er Vorgesetzter war - und das war er für zahlreiche Setzer und Punktierer, Lieferanten, Kolporteure und Aufwärter - und sich überlegen fühlen durfte, nicht unbedingt gut Kirschen essen gewesen ist. Er nimmt eine Pose ein, eine gelehrte, akademische, vielbeschäftigte zumal; er sieht leicht von oben herab auf den Betrachter, mit einem distanzierten, fast schon herrischen Blick; er beherrscht das Interieur, nicht umgekehrt. Der Körper steht seitlich zum Betrachter, er ist mit einer anderen, wichtigeren Sache, einem Manuskript beschäftigt; nur so eben gerade wendet er sich uns zu, beinahe ein wenig überrascht von der unwillkommenen Unterbrechung, gnädig bereit, seine Beschäftigung kurz für den Eintretenden zu unterbrechen. Von seiner Gestalt selbst ist vorwiegend die vom Gehrock gebildete Rückenlinie zu sehen. Er steht über Eck, eine Konsole oder Anrichte wie als Lesepult zwischen seinen Beinen, eines davon abgewinkelt; damit wird der Unterkörper, außer von Jacke und Hose, zusätzlich noch von dem Möbelstück verborgen. Er weiß um seine Verletzbarkeit, möchte diese aber nicht offenbaren und wandelt sie in eine Überlegenheitsgeste um. Hell: nur das Papier und das fast ein wenig irritiert wirkende Gesicht. Ihr habt mich nicht kleingekriegt, bedeutet diese Pose, dieser Blick, dieses beim Photographen produzierte ›Bild‹ von sich - und ihr sollt es auch künftig nicht schaffen.



IX. Bücher der Liebe: »Consequente Unterdrückung«


Lesen ist seiner Natur nach ein zunächst a-sozialer Akt. Anders als gemeinsam Musizierende oder Theater- oder Galeriebesucher, zieht sich der Lesende aus der Gemeinschaft zurück. Er kehrt dem Kollektiv für eine gewisse Zeit demonstrativ den Rücken zu, um bei sich selbst und einem Buch zu sein. Der Lesende begibt sich auf den Rückzug, jede Öffentlichkeit beunruhigt ihn - und umgekehrt. Dieser Rückzug aus der Welt, von dem Generationen Lesender immer wieder wollüstig berichtet haben, ist die simple Voraussetzung für jenen totalen Bezug auf sich


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selbst, den Lektüre, zumal Romanlektüre, rigoros fordert. Sei du selbst. Werde du selbst - so lauten die Forderungen der Literatur an jeden Leser. Diese demonstrative Autonomieforderung verbindet den Leser mit dem Onanisten. Beides, Lektüre wie Masturbation, setzt ganz auf die Autonomie des einzelnen, fordert sie geradezu notwendig, um ganz zu sich selbst zu kommen. Für beide Akte des Rückzugs von der Gesellschaft ist es zudem die Phantasie, die das notwendige und wichtigste Rüstzeug auf der Reise zu sich selbst anbietet. Ein Bonmot Alberto Moravias, die Selbstbefriedigung sei der einzige Sexualakt, der etwas mit Kultur zu tun habe, weil er ganz aus der Phantasie komme, findet im Zusammenhang mit der Lektüre seine Zertifizierung.

  Die Kritiker beider Unabhängigkeitsbestrebungen haben diese radikale Möglichkeit zur Autonomie, die Lektüre und Onanie dem Individuum boten, natürlich erkannt. Deshalb ist die Autonomie des einzelnen auch der heimliche, unheimlich bekämpfte Kern fast aller Onanie- und Lektürekritik. Beides, Onanie wie Lesen, war zudem als sofortige und unmittelbare Befriedigung angelegt, körperliche, sinnlich-geistige, beides unterminierte damit die bürgerliche Forderung nach ›Triebverzicht‹ bzw. ›Triebregulierung‹ und damit die Verpflichtung des einzelnen auf ein kollektives ›Umweghandeln‹ zur Kulturproduktion.107 Wenn Kritiker also - aufgeklärte wie konservative häufig in trauter Eintracht - immer gleich den Untergang der Kultur auf sich zukommen sahen, dann hatten sie damit, freilich in anderer Weise, als sie dachten, gewissermaßen auch recht: ›Romanlektüre‹ und ›Masturbation‹ waren, so verstanden, Symptom einer beginnenden Erosion des patriarchalischen Weltbildes und einer schrittweisen Verweltlichung der Gedanken, einer individuellen Emanzipation auf Kosten der überkommenen, religiös-kirchlich verfaßten Kultur kollektiver Bevormundung. Nicht nur auf dem Onanisten, sondern auch auf Romanlesern lag deshalb zweihundert Jahre lang »das Odium des Totalverweigereres (...): Wie dem Gottesreich gegenüber, so ist er auch der Familie, dem Staat und, wenn es gar kosmopolitisch zugeht, der Menschheit gegenüber eine Null: abgrundtief antifamilial, asozial, schlechthin unverantwortlich (...).«108

  Als Schriftsteller hat May immer wieder einen fundamentalen Widerspruch in stets neue Bilder und Geschichten gefaßt: die radikale Verweigerung bei maximaler Anpassung, trotzige Zurückweisung herrschender Normen bei gleichzeitiger frech-kühner Affirmation. Diesen zermürbenden Spagat, zugleich Bedingung und Resultat der Phantasieproduktion, hat er auch in seinem Leben unternommen. May hat davon geträumt, Arzt zu werden, er hatte eine Ausbildung als Lehrer und eine Vorbildung als Katechet; seine literarischen Alter egos Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi werden schließlich allerorten heilend, belehrend und predigend auftreten. Arzt, Pfarrer und Lehrer waren, wie gesehen, auch die entscheidenden Vertreter der Plauener Onanie-Inquisi-


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tion. Wenn May, nach den schmerzlich-beschämenden Erfahrungen dort, sich künftig - eben auch, was die Onanie anging - der Redeweise dieser Stützen der bürgerlichen Gesellschaft bediente und ihre Diskriminierungsargumente übernahm, so bestätigt dies nur seine vehementen Anpassungs- und Aufstiegsbemühungen: Ärzte, Pfarrer und Pädagogen waren nun einmal Repräsentanten genau jenes Teils der bildungsbürgerlichen Gesellschaft, zu dem hin May ebenfalls strebte, dessen Normen er sich mithin vorzugsweise anzupassen hatte, wenn er Einlaß in diese zu seiner Zeit noch ziemlich separate und exklusive Gesellschaft erhalten wollte.

  Einmal noch, und zwar in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der vorerwähnten Photographie, beschäftigte sich Karl May intensiv mit der Onanie, nämlich bei der Bearbeitung des ›Buches der Liebe‹. Das ›Buch der Liebe‹ (1875/76)109 war eine Mischpublikation zweier Aufklärungsbücher, die zuvor verboten worden waren und nun, zwecks inhaltlicher Neuverwertung, zu einem neuen Werk miteinander verschnitten wurden. Die Titel dieser beiden früheren Aufklärungsschriften lauteten ›Die Geheimnisse der Venustempel‹ und ›Die Geschlechtskrankheiten des Menschen und ihre Heilung‹.110 Um das frühere Verbot dieser Schriften zu umgehen, mußten beide umgeschrieben und, unter neuem Titel sowie - formal - bei anderem Verleger (F. L. statt H. G. Münchmeyer), zu einem einzigen zusammengefaßt werden. Diese redaktionelle Arbeit oblag Karl May. Die zweite Abteilung des so entstandenen ›Buches der Liebe‹ enthält ein Kapitel ›Die Onanie und ihre Folgen‹.111 Nun stammt diese zweite Abteilung des ›Buches der Liebe‹, anders als die erste und dritte, nach den Feststellungen Gernot Kunzes nicht aus der Feder Karl Mays, sie ist vielmehr weitgehend identisch mit dem genannten Werk ›Die Geschlechtskrankheiten ...‹112 Auch für das Onanie-Kapitel trifft diese Feststellung zu: Es ist im ›Buch der Liebe‹ und in ›Geschlechtskrankheiten‹ vollständig identisch (einschließlich der Seitenzahlen und Kapitelnumerierung); letzteres stammt aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht von Karl May. Daß er jedoch damit redaktionell beschäftigt war, steht, wie gesagt, ebenfalls weitgehend fest. Wem die geistige Urheberschaft überhaupt zukommt, ist im Bereich der Aufklärungsschriften des 19. Jahrhunderts meist nur schwer zu klären.113

  Das Onanie-Kapitel aus dem ›Buch der Liebe‹ ist eine umfangreiche Kompilation sämtlicher Legenden, Vorurteile und Halbwahrheiten, die zu diesem Thema seit hundert Jahren kolportiert worden waren. Insofern ist der Text, so vorgestrig er auf heutige Leser wirken mag, meist durchaus auf der Höhe seiner Zeit. Die insgesamt wenig geordnete Abfolge der Themen und Abschnitte innerhalb des Kapitels läßt vermuten, daß der Kompilator - möglicherweise der Dresdener Schriftsteller Otto Freitag - aus den verschiedenen Vorlagen übernahm, was er nur


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finden konnte. Auch wenn es nicht ganz zum Thema paßte, wie beispielsweise am Beginn des Kapitels, wo es um verschiedene Formen der Homosexualität geht.

  Der Kompilator/Bearbeiter behauptet, »Onanisten zeigen schon in ihrer frühen Kindheit eine bestimmte Anlage zu Urin- und Geschlechtskrankheiten«,114 außerdem führe übertriebene Reinlichkeit von Ammen und Kindermädchen sowie »Zusammenschlafen von mehreren Kindern in einem Bett, wenn sie Morgens nach dem Erwachen nicht gleich aufstehen« (327), zur Onanie. Auch die kindliche Beobachtung der Begattung bei Haustieren rege die Phantasie auf, »die Erinnerung daran erzeugt Geschlechtsaufregung und der erste Schritt zur That ist nicht mehr groß.« (328) »Die Closets« werden als »die gefährlichsten Schlupfwinkel und Brutstätten der Onanie« (329) bezeichnet, dazu komme das Bett, weswegen diese Orte von den Eltern besonders überwacht werden müßten. Bei Erwachsenen könne das Laster nur durch »Willenskraft« (330) bekämpft werden, dazu sei »consequente Selbstbeherrschung, (...) eiserne(r) Wille« (331) vonnöten und »vollständige Beherrschung seiner selbst«. Vermieden werden müsse unbedingt »das Lesen solcher Bücher und Schriften, die seine Phantasie erhitzen.« (Ebd.) »Consequente Unterdrückung der Onanie ist aber die erste Bedingung zur Wiederherstellung des Wohlseins und Lebensglückes.« (Ebd.)

  Reue und Schuldbewußtsein seien Kennzeichen des Onanisten, jedoch solle ein solcher sich andererseits »aller quälenden Gedanken« entledigen, da diese nur den Appetit hemmten; wenn der Geschlechtstrieb allzu übermächtig werde, »so gehe er lieber zu einem jungen hübschen Freudenmädchen« (332). Auch ein strenger Lebenswandel sei geboten: »Er stehe im Sommer um 5 Uhr, im Winter womöglich bald nach 6 auf und gehe nicht zu frühe, aber auch nicht zu spät zu Bette (...). Er vermeide Abends das Trinken geistiger Getränke und namentlich auch des Bairischen Bieres.« (Ebd.) Auch »Turnübungen in möglichst leichter Bekleidung bei jeder Witterung« (ebd.) könnten helfen. »An das Turnen müssen sich womöglich täglich und allabendlich Touren in die Umgegend schließen, nicht sogenannte Spaziergänge, dabei geht man zu gemächlich.« (333) Die Folgen der Onanie sind gräßlich: es kommt zu »Siechthum (...) Skrophulose oder Drüsen«. (Ebd.) Dies verfolge die Täter noch bis - sozusagen - ins nächste Glied: »Wie der Onanist stets überreizt ist, so haben auch die etwaigen Kinder desselben immer an den Folgen der zu großen Reizbarkeit zu leiden.« (Ebd.) Auch die einschlägigen Lektürewarnungen dürfen hier natürlich nicht fehlen: »Die beste Lectüre sind in diesem Falle Reisebeschreibungen und überhaupt naturwissenschaftliche Schriften«, es müssen aber die richtigen sein: »nicht die, welche das Geschlechtsleben bei Menschen und Thieren besprechen.« Auch »Poetische Sachen, Romane, Schau-


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spiele, Gedichte müssen so wenig als möglich oder lieber gar nicht gelesen werden.« (Ebd.) Diese Ausführungen lesen sich geradezu wie Handlungsanweisungen für Mays beginnendes Schriftstellerleben ...

  Auch ›Das Buch der Liebe‹ wurde, wie bekannt, von den preußischen und österreichischen Behörden verboten. Es erlitt damit das gleiche Schicksal wie Hunderte andere sogenannte ›erotische‹ Schriften, Bilder, Lieder usw. und eben auch Aufklärungspublikationen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Aufgrund einer völlig unzureichenden Forschungssituation in diesem Bereich ist der ganze Umfang der Zensur in dieser Zeit überhaupt nicht abzuschätzen. Deshalb mögen abschließend ein paar Einzelbeispiele illustrieren, daß die Verbote der Münchmeyer-Werke ›Venustempel‹, ›Geschlechtskrankheiten‹, ›Buch der Liebe‹ u. a. in ihrer Zeit keineswegs isoliert dastanden. In Berlin wurde 1856 beispielsweise ein ›Aerztlicher Rathgeber zur Verhütung und Heilung der Harn- und Geschlechtskrankheiten. Für Kranke und Erzieher‹ verboten (Inhalt u. a.: Onanie),115 das Landgericht Düsseldorf zensierte 1858 ›Die Geheimnisse der willkürlichen Erzeugung der Knaben und Mädchen‹,116 1878 wurde die in Chemnitz erschienene Broschüre ›Entschleierte Geheimnisse der Liebe und Ehe‹117 polizeilich beschlagnahmt; in Osnabrück wurden 1879 die ersten beiden Hefte von ›Tempel der Liebe u. ihre Priesterinnen. Geschichte der Prostitution‹ aus dem Münchmeyer-Verlag beschlagnahmt;118 das Amtsgericht Flensburg beschlagnahmte 1882 vier Schriften, darunter ›Die Geheimnisse der Liebe und Ehe‹,119 das Amtsgericht in Lauenburg a. d. Elbe belegte 1887 sieben Schriften mit seinem Bann, darunter ›Hilf dir selbst‹ (›Untrüglicher Rathgeber bei allen durch Selbstbefleckung, Ausschweifung u. Ansteckung hervorgerufenen Krankheiten des Nerven- u. Zeugungssystems beiderlei Geschlechts‹).120

  Münchmeyer stand mit seinen Aufklärungspostillen, auch wenn man einzig die Dresdener Situation betrachtet, keineswegs allein da. Im Gegenteil haben viele der dortigen Kolportageverlage - das waren insgesamt an die dreißig!121 - zur gleichen Zeit ebenfalls auf dieses lukrative Geschäft gesetzt; der reale Bedarf war übergroß. Mit einigen dieser Verlage, etwa Adolph Wolf oder Friedrich Tittel, hat auch Karl May zu tun gehabt. Bei Wolf erschien 1867/68 ›Die Geheimnisse der Zeugung und das Geschlechtsleben des Menschen‹ von Dr. Otto Kreß, bei Tittel ›Die männlichen und weiblichen Geschlechts-Organe,deren Bau, Verrichtungen und Krankheiten‹ von einem Dr. Gleisberg;122 und im Verlag von F. W. Gleissner, einem Kompagnon (oder Angestellten?) von F. L. Münchmeyer erschien 1876 ›Der Familienarzt. Beschreibung aller Krankheiten des menschlichen Körpers und seiner Organe‹.123

  Damit auch hier genug der Beispiele. Erinnert sei jedoch daran, daß gerade literarische Onanie-Darstellungen die Zensoren bis in die neuere Zeit beschäftigt haben. Wedekinds ›Frühlings Erwachen‹ (1891) wur-


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de sechzehn Jahre lang unterdrückt, und noch die bereits erwähnte Grass-Novelle ›Katz und Maus‹ (1961) mußte sich von einem eifrigen Ministerialbürokraten sagen lassen, sie sei »geeignet, die Phantasie jugendlicher Leser negativ zu belasten, sie zu sexuellen Handlungen zu animieren und damit die Erziehung zu beeinträchtigen.«124

  Heute ist die Masturbation längst zu einer weitgehend akzeptierten »kanonischen Sexualpraktik« geworden.125 Ein Facharzt und Psychiater, langjähriger praktizierender Oberarzt an einem akademischen Lehrkrankenhaus, schreibt jedoch dazu: »Versetzt die Selbstbefriedigung heute zwar nicht mehr wie in früheren Generationen die Heranwachsenden in Angst- und Schuldgefühle, so verdienen doch die Begleitphantasien, die szenische Ausgestaltung ein besonderes Augenmerk. Diese tagträumerische Ausgestaltung läßt mitunter Schlüsse zu auf präkoitale Fixierungen, fetischistische, sadistische Vorstellungen, Objektpräferenzen und gestörte Ich-Strukturen.«126



X. Abenteuer mit und ohne Frau


Es ist zu Recht darauf hingewiesen worden, daß - bei allerdings bemerkenswerten Ausnahmen - die anhaltende Frauenlosigkeit in den Abenteuererzählungen Karl Mays mit den immanenten Gesetzmäßigkeiten solcher Serienabenteuer einerseits und der zeitgenössischen Moral andererseits zu erklären sei.127 Der moralisch einwandfreie Ich-Held könne nicht wochen- und monatelang mit einer Reisegefährtin herumziehen, ohne mit dieser verheiratet zu sein. Deshalb fielen in vielen Situationen den männlichen Gefährten des Helden Eigenschaften zu, die eigentlich denen einer Frauengestalt entsprechen, man denke etwa an die berühmten ›küßlichen Lippen‹ Winnetous. Die erzähltechnische Konsequenz dieser Feststellung ist bemerkenswert: Die Austreibung des Weiblich-Erotischen aus der Mayschen Abenteuerwelt beruhte demnach auf dem abenteuerlichen Gesetz der Serie, das aus einzelnen Episoden erst die Abenteuerkette formt. Nach einer Ehe, wie sie vermutlich etwa dem namenlosen Ich-Helden der frühen ›Old Firehand‹-Erzählung bevorsteht, könnte die Handlung nicht im Sinne der Geschichte weitergehen. Nach den Lehrjahren in Bewegung folgt der Stillstand einer bürgerlichen Existenz - dies mußte schon der Abenteurer Wilhelm Meister feststellen.

  Doch dies ist nur ein Aspekt des komplexen Sachverhalts. Denn andererseits gab es vor und nach Karl May ja durchaus auch beeindruckende Abenteuermythen, die gleichzeitig veritable Liebesgeschichten aufwiesen. Man denke etwa an Coopers ›Der letzte Mohikaner‹ oder Vulpius' ›Rinaldo Rinaldini‹; auch Tarzan und Jane oder King Kongs Liebe zu der weißen Frau wären zu nennen, nicht zu vergessen


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Superman und Lois Lane. Von einer schwülen Erotik geradezu bestimmt sind viele Romane Rider Haggards, der zeitlich parallel zu Karl May mit Romanen wie ›Sie‹ oder ›Allan Quatermain‹ berühmt wurde; ähnliches gilt für den deutschen Schriftsteller Ernst F. Löhndorff. Und das frühe Beispiel eines erotischen Serienhelden, der zugleich ganz Abenteurer ist, bildet Casanova, dessen Ruhm vorwiegend dem seriellen Charakter seiner Abenteuer zu verdanken war. Zwar hielt erst mit Einführung der allgemeinen Promiskuität die Sexualität durchgängig Einzug ins Serienabenteuer, doch die Beispiele zeigen: auch zu Karl Mays Zeiten waren Abenteuerromane möglich, die zugleich Liebe und Sexualität thematisierten. Einen ähnlich hermetischen, zunächst a-sexuellen Kosmos wie er haben schließlich auch Gerstäcker oder Möllhausen, Mays direkte Genrevorläufer, nicht beschrieben.

  Das Phänomen muß also noch andere Ursachen haben, zumal Mays persönliche Lebensgeschichte in einem Pamphlet wie der ›Studie‹ (1907) gipfelt, als deren Hauptmerkmal (neben anderen) ich die darin zum Ausdruck kommende zwanghafte Dämonisierung der (nur weiblichen?) Sexualität sehe. Der inflationäre Gebrauch dort von Begriffen wie Spinne (7, 13, 21), Vampir (15, 22, 45), Teufelin/diabolisch (4, 5, 7, 16, 28, 39, 45, 48) und schließlich dämonisch (7, 8, 9, 10, 15, 18, 19, 20, 21, 22, 25, 26, 27, 30, 33, 35, 43, 44, 47, 48)128 verleiht Mays tiefsitzenden Ängsten deutlich genug Ausdruck. Der Autor zeichnet in der ›Studie‹ also keineswegs eine irgend ›realistische‹ Skizze seiner ersten Frau Emma, sondern er entwirft ein ›Bild‹ von ihr, eine ›Vorstellung‹, eine ›Imagination‹; Karl May beschreibt mithin nicht seine Frau, sondern in erster Linie seine eigenen Obsessionen! Die Emma der ›Studie‹ ist Projektionsfläche eigener Schuld- und Schamattacken Karl Mays. Und die hatten, diese Hypothese sei vor dem Hintergrund des oben breit Dargestellten gewagt, allerdings sehr viel mit auf- und erregenden Bildern und Phantasien, Wünschen und Vorstellungen zu tun, die tief in Mays Kindheit und Jugend wurzeln; nur hat May es als Autor aufgrund anhaltender negativ bzw. schuldbesetzter Erlebnisse mit der eigenen realen Sexualität vorgezogen, sie literarisch in buntbewegte abenteuerliche Bilder umzuwandeln, die mit den ursprünglichen Phantasien auf den ersten Blick nichts mehr gemeinsam haben.

  Im zeitlichen und sachlichen Umfeld der ›Studie‹ - die selbst auch der pejorativen Verweise auf die Onanie nicht entbehrt (3, 6) - hat May deutliche Hinweise auf diesen Umwandlungsprozeß gegeben. In ›Ein Schundverlag und seine Helfershelfer‹ (1909) schreibt er, daß in seinen Reiseerzählungen niemals eine ›Liebesscene‹ vorkommt,129 und er betont ausdrücklich: Ich bin sogar stolz darauf, bewiesen zu haben, dass ein Schriftsteller, der auf derartige Unreinheiten ganz verzichtet, ebenso grosse oder gar noch grössere Erfolge haben kann als einer, der sich in seinen Werken nicht stubenrein benimmt.130 Dies müsse auch so sein, be-


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gründet er, denn für einen Jugendschriftsteller (der er, wie er an anderer Stelle immer wieder betont, in Wirklichkeit nie sein wollte!) sei der Vorwurf der Unsittlichkeit gesellschaftlich tödlich. Jeder andere ... mag unsittlich schreiben: man wird lächeln und ihn weiterlesen; ein unsittlicher Karl May aber ist für immer ausgelöscht.131 In diesen Sätzen des alten May wird eine doppelte Verteidigungshaltung deutlich: zunächst die offensichtliche, seinen Feinden, späten Angreifern und Prozeßgegnern gegenüber; zwischen den Zeilen aber auch jener unterschwellige, ein Leben lang ausgefochtene innere Kampf gegen eben diese erotischen ›Dämonen‹. Ich blieb ein Kind für alle Zeit132 schrieb May dann in seiner Selbstbiographie; wie bei diesen, blieb damit die ›Stubenreinheit‹ seine Sorge allezeit.

  Karl May erlebte Sexualität in seiner ersten Lebenshälfte als schuldbeladen: sie zog Untersuchungen nach sich und war mit der Angst vor gesellschaftlicher Benachteiligung verbunden. Und zwar nicht allein im Zusammenhang mit Onanie. Unmittelbar nach seiner Entlassung in Plauen war ihm eine Hilfslehrerstelle in Glauchau zugewiesen worden. Daraus wurde er schon nach kurzer Zeit wieder entlassen, weil sein Wirt, der Materialwarenhändler Meinhold, ihn beschuldigt hatte, »daß er Versuche gemacht habe, sein Weib zu verführen«. May hatte das zwar nicht gestanden, aber zugegeben, »daß der sich Annäherungen an die Ehefrau des p. Meinhold erlaubt habe, die als ungehörig, ja als unsittlich bezeichnet werden müssen«.133 Für eine Disziplinaruntersuchung reichten Mays Zugeständnisse nicht aus, dennoch wurde er sofort und entgegen der ihm zustehenden dreimonatigen Kündigungsfrist entlassen. Die Behörde erwartete, daß May sie deshalb verklagen würde, was aber ausblieb. Bei seiner nächsten Anstellung verschwieg May aber wohlweislich die wahren Gründe für seine Entlassung. Deshalb wurde ihm attestiert: »Leider giebt die Lüge, mit welcher p. Mai sein hiesiges Verhalten zu bemänteln versucht hat, den Beweis, daß der Lügengeist, dem der junge Mensch, wie die Superintendentur anderweitig weiß, sich ergeben hat, von ihm noch nicht gewichen ist.«134 Die Lehre daraus für May war klar: Die Sexualität mit sich selbst war verpönt, und wenn man sie mit einer Frau suchte, führte das ebenfalls zur Katastrophe; beides war ›unsittlich‹. Wenn man schließlich, um diese Doppelmoral überhaupt aushalten zu können, bemäntelnde Geschichten erfand, so wurde dies gleichfalls gegeißelt. Also mußte zweierlei geschehen: die Sexualität wurde (versuchsweise) heruntergedimmt, und gleichzeitig sollten die camouflierenden Geschichten überzeugender ausfallen.

  Um so sublimer muß man sich unter diesen Umständen die spätere literarische Rückkehr der oberflächlich ausgetriebenen Faktoren Weiblichkeit und Erotik ins sinnliche Fabelreich des Werkes vorstellen. Dabei ist, Arno Schmidt hat es beharrlich betont, kein Handlungsstrang zu verschlungen und kein Motiv zu abstrus, als daß es nicht einer aufmerksa-


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men Betrachtung unter diesem Aspekt wert wäre. Darauf hat übrigens auch Karl May selbst hingewiesen! Und zwar dadurch, daß er die aufschlußreiche Besprechung seiner Autobiographie durch den Anthropologen und Sexualforscher Friedrich S. Krauss (1859-1938) in einer seiner Verteidigungsschriften135 vollständig und ausdrücklich zustimmend wiedergab. Krauss, der mit May seit etwa 1907 persönlich bekannt war und nach eigenen Worten einen freundschaftlichen Verkehr mit ihm pflegte, hatte u. a. geschrieben: »Ohne es selber zu merken, entwirft May von sich ein ganz vortrefflich anschauliches Bild eines schwer belasteten Neurotikers, der da seine durch eine verpfuschte Jugend krankhaft gesteigerte Sexualität endlich zu einem religiös mystischen Edelmenschenthum sublimiert hat.«136 Krauss weiter: »May ist einer von jenen Neurotikern, die sich einbilden, sie seien Verbrecher gewesen und hätten sich erst zu Edelmenschen emporzuarbeiten. Er hält darum auch die Erotik für verdammenswert (...)«137 Krauss betont diesen Aspekt ausdrücklich nicht allein für die Autobiographie, sondern auch für das erzählerische Werk: »Vor drei Jahren suchte ich May auf, weil ich aus einigen seiner Erzählungen den großen Kenner der Erotik herausfühlte und ihn zum Mitarbeiter zu gewinnen hoffte.«138 Diese Sätze über sich bezeichnet May ausdrücklich als ›klar‹, ›wissenschaftlich‹ und ›objektiv‹.139

  Lange vor Arno Schmidt hat darüber hinaus ein weiterer kompetenter Autor, der möglicherweise gleichfalls mit Karl May persönlich bekannt war, auf die erotischen Implikationen in dessen Schriften aufmerksam gemacht. Der Kulturhistoriker und Erotica-Spezialist Eduard Fuchs (1870-1940) machte sich bereits 1924 Gedanken über ›Das Geheimnis des Erfolges‹ von Massenliteratur. Seine Grundannahme lautete: »Dieselben Elemente, die den schöpferischen Menschen zum Schaffen bestimmen, bestimmen auch den nicht schöpferischen Menschen beim Erleben des Geschaffenen.«140 Nun sei aber, was am Kunstwerk geschätzt werde, »die Form gewordene spezifische Erotik. (...) Je intensiver der Künstler seine Erotik in dem von ihm geschaffenen Kunstwerk auslebt, einerlei in welcher Form der Sublimierung, je reicher und greller er die Form mit dem Inhalt seiner Erotik füllt, um so allgemeiner und tiefer ist die Wirkung seiner Schöpfung.«141 Fuchs richtet sein Augenmerk nun auf die literarische »Wollust beim Schmerzbereiten«, erwähnt Vulpius, Sue und Dumas, die Nick-Carter-Hefte und kommt auch auf Karl May zu sprechen: »Was liest der deutsche Knabe im Alter von zehn Jahren aufwärts mit nie nachlassender Begeisterung? Indianer- und Räubergeschichten. Vornehmlich die ersteren. Was sind deren dramatische Höhepunkte? Überfälle, Quälen der Gefangenen am Marterpfahl. Der gelesenste Verfasser von Indianer-Geschichten ist bekanntlich Karl May. Jedes Karl May'sche Buch ist ein förmliches Vademecum des rohesten Sadismus. Ich erinnere nur an den dreibändigen


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Old Chatterhand [!] und die zahllose Seiten umfassenden Schilderungen der verschiedensten Westmänner über die von ihnen begangenen Greueltaten.«142 Abgesehen von gewissen Vereinfachungen und Irrtümern (offenbar denkt Fuchs an die ›Old Surehand‹-Trilogie mit dem qualvollen Tod Old Wabbles) ist doch bemerkenswert, daß schon Fuchs, der keineswegs zur Phalanx der damaligen May-Verächter gehörte, dessen Geschichten mit Flagellationsphantasien in Zusammenhang gebracht hat. Und zwischen Fremd- und Selbstbestrafung besteht, nicht nur literarisch, ein enger Zusammenhang. Fuchs betont übrigens ausdrücklich, daß auch noch Erwachsene Mays Bücher läsen - er selbst eingeschlossen. »Karl Mays Bücher werden nicht nur von Knaben gelesen, sondern vieltausendfach auch von Erwachsenen, und jedenfalls kommen auf ihn allein viel mehr erwachsene Leser als auf alle Klassiker zusammen. Man spricht nicht davon, aber man liest Karl May (ich auch, E. F.)«143 -

  Ich breche hier ab. Es sollte deutlich geworden sein, daß in Leben und Werk Karl Mays auch zukünftig noch mancher Sachverhalt einer eingehenderen Erörterung bedarf.144 Die Person des Autors wird dann vermutlich nicht ganz so hell und makellos erstrahlen, wie manche Apologeten dies vielleicht gern sähen. Er wird schließlich aber wohl um einiges menschlicher, widersprüchlicher und auch differenzierter dastehen als noch zur Zeit. Die bisherige, durchaus umfangreiche May-Biographik hat die Plauen-Episode verschwiegen.145 Nur Arno Schmidt, der offenbar mehr wußte, als er schreiben wollte, hat für möglich gehalten‹, May habe sich in seiner Internats-Zeit »zum Langstrecken-Onanisten«146 entwickelt, und behauptet, daß »der arme, in ›Männerbünde‹ hineingezwungene MAY, masturbatorische Akte schon aus rein hygienischen Gründen hat vornehmen müssen«.147

  Karl May hat die erste Hälfte seines Lebens, interniert in Seminaren und Gefängnissen, mit Sexual- und Machtphantasien gelebt, die stets und immer wieder bestraft worden sind; in der zweiten Lebenshälfte wandte er sich literarischen Phantasien zu und wurde dafür mit Reichtum und massenhafter Leserzuneigung belohnt: den Früchten der Phantasie. Über diese zweite Hälfte seines Lebens wissen wir bereits ziemlich viel; die erste bedarf weiterhin eingehender Beschäftigung: sie ist in ihrem widersprüchlichen Verlauf selbst Frucht diverser Phantasien. Ich denke deshalb, daß der junge Karl May bislang weitgehend unverstanden geblieben ist. Viele seiner Äußerungen zu dieser Zeit bedürfen einer kritischen Neuwürdigung. Die in der Plauen-Episode kurz über der Oberfläche sichtbar gewordenen Triebregungen, der problemverhaftete Umgang mit eigener und fremder Sexualität, sie sind so etwas wie der archimedische Punkt, von dem aus vielleicht nicht alle, aber viele Bewegungen im Kosmos May erklär- und verstehbar werden. So manches Erzählmotiv könnte damit möglicherweise in einen kom-


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plexeren Deutungshorizont gestellt werden, etwa Anschleichen, Belauschen und Verheimlichen, Umgang mit Schuld und Schuldgefühlen, Frauen, vor allem die symbolische Umwandlung erotischer Frauen in beschützende Mütter, Tauchen, Umgang mit Wasser, Männerfreundschaften, Eingeschlossensein und Separierung, Einsamkeit, symbolischer Tod, Gefangennahme und Befreiung, Verbergen und Offenbaren usw. Die seinerzeit teils geradezu hysterische Reaktion mancher May-Freunde auf das Buch von Arno Schmidt, der dem Autor (latente) Homosexualität attestiert hatte, hat leider bis heute verdeckt, daß dort, neben so manchem überspitzten Unsinn, auch vielfältige neue Verstehensweisen angedeutet wurden.

  Die May-Forschung, vor allem auch die der Karl-May-Gesellschaft, sollte deshalb Naivität und Scheuklappen endgültig ablegen. Eine Arbeit wie die Harders zu den Münchmeyer-Romanen,148 die erstmals mit wünschenswerter Gründlichkeit die Verfasserschaft Mays auch für die seinerzeit als ›anstößig‹ geltenden Passagen belegt hat, ist ein erster Schritt dazu.



1 John Irving: Garp und wie er die Welt sah. Reinbek 1982, S. 81

2 Dr. Pfaff: Das Internat in öffentlichen Schulanstalten von medicinalpolizeilichem Standpunkte aus betrachtet. In: Monatsschrift für exacte Forschung auf dem Gebiete der Sanitäts-Polizei. Hrsg. von Dr. Louis Pappenheim. 2. Jahrgang, Drittes Heft (März) Berlin: Verlag von Julius Springer 1860, S. 116-23. Dort auch alle folgenden Zitate, die ich mit Seitenzahlen im Text angebe. - Der volle Name des Arztes geht aus dem Eintrag im Adreßbuch der Stadt Plauen für 1863 hervor.

3 Sächs. Hauptstaatsarchiv Dresden, Acta das Schullehrer-Seminar in Plauen betr.(Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Loc. XXIX, Nr. 12517): Kreisdirektion Zwickau an das Ministerium des Cultus, vom 23. Dez. 1859 (S. 194/95); Extractweise Abschrift aus dem Jahresbericht des Dr. E. R. Pfaff für 1859 (S. 228-31); Kreisdirektion Zwickau an das Ministerium des Cultus, vom 31. März 1860 (S. 225-27)

4 Bericht von G. F. Döhner an die Kreisdirektion Zwickau, vom 28. August 1860. In: Acta, das Schullehrer-Seminar in Plauen betr., 1854-1862 (wie Anm. 3, 4 unpaginierte Blätter). Dort auch die nachfolgenden Zitate. - Für den Hinweis auf diese Akte danke ich Herrn Prof. Dr. Klaus Ludwig, Dresden. Meinem Vater, Peter Graf, danke ich für seine Hilfe bei der Transkription.

5 Vortrag der Kreisdirektion zu Zwickau an das Kultusministerium, vom 3. September 1860. Sächs. Hauptstaatsarchiv Dresden, Acta das Schullehrerseminar in Plauen betr. (wie Anm. 3, 4 unpaginierte Blätter)

6 Sie geht aber aus der Anweisung der Kreisdirektion an den Seminardirektor in Plauen vom 10. Oktober 1860 hervor; Stadtarchiv Plauen, Akten des königlichen Schullehrerseminars Plauen, Akte SA 62a, Blatt 252/53. Dort ist vom »fernerweiten disciplinellen Vorschreiten« die Rede, von »besonderer sorgfältiger Aufmerksamkeit«, und es werden weitere »sorgfältige Nachforschungen« gefordert.

7 Tabelle ›Seminarcotus 63 Zöglinge‹ (ebd., ein unpaginiertes Blatt)

8 Bericht des Oberlehrers Kühn an die Kreisdirektion, vom 20. Dezember 1860 (ebd., Blatt 279-284), Tabelle ›Schülerzahl 35‹ (ebd., Blatt 285/286)

9 Jahresbericht des Seminardirektors Wild an die Kreisdirektion vom 27. Dezember 1860 (ebd., Blatt 274 bis 278)

10 Allgemeiner Gewissensspiegel. In: Gotteslob. Katholisches Gebet- und Gesangbuch. Hrsg. v. d. Bischöfen Deutschlands und Österreichs und der Bistümer Bozen-Brixen und Lüttich. Osnabrück 91988, S. 127


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11 Vgl. Wolfhard Weber: Verkürzung von Zeit und Raum. Techniken ohne Balance zwischen 1840 und 1880. In: Netzwerke Stahl und Strom, 1840 bis 1914. Hrsg. von Wolfgang König/Wolfhard Weber. Propyläen Technikgeschichte Bd. 4. Berlin 1997, S. 11-261 (über Hygiene: S. 251-58).

12 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 21: »Weihnacht!«. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1987, S. 69

13 Sächs. Hauptstaatsarchiv Dresden. Acta das Schullehrer-Seminar in Plauen betreffend, wie Anm. 3, Blatt 1, Rückseite

14 So z. B. immer wieder Walther Ilmer in seinem weitausgreifenden Aufsatz ›Karl Mays Weihnachten in Karl Mays ›»Weihnacht!«‹ (Teil I in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1987. Husum 1987, S. 101-37; Teil II in: Jb-KMG 1988. Husum 1988, S. 209-47; Teil III in: Jb-KMG 1989. Husum 1989, S. 51-83)

15 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 102f.; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. v. Hainer Plaul

16 Ebd., S. 368f.* (Anm. 102 und 103 von Hainer Plaul)

17 Ebd., S. 369* (Anm. 103 von Hainer Plaul)

18 Die interessantesten Ausführungen zu ›»Weihnacht!«‹ sind bislang immer noch in dem Jubiläumsartikel von Michael Zeller enthalten: Michael Zeller: Kärrner, Tintensäufer, Lohnschreiber. Fällige Erinnerung an einen erfolgreichen Schriftsteller. In: Die Zeit vom 10. April 1987 (Nr. 16). Nachdruck in: Erich Heinemann: Zum 75. Todestag Karl Mays. Große Presseartikel des Jahres 1987. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft (S-KMG) Nr. 75/1989, S. 61-66 (62ff.).

19 Vgl. zuletzt Andreas Graf: Karl May in Köln. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 112/1997, S.10-13; eine ausführliche Dokumentation dieser ›Old- Shatterhand-Tour‹ ist ein dringendes Forschungsdesiderat. Eine sehr ausführliche Schilderung einer Episode dieser Reise gibt Marie Hannes in ihrem Erlebnisbericht ›Allerlei von Karl May‹ in: Leben im Schatten des Lichts. Marie Hannes und Karl May. Eine Dokumentation. Hrsg. von Hans-Dieter Steinmetz/Dieter Sudhoff. Bamberg-Radebeul 1997, S. 73-123 (82-105).

20 May: »Weihnacht!«, wie Anm. 12, S. 10 - alle weiteren Stellennachweise, nach den Seitenzahlen dieser Ausgabe, im Text

21 Simon-André-David Tissot: Von der Onanie. In: »O Wollust, o Hölle«. Die Onanie. Stationen einer Inquisition. Hrsg. von Ludger Lütkehaus. Frankfurt a. M. 1992, S. 76-98 (81)

22 Vgl. die Erhebung (»Eing. den 1. Dezember 1860«) in: Acta das Schullehrer-Seminar in Plauen betr., wie Anm. 3: »Und zwar haben dasselbe [das Laster] mitgebracht (...) aus der Schule zu Ernstthal u. dem Seminar zu Waldenburg: 1.«

23 Ich meine vor allem die immer wieder von verschiedenen Interpreten diagnostizierte charakteristische Umgehensweise Mays mit Quellentexten (Adaption und Variation), die von unmittelbarer Übernahme des Geschilderten ebenso bestimmt ist wie von besserwissender Behauptung des schlichten Gegenteils.

24 Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl May's. Karlsruhe 1963, S. 29ff.

25 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 15, S. 95 und 96f.

26 Ebd., S. 97

27 Ebd., S. 98

28 Ebd.

29 Ebd., S. 98f.

30 Der Name Carpio/Karpfen verweist nicht nur auf das Schweigen, sondern auch auf den Mund (das Luftschnappen eines Fisches auf dem Trockenen) als wesentliches Organ und damit u. a. auf sexuellen Oralverkehr.

30a Schmidt: Sitara, wie Anm. 24, S. 38f.; Schmidt beruft sich dabei auf Äußerungen von Paul Elbogen von 1936; siehe auch: Rudi Schweikert: Aus Arno Schmidts Bildergalerie (V): Den El(l)bogen einsetzen. Wie sich Arno Schmidts »inneres Bild« von Karl May veränderte. In: Bargfelder Bote. Lfg. 194-96 (1995), S. 3-20.

31 Anlage zu den Mitteilungen der AG Karl-May-Biographie, Nr. 6 (1965), S. 5 (Nachdruck in 2 Bänden. Bad Segeberg. o. J. Bd. I, S. 89)

32 Günter Grass: Katz und Maus. Werkausgabe Bd. III. Hrsg. von Volker Neuhaus. Darmstadt 1987, S. 31-35


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33 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 15, S. 53

34 Tissot, wie Anm. 21, z. B. schreibt über Onanisten: »ihr zerstreutes Wesen, ihre zerstörte Minen, ihr dummer Anstand, ihre stumpfen Begriffe machen sie zu unerträglichen Limmeln.«

35 Wie sehr Mays Blick für den sexuellen Hintersinn der Sprache geschärft war, zeigt eindrucksvoll sein fünf Jahre später geschriebener Brief (vom Januar 1903) an bzw. über Marie Hannes (in: Sudhoff/Steinmetz, wie Anm. 19, S. 210-20). Er wirft dem jungen Mädchen dort vor, sie kenne nicht »die Nebenbedeutung« eines »schamlosen Bildes«, und gibt sich überzeugt, »daß sie das Bild erotischer gemeint hat, als die Worte sagen« (Ebd., S. 219). Dieser Brief zeigt darüber hinaus auch die panischen Ängste, die May beim Thema Sexualität überfielen: Er reagierte darauf mit einer zwanghaften Abwehrhaltung. Vgl. dazu meine Rezension der Sudhoff/Steinmetz-Publikation in M-KMG 116/1998, S. 54-58.

36 Oft wurde christliche Kolportage auch im Zusammenhang mit Missionspredigten o. ä. Veranstaltungen verkauft. Eine solche Veranstaltung beschreibt Karl May im ›Verlornen Sohn‹ (Karl May: Der Verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends. Dresden 1884-86, S. 560ff.; Reprint Hildesheim-New York 1971).

37 Karl May: Ein wohlgemeintes Wort. In: Neuer deutscher Reichsbote. Deutscher Haus- und Geschichts-Kalender 1883. Stolpen 1882; Reprint in: Karl May: Ein wohlgemeintes Wort. Frühe Texte aus dem ›Neuen deutschen Reichsboten‹ 1872-1886. Mit einer Einleitung von Peter Richter und Jürgen Wehnert. Lütjenburg 1994, S. 129-33 - Seitenangaben im Text nach dieser Ausgabe.

38 Plaul, wie Anm. 31

39 Vgl. hierzu erstmals den knappen, aber sehr kenntnisreichen Aufsatz von Jürgen Seul: Karl May und die »Lex Heinze«. In: M-KMG 115/1998, S. 10-17.

40 Das wird vor allem auch deutlich, wenn man sich die zahlreichen Passagen vornimmt, die sich darin mit Lesen, Büchern usw. beschäftigen; vgl. z. B. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 15, S. 21, 24, 27f., 33ff., 53, 67, 70ff., 85, 114, 117, 132-35, 147-50, 183, 208-31.

41 Richter/Wehnert: Einleitung (zu May: ›Ein wohlgemeintes Wort‹), wie Anm. 37, S. 22f.

42 J. H. von Wessenberg: Ueber den sittlichen Einfluß der Romane. Ein Versuch. Constanz 1826, S. 36

43 Wilhelm von Kügelgen: Jugenderinnerungen eines alten Mannes. Berlin o. J.

44 Ebd., S. 21

45 Ebd., S. 22

46 Ebd., S. 334f.

47 Karl Immermann: Memorabilien. Werke. Bd. 5. Hrsg. von Harry Maync. Leipzig und Wien o. J. (1906)

48 Ebd., S. 316

49 Vgl. z. B.: Neu eröffnete Schatzkammer, allerhand Historien und Curiositäten, vornehmlich der vortrefflichen und galantesten Moral- und Sittenlehren. Nürnberg 1701; G. H. Heinse: Ehestandsgeheimnisse und Erziehungs-Künste. Moral.-satyr.-kom. Roman von Henke dem Jüngeren. 8 Bände. Circassien (Liegnitz) 1799; Geheimnisse aus der Ehe. Leipzig 1800; Schatzkästlein für Verliebte und Ehelustige. Leipzig 1809.

50 Gerhard Klußmeier/Hainer Plaul: Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Neu bearb. u. stark erw. Ausg. Hildesheim-Zürich-New York 1992, S. 73 (Bild 132). Es ist allerdings auch möglich, daß auf dem Bild nicht Emma abgebildet ist, sondern Fanny Askani, eine Nichte Mays (vgl. M-KMG 74/1987, S. 52, und M-KMG 75/1988, S. 13).

51 Siehe Schl.: Ueber Kinderunzucht und Selbstbefleckung. Ein Buch bloß für Aeltern, Erzieher und Jugendfreunde, von einem Schulmanne. Hrsg. u. m. einer Vorrede u. Anmerkungen begleitet von Schl. Züllichau und Freystadt 1787, vor allem S. 116ff.

52 Vgl. ebd., S. 116.

53 Ebd., S. 123

54 Wessenberg, wie Anm. 42

55 Ebd., S. 33

56 Ebd., S. 35

57 Ebd., S. 36


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58 Ebd., S. 40

59 Ebd., S. 54f.

60 »Man hat das Lesen der Romane für die Jugend nützlich machen wollen. Ich kenne kein unsinnigeres Unternehmen. Es heißt so viel, als das Haus anzünden, um von den Wasserpumpen Gebrauch zu machen.« (Ebd., S. 56)

61 Heinrich Heine: Briefe aus Berlin; zit. nach Jan-Christoph Hauschild: Nachwort zu: Heinrich Heine: Roter König, Grüne Sau. Frivole Gedichte. Hrsg. von Jan-Christoph Hauschild. Köln 1997, S. 140

62 Vgl. Christian August Fischer (Pseudonym: Christian Althing): Das Jägermädchen. In: Kleine Erzählungen (Althing's hinterlassene Schriften, 1. Band). Schleiz 1827, S. 151-54.

63 Alberto Martino: Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756-1914). Wiesbaden 1990, S. 18

64 Ebd., S. 19

65 Ebd., S. 26 - vgl. auch: Hainer Plaul: Illustrierte Geschichte der Trivialliteratur. Hildesheim-Zürich-New York 1983, bes. S. 151-64 - »Wenn in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und noch bis weit in das folgende hinein Kritiker der Trivialliteratur eindringlich vor den Gefahren einer Erhitzung oder Überreizung der Phantasie durch das Lesen derartiger Bücher warnten und diese Ermahnung (...) mit Blick auf fast das gesamte weite Feld der trivialen Literatur erhoben, so ging dies, und zwar auch dort, wo es unausgesprochen blieb, im wesentlichen auf die Onanie-Problematik zurück.« (S. 164).

66 Meyer's Conversationslexikon. Abt. I, Bd. 23, Hildburghausen 1853, Stichwort ›Nymphomanie‹, S. 1321-43 (!), hier S. 1325 u. 1341

67 Zitiert nach: Balz Spörri: Studien zur Sozialgeschichte von Literatur und Leser im Zürcher Oberland des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1987, S. 263

68 Karl Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen. Leipzig 1990, S. 9

69 Eine ausführliche Studie des Verfassers zu diesem Thema ist in Vorbereitung.

70 Hermann Scholz: Dürfen unsere Kinder die Bibel lesen? In: Schorer's Familienblatt, Bd. 13 (1893), S. 10-12 (11)

71 Paul Englisch: Geschichte der erotischen Literatur. Stuttgart 1927-31; Nachdruck Wiesbaden 1963, 31987, S. 190

72 May: Ein wohlgemeintes Wort, wie Anm. 37, S. 132

73 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 15, S. 73

74 Vgl. Holger Dainat: Abaellino, Rinaldini und Konsorten. Zur Geschichte der Räuberromane in Deutschland. Tübingen 1996, S. 68.

75 Theodor Graeber: Die Räuberhöhle auf Monte Viso. Eine Räubergeschichte aus dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Nordhausen, bei Ernst Friedrich Fürst 1834. 2 Bände (I 240, II 80; S. 81-247 = Die Rache des Weibes; Standort: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz Berlin, Potsdamer Straße, Signatur: Yx 2462/15) - Zitate im folgenden mit Angabe des Bandes und der Seitenzahl

76 Dainat, wie Anm. 74, S. 234

77 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 12: Winnetou I. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1989, S. 331 - im folgenden wird mit Angabe der Seitenzahl nach dieser Ausgabe zitiert.

78 Zit. nach Dainat, wie Anm. 74, S. 98

79 Angaben nach Auskunft des Stadtarchivs Plauen/Vogtland.

80 Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Nr. 188 vom 16. August 1875, S. 2908, Anzeige 30341

81 Ebd., Nr. 113 vom 16. Mai 1878, S. 1941, Anzeige 20364

82 Karl May: Der schwarze Mustang. In: Der Gute Kamerad. 11. Jg. (1896/97), S. 128; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1991

83 Ordnung der evangelischen Schullehrerseminare im Königreich Sachsen vom Jahre 1857. Leipzig, Druck und Verlag von B. G. Teubner 1857, 32 S. (Sächsische Landesbibliothek Dresden, Signatur: Hist. Saxon. L. 570/39 m); zur Umsetzung dieser Regularien siehe auch: Christian Heermann: Der Geist im Muldental. Tickte in Waldenburg »eine alte Kuckucksuhr«? In: Karl-May-Haus Information Nr. 11/1998, S. 1-8.

83a Siehe hierzu auch den ›Lektions- und Arbeitsplan‹ des Waldenburger Seminars


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in: Hans-Dieter Steinmetz/André Neubert: Zu Karl Mays Aufnahme und Aufenthalt am Seminar zu Waldenburg. In: Karl-May-Haus-Information Nr. 11/1998, S. 9-32 (22f.).

84 Vgl. Friedrich Gerstäcker: Pfarre und Schule. Eine Dorfgeschichte. 3 Bde. Leipzig 1849; Nachdruck der Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft. Braunschweig 1987. Dieser Roman, einer der besten Gerstäckers, beleuchtet die vorstehend umrissene Problematik sehr anschaulich und kenntnisreich.

85 Verhaltensregeln für Schulamtskandidaten im Königreiche Sachsen. Zwickau 1856 (Verlagsbuchhandlung des Volksschriften-Vereins), Sächsische Landesbibliothek Dresden, Signatur: Hist. Saxon. L 570, 37

86 Schreiben des Superintendenten Kohl in Chemnitz an die Kreisdirektion in Zwickau, vom 26. Oktober 1861 (Acta, die Fabrikschule zu Altchemitz betr., Kreisdirektion Zwickau 1836; Sächs. Hauptstaatsarchiv Dresden, Ministerium für Volksbildung Nr. 3552; 1861), Blatt 42

87 Schreiben des Seminardirektors Wild aus Plauen an die Kreisdirektion in Zwickau, vom 30. Oktober 1861; ebd., Blatt 44

88 Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Leipzig 1819, Bd. 10, S. 332 (Brockhaus)

89 Schreiben der Kreisdirektion Zwickau an den Seminardirektor in Plauen, vom 24. Mai 1860 (Stadtarchiv Plauen, Akten des Königlichen Schullehrer-Seminars in Plauen, Signatur SA 62a) Blatt 192. Den Hinweis auf diese Akte verdanke ich Prof. Dr. Klaus Ludwig, Dresden. Für Hilfen bei der Transkription danke ich Prof. Dr. Klaus Ludwig sowie Annelotte Pielenz und Irene Frankenstein.

90 Seminardirektor Wild an Karl May, vom 24. Juni 1860, ebd., Blatt 200

91 Vgl. Hans-Dieter Steinmetz: Reisefrüchte aus Plauen. In: Karl-May-Haus-Information Nr. 2/3/1990, S. 31-35 (33).

92 Protokoll der Aufnahmeprüfung, vom 2. Juli 1860, wie Anm. 89, Blatt 201

93 Protokoll der Seminarkonferenz, vom 22. September 1860, ebd., Blatt 272

94 Protokoll der Seminarkonferenz, vom 15. Dezember 1860, ebd., Blatt 274

95 Protokoll der Seminarkonferenz, vom 26. Januar 1861 (Stadtarchiv Plauen, Akten des Königlichen Schullehrer-Seminars in Plauen, Signatur SA 24), Blatt 42 R

96 Protokoll der Seminarkonferenz, vom 23. Februar 1861, ebd., Blatt 42 R

97 Wie Anm. 89, Blatt 91

98 Ebd., Blatt 43

99 Ebd., Blatt 271b

100 Protokoll der Prüfungen, vom 9., 10. u. 12. September 1861 (Stadtarchiv Plauen, Akten des Königlichen Schullehrer-Seminars Plauen, Signatur 204a), Blatt 24-26r; siehe hierzu auch die Darstellung von Klaus Ludwig: Die Seminarakte 204a, Blatt 24-26. In: M-KMG 111/1997, S. 22-25.

101 Karl May: Frau Pollmer, eine psychologische Studie. Prozeßschriften Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982

102 Wilhelm Reich: Leidenschaft der Jugend. Eine Autobiographie 1897-1922. Hrsg.von Mary Boyd Higgins/Chester M. Raphael. Köln 1994, S. 61

103 Katharina Rutschky: Erziehung als Fortschritt ohne Erfahrung. In: Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung. Hrsg. von Katharina Rutschky. Frankfurt a. M.-Berlin-Wien 1997, S. XVII-LXXIV (XXXVII)

104 Ebd., S. XXXV

105 Wilhelm Reich: Der Erziehungszwang und seine Ursachen. In: Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik 1, 1926/27, S. 73; zit. nach Rutschky, wie Anm. 103, S. LXIIf.

106 Klußmeier/Plaul, wie Anm. 50, S. 69

107 Vgl. Andreas Graf: Vom mündlichen und literarischen Erzählen, von neuen Medien und dem Selbstbefriedigungsverbot. Ungehaltene Rede, aus Anlaß des neuen Buches von Rudolf Schenda. In: Fabula 36/1995, S. 273-81.

108 Lütkehaus, wie Anm. 21, Einleitung, S. 9-61 (32)

109 Karl May: Das Buch der Liebe. Dresden 1875/76; Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1988/89. Hrsg. von Gernot Kunze (Bd. I: Textband. Bd. II: Kommentarband)


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110 Kunze: Einführung (zu ›Buch der Liebe‹, Bd. II), ebd., S. 9f. und 14 - Ein neuerer Aktenfund stützt Kunzes diesbezügliche Hypothesen. Das Kreisgericht Landshut (vermutlich Schlesien) bestätigte am 4. August 1874 seine zuvor bereits angeordnete Beschlagnahme der Schrift ›Die Geheimnisse der Venustempel ...‹; und am 7. Januar 1875 verfügte es »die Vernichtung aller Exemplare der Druckschrift: ›Die Geheimnisse der Venus-Tempel aller Zeiten und Völker, u. Die Geschlechtskrankheiten des Menschen u. ihre Heilung‹, Dresden, Verlag von H. G. Münchmeyer« sowie aller »zu ihrer Herstellung bestimmten Platten und Formen« (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Bestand Landratsamt Geldern, Nr. 300, Bd. II, Blatt 143 und 167). Aus der zuletzt genannten Zusammenziehung beider Titel scheint hervorzugehen, daß Münchmeyer beide Werke bereits zusammen als ein einziges anbot, bevor er daraus das ›Buch der Liebe‹ ganz neu herstellen ließ.

111 May: Das Buch der Liebe, wie Anm. 109, S. 322-35 - Diese Textteile sind im Reprint nicht enthalten. Für die Bereitstellung von Kopien dieser Seiten danke ich Herrn Franz Bauer, Erlangen.

112 Für die Einsichtnahme in dieses Werk danke ich herzlich Herrn Günter Kosch, Wesenberg.

113 Ein besonders eindrucksvolles Beispiel von Plagiierung ist der ›Venustempel‹ Münchmeyers. Kunze (wie Anm. 110) hatte bereits festgestellt, daß diese Publikation »zum überwiegenden Teil eine wortwörtliche Abschrift« (ebd., S. 12) des Werkes ›Die Sinnenlust und ihre Opfer‹ (Berlin 1870) war. Doch anders als Kunze glaubte, ist damit keineswegs der anonyme Autor dieses Werkes der »eigentliche Venustempel-Verfasser« (ebd., S. 13). Denn auch ›Die Sinnenlust und ihre Opfer‹ war nur ein dreistes Plagiat! Es beruhte auf dem Werk von Gustav Seutzke: ›Die Prostitution unserer Zeit, der Gesellschaft und dem Gesetze gegenüber‹ (Berlin 1867). Doch damit nicht genug: Auch Seutzke war bereits ein Plagiator gewesen. Er hatte kurzerhand die anonym erschienene Schrift des Berliner Polizisten Wilhelm Stieber ›Die Prostitution in Berlin und ihre Opfer‹ (Berlin 21846) abgeschrieben gehabt. Doch damit immer noch nicht genug! Eine weitere Schrift, die ebenfalls Stieber und Seutzke plagiierte, war ›Norddeutsches Babel. Ein Beitrag zur Geschichte, Charakteristik und Verminderung der Berliner Prostitution. Herausgegeben von einem philantropischen Verein‹ (Berlin 1870). Auch dieses Werk floß in den Münchmeyerschen ›Venustempel‹ ein, der damit eine mindestens vier- wenn nicht fünfstufige Vorläuferschaft aufzuweisen hat (vgl. Richard J. Evans: Das Leben einer Verlorenen. Abstieg in die sexuelle Unterwelt. In: Ders.: Verbrechen und Strafe, 1800-1914. Reinbek 1997, S. 240-302 und S. 398-406, S. 404, Anm. 127). Die Gründe für eine solche Plagiatsgenealogie sind übrigens nicht unbedingt in der Faulheit oder Unfähigkeit der Autoren zu suchen. Es handelt sich vielmehr wohl vorwiegend um Verschleierungs- bzw. Rechtfertigungsstrategien zur Umgehung der allgegenwärtigen Zensur.

114 Wie Anm. 111, S. 326 - im folgenden werden im Text die Seiten dieser Kopien angegeben.

115 Hauptstaatsarchiv Düsseldorf. LRA Geldern Nr. 300. Bd. II, Blatt 154

116 Ebd., Blatt 205

117 Ebd., Verbotene Schriften, Vol 2., Blatt 8

118 Ebd., Blatt 26

119 Ebd., Blatt 61

120 Ebd., Blatt 180

121 Vgl. das Verlagsregister in Günter Kosch/Manfred Nagl: Der Kolportageroman. Bibliographie 1850-1960. Stuttgart 1993.

122 Die Hinweise auf diese Titel verdanke ich ebenfalls Günther Kosch.

123 Eine eingehende Untersuchung zur Situation der Dresdener Kolportageverlage und ihrer vielfältigen personellen und rechtlichen Verflechtungen wäre eine wichtige Voraussetzung zum Verständnis der literarischen Anfänge Karl Mays.

124 Hans J. Schütz: Verbotene Bücher. Eine Geschichte der Zensur von Homer bis Henry Miller. München 1990, S. 188

125 André Béjin: Eine neue kanonische Sexualpraktik: die Masturbation. In: Die Macht der Sexologen und die sexuelle Demokratie. In: Philippe Ariès u. a.: Die Masken des


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Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualiät im Abendland. Frankfurt a. M. 1995, S. 253-72 (265-69)

126 Reiner Gödtel: Sexualität und Gewalt. Hamburg 1992, S. 25

127 Walther Ilmer: Winnetou im Gesangverein. Ein Traum des Gefangenen. S-KMG Nr. 35/1982, S. 5f.

128 May: Frau Pollmer, wie Anm. 101 - zitiert sind die Seitenzahlen der Transkription.

129 Karl May: Ein Schundverlag. Ein Schundverlag und seine Helfershelfer. Prozeßschriften Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 88

130 Ebd.

131 Ebd., S. 89

132 May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 15, S. 33

133 Schreiben des Superintendenten Otto in Glauchau an die Superintendentur in Chemnitz, vom 14. November 1861 (Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Bestand Archiv der Schulräte, Signatur: A Z 12/4)

134 Ebd.

135 Karl May: An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichtes III in Berlin. Prozeßschriften Bd. 3. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 122f.

136 Ebd.

137 Ebd., S. 123

138 Ebd.

139 Ebd., S. 122; ich halte es für möglich, daß sich Krauss in seiner Rezension nicht allein auf die Autobiographie Mays bezieht, sondern daß er von diesem auch Einblick in die Studie erhalten hatte. Der Briefwechsel zwischen Krauss und May, der offenbar existierte, ist leider nicht überliefert. Der Teilnachlaß von Krauss, der in der University Research Library UCLA, Los Angeles, USA, aufbewahrt wird, enthält die Briefe nicht. Vgl. Raymond L. Burt: Friedrich Salomo Krauss (1859-1938). Selbstzeugnisse und Materialien. Wien 1990.

140 Eduard Fuchs: Das Geheimnis des Erfolges. In: Ders.: Geschichte der erotischen Kunst, Bd. 2, München 1924, S. 425-33 (426)

141 Ebd., S. 426

142 Ebd., S. 427

143 Ebd., S. 428

144 Beispielsweise bietet der ›»Weihnacht!«‹-Roman (wie Anm. 12) eine Reihe konkreter Anhaltspunkte, die von den Biographen noch aufzuklären wären. Damit könnte etwa das Mischungsverhältnis der Waldheim- und Plauenspiegelungen dort genauer bestimmt werden: May spricht von 23 Mitschülern (S. 22), er beschreibt die Anzahl der Stufen im Gebäude (S. 13) und gibt den Schulbeginn mit dem 7. Januar an (S. 87). Auch der Kantor wäre mittels seines nach Amerika ausgewanderten Sohnes verifizierbar; schließlich wäre interessant, ob May tatsächlich am Wochenende Nachhilfeunterricht erteilt hat, um sich das Taschengeld aufzubessern.

145 Plauls Edition (1975) der Autobiographie (wie Anm. 15) enthält keinen solchen Hinweis, auch die im ersten Jahrzehnt der Karl-May-Gesellschaft in den Jahrbüchern publizierten biographischen Arbeiten von Klaus Hoffmann und Hainer Plaul übergehen die Plauener Zeit. Heermann widmet ihr einen Satz (Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Berlin 1988, S. 67), Ilmer einen halben (Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 20). Die umfassendsten Angaben zu Plauen enthält der Bildband von Klußmeier/Plaul (wie Anm. 50, S. 25-36), jedoch ebenfalls ohne Erwähnung der Onanie-Geschichte. Wohlgschaft schreibt: »Für erneute Verfehlungen gibt es keine Anhaltspunkte.« (Hermann Wohlgschaft: Große Karl-May-Biographie. Leben und Werk. Paderborn 1994, S. 70). Hans Wollschläger erklärte mir im Frühjahr 1996, er habe in seiner May-Biographie von 1965 (Hans Wollschläger: Karl May. Reinbek 1965) darüber nichts geschrieben, damit nicht alle Leser sich auf diesen einen Punkt stürzten.

146 Schmidt, wie Anm. 24, S. 266

147 Ebd., S. 211

148 Ralf Harder: Karl May und seine Münchmeyer-Romane. Eine Analyse zu Autorschaft und Datierung. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 19. Ubstadt 1996





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