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ANDREAS GRAF

Literarisierung und Kolportageroman
Überlegungen zu Publikum und Kommunikationsstrategie eines Massenmediums im 19. Jahrhundert



»Hole Euch der Teufel! Ich bin kein Freund von Euren Dorfgeschichten!«
»O, es ist keine Dorf- sondern eine Räuber- und Schloßgeschichte, die Ihnen sehr gefallen wird.«
1


I


Die Frage nach dem Publikum der seit etwa 1860 verstärkt produzierten Kolportageromane hat bislang nur mehr oder weniger pauschale Antworten gefunden. Ein Kenner der Materie schrieb vor nicht allzu langer Zeit: »Die meisten Leser waren Fabrikarbeiter und Dienstboten.«2 Zur soziologischen Zusammensetzung der Käufer- und Leserschaft dieser besonderen Literaturform und damit zur Lesemotivation der Zielgruppe eines ganzen neuen Mediums ist darüber hinaus bislang wenig Differenziertes bekannt geworden.

   Kolportageromane wurden in meist wöchentlichen Lieferungen von Hausierern von Haus zu Haus getragen. Ein interessantes zeitgenössisches Zeugnis aus dem Lebensbericht des Arbeiters Moritz Theodor William Bromme, dessen Karriere als Kolporteur mit Karl Mays drittem, für den Dresdener Kolportageverleger Münchmeyer geschriebenen Roman (1884-86) begann, bestätigt sowohl die besondere Zugkraft dieses Kolportageromans als auch die zitierte Einschätzung des Publikums: »Tag für Tag lief ich mit einer schweren Tasche unter dem Arm in der Stadt herum. Treppauf, treppab. Alle drei Wochen kam etwas ›Neues‹ heraus. ›Der verlorene Sohn‹ oder ›Der Fürst des Elends‹ war mein erster Roman, den ich auslegte. Ich bekam darauf ca. 50 Abonnenten.«3 Diese waren ausschließlich »Arbeiter und Arbeiterinnen«.4

   In seinem Einakter ›Die Dienstboten‹ (ca. 1865) verspottet Roderich Benedix, der zu den meistgespielten Theaterautoren des 19. Jahrhunderts gehörte, u. a. einen Kutscher, der ein Buch liest mit dem typischen Ritter-, Räuber- und Kolportagetitel ›Ritter Udo von der Habichtsburg oder die Geheimnisse der Mitternacht‹.5 Typisch ist die suggestive Doppelstruktur dieses Titels mit der Konjunktion »oder«. Auch Karl May hatte diese Struk-


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tur nicht nur im ›Verlornen Sohn‹, sondern schon in seinem ersten Münchmeyer-Roman ›Das Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde‹6 realisiert. Kolportageromane anderer Autoren trugen Titel wie ›Die Totenfelder von Sibirien oder die Geheimnisse des russischen Kaiserschlosses‹ oder ›Die Geheimnisse von Berlin, oder: In den Höhlen des Elends‹.7 In diesen Titeln werden oft zwei Personen, Gegen- oder Umstände in hartem Kontrast einander gegenübergestellt und mit der kalkulierten Unschärfe der Konjunktion »oder« verbunden; dem Leser soll eine deutliche Vorahnung vermittelt werden von der ganzen Wucht des affektiven Aufruhrs,8 den der vollständige Roman zu vermitteln in der Lage ist. Dabei bleibt stets unklar, inwieweit die beiden - nur von einem kleinen Scharnier zusammengehaltenen - Flügel der Titelkonstruktion sich wirklich entsprechen oder nicht; ob also die gegenübergestellten Begriffe sich auf die gleichen Umstände oder Personen beziehen und damit einander interpretieren oder ob gänzlich Unterschiedliches gemeint ist, das in der Handlung kaum oder gar nichts miteinander zu tun hat. Bereits Rudolf Schenda hat in ›Volk ohne Buch‹ darauf hingewiesen, daß der Text häufig überhaupt nicht hielt, was die Titel versprachen.9 Man hatte es - die moderne Terminologie sei erlaubt - nicht selten mit Mogelpackungen zu tun, und noch so manche Headline der aktuellen Boulevardpresse ist nach dem gleichen Strickmuster entworfen. Dabei durchweht viele der Titel (worauf ja schon Ernst Bloch im weiteren Zusammenhang hingewiesen hat10) ein merkwürdiger, leiser Hauch von Revanche und Erlösung. Nicht selten ist der zweite Teil verstehbar als ein Heilungsversprechen: fast stets wird etwas gerade gerückt, ins Lot gebracht, berichtigt, wiedergutgemacht oder belohnt. ›Der verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends‹ ...

   Angesichts dieser doch eigentümlichen Charakteristika fällt dem Beobachter ein Zusammenhang auf, der, soweit ich sehe, in der Forschungsliteratur noch nirgends erwähnt oder näher beschrieben worden ist: die bemerkenswerte literarisch-ikonographische Verwandtschaft von Kolportageroman und Bänkelsang (das gilt in ähnlicher Weise auch für die Ritter- und Räuberromane der ersten Jahrhunderthälfte, muß hier aber unberücksichtigt bleiben). Die gleiche Titelstruktur wie im Kolportageroman findet sich nämlich auf Moritatentafeln und Bänkelsangheftchen des 19. Jahrhunderts: ›Das erwachte Gewissen oder eine Rabenmutter‹, ›Im Tode vereint oder: Treu ist die Soldatenliebe‹, ›Der Wildschütz oder: Der bestrafte Frevler‹ oder ›Die verstoßene und schwergeprüfte Milda, oder: Gott verläßt die Seinen nie, / Das Vateraug bewachet sie‹.11 Hier griffen also offenbar die Romanautoren auf bekannte, dem Publikum seit langem vertraute und sehr erfolgreiche populäre Literaturformen zurück und übertrugen sie auf ein neues Medium. Der Bänkelsang war bereits, wozu sich der Kolportageroman gerade entwickelte: eine Subgattung des Sensationsgenres, die durch einen erheblich forcierten Berichtsstil in enger Verschränkung mit plakativem bildnerischen Beiwerk der modernen Enthüllungsliteratur neue Er-


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zählmöglichkeiten verschaffte. Vorbild für beide waren Bauprinzip und Emblematik barocker Trauerspiele, die für ihre schlichten Botschaften Darstellung und Erklärung stets gemeinsam präsentierten und dem Handlungsverlauf die Nutzanwendung auf den Fuß folgen ließen.12 Wie der Bänkelsang lebt auch noch der Kolportageroman in gewisser Weise von diesem voraufklärerischen moralischen Prinzip.

   Mit dem neuen Medium der Romankolportage wurde für derlei Botschaften ein noch breiteres Publikum gewonnen - und damit wurden auch dem Lesen als einer allgemeineren Praxis weitere Räume erschlossen. Anders als etwa der Bänkelsänger, dessen Darbietungen nur zufällig bzw. mit längeren Abständen zwischen einzelnen Jahrmärkten beigewohnt werden konnte (und dessen dünne Heftchen entsprechend bald ›ausgelesen‹ waren), kam der moderne Romankolporteur mit seinen Nachlieferungen einmal wöchentlich ins Haus. Der Lesekonsum blieb nun nicht mehr prinzipiell gebunden an eine auch gestisch unterstützte Aufführung - wenngleich in den Anpreisungen und Werberufen der Romankolporteure für ihre Ware und in ihrer sozialen Funktion als Boten und wandelnde Zeitungen durchaus weiterhin eine Art bänkelsängerische Darbietung erkennbar bleibt. Das Zufällige des Lesens konnte auf diese Weise in der zweiten Jahrhunderthälfte einer potentiellen Regelmäßigkeit weichen; der zwangsläufig akzidentielle Text- und Bilderkonsum früherer Zeiten wurde überführt in eine gewisse, (markt-)mechanisch gesteuerte, regelmäßige Lektüre.13 Denn auch der Markt für Volkslektüre, bislang ein eher dünnes Segment des gesamtökonomischen Kuchens - die Hausierer der älteren Zeit trugen gewöhnlich außer populären Lesestoffen von Schuhbändern bis Spielkarten so ziemlich jeden Kleingegenstand des täglichen Bedarfs in ihren Kisten mit sich herum14 -, entwickelte sich nun zu einer gezielt ansteuerbaren und damit profitablen Region im wirtschaftlichen Kosmos. Mit der sequentiellen Regelmäßigkeit des Absatzes, die die Romankolporteure garantierten, gewann dieser Markt überhaupt erst eine festere und verläßliche Struktur, die ihn auch für Spekulanten oder größere Investoren finanziell interessant machte. Die exorbitanten Auflagen und wohl auch Gewinne mancher Kolportageverleger, von Mosse in Berlin bis Münchmeyer in Dresden, sind Ausweis dieser Entwicklung.

   Dabei wandelten sich Funktion und Inhalt des Kolportageromans im Vergleich zum Bänkelsang zunächst wenig; analog zu den Moritaten spielten dort Mordtaten ebenso eine wesentliche Rolle wie das dichte Nebeneinander von Affektaufruhr und sozialer Konsolation. Wie die Bänkellieder und -geschichten bestanden die Kolportageromane aus formelhaften Versatzstücken, die in einer Montage aus längst tradierten Erzählmotiven und stets wiederkehrenden Handlungsverläufen zusammenfanden und damit das stoffliche und motivliche Beharrungsvermögen populärer Medien perpetuierten. Auch die Verwandtschaft des Bänkelsangs mit der Erbauungsliteratur ließe sich vermutlich im Kolportageroman wiederfinden. So-


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gar die graphische Gestaltung der Heftumschläge vieler Kolportageromane war deutlich beeinflußt von der Titelblattaufmachung in den Bänkelsangheftchen: Einen in verschiedenen Buchstabentypen über mehrere Zeilen unterschiedlicher Größe laufenden Worttitel, der die obere Hälfte des Blattes einnimmt, ergänzt auf der unteren Hälfte ein primitiver Holzschnitt. Dadurch entsteht nunmehr auch optisch eine Doppelstruktur,15 die das Kontrastgeflecht des zweifachen Worttitels ein zweites Mal verdoppelt und ins Bild setzt. Selbst noch das deiktische Moment des Bänkelsängers, der mit seinem Stock auf jene Abbildung weist, von der in seinem Lied gerade die Rede ist, findet sich im Kolportageroman in einer Schwundform aufbewahrt. Als es im ›Verlornen Sohn‹ von dem eingesperrten Robert Bertram heißt: Der Gefangene war wirklich an Arm und Fuß mittelst einer starken Kette an die Mauer gefesselt,16 wird diese Stelle mit einer Fußnote versehen, in der es heißt: Siehe die Abbildung auf dem Heftumschlage!17 Wer darob zurückblättert, findet dort dann tatsächlich das betreffende, die Beschreibung verdoppelnde Bild.18



II


Der Spott des Theaterautors Benedix über die Bildungsquellen seines literarischen Kutschers, der angeblich Klugheit und Weltkenntnis aus dem erwähnten Roman gewonnen hat, fand vielfältige gesellschaftliche Entsprechungen. Der Dresdener Bibliograph Dr. Julius Petzholdt schrieb beispielsweise 1873, die Werke der Kolportage seien »meist nur auf einen geistig sehr untergeordneten Leser- und Kundenkreis berechnet«,19 es handle sich um »Verdummungsliteratur«.20 In diesen Bemerkungen kamen endgültig auch die Leser in den Blickpunkt einer Abwertungskampagne, die sich in den Jahren und Jahrzehnten zuvor noch vorwiegend gegen die Kolporteure, also die Überbringer der Ware, gerichtet hatte. Die Spalten des ›Börsenblattes für den Deutschen Buchhandel‹ - das vorwiegend als Organ für die Interessen der Sortimentsbuchhändler fungierte, die im Kolportagevertrieb häufig eine unzulässige und unqualifizierte Konkurrenz erblickten - sind in jenen Jahrzehnten voll von Beispielen für diese Abwertungskampagne. Etwa heißt es dort 1872:


Wir prognosticiren daher auch dem Colportagegeschäft, das jetzt so üppig ins Kraut geschossen ist, keine gesunde Dauer und Zukunft. Es liegt das in der Natur der Sache, namentlich in der Natur der Colporteure. Trotz aller Vortheile, Freiexemplare und Gratishefte wirft die Colportage doch nicht so viel ab, daß ordentliche, solide Menschen sich diesem vielfach demüthigenden Berufe (...) widmen werden. Die meisten Colporteure sind daher zweifelhafte, in andern Berufsarten verunglückte Menschen, die ihre Sache auf nichts gestellt haben und bei guter Gelegenheit durchbrennen.21


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Eine solche geradezu hämische Haltung einem Handelszweig gegenüber, der immerhin bereits fast ebensolange existierte wie Druckereien oder Buchhandel, ist nicht allein zu erklären mit dem Realgehalt der zahlreichen Klagen über windige Kolporteure. Vielmehr verbinden sich hier ideologische Vorbehalte und ökonomische Ursachen zu einem dichten Netz sozialer Minderachtung, mit dem unliebsame Konkurrenz diskreditiert werden sollte.

   Durch die industrielle und »demographische Revolution«22 der ersten Jahrhunderthälfte und die verstärkte Binnenwanderung vom Land in die Städte fanden viele Menschen in den angestammten, handwerklich-bäuerlichen Arbeitsbereichen kein ausreichendes Einkommen mehr. Dies begünstigte die Entstehung neuer Berufszweige - wie etwa auch den des Romankolporteurs; gleichzeitig wurde der Druck auf jene traditionellen Produktions- und Handelsbereiche immer stärker, die sich bislang noch relativ wirksam gegen das Hereindringen fachfremder Arbeitskräfte hatten abschotten können. Die preußische Regierung reagierte im Jahr 1868 auf diesen demographischen und sozialen Druck mit dem sogenannten ›Notgewerbegesetz‹, das zunächst für Preußen und wenig später dann für den gesamten Raum des Deutschen Reiches eine weitgehende Gewerbefreiheit garantierte.23 Für Buchhändler und Drucker hieß das, daß nun auch ungelernte Kräfte sich in diesem Metier betätigen konnten, das noch stark von einem elitären Selbstverständnis geprägt war. Das Erscheinungsbild ganzer Berufsgruppen - von den Autoren über die Hersteller, Drucker, Buchhändler und Verleger bis schließlich zum Lesepublikum - wurde von nun an zunehmend mitbestimmt von ›unzünftigen‹24 Mitbewerbern und Kollegen, die teils nicht einmal das Alphabetisierungs-, geschweige denn das Literarisierungs- oder Bildungsniveau der Alteingesessenen vorzuweisen hatten.25 Gegen diese unliebsame Konkurrenz, die von den Arrivierten ironisch als ›Notgewerbekollegen‹ bezeichnet wurde, kam es von Seiten des Sortimentsbuchhandels immer wieder zu polemischen Attacken. Das ›Börsenblatt‹ publizierte in diesen Jahren des Umbruchs immer wieder Beispiele von ›Curiosa‹, die mangelnde Fähigkeiten oder fragwürdige Geschäftspraktiken der neuen Kollegen illustrieren sollten. So hieß es 1868 voller Spott: »In Dresden existirt ein College, dessen Firma bis jetzt wohl nur wenige kennen; dieselbe verdient aber bekannter zu werden, und darum folgt sie hier: ›Ludwig Bratfisch, Buch-, Kunst-, Musikalien-, Nadler- und Spielwaaren-Handlung, Kittanstalt, und Drahtflechterei(!)‹.«26

   Im gleichen Jahr etablierten sich, ebenfalls in Dresden, zwei weitere ›Notgewerbekollegen‹ als Kolportagefirma, ein ehemaliger Schneider und ein Ex-Zimmermann: die beiden Brüder Heinrich Gotthold und Fritz Louis Münchmeyer. Der eine soll von sich selbst gesagt haben, daß er zehnmal gescheidter sei als alle anderen Leute,27 dadurch sei auch der andere ein reicher Mann geworden.28 Tatsächlich firmierte Fritz Louis Münchmeyer eine Zeitlang als Gutsbesitzer.29 Für den sozialen Hinter-


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grund dieses neu entstehenden Gewerbes ist jedenfalls die sarkastische Beschreibung, die May in späterer Zeit von seinen beiden Verlegern gab, sehr aufschlußreich:


Dass der »Heinrich« ein Zimmergeselle und der »Fritz« ein Schneidergeselle gewesen war, wurde bereits gesagt. Sie stammten vom Lande. Was sie konnten, hatten sie in der Dorfschule gelernt. »Heinrich« hatte seine weitere Ausbildung, besonders »das Feine«, den damals vielgelesenen Kolportageromanen »Die Gräfin mit dem Totenkopfe« u.s.w.30 entnommen. Er hatte auf dem Dorfe Tanzmusik gemacht, Klappenhorn geblasen, Violine gegeigt und einige Zeit beim Militär gestanden. Er strebte sowohl nach Bildung, wie auch nach Geld, besonders durch Kloster-, Gespenster-, Ritter-, Räuber-, Mord- und Liebesromane. Darum wurde er Kolporteur.31


Trotz aller späten, durch endlose Prozesse bewirkten Distanz des Autors zu seinen früheren ›Brotherren‹32 bleibt doch in diesen und anderen Sätzen auch eine gewisse heimliche Sympathie für deren unbändigen Aufstiegs- und Bildungswillen spürbar, in dem May, der ja gleichfalls die Literatur als Vehikel zur sozialen Promotion benutzte, seine eigenen Ambitionen wenigstens partiell wiedererkannt haben dürfte. Insofern kommt seinen implizit formulierten Aussagen über die Bildungsvoraussetzungen der Romankolporteure und ihres Publikums sowie über die Rezeptionsweise (der Kolporteur kennt ganze Reden aus den Romanen auswendig!) und Funktion der Kolportageromane ein bedeutender dokumentarischer Stellenwert zu. May beschreibt implizit wichtige soziale Bedingungen für den Erfolg des neuen Mediums Kolportageroman.

   Für die Geschichte der populären Lesestoffe ist besonders interessant, daß mit diesen sozialen Umwälzungen eine Textsorte entstand oder doch zu neuen Ehren kam, die sich als Rechtschreib-Spottbrief bezeichnen läßt. Im Rahmen der erwähnten Spottkampagne des ›Börsenblattes‹ über die ›Notgewerbekollegen‹ wurden auch immer wieder (Geschäfts-)Briefe von Kolporteuren oder kleinen Buchhändlern abgedruckt, deren zum Teil eklatante orthographische u. a. Fehlerhaftigkeit dem bürgerlichen Buchhandel die Unfähigkeit der neu ins Gewerbe drängenden sozialen Gruppen bewiesen und zugleich natürlich den eigenen Korpsgeist stärkten. Unter der Überschrift ›Wie sich ein neuer preußischer Noth-Gewerbe-College über das Colportagewesen äußert‹ wurde 1868 beispielsweise das Schreiben eines Kolporteurs dokumentiert, der sich nach einer bereits mehrjährigen Tätigkeit erstmals mit dem Sortimentsbuchhandel in Verbindung setzt.33 Auch bei Karl May findet sich diese Textsorte des Rechtschreib-Spottbriefes, und zwar nicht zufällig vor allem in den Kolportageromanen. Im schon öfter erwähnten ›Verlornen Sohn‹ etwa, der mit seinen vielfältigen Verweisen auf schriftstellerische Profession geradezu eine Art Karriereentwurf seines Autors darstellt,34 erhält ein Totengräber den alljährlichen Brief seines Sohnes, der Hausknecht in der Residenz ist. Der


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Brief bleibt zunächst ungeöffnet liegen, denn: ... da der Schreiber desselben keineswegs zu den »Helden der Feder« gehörte, und weder der Todtengräber noch seine Frau gelernt hatten, egyptische Hieroglyphen zu entziffern, so hatten sie sich hierbei stets auf fremde Hilfe verlassen müssen.35 Die mangelnde Lesefähigkeit wird freilich nicht eingestanden, sondern hinter dem Vorwand, die Brille verlegt zu haben, versteckt. May baut den Brief, in dem es von Rechtschreibfehlern nur so wimmelt, komplett in seinen Kolportageroman ein. Wortwahl, Satzstellung und Schreibweise deuten auf einen noch starken Einfluß mündlicher, dialektal gefärbter Kommunikation hin:


               »Libber Vater und treue Mudter!

Ich ergreife die zwei Väter, die ich gekaubt hawe, um Eich zu schreiwen, das Ihr gesund und wohl Ich Eich winsche; Graht so auch wie ich!!! Eier Geburzdach ißt zwaar nur dem Vater seiner, abber mein Hertze freiet sich doch könichlig, weil Ich itzt entlich könichliger Diehner pin!!!!!!!! Ich habbe nähmlig 1ne Stehle bekomm alls Schliesßer beim könichligen Landesgerricht, wo itzt der Brandes Gußdav zum Dohte verurrdeilt wärden soll. Ich habbe es kut; abber Ich mechde dem Wagdmeißter 1 Sahk Kahrdoffeln schänken. Schiekt Mir 1en Sahk Kahrdoffeln!!!! Die Stiffelbahndoffeln gönnt Ihr behallden, weil Ich stähts inn Uhnifform seun muhst. Habt ihr viel Dohdte bei Euch? Grießt und kißt Mir die Garliene und die Kußtel. Wellge von den 2 Ich heurade, daß weuß Ich noch niecht, denn Sieh möggens Ruig abwahrten!!!! Bleubt gedrei eiern guhten Soohn unt Krißtjan!!!!«36


Funktion und Wirkung der Rechtschreib-Spottbriefe37 sind in der Polemik des ›Börsenblatts‹ und bei May allerdings sehr verschieden (schließlich handelt es sich ja bei dem einen um einen ›realen‹, bei dem anderen um einen fiktiven Text). Wurde er dort als denunziatorisches Propagandamittel zur Wahrung einer sozialen und ökonomischen Vormachtstellung benutzt, so dient er hier als humoristisches Zwischenspiel ohne bösartige Untertöne, das zudem ein Glied in der Kette der Kriminalhandlung ist. Die von May geschilderten sozialen Umstände charakterisieren in ihren verschiedenen Komponenten aber durchaus realistisch den Bildungsstand der Bevölkerungsmehrheit der Zeit: Die Totengräber des Dorfes sind noch Analphabeten, doch der Schmied, der zu den Bessergestellten der Gemeinde gehört, kann lesen und stellt diese Fähigkeit als Vorleser nachbarschaftlich zur Verfügung. Der als Hausknecht tätige Sohn der Schreib- und Leseunkundigen zählt zwar zur Generation der Neu-Alphabetisierten, doch sind auch seine in wenigen Volksschuljahren erworbenen Fähigkeiten durchaus mangelhaft und gehen über einige Elementarkenntnisse nicht hinaus. Die Leserschaft, der May diese Umstände und den Brief in Kolportageheftform präsentierte, konnte darin sicher zu einem hohen Prozentsatz eigene Defizite erkennen.

   Die Alphabetisierung hatte zu Beginn der 1880er Jahre, als May seine


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Kolportageromane zu schreiben begann, immer noch keinen solchen Stand erreicht, daß man als Autor mit einer allgemeinen und weitgehenden Lese- und Schreibfähigkeit sicher hätte rechnen können. Mangels gesicherter Daten und repräsentativer Untersuchungen sind für den deutschen Sprachraum alle Angaben zum Alphabetisierungsstand zunächst einmal mit Vorsicht zu genießen. Doch auch an diesem Punkt sind die wenigen Daten, die Rudolf Schenda dazu bereits vor fünfundzwanzig Jahren mitgeteilt hat, bislang nur wenig ergänzt worden. »Im deutschsprachigen Gebiet (ohne Österreich und Schweiz) gab es 1871 mindestens noch 10 % Analphabeten unter den mehr als Zehnjährigen (...)«,38 in Ost- und Westpreußen sogar rund 35 %. Bedenkt man neben diesen Analphabetenzahlen die 5 bis 15 % Angehörige des (Bildungs-)Bürgertums, die für eine Kolportageromanlektüre kaum in Frage kamen, so verbleiben als potentielle Kunden des neuen Lesemediums für den Zeitraum um 1880 in Deutschland etwa 60 bis 70 % der Bevölkerung. Von diesen dürfte allerdings mindestens die Hälfte, mithin etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung, zur Generation der Erstalphabetisierten gehören, deren Eltern noch weitgehend Analphabeten waren und die selbst nur wenige Jahre Volksschule genossen hatten. Der Kolportageroman traf also auf ein unzureichend alphabetisiertes, weitgehend illiterates Publikum, das sich sowohl sozial als auch bildungsmäßig in einer Schwellensituation befand: dem Mobilitätsdruck bezüglich Wohnort und Beruf entsprach ein intellektueller Veränderungsdruck. Stadt und Land, Handwerk und Industriearbeitertum, Analphabetismus und Literarisierung gestalteten sich für die meisten Zeitgenossen zu nebeneinander bestehenden Erfahrungsbereichen, deren vielfältiges und komplexes Bezugssystem mit erhöhter Sensibilität wahrgenommen wurde. Für den durchschnittlichen Kolportageromanleser waren mündliche Formen des Erzählens, von der Predigt bis zu Witz und Märchen, noch ebenso normal wie Schreib- und/oder Leseunfähigkeit. Lese- und Schreibfähigkeit war zwar kein Privileg einiger weniger mehr, aber auch längst noch nicht überall selbstverständliches und allgemeines Kulturgut. Vor diesem Hintergrund bilden die erwähnten Rechtschreib-Spottbriefe eine subtile Form des Analphabetenschwanks,39 die ihren humoristischen Funken aus einer noch unzureichenden, auf einer frühen Stufe des Lernprozesses verharrenden Alphabetisierung bzw. Literarisierung zu schlagen versuchen.



III


Der ehemalige Fabrikschullehrer May kannte sein Publikum sehr genau - dies dürfte nicht zuletzt ein Geheimnis seines Erfolges gewesen sein. Für die Einschätzung der Kolportageromane als eines neuen Mediums, für das auch in ihrer formalen Präsentation die fließende Grenze zwischen Lese- und Schreibfähigkeit bzw. -unfähigkeit eine konstitutive Rolle spielte, bieten


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seine Romane reichlich Anschauungsmaterial. Zahlreiche Beispiele aus dem ›Verlornen Sohn‹ vermögen das zu belegen.

   Mangelnde Lese- und Schreibfertigkeiten werden dort immer wieder thematisiert, ebenso wie einzelne Gattungen der populären Lesestoffe des Volkes. Der Spulkorb des Webstuhls,40 ein Zigarrenkästchen auf dem Balken41 oder das Brett über der Tür42 werden als Aufbewahrungsorte für das Gesangbuch genannt; daneben werden Bibel und Kalender als wichtige Lektüre erwähnt.43 Der Köhler, der von sich sagt »... ich lese keine Zeitungen. Ich lebe in meinem Walde und halte es mit meinem Haussegen. Das genügt mir vollständig«,44 repräsentiert mit seiner Frau - neben dem erwähnten Totengräber - den typischen Hinterwäldler, dessen Lektürekanon ebenso beschränkt ist wie seine Lese- und Schreibfähigkeiten. May zeigt sich bei seinen gelegentlich kritischen Anmerkungen (etwa zum Traktätchenhändler in ›»Weihnacht!«‹45) stets bemüht, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten, d. h. seine vorsichtige Kritik gilt dem Lesestoff, seine deutliche Sympathie aber den Lesenden. Der Köhlersfrau etwa haben »die alten Lieder«46 geholfen, trotz elender Lebensverhältnisse ihre Menschenwürde zu bewahren.

   In einer längeren, volksaufklärerisch unterfütterten Szene seines letzten Kolportageromans ›Der Weg zum Glück‹ (1886-88)47 schildert May sogar einige Ursachen und Folgen der mangelnden Alphabetisierung: Der neue Lehrer Max Walther wird zunächst von den Bauern ausgelacht. Doch der Vortrag, den er daraufhin den Vätern am Stammtisch über die Wichtigkeit des Schulbesuchs hält, trägt Früchte. Weil sie nun ernsthaft befürchten müssen, daß ihre Söhne die Abschlußprüfung nicht bestehen, sorgen die Bauern nunmehr (durch Prügel!) für eine gewissenhafte Unterrichtsbeteiligung. Auch die Nutzanwendung dieser Szene folgt auf den Fuß. Als der Lehrer von der Mittagsschule nach Hause geht, begegnet ihm ein junger Bote, der ihn um Auskunft über den Bestimmungsort einer Depesche bittet, denn: »Ich kann halt nicht lesen.«48 Der Lehrer bekommt das Schreiben zu sehen und erhält auf diese Weise - ganz ähnlich wie schon beim Analphabeten-Spottbrief im ›Verlornen Sohn‹ - einen wichtigen Hinweis über einen Gegner, der ihm, hätte der Bote lesen können, verborgen geblieben wäre. Die Lesefähigkeit erweist sich in beiden Fällen also als ein sinnfälliges Machtmittel.

   Auch die berühmten ›Einwortsätze‹ in Feuilleton- und Kolportageroman, die zunächst eine ökonomische Ursache haben und aus der Notwendigkeit erwuchsen, in möglichst kurzer Zeit möglichst viele Zeilen und Seiten zu schinden, entpuppen sich vor diesem Hintergrund gleichfalls als brauchbares Stilmittel zur Anbindung frisch alphabetisierter Schichten an das neue Medium: Sie erleichtern dem Anfänger bzw. Ungeübten die Orientierung im Text und damit dessen Verständnis.49 Die gleiche Funktion erfüllen auch die zahlreichen Briefe, Telegramme, Dokumente, Zeitungsartikel, Zettelnotizen usw., die vor allem in den Kolportageromanen komplett


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abgedruckt werden, obwohl dies für die Handlung meist kaum wirklich nötig ist. In allen diesen Fällen wird aus einem ökonomischen Prinzip ein pädagogisches: der durchgehende Langtext wird immer wieder untergliedert in weitgehend selbständige Untereinheiten, die dem Bedürfnis des weniger geübten Lesers nach einem besseren Überblick und kürzeren Segmenten entgegenkommen.

   Ganz ähnlich erklärt sich die komödien- bzw. theaterhafte Inszenierung50 der Mayschen Kolportage - im ›Verlornen Sohn‹ etwa wechselt der Held einmal auf zehn Seiten insgesamt elfmal Kleidung und Identität!51 Auch damit konnte das neue Medium Kolportageroman anknüpfen an Präsentations- und Rezeptionsmuster, die vielfach im Rahmen des älteren Mediums Volkstheater bereits erprobt und damit bekannt waren. Und der gleichen Regel gehorchen schließlich auch die Illustrationen der Kolportageromane. Die Illustrationen zu den Mayschen Münchmeyer-Romanen, vor allem die zum ›Verlornen Sohn‹, wirken weitgehend unbeholfen, sind dadurch aber (unbewußt) recht genau auf das avisierte Publikum zugeschnitten. Die erstarrten Posen setzen einmal mehr die übertriebene Gestik des Volkstheaters ins Bild und holen also bereits anderswo ausgeprägte Sehgewohnheiten ins Literarische hinein. Die neu alphabetisierten bzw. literarisierten Schichten fanden auch in diesen Bildern wieder, was sie von dort oder von Votivbildern kannten: verbindliche Gesten und deutliche Körpersprache, unmißverständliche Haltungen und sich selbst erklärende Figuren - Konstellationen also, für die Sprache zunächst sekundär blieb und reine Begleitfunktion war von dynamisch ablaufenden Belauschungs-, Verfolgungs- oder Prügelszenen. Die Bilder sind um Eindeutigkeit bemüht und stellen die Erklärung ihrer selbst mit dar. Die Bildlegende darunter, meist ein Rudiment aus dem Text, gibt nicht eine zusätzliche Information, sondern wiederholt das für den Betrachter Offensichtliche. Die Illustrationen der Romankolportage sind im Wortsinne ein Stück Lesehilfe; ihr naiver Gestus knüpft an die Ikonographie von ABC-Fibeln und die populäre Gebärdenrhetorik der Moritatentafeln an, die selbst wiederum in mittelalterlichen Freskenzyklen und in der Votivmalerei ihre ikonographischen Vorläufer52 haben, im frühen Stummfilm ihre Nachfolger.

   Der Kolportageroman bot mithin ein ganzes Ensemble von Anknüpfungspunkten für die literarischen Erfahrungen eines neu alphabetisierten und kaum literarisierten Publikums. Erzählerische und stilistische, formale und ikonographische Gestaltungsmittel setzten auf einen Wiedererkennungseffekt, der keine geringe Rolle gespielt haben dürfte für den bekannten, durchschlagenden Erfolg der Romankolportage insgesamt: Der Einsatz bekannter Muster erleichterte die kommunikativen Prozesse im Spannungsfeld zwischen mündlich geprägter und schriftlicher Kultur.


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Der vorstehende Aufsatz ist die überarbeitete Fassung eines Beitrags, der 1995 erschienen ist in: Hören - Sagen - Lesen - Lernen. Bausteine zu einer Geschichte der kommunikativen Kultur. Festschrift für Rudolf Schenda zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ursula Brunold-Bigler/Hermann Bausinger. Bern u. a. 1995, S. 277-91.



1 Karl May: Der verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends. Dresden 1884-86, S. 51; Reprint Hildesheim-New York 1970ff.

2 Georg Jäger: Medien. In: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. Bd. 4 (1870-1918). München 1991, S. 473-99 (490)

3 Zitiert nach Manuel Köppen/Rüdiger Steinlein: Karl May: Der verlorene Sohn oder Der Fürst des Elends (1883-85). Soziale Phantasie zwischen Vertröstung und Rebellion. In: Romane und Erzählungen des Bürgerlichen Realismus. Neue Interpretationen. Hrsg. von Horst Denkler. Stuttgart 1980, S. 274-92 (274). - Die Datierung des Romans auf den Zeitraum 1883-85 kann als überholt angesehen werden. Richtig ist 1884-86.

4 Ebd.

5 Roderich Benedix: Die Dienstboten. In: Haustheater. Sammlung kleiner Lustspiele für gesellige Kreise. Sechste, vermehrte Auflage. Leipzig 1875, S. 305-42 (318)

6 Karl May: Das Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde. Dresden 1882-84; Reprint Leipzig 1988f.

7 Vgl. dazu ausführlich: Günter Kosch/Manfred Nagl: Der Kolportageroman. Bibliographie 1850 bis 1960. Stuttgart-Weimar 1993.

8 Vgl. Wolfgang Braungart: Bänkelsang. Texte - Bilder - Kommentare. Stuttgart 1985, S. 418.

9 Vgl. Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770-1910. München 21977, S. 244.

10 Vgl. Ernst Bloch: Traumschein, Jahrmarkt und Kolportage. In: Erbschaft dieser Zeit. Frankfurt a. M. 1962, S. 173-81 (bes. S. 178).

11 Vgl. Braungart, wie Anm. 8.

12 Vgl. ebd., S. 408ff.

13 Balz Spörri spricht für das industrialisierte Zürcher Oberland vom »Durchbruch-Charakter der Literarisierung in den 60er und 70er Jahren« (Balz Spörri: Studien zur Sozialgeschichte von Literatur und Leser im Zürcher Oberland des 19. Jahrhunderts. Bern u. a. 1987, S. 117).

14 Vgl. die Aufzählung bei Karl Emil Franzos: Die Juden von Barnow. Reinbek 1990, S. 49.

15 Dies zeigt leicht ein Vergleich des Hefttitels, der am Beginn der Bände des Reprints ›Der verlorne Sohn‹ (wie Anm. 1) abgebildet ist, mit den Faksimiles der Heftchentitel bei Braungart, wie Anm. 8, S. 159, 196 oder 218.

16 May: Der verlorne Sohn, wie Anm. 1, S. 279

17 Ebd.

18 Sehr interessant sind in diesem Zusammenhang die inhaltlichen und formalen Parallelen von Kolportageroman und Bänkelsangheftchen mit der in Brasilien heute noch lebendigen Literatura de Cordel (vgl. Gerdt Kutscher/Christof Vonderau: Das Mädchen, das mit dem Teufel Lambada tanzte. Zur brasilianischen Literatura de Cordel. Hrsg. vom Haus der Kulturen der Welt. Berlin (Ausstellungskatalog). Mit Texten von C. Vonderau und G. Kutscher. St. Gallen-Berlin 1992).

Die Übereinstimmungen dieser aktuellen Volksliteratur des Sertão mit den besprochenen europäischen Gattungen des 19. Jahrhunderts reichen von der ikonographischen Struktur der Titelblätter der Folhetos (Heftchen) über die sensatio-


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nellen, erbaulichen oder sentimentalen Inhalte, den Vertrieb auf Märkten oder durch Hausierer, ihre Begleitung durch Musik und den Vortrag mit Gesang bis zum ebenfalls kaum oder gar nicht alphabetisierten Publikum. Auch die Situation der Dichter, Sänger und Holzschneider scheint der europäischen vergleichbar zu sein. Der einzige, aber wesentliche Unterschied ist der des Verlages: Die brasilianischen populären Lesestoffe erscheinen im Selbstverlag. Die Produktion bleibt dort vollständig in den Händen der Autoren, während in Europa die großen Kolportageverlage diesen die Verfügungsgewalt entwunden hatten.

19 Julius Petzholdt: Aus dem Kreise des Colportagehandels. In: Neuer Anzeiger für Bibliographie und Bibliothekswissenschaft. 34. Jg. (1873), S. 48-51 (48)

20 Ebd., S. 49

21 A. K.: Colportage und Colporteure. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, Nr. 58 (11. März) 1872, S. 922f. (923)

22 Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1984; in Preußen etwa wuchs die Bevölkerung von 1815 bis 1865 von 10 400 000 auf 19 445 000, also um 87 %, in Sachsen von 1 193 000 auf 2 354 000 (97 %) und in Berlin gar von 198 000 auf 646 000 (226 %). Nicht zufällig bildeten also Berlin und Dresden die Zentren der Kolportageromanproduktion.

23 Vgl. Gabriele Scheidt: Der Kolportagebuchhandel (1869-1905). Eine systemtheoretische Rekonstruktion. Stuttgart 1994.

24 Für die Seite der Autoren bemerkte Karl May hierzu später: Ich hielt mich noch nicht einmal für einen zünftigen Lehrling, sondern nur erst für einen außerhalb der Zunft herumtastenden Anfänger .... Machen wir es ohne Zunft, wenn es nur richtig wird! Und machen wir es ohne Kunst, wenn es nur Wirkung hat und das erreicht, was es erreichen soll! (Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 149; Reprint Hildesheim-New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul).

25 Zur begrifflichen Differenzierung Alphabetisierung/Literarisierung vgl. Spörri, wie Anm. 13, S. 63f.

26 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Nr. 293 (23. Dezember), 1868, S. 3619 - weitere ähnliche Belege ebd., Nr. 219 (21. September), S. 2573; ebd., Nr. 231 (5. Oktober), S. 2715; ebd., Nr. 283 (7. Dezember), S. 3460; ebd., Nr. 301 (30. Dezember), S. 3659

27 Karl May: Ein Schundverlag. Ein Schundverlag und seine Helfershelfer. Prozeßschriften Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 283

28 Ebd.

29 Vgl. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 1870, S. 763.

30 Kosch/Nagl, wie Anm. 7, weisen diesen Titel nicht nach.

31 May: Ein Schundverlag, wie Anm. 27, S. 284

32 Vgl. ebd., S. 349.

33 Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel, 1868, S. 3460; ähnliche Briefe auch ebd., 1870, S. 1580 und S. 3884

34 Vgl. Andreas Graf: »Ja, das Schreiben und das Lesen ...«. Karl Mays Kolportageroman ›Der verlorne Sohn‹ als Entwurf einer schriftstellerischen Karriere. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1994. Husum 1994, S. 188-211.

35 May: Der verlorne Sohn, wie Anm. 1, S. 70

36 Ebd., S. 71

37 Auch Friedrich Gerstäcker hat in seinem Mini-Briefroman ›Aus dem Briefsacke des Paketschiffes Seeschlange‹ (vor 1853), der insgesamt aus vierzehn Briefen von sieben Schreibern besteht, vier Briefe verwendet, für die die Gattungsbezeichnung Rechtschreib-Spottbrief zutrifft. (Friedrich Gerstäcker: Aus dem Briefsacke des Paketschiffes Seeschlange. In: Gesammelte Schriften. Bd. 13 (Aus zwei Welttheilen. Aus Nord- und Südamerika). Jena o. J. (1873), S. 337-77). - Selbst Mays Reiseerzählungen kennen diese Spottbriefe; ein Beispiel (aus der Feder des Kapitän


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Turnerstick) in: Karl May: Christus oder Muhammed. In: Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. X: Orangen und Datteln. Freiburg 1894, S. 158.

38 Schenda, wie Anm. 9, S. 444; auch Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick. München 1991, konnte noch nicht auf weiterreichende und differenzierte Zahlen zurückgreifen.

39 Vgl. Elfriede Moser-Rath: Analphabetenschwänke. In: Enzyklopädie des Märchens. Bd. 1. Berlin-New York 1977, Sp. 482-84.

40 May: Der verlorne Sohn, wie Anm. 1, S. 651

41 Ebd., S. 1029

42 Ebd., S. 1886

43 Ebd., S. 128 und S. 555

44 Ebd., S. 1889

45 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht!«. Freiburg 1897, S. 156f.

46 May: Der verlorne Sohn, wie Anm. 1, S. 1888

47 Karl May: Der Weg zum Glück. Dresden 1886-88, S. 666-73; Reprint Hildesheim-New York 1971

48 Ebd., S. 673 - vgl. noch beim alten May die Düpierung leseunkundiger Indianer mittels Hotelrechnungen. Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXIII: Winnetou IV. Freiburg 1910, S. 384-86.

49 Im ›Verlornen Sohn‹, wie Anm. 1, bieten etwa die Seiten 756, 888 oder 2098 Musterbeispiele für die Häufung solcher Einwortsätze.

50 Vgl. Hans-Otto Hügel: Das inszenierte Abenteuer. In: Marbacher Magazin 21 (1982), S. 10-32.

51 May: Der verlorne Sohn, wie Anm. 1, S. 591-602

52 Vgl. Braungart, wie Anm. 8, S. 400.




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