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Wilhelm Brauneder


Karl Mays ›Faible‹ für Österreich





... ich habe ein Faible für jeden Oesterreicher, und wer das für einen Fehler hält, der mag ihn mir verzeihen - so Karl May 1901/1904 in ›Et in terra pax‹/›Und Friede auf Erden!‹.1 Diese Vorliebe wird zur selben Zeit, 1904, erhärtet durch das Gedicht ›Sei mir gegrüßt, Du liebes Österreich!‹, eine Art kitschige Ausführung des Faible-Zitates im Gästebuch eines Leobener Hotels.2 Sein Faible für Österreich und die Österreicher3 setzte May in seinen Werken mehrfach um: »... gieb uns zwei Flaschen österreichisches Bier!«4 bestellt Murad Nassyr für sich und Kara Ben Nemsi in einem Bierlokal zu Kairo, wo es österreichisches und auch englisches Bier gibt, so daß Kara Ben Nemsi zu dieser Bestellung meint: Das war eine Höflichkeit gegen mich; ich als Deutscher sollte österreichisches und kein englisches Bier trinken5 - May hätte ja auch an Münchener Bier denken können, zumal er dieses, wie noch zu zeigen sein wird, als weniger wässeriges6 einschätzt als solches aus Österreich.

   Woher kommt nun dieses Faible für Österreich und die Österreicher? Sehen wir einmal auf biographische Fakten Mays, nämlich auf seine Österreich-Aufenthalte bis zu seinen eben zitierten Lobpreisungen von Österreich und den Österreichern im Jahre 1904, wie sie Walther Ilmer zusammengestellt hat.7 Dem sicheren Aufenthalt im damaligen Österreich 1869/70 mit seiner Vagabondage durch Nordböhmen und der anschließenden Verhaftung in Algersdorf8 folgen einige unsichere, nicht belegte Daten: möglicherweise Sommer 1875 Abonnentenrundreise, möglicherweise Sommer 1888 Ossiach/Kärnten zur Arbeit an ›Kong-Kheou, das Ehrenwort‹, möglicherweise Sommer 1889 bei einem Grafen Esterhazy in Ungarn, möglicherweise November 1895 in Budapest. Sicher verbürgt sind sodann im Juni 1897 ein Aufenthalt am Achensee und ein Besuch in Innsbruck, im anschließenden Juli eine Reise durch Nordböhmen über Eger/Falkenau/Komotau, darauf Ende Oktober bis Mitte November ein Arbeitsaufenthalt in Birnai, wo er ›»Weihnacht!«‹ vollendet. Besonders dokumentiert sind sodann im Februar und März 1898 Aufenthalte in Prag, anschließend ein langer Aufenthalt in Wien und ein Kurzaufenthalt in Linz. Unsicher ist im Sommer 1898 ein Urlaub irgendwo ›im Gebirge‹, nachgewiesen aber im darauffolgenden Oktober ein Prag-Besuch, 1902 ein solcher in Linz und vor allem im August diesen Jahres einer in Südtirol wie gegen Ende des Jahres ein solcher am Gardasee. Wohl eine abermalige Fabel ist ein neuerlicher Ossiach-Aufenthalt, der in das Jahr 1902 passen könnte. Im Oktober 1904 weilte May in Leoben, wo er das erwähnte Lobgedicht verfaßte.


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   Sieht man nun von diesem Zeitpunkt 1904 mit seinen Lobesäußerungen über Österreich und die Österreicher auf die Aufenthalte in diesem Lande9 zurück, dann ergibt sich folgende Einschätzung: Der erste Aufenthalt 1869/70 führte wohl zu Mays erschreckendstem Lebenstiefpunkt, jene 1897 und 1898 sehen ihn auf der Höhe seines Ruhms, wobei der Oktober-Aufenthalt in Prag doch eher wieder unerfreulich war. Unerfreulich gestaltete sich auch Linz 1902, denn hier versenkte May mit den Druckplatten des Fotografen Nunwarz vor dessen Villa am Donaustrand seine Identifikation mit Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi in den Donaustrom. Im selben Jahr in Südtirol sehen wir ihn wohl abermals auf einem seiner Tiefpunkte angelangt: Unter makaberen Umständen geht die Trennung von seiner ersten Frau vor sich, der darauffolgende Aufenthalt am Gardasee war von Nachwirkungen wohl nicht frei. 1904 kam er wegen einer Zeugenaussage, also auch nicht aus frohen Gründen, nach Leoben. Überblickt man somit diese seine Österreich-Aufenthalte, so verursachten sie durchaus nicht sonnig durchflutete Reisereminiszenzen, sondern den zahlreichen und ganz besonders zermürbenden Tiefpunkten halten die Höhepunkte, wenn überhaupt, nur mühsam die Waage.

   Und dennoch drängen sich May Österreich und die Österreicher immer wieder auf. In der Schilderung eines fiktiven Arbeitstages in ›Freuden und Leiden eines Vielgelesenen‹ kommt May ohne Österreicher nicht aus: Unter den Besuchern befindet sich die Fürstin J. aus Wien mit ihren Prinzen,10 der Verlagsbuchhändler N. aus Wien11 und ein ungarischer Professor,12 Bittgesuche kommen auch von einer Lehrerin in den einsamen Dolomiten13 sowie einer blutarme(n) Witwe in Taus in Böhmen,14 unter den Weihnachtsgeschenken gibt es Bier aus Bayern und Böhmen sowie Rigoletwein vom Karst,15 Einladungen nach den Pußten Ungarns, der grünen Steiermark und dem herrlichen Achensee16 treffen ein und damit ebenso nach drei Orten in Österreich-Ungarn wie nach der gleichen Anzahl in Mays Heimat, dem Deutschen Reich; nur eine Einladung stammt aus der Schweiz. Nach dieser Schilderung aus dem Jahr 1896 teilt May bei einem Aufenthalt in München 1897 mit, er erhalte »täglich 40 bis 60 Briefe«17 und nennt dafür zwei als Beispiele: Beide kommen aus Österreich!18

   Wie in Mays - tatsächlichem oder reflektiertem - Leben, so begegnen wir österreichischen Berührungspunkten auch immer wieder in seinen Werken. Da sind einmal Örtlichkeiten wie das Erzgebirge, über welches hin der junge May mit seinem Freund Carpio wandert; an der sächsisch-böhmischen Grenze spielen seine Schmugglererzählungen, der ›Weg zum Glück‹ an der bayerisch-böhmischen und auch an der bayerisch-salzburgischen Grenze, sogar konkret im Orte Elsbethen nächst Hallein,19 sowie in Wien und in Triest. Die Wien-Szenen20 entsprechen der Topographie aufs Haar, die Pferdeeisenbahn biegt exakt an der richtigen Straßenkreuzung ums Eck und erlaubt, daß May hier eine Romanfigur abspringen läßt. In der von Weinrebenhängen eingerahmten Stadt Triest kann der Wurzelsepp tatsächlich fra-


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gen, »wo ein Bier zu finden ist, aber nicht so ein wässeriges österreichisches, sondern ein kerniges aus dem lieben Bayernlandl daheim«,21 denn der Baedeker ›Österreich‹ vermerkt unter anderem zum Restaurant Alt-Pilsen »auch Spatenbräu« sowie zum Lokal Central-Pilsen »auch Kulmbacher Bier«22 - einem speziellen Triest-Führer sind dann noch die Puntigamer Bierhalle, die Steinfelder Bierhalle, Bergers Bierhalle, Schreiners Bierhalle, Bierhalle alla Borsa Vecchia und die Pilsner Bierhalle zu entnehmen.23 Es gab tatsächlich in Triest vielerlei Bier inmitten der Weingärten!

   An Personen aus Österreich treffen wir fern ihrer Heimat: die Familie von Hiller,24 Martin Albani aus Triest,25 Adolf Horn aus Graz,26 die Frau von Rollins aus Brünn,27 im Mittelwesten gibt es Auswanderer aus Böhmen,28 in Damaskus singen in der reinsten erzgebirgischen Mundart29 keine Musikanten aus Sachsen, sondern Presnitzer Leute30 aus »german Austria«,31 eben aus »Presnitz, welches in Nord-Böhmen liegt«,32 einer solchen »Preßnitzer Harfenistengesellschaft«33 hatte sich auch Martin Albani angeschlossen gehabt, wie er in Dschidda bekennt. Nach Penang fährt May mit einem Oesterreicher,34 einem Dampfer des Triester Lloyd,35 in Penang trifft er »Oesterreicherinnen« mit »cisleithanische(m) Lachen«, die »ausschauen wie Ihre Majestät die Kaiserin Maria Theresia«,36 und der Kaufmann Rosenberg aus Kota Radscha »lebt jetzt in Wien«.37 Als Beispiel für das Durcheinanderlaufen der buntesten Bevölkerung in San Francisco nennt May unter den zwei Vertretern aus dem deutschen Sprachraum den handelnde(n) Tiroler,38 und im gleichen Verhältnis 1:1 erwähnt der cantor emeritus zwei Herren, die ihn bei seiner geplanten Heldenoper unterstützen könnten, nämlich einen Herrn Kuchenbruch aus Halle und einen Herrn Zuckerkrach aus Wien39 - an wen May hierbei gedacht haben mag? Selbst der Sachse Hobble-Frank drückt die Sehnsucht nach seiner Heimat an der Elbe mit einem Gedicht über das richtige Tirolerheimweh aus.40

   Versucht man Mays Faible für Österreich und die Österreicher zu erklären, so sind einmal mehrere objektive Momente zu erwähnen, die sich von der heutigen Situation abheben. Zum ersten ist daran zu erinnern,41 daß Österreich für einen Sachsen wie aber auch für einen Preußen oder einen Bayern kein fremdes Land war, da alle diese Nachbarstaaten bis 1866 der Deutsche Bund vereinigte, wofür wir heute angesichts der Zugehörigkeit zur Europäischen Union wieder mehr Verständnis im Hinblick auf Gemeinsames aufbringen. Zudem trennte Mays sächsische Heimat vom benachbarten Österreich auch keine Sprachgrenze. Beiderseits der sächsisch-böhmischen Grenze sprach man Deutsch; überquerte May das Erzgebirge, befand er sich im ehemals deutschen Teil Böhmens. Die Situation stellte sich kaum anders dar, als wenn man heute die Ländergrenze von Thüringen nach Bayern oder von Oberösterreich nach Salzburg und auch von Salzburg nach Bayern überschreitet. Es handelte sich nicht um eine spürbare Grenze. So hatte May offenkundig keinerlei Schwierigkeiten, 1869 auf seiner Flucht von Sachsen nach Österreich/Böhmen zu kommen. In ›»Weihnacht!«‹ beschreibt er die-


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se Situation insofern,42 als es für die beiden Winter-Wanderer May und Carpio keinen Unterschied macht, vom bayerischen Rehau nach dem österreichischen Asch und von hier weiter nach dem gleichfalls österreichischen Eger zu marschieren, denn so wie es zwischen den beiden österreichischen Städten natürlich keine Grenzkontrolle gibt, so allerdings auch keine zwischen der bayerischen und der österreichischen Stadt. Erst in Falkenau, 30 Kilometer nach Eger, werden beide von einem Gendarm, einem Sicherheitsbeamten,43 aufgehalten, der sie jedoch nicht kontrollieren, sondern, da er sie für Studenten hält, vom Betreten einer »Herberge für Handwerksburschen«44 abhalten will - also selbst unter diesen Umständen keine Paßkontrolle! Wie an dieser sächsisch-österreichischen verhält es sich auch an der bayerisch-österreichischen Grenze: Die Bürgermeistersgattin Bertha Hohlweg aus dem (fiktiven) österreichischen Steinegg begibt sich ohne Grenzkontrolle nach dem (fiktiven) bayerischen Ort Hohenwald, wofür »ein wahrer Spaziergang von wenig über einer Stunde«45 genügt - ohne jegliche Kontrolle. Auch Ludwig Held und seine Mutter wandern vom (fiktiven) böhmischen Slovic nach dem (fiktiven) bayerischen Oberdorf gleichfalls ohne jegliche Kontrolle. Auch vom Berchtesgadener Land gelangt der Krikel-Anton nach dem (existierenden) Ort Elsbethen in Salzburg und zurück ohne jegliche Kontrolle. Als im ›Verlornen Sohn‹ Eduard Hauser an der österreichisch-sächsischen Grenze am Föhrensteig aufgegriffen wird, braucht er sich nicht zu legitimieren, es genügen seine persönlichen Angaben, gefragt wird er nur, ob er »zollpflichtiges Gut«46 mit sich führe. Diese Situationen entsprechen der damaligen Wirklichkeit. Abermals Reiseführern zu Österreich entnehmen wir zweierlei: »Zoll: Bei Überschreiten der österreichischen Grenze findet Gepäckrevision statt«47 sowie weiters: »Ein Paßzwang besteht in Österreich nicht, doch wird der Reisende in einzelnen, abgelegenen Teilen des Landes bisweilen von den Behörden veranlaßt, sich über seine Herkunft auszuweisen«!48 Ganz also wie in Mays Erzählungen: keine Paßkontrolle, aber Zollrevision. So stellte das benachbarte österreichische Böhmen für May weder staatlich noch sprachlich und auch sozusagen grenztechnisch keine Fremde dar!


Eines Tages wechselt er über die grüne Grenze hinüber in ein anderes Land, vollzieht damit den schicksalhaften Schritt, der sein Leben zwischen dessen Nadir und Zenit unauflöslich mit Österreich verknüpft (...) Böhmen, Land jenseits der sächsischen Grenze, in Verzweiflung als Bergung gesucht - das Ende einer traurigen Freiheit49:


Walther Ilmer beschreibt so May im Herbst und Winter 1869/70. Tatsächlich wurde dieses Nordböhmen für May zu einer Schicksalslandschaft. Im Herbst 1869 kam der in Sachsen erst Ende 1868 freigelassene Häftling und bereits abermals als mehrfacher Betrüger gesuchte May nach Böhmen. Zeitungsberichte erweisen,50 daß der feuchtkalt-nebelige Herbst 1869 alsbald in einen überaus strengen, bitterkalten und schneereichen Winter mündete.


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Kein Schneepflug bahnte dem Vagabunden May den Pfad durch allmählich haushoch liegenden Schnee. Auf seiner Wanderung in west-östlicher Richtung hatte May zur Linken das Erzgebirge bis weit hinauf über die Baumgrenze vor sich, weiß und eisig, die Täler tief verschneit, zur Rechten die Berge erst um Karlsbad, dann das Böhmische Mittelgebirge mit einem Berggipfel nach dem anderen aufgereiht:


Der Ritt ging über ein weites, sich stets aufwärts ziehendes Grasland, welches hie und da von einem Wäldchen unterbrochen wurde. Die Luft war kalt und trübe; das Gras hatte ein halberfrorenes Aussehen; die Höhen trugen Schnee. Wir ritten den halben Vormittag durch eine feuchte Spätherbstlichkeit und dann gar in Wintersanfang hinein.51


May beschreibt hier Wyoming - es entspricht die Schilderung aber der winterlichen Landschaft um Falkenau, wie sie der Verfasser dieser Zeilen Anfang Dezember 1997 selbst erlebt und die sich im Dezember 1869 May wesentlich winterlicher und frostiger dargeboten hatte.


Links drohten die finsterbewaldeten Vorberge der Salt River Range über den nordsüdlich fließenden Green River herüber; hinter uns schienen die dunklen Black- und Tabernacle-Bluffs die Last des schweren Himmels zu tragen; weit draußen, rechts, versammelten sich die Sweetwater-Giganten einer nach dem andern ... Sie blickten, Haupt an Haupt, mit schwerem Eis und Schnee bedeckt, ... auf uns nieder ...52


Abermals und auch topographisch festgemacht die tatsächlich auch vom Verfasser dieser Zeilen als großartig empfundene Landschaft um Wyomings Green River, aber durchaus auch mit links das Erzgebirge und mit draußen, rechts das Böhmische Mittelgebirge im klirrenden Winter 1869/70! Durch die derart in ›»Weihnacht!«‹ beschriebene Landschaft schleppte sich May, verkroch sich dann nach Jahresbeginn 1870 in einen auch im Dezember 1997 nebelig-schneeigen Algersdorf mit seinen verstreut liegenden Bauernhöfen samt Scheunen in einer davon und wurde verhaftet: Lebenstiefpunkt im Österreichischen!

   Siebenundzwanzig Jahre danach betrat May abermals diesen Schicksalsraum. Er kam von München, wo ihm im und vor dem Hotel Trefler eine begeisterte Menschenmenge zugejubelt hatte, die Feuerwehr mit ihren Wasserspritzen mußte der Straßenbahn Bahn brechen.53


»Sind Leute in der Gaststube?« ...

   »Alles voll! ... Es kann fast kein Apfel zu Boden fallen, und vor dem Hause stehen sie auch so dicht. Alles will Winnetou und Old Shatterhand sehen.«

   »So gehen wir beide mit Ihnen. Führen Sie uns einen möglichst freien Weg, wo wir nicht gesehen werden! ...«

   Es war für ihn aber unmöglich, diesen Wunsch zu erfüllen. Man bemühte sich zwar, uns Platz zu machen, aber es waren der Menschen so viele, daß wir nur langsam hindurchkamen. Und als wir die Straße erreicht hatten, standen noch mehr da ...54


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May beschreibt hier - im Herbst 1897 - Weston am Missouri, die Szene entspricht aber jener ein paar Wochen zuvor in und um das Hotel Trefler in München aufs Haar. Derart hochgehoben von der Gunst des Publikums (und seinen Einnahmen bei Fehsenfeld) kam May nun abermals über Eger nach Nordböhmen, nicht im klirrenden Winter, sondern im sommerlichen Juli, nicht als Vagabund, sondern als gefeierter Schriftsteller! Nicht, oder nicht nur, der von der Redaktion des ›Deutschen Hausschatzes‹ gestrichene Textteil ›In der Heimath‹ aus der Erzählung ›Krüger Bei‹55 hat May zu ›»Weihnacht!«‹ angeregt.56 Die einzige Verbindung zwischen beiden Texten besteht im Schauplatz Heimat, aber allein über diesen geht ja ›»Weihnacht!«‹ schon in Europa gerade mit Nordböhmen und dann mit dem Westen der USA weit hinaus, denn es sind weniger Erlebnisse aus Mays sächsischer Heimat, die ihre Fortsetzung finden, sondern solche aus Nordböhmen, nämlich mit der Familie Hiller und der titelgebenden ›»Weihnacht!«‹ wie auch in Stimmung und Landschaft. Der Kontrast des arm-verschreckten ›Schülers‹ in der Diktion von ›»Weihnacht!«‹ recte des Vagabunden zum wohlhabend-abgeklärten Mann, der Kontrast strenge Schule des Lebens recte Algersdorf und Zuchthaus, der Kontrast Old Shatterhand recte des doch noch emporgekommenen May zu Carpio recte der so nahen Möglichkeit des Scheiterns - kurzum der Kontrast Nordböhmen 1869/70 zu Nordböhmen 1897 trieb May von hier direkt an seinen Schreibtisch nach Radebeul. Hier schrieb er die Nordböhmen-Szenen von ›»Weihnacht!«‹ nieder, wobei er übrigens mit Carpios Bemerkung über den Meridian von Komotau sogar auf seine eben stattgehabte Nordböhmenreise mit ihrem Aufenthalt in Komotau hinweist!57 Anhand von Friedrich Münchs Auswandererhandbuch ›Der Staat Missouri‹, das May in seiner Bibliothek stehen hatte,58 schrieb er hier noch die Weston-Ereignisse, brach seine Arbeit ab und - fuhr abermals nach Nordböhmen! Vom Plüschabteil Erster Klasse Bahn sah er in der Gegend von Tetschen-Bodenbach-Aussig auf seine Vagabundenlandschaft von 1869/70 hinaus. In Birnai an der Elbe schrieb er ›»Weihnacht!«‹ fertig, übrigens nur 18 Kilometer Luftlinie vom Lebenstiefpunkt Algersdorf entfernt, just hier brachte er die Wyoming/Nordböhmen-Gebirgslandschaftsszenen zu Papier! Nicht die sommerliche Sächsische Schweiz um Rathen hatte May im böhmischen Birnai vor Augen, sondern die böhmischen Gebirgslandschaften seiner Vagabundenwanderung längs des schneereichen Erzgebirges, wohl auch die winterlich kahle und kalte Hochebene um Algersdorf mit fernen Höhenzügen unter schweren grauen Wolken. Zwar beeindruckt in der Gegenüberstellung entsprechender Fotos von Bergformationen der Sächsischen Schweiz mit solchen Wyomings59 deren Ähnlichkeit, ja nahezu schon Identität, so aber sah dies May aus zwei Gründen nicht: Einmal war ihm Wyoming unbekannt, so daß die transatlantische Vergleichsmöglichkeit fehlte; sodann bot sich ihm vom Bahnfenster aus die Sächsische Schweiz durchaus nicht in der Vogelperspektive der erwähnten Fotos an, und das, was er vor allem bei Rathen sah, zog nur in-


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nerhalb weniger Minuten am Abteilfenster vorbei. So beeindruckt der Verfasser dieser Zeilen von der Wild-West-Landschaft um Rathen bei einem dortigen längeren Aufenthalt auch war - sowohl mit der Erinnerung an die Fotos wie an die tatsächlichen Berge des Far-West vor dem inneren Auge -, so wenig beeindruckten ihn später die kurzen Momente vom böhmenwärts eilenden Zug aus. Die Schlußfolgerung vor allem aus der Foto-Gegenüberstellung: May »›sah‹« im Elbetal »die Landschaften, die Old Shatterhand und Winnetou gerade durchritten: Er  e r l e b t e  es wirklich, während er durch das Abteilfenster hinausschaute auf den Fluß und die Felsen«,60 stimmt so nicht. Was May sah und niederschrieb, war seine Vagabunden›topographie‹, die weißen Berge des kalten Winters 1869/70: Nicht sächsische, sondern österreichische Eindrücke brachte er im böhmischen Birnai zu Papier.61

   An der Nahtstelle zwischen dem Nordböhmen-Teil und dem USA-Teil in ›»Weihnacht!«‹, also zwischen bedrückender Jugendzeit und arriviertem Westmann-Schriftsteller, finden wir folgende Aussage:


Eine Reihe von Jahren war nach dem bisher Erzählten vergangen; das Leben hatte mich in seine strenge Schule genommen und aus dem unerfahrenen Knaben einen Mann gemacht. Aber die Härte, mit welcher es mich behandelte, war eine nur scheinbare, denn ich hatte mir ja meinen Weg selbst vorgezeichnet und neben all den Anstrengungen und Entbehrungen, welche mich trafen, auch Freuden und Genugthuungen gefunden, die mir bei einem andern, ruhigeren Lebensgange versagt geblieben wären.62


Hier, im Roman ›»Weihnacht!«‹, spiegelt sich in vielfältiger Weise Nordböhmen als Schicksalsraum Mays wider. Und ein halbes Jahr nach dieser Niederschrift, 1898, war der 1870 von einem kaiserlichen Gendarmen in Algersdorf aufgegriffene, im kaiserlichen Bezirksgericht Bensen verhörte, in der kaiserlichen Bezirkshauptmannschaft Tetschen inhaftierte Vagabund in seiner Kaiserstadt Wien am kaiserlichen Hofe Gast der kaiserlichen Familie als ruhmbedeckter Schriftsteller und vor allem als - vermeintlich - welterfahrener Reisender! Nach derart gesühnter Ungerechtigkeit, nach derart wettgemachter Bitternis konnte man 1901 schon ein Faible für sein Schicksal haben, das derart triumphieren ließ - und es hieß Österreich, wo ihm, in seinen Worten in ›»Weihnacht!«‹, sowohl strenge Schule wie Freuden und Genugthuungen63 widerfahren waren!

   Doch ist dieser Versuch, Mays Faible für jeden Österreicher zu erklären, ins rechte Licht zu rücken, und zwar mit der Vervollständigung des Eingangszitats. May fährt bekanntlich fort wie folgt: Freilich, wenn man mich fragte, für welche Nationalität ich kein Faible habe, so käme ich wohl in Verlegenheit, denn ich bin ihnen allen, allen gut. Und das soll man ja wohl auch!64 - Und dem ist tatsächlich nichts hinzuzufügen.


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1 Karl May: Et in terra pax. In: China. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik. Hrsg. von Joseph Kürschner. Dritter Teil. Leipzig 1901, Sp. 138; ders.: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXX: Und Friede auf Erden! Freiburg 1904, S. 189

2 Konrad Stekl: Karl May und die Steiermark. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 9/1971, S. 17

3 Weitere Details und Fakten: Karl May und Österreich. Realität - Fiktion - Rezeption. Bildung und Trivialliteratur. Hrsg. von Wilhelm Brauneder. Husum 1996

4 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVI: Im Lande des Mahdi I. Freiburg 1896, S. 9

5 Ebd.

6 Karl May: Der Weg zum Glück. Dresden 1886-88, S. 2322; Reprint Hildesheim-New York 1971

7 Walther Ilmer: Karl Mays Aufenthalte in Österreich: Zeittafel. In: Brauneder: Karl May und Österreich, wie Anm. 3, S. 41f.

8 Übrigens ›Algersdorf‹: Offiziell ist dies die richtige Bezeichnung in sogar zweierlei Hinsicht (Gemeindelexikon der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder IX: Böhmen I. Wien 1904, S. 890): Die Ortsgemeinde Algersdorf bestand aus den beiden Ortschaften, jeweils ›Dorf‹ genannt, Algersdorf und Schneppendorf, wobei ersteres zwei Volksschulen besaß: Niederalgersdorf und Oberalgersdorf. Die topographische Bezeichnung Niederalgersdorf existierte also auch! Zufolge des in der Karl-May-Forschung oft gebrauchten Hinweises auf Mays Verhaftung in Niederalgersdorf, der ja eine Grundlage haben muß, wäre diese demnach in einem näher präzisierten Ortsteil der Ortschaft Algersdorf erfolgt, und zwar offenkundig in dem nieder gelegeneren der sich lang und stark ansteigend hinziehenden Straßen- und Streusiedlung.

9 Vgl. Brauneder: Karl May und Österreich, wie Anm. 3, zu Mays Aufenthalten in Böhmen ebd. die Beiträge von Klaus Hoffmann, K. Haudek/Walther Ilmer, Egon Erwin Kisch; zum Aufenthalt in Wien 1898 Franz Cornaro; für Linz Josef Mittermayer; zu Ossiach Gustav Renker/Wilhelm Brauneder/Willi Rainer; vor allem zu Tirol Anton Haider.

10 Karl May: Freuden und Leiden eines Vielgelesenen. In: Deutscher Hausschatz. XXIII. Jg. (1897), S. 3; Reprint in: Karl May: Kleinere Hausschatz-Erzählungen. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg/Regensburg 1982; dazu: Wilhelm Brauneder: May über May: Ein ›Vielgelesener‹ - kein ›Vielgereister‹! In: Zwei Beiträge zu Karl May. Wien 1998, S. 7ff.

11 May: Freuden und Leiden eines Vielgelesenen, wie Anm. 10, S. 4

12 Ebd., S. 6

13 Ebd., S. 18

14 Ebd., S. 19

15 Ebd., S. 18

16 Ebd., S. 20

17 Karl May in München. In: Bayrischer Kurier und Münchner Fremdenblatt vom 6. 7. 1897. Wieder in: Der Rabe 27. Hrsg. von Hermann Wiedenroth/Hans Wollschläger. Zürich 1989, S. 94

18 Vgl. ebd. und May: Freuden und Leiden eines Vielgelesenen, wie Anm. 10, S. 19.

19 Dazu mit weiteren Angaben Wilhelm Brauneder: Karl May und Österreich: Reales und Fiktives sowie ders.: Vermittlung von Kenntnissen über Staat und Verfassung (beide in: ders.: Karl May und Österreich, wie Anm. 3, S. 13f. sowie S. 293ff.).

20 Reingard Witzmann: Schauplatz Wien - Die Donaumetropole im Roman »Der Weg zum Glück«. In: Brauneder: Karl May und Österreich, wie Anm. 3, S. 378-90


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21 May: Der Weg zum Glück, wie Anm. 6, S. 2322; vgl. Brauneder: Karl May und Österreich, wie Anm. 19, S. 13f.

22 Karl Baedeker: Österreich. Leipzig 271907, S. 255

23 Illustrirter Führer durch Triest und Umgebung. Wien/Pest/Leipzig 21886, S. 15 (Hartlebens Illustrirter Führer Nr. 10)

24 In: Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIV: »Weihnacht!«. Freiburg 1897

25 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. I: Durch Wüste und Harem. Freiburg 1892, S. 234-41; ders.: Gesammelte Reiseromane Bd. IV: In den Schluchten des Balkan. Freiburg 1892, S. 59f.

26 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XIII: In den Cordilleren. Freiburg 1894, S. 240

27 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XV: Old Surehand II. Freiburg 1895, S. 226

28 Karl May: Der Geist des Llano estakado. In: Karl May: Die Helden des Westens. Stuttgart-Berlin-Leipzig o. J. (1890), S 326; Reprint in: Karl May: Der Sohn des Bärenjägers. Bamberg 1995

29 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. III: Von Bagdad nach Stambul. Freiburg 1892, S. 376

30 Ebd., S. 378 - Preßnitz, heute von einem Stausee überflutet, war tatsächlich für seine Wandermusikanten, insbesondere Harfenisten, bekannt.

31 Ebd., S. 379

32 Ebd.

33 May: Durch Wüste und Harem, wie Anm. 25, S. 237

34 May: Und Friede auf Erden, wie Anm. 1, S. 161

35 Ebd., S. 166

36 Ebd., S. 205f.; ›Cisleithanien‹: ist die inoffizielle Bezeichnung für die nichtungarischen Gebiete der Habsburgermonarchie.

37 Ebd., S. 211

38 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IX: Winnetou, der Rote Gentleman III. Freiburg 1893, S. 286

39 Karl May: Der Oelprinz. Stuttgart-Berlin-Leipzig o. J. (1897), S. 43; Reprint Bamberg/Braunschweig 1974

40 May: Der Geist des Llano estakado, wie Anm. 28, S. 259

41 Vgl. zum Folgenden Brauneder: Vermittlung, wie Anm. 19, insbes. S. 306ff.

42 May: »Weihnacht!«, wie Anm. 24, S. 25-29

43 Ebd., S. 27f.

44 Ebd., S. 29

45 May: Der Weg zum Glück, wie Anm. 6, S. 825

46 Karl May: Der verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends. Dresden 1884-86, S. 724; Reprint Hildesheim-New York 1971

47 Meyers Reisebücher: Erzgebirge, Vogtland, Nordböhmen (...). Leipzig-Wien 1914, S. 4; vgl. auch Brauneder: Vermittlung, wie Anm. 19, S. 297f.

48 Baedeker, wie Anm. 22, S. XI

49 Walther Ilmer: Wie Böhmen noch bei Öst'reich war: Der Grenzgänger Karl May. In: Brauneder: Karl May und Österreich, wie Anm. 3, S. 24-26

50 Brauneder: Aus Nordböhmens Hain und Flur: Mays Winter 1869/70. In: M-KMG 109/1996, S. 21ff.

51 May: »Weihnacht!«, wie Anm. 24, S. 539

52 Ebd., S. 540: die Shakespeare-Landschaft

53 Dazu Siegfried Augustin: Karl May in München. In: Karl-May-Jahrbuch 1978. Braunschweig 1978, insbes. S. 61: Schilderungen Mays

54 May: »Weihnacht!«, wie Anm. 24, S. 296f.


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55 Karl May: Krüger-Bei. In: Deutscher Hausschatz. XXI. Jg. (1895)

56 Vgl. dagegen u. a. Roland Schmid: Nachwort (zu ›Am Jenseits‹). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XXV. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, N 2

57 May: »Weihnacht!«, wie Anm. 24, S. 25; K. Haudek/Walter Ilmer: Karl May in Komotau. In: Brauneder: Karl May und Österreich, wie Anm. 3, S. 51ff.

58 Friedrich Münch: Der Staat Missouri. New York 1859; vgl. Franz Kandolf/Adalbert Stütz: Karl Mays Bücherei. In: Karl-May-Jahrbuch 1931. Radebeul o. J., S. 233. May hat zahlreiche Passagen abgeschrieben bzw. geschickt in den Text, auch in Dialoge, eingebaut. Vgl. auch Wilhelm Brauneder: Zu Karl Mays Quellen. Wien 2000, insbes. S. 12ff.

59 Euchar A. Schmid: Der unterirdische Gang. Bamberg 1984

60 Roland Schmid: Nachwort, wie Anm. 56, N 13, mit Bezug auf E. A. Schmid, wie Anm. 59

61 Die tatsächlich wild-west-ähnlichen Rathener Felsen hätte May übrigens ganz anders beschreiben müssen. Sie erinnern auch nicht an Wyoming, sondern eher an südlichere Gegenden wie etwa das Flußtal des Arkansas oberhalb von Little Rock.

62 May: »Weihnacht!«, wie Anm. 24, S. 117

63 Ebd.

64 May: Und Friede auf Erden, wie Anm. 1, S. 189




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