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IV. Sittenbilder


Ich weiß nicht, in welchen May-Texten - vermutlich in einer der 1903 neu erschienenen Erzgebirgischen Dorfgeschichten - Krauss den Kenner der Erotik herausgefühlt hat (mir selbst ist das, wie weiland Arno Schmidt, tatsächlich nur bei jener Szene der Annäherung an Syrr, den Glanzrappen, im 4. Band des ›Silbernen Löwen‹ aufgegangen, die sich als ein langes, zärtliches, einfühlsames Vorspiel lesen läßt68), aber die ersten Seiten der ›Studie‹ liefern ein naturalistisches Sittenbild des Erzgebirgischen Dorflebens, das mit vehementer Sexualität aufgeladen ist. In ruhigem Erzählton werden die Eltern von Emmas Großmutter vorgestellt, von Generation zu Generation wird der Stolz auf körperliche Schönheit weitergegeben, verbunden mit Voluptuosität und Kupidität, gefolgt von gesellschaftlichem Abstieg, garniert mit einer unehelichen Geburt aus der Verbindung einer verbuhlten Barbierstochter und eines verlogenen, leichtfertigen, lüsternen Czechen (Emmas Eltern), und May wagt sogar eine psychologische These, nämlich, daß bei nichtehelichen Kindern Naturell und Temperament, die gefährlichsten aller Triebkräfte, mehr hervorträten als bei den in der ruhigen, gleichmäßigen Liebe der Ehe erzeugten Kindern. Natürlich! Wer mitten in Flammen sein Dasein fand, kann auch nur in Flammen leben! (Studie, S. 805)

   Man mag diese These für kurios halten, wie Stolte es tat,69 aber kurioser als eine ganz moderne Theorie, daß nämlich Vergewaltigung der Ausdruck eines ganz natürlichen männlichen Bedürfnisses nach Genstreuung sei, was man ja am entsprechend handelnden Skorpionmännchen nachweisen könne,70 ist Mays Annahme nun wirklich nicht. Überdies erweist er sich als moderner, als es zunächst den Anschein hat: denn neben der erblichen Bela-


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stung macht er für Emmas Grausamkeit und ihre schärfste Sinnlichkeit (Studie, S. 805) auch gesellschaftliche Faktoren verantwortlich. Denn der seit August 1865 alleinerziehende Großvater lebte in einem ungezügelten Concubinate mit einer äußerst üppig gebaut(en) und mit ... groben Reizen und der entsprechenden Raffinirtheit versehenen Vettel, die grad wegen ihrer Geilheit und Brünstigkeit gemiethet worden sei (Studie, S. 805f.). Da war die am 22. November 1856 geborene Emma, deren Mutter an den Folgen der Geburt am 4. Dezember 1856 gestorben war, knapp neun Jahre alt und mußte laut May daheim den ausschweifendsten Liebesgenüssen zuschauen und in einer Atmosphäre von Wollust und Obscönitäten leben (Studie, S. 806).

   Moralischer geht es auch nicht in der großstädtischen Kolportageszene zu, in der die Ausbeutung der roh-geschlechtlichen Sinnlichkeit auf das Unverschämteste, nämlich durch die Produktion des Münchmeyerschen ›Venustempels‹, betrieben wurde mit der Folge, daß der ältesten Tochter des Nachts die Hände gebunden werden mußten, damit sie sich die Onanie abgewöhne - May entrinnt aber glücklich und heil der Welt der abnormen Geschlechtlichkeiten (Studie, S. 807f.) und lernt dann - Emma Pollmer kennen.

  Das Sittenbild, das May hier malt, und die Thesen, die er zugrunde legt, erfüllen durchaus den Anspruch an eine Studie, wie May sie nach dem Brief von Krauss vorgeschwebt haben könnte. Folkloristische Erhebungen sind das schon, und als Forschung zur Entwicklungsgeschichte der geschlechtlichen Moral läßt sich das von altmodischen, geradezu klinisch anmutenden Fremdworten durchsetzte Stück ebenfalls verstehen. An die drastische Wortwahl und die explizite Darstellung sexueller Techniken und Gebräuche bei zugleich nüchtern-wissenschaftlichem Flair, wie sie die entsprechenden Beiträge in den ›Anthropophyteia‹-Jahrbüchern auszeichnen, reicht May allerdings bei weitem nicht heran; zu diskret und allzu sehr moralisch-religiös wertend sind seine Ausführungen.71

   Emma nun: bevor Karl May die erste Begegnung wirklich beschreibt, liefert er die Analyse, wer nun wen eingefangen hat, und die Quintessenz, nämlich:


... führte ich »Fräulein Pollmer« heim, brauchte das ... aber nie wieder zu thun, denn schon von morgen an kam sie täglich abends zu mir, anstatt ich zu ihr, sobald Pollmer schlafen gegangen war, heimlich, leise, durch meine Hinterthür, die für sie offen stand. (Studie, S. 809f.)


Das Siegergefühl ist noch während der Niederschrift so überwältigend nah, daß er aus dem Imperfekt des Textes ausbricht: von morgen an hätte er nicht schreiben dürfen, ›vom nächsten Tag an‹ wäre die korrekte, dem Tempus angepaßte Formulierung gewesen, und er scheint zu merken, was da passiert, denn er fährt fort:


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Ich war damals dumm genug, stolz darauf zu sein, daß ich alter Kerl [von 35 Jahren!] die jungen Anbeter alle ausgestochen hatte, und zwar so schnell und gründlich, mit einem einzigen Male! ... Körperliche Vorzüge besitze ich nicht; aber ich war in hohem Grade überzeugt, diesen kostbaren Schatz von Schönheit, Herzensgüte, Edelsinn und Hingebung nur durch meine geistige Ueberlegenheit erobert zu haben ... (Studie, S. 810)


Tatsächlich, so sah er später ein, war er nicht der Sieger, sondern der listig Besiegte, eingefangen von einer außerordentlich raffinirte(n) und dann auch noch kleinstädtische(n) Courtisane (Studie, S. 810), und nun folgen wieder psychologische Thesen, die dieses Phänomen erklären sollen: ausdrücklich erklärt er vorab, daß er sich sogar in seiner Psychologie an die Lehre Christi halte, wie sie in den vier Evangelien niedergelegt worden sei. Es giebt unsichtbare Kräfte, die nur das Böse wollen. Ihr biblischer Sammelname ist »Teufel«. Wer ihnen in sich Wohnung gewährt und sich von ihnen beherrschen läßt, ist ein »Besessener«. (Studie, S. 811) Er schreibt Emmas Kraft daher nicht ihren Instincten und ihrer Sinnlichkeit (Studie, S. 810) zu, sondern ihrer Besessenheit, die die Folge der Sünden der Väter und Mütter sei. Bei Frauen zeige sich diese Besessenheit mehr und gehe einher mit einer krankhaften Erregung der Geschlechtsteile. Deren Mißbrauch führe zur inneren Fäulnis, weshalb sich diese besessenen Weiber, diese Diabolinnen (Studie, S. 811), fast stets als unterleibskrank bezeichneten; - Emma litt später unter Uterusmyomen, dies nur zur Erklärung.


Sie gleichen dem schönen, zarten, rothbäckigen Apfel, in dem der Wurm nagt; sie sind anmuthiger, schöner, früher reif und scheinbar auch begabter als ihre Gespielinnen und stellen sie daher in Schatten. (Studie, S. 811)


Das Gefährlichste aber sei die Maske der heiteren Sanftmut, der bescheidenen Schweigsamkeit und der geduldigen Fügsamkeit, unter der diese Eigenschaften selbst vor dem Psychologen erfolgreich verborgen werden. Und das Schlimmste:


Diese Macht, die sie besitzt, wird durch eine gradezu verblüffende kindliche Naivität, Sanftmuth und Ergebenheit verschleiert und unterstützt. Man glaubt dieser gewinnenden Maske und geht ohne alles Widerstreben, ja sogar mit Vergnügen in die Falle. Man weint sogar, wenn sie will! (Studie, S. 818)


Nur an den Augen, den glänzenden, glühenden, könne man, wenn man älter und erfahrener sei, das wahre Wesen erkennen. Üblicherweise verfehle aber der seelenvolle, rührende Augenaufschlag seine Wirkung nicht.


Dann aber, wenn man den Diabolus entdeckt und entlarvt, ist es plötzlich mit der Sanftmuth und der Fügsamkeit zu Ende, und es erscheint die verborgene Megäre, die so gemein und so rücksichtlos verfährt, daß sie selbst den stärksten Mann zu Boden tritt, wenn es ihm nicht möglich ist, sich ihrem Raffinement und ihrer Wuth zu entziehen. (Studie, S. 812)


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Es ist eine alte, religiös und kirchengeschichtlich begründete Auffassung von zeitlosem Charme, die er hier heranzieht; deutlich tritt die Figur der Lilith, die Nächtliche, Adams erste Gefährtin, hervor - und über diese Geschichte hatte er sich informiert, wie später gezeigt wird -, Lilith, die Adam zugunsten des Teufels verwirft. Das Axiom der Erbsünde und die Frauenfeindlichkeit der katholischen Kirche zur Zeit der Inquisition schimmern durch, die die Sexualität von Frauen tödlich erfolgreich als Hexen- und Teufelswerk zu diffamieren wußte. Mays Thesen beschreiben nichts anderes als den mittelalterlichen Sukkubus in modernerem Gewande, den weiblichen Buhlteufel, Dämoninnen, die mit Männern in sexueller Beziehung stehen und sie ihrer Energie berauben, bis die verführerische Frau ihre schöne Gestalt verliert und die Fratze des Teufels sichtbar wird. Es sind dies Vorstellungen, die immerhin noch für so wirkmächtig gehalten werden, daß im Jahr 2000 ein amerikanischer Film mit dem Titel ›Investigating Sex‹ in die Kinos kommt: eine Verfilmung von Protokollen von um das Jahr 1930 geführten Sex-Diskursen französischer Existentialisten über genau jene Dämonalität von Frauen, von der auch May spricht. Hauptdarsteller Nick Nolte jedenfalls zeigt sich auf die Frage, ob sich seit dem Mittelalter im Verhältnis der Geschlechter nichts geändert habe, überzeugt:


Nicht, wenn es um die psychische Energie geht, die Frauen auf Männer ausüben (...) Es gibt Psychologen, die behaupten, daß es zu psychischen Störungen führen kann, wenn die Energie eines Sukkubus mit Gewalt unterdrückt wird. Einige vermuten sogar, daß darin das Motiv einiger Serienmörder zu finden ist (...)72


Religiös gefärbte Thesen mithin, die als Erklärungsmodell für männliche Ängste auch heute noch zu taugen scheinen.

   Erst nach diesen Abschweifungen zur Konsequenz der ersten Begegnung, nämlich der sexuellen Eroberung, und nach den Ausflügen in die Theorie folgt die Beschreibung der ersten Begegnung.


... sie war schön, sogar sehr schön! Dabei so still und schweigsam! ... Sie war die bescheidenste von Allen, und sie überlegte jedes Wort, bevor sie es sprach. ... Und wie klug, wie belesen sie war! Wie genau ihre Gefühle und Ansichten mit den meinigen harmonirten! ... Kurz und gut, ich war entzückt... (Studie, S. 812f.).


Was schon jetzt festgehalten werden kann: May selbst hat ein zwiespältiges Frauenbild und ein ebensolches Verhalten; während er entzückt ist von dem Scheinbild des stillen, fügsamen, geistig ihm nahestehenden, sehr schönen weiblichen Wesens, genießt er andererseits seinen sofortigen sexuellen Erfolg, geschmeichelt durch den scheinbaren Sieg, den er errungen hat. Daß ein und dieselbe Frau nicht beiden, ja höchst konträren Bildern der Hure und der Heiligen entsprechen kann, geht ihm aber erst später auf, als Emma dennoch auch mit anderen ausgeht und Briefe von ihnen erhält (Studie, S. 813).


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   Die Liebe in einem solchen Spannungsverhältnis widerstrebender Bilder muß zum Schlachtfeld werden, auf dem es um Siege und Niederlagen geht. Und folgerichtig, als der Großvater Mays Bewerbung um die Hand von Emma ablehnt, seine schöne Enkelin könne ganz andere Männer heiraten, die wesentlich mehr zu bieten hätten als er, der schlecht verdienende Schriftsteller, kommt es am 20. Mai 1877 zu einem zornigen Ultimatum Mays, das er andernorts noch klarer dargestellt hat als in der ›Studie‹; dort heißt es nur, daß Pollmers Tochter zu entscheiden habe, nicht der alte Pollmer; und daß er, May, noch heute wieder nach Dresden reisen und Emma nicht eher heiraten werde, als bis Pollmer darum bitte (Studie, S. 814). In seiner 1911 verfaßten Eingabe an das Landgericht Berlin, mithin gegenüber der Öffentlichkeit, stellt May sein Auftreten gegenüber Emma als deutlich aktiver dar: »Entscheide zwischen mir und Deinem Großvater. Wählst du ihn, so bleib; wählst Du mich, so komm sofort nach Dresden!«73

   Und Emma kommt nach Dresden, am 26. Mai 1877 ist sie da.74 Sie soll sich vorher allerdings bereits, zum 5. Mai 1877, nach Chemnitz abgemeldet haben,75 was dafür spricht, daß sie, nunmehr fast 21 Jahre alt, ohnehin nicht mehr bei ihrem Großvater leben wollte und möglicherweise auch noch ein zweites Eisen im Feuer hatte, bevor sie sich für Karl May entschied. Sie wird bei einer Pfarrerswitwe untergebracht, wo sie sich aber weder als arbeits- noch weiterbildungswillig erweist. Schließlich erhält May im Spätherbst 1877 eine feste Anstellung, kann es sich leisten, eine größere Wohnung in Strießen, Villa Forsthaus, anzumieten, und Emma zieht mit ein (Studie, S. 813-815).

   An der Wahrheit dieser Darstellung in der ›Studie‹ bestehen keine Zweifel; auch in anderen Lebenszeugnissen hat May diese Entwicklung deckungsgleich beschrieben, nur variiert durch das Ausmaß an Diskretion, die in seiner Selbstbiographie am größten ist.76 Emma hat die äußeren Daten dieser Entwicklung in ihren Beschuldigtenvernehmungen vom 10. und 11. Dezember 1907 bestätigt,77 wenn auch in einer, von May heftig bestrittenen, Variante: Großvater Pollmer sei gegen die Eheschließung gewesen, weil May vorbestraft gewesen sei, weswegen man erst nach seinem Tod habe heiraten können.

   Eine wilde Ehe im 19. Jahrhundert? Undenkbar zumindest für den bürgerlichen Stand, und auch dem noch-nicht-Bürger May schwant, daß hiermit eine Vorentscheidung getroffen ist. Auch wenn er, wie er in seiner ›Studie‹ - und nur hier - schreibt, daß Emma nun, im täglichen Zusammensein, in ihrer splitternackten Seelenlosigkeit vor mir stand (Studie, S. 815). Sie stellt sich ihm als eine eitle, gedankenlose Schwätzerin dar, die über sexuelle Angelegenheiten in schamloser Weise mit anderen Frauenzimmern spricht. Sie hat kein Interesse für Mays Arbeit, und, das Schlimmste: ihre sexuelle Anziehungskraft begreift sie als Waffe gegen die Männer, die nur »Säue« und »Schweine« seien, die man mit Sinnenlust füttert, um sie dann abzuschlachten: so hat sie es von der Concubine des Großvaters gelernt, so


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spielt sie die Rolle auch bei ihm, nachdem sie endlich einen gefunden hat, den sie peinigen kann ... (Studie, S. 817) Kennt man diese bösen Sätze, liest man Kara Ben Nemsis Antwort auf Halefs Frage im 1. Band von ›Im Reiche des silbernen Löwen‹, ob er Emmeh denn zufällig einmal habe ansehen dürfen, ehe sie seine Frau geworden sei, mit ganz anderen Gefühlen: »Ja«, entgegnet unser Held da. »Im Abendlande ist das Ansehen nicht verboten; da kennt man sich genau, ehe man sich verheiratet.«78

   Für May ist das Bild der ersten Begegnung und des - nun als gefälscht erkannten - Seelenharmonie verheißenden Briefwechsels jedenfalls zerstört, und er betrachtet sich selbst als einen jener Männer, die in die erotische Falle gegangen sind. Ganz im Sinne des Wissenschaftsanspruchs einer Studie - und Wissenschaft bietet ihm Schutz vor den Pollmerschen Dämonen, wie er wörtlich in der ›Studie‹ schreibt (Studie, S. 828) - versucht er sich an Erklärungen, wie es so weit hatte kommen können: und wieder ist es die hypnotische Macht der Besessenen, die er ihr zuschreibt. Emma wirke suggestiv, wenn sie es nur wolle. Er benutzt das Bild von der Spinne, die ihre Fäden zieht, um Fliegen zu fangen, und leitet über auf ein Gebiet, in dem Emma sich zu Hause fühlte, den Spiritismus nämlich (Studie, S. 818f.).

   Emma bestätigte, daß sie etwa ein halbes Jahr mit May zusammenlebte;79 so dürfte es tatsächlich Ende Juni/Anfang Juli 1878 gewesen sein, als er sie auf Wunsch des Großvaters nach Hohenstein zurückbrachte, selbst aber zu seinen Eltern nach Ernstthal zog. Glaubhaft erscheint, daß er sie, ohne eine offensichtlich eigene Entscheidung zu treffen, loswerden wollte: daher erinnert er den Großvater, der von der wilden Ehe seiner Enkelin nicht begeistert gewesen sein dürfte, an sein früheres Ultimatum, in der heimlichen Hoffnung, Opa Pollmer werde zu stolz sein, es zu erfüllen. Großvater Pollmer soll hierauf aber eingegangen sein und ihn gebeten haben, Emma zu heiraten, so daß der wiederum äußerlich errungene Sieg zu einem Ergebnis führte, das May - jedenfalls rückblickend - als Niederlage empfand (Studie, S. 819f.). Zur damaligen Zeit dürfte aber das Triumphgefühl überwogen haben; denn Großvater Pollmer schuldete ihm etwas.

   Auf Bitten des Großvaters Pollmer hatte May in der Zeit vom 10. April 1878 bis zum 10. Mai 1878 - in einem Zeitraum mithin, in dem er offiziell mit Emma in Strießen lebte - bei Pollmer in Hohenstein gewohnt, so die gewissenhafte Übererfüllung der Dienstpflichten des Brigadiers Ernst Oswald, Stationsort Oelsnitz.80 Karl sollte nämlich Aufklärung über den Unfalltod des am 26. Januar 1878 verstorbenen Emil Pollmer, Sohn von Emmas Großvater und Emmas Onkel, herbeiführen. Und May, geschmeichelt von dieser Erwartung an seine detektivischen Fähigkeiten, ermittelte am 25. April 1878 in Neuölsnitz mit derartiger Arroganz, geboren aus der intellektuellen Überlegenheit des Schriftstellers gegenüber dem schlichten Volk der Kneipengänger, daß man gegen ihn ein Verfahren wegen Amtsanmaßung eröffnete.


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   Diese letzte Verurteilung von 1879 zu drei Wochen Gefängnis hat May niemals erwähnt; zu seinen Lebzeiten gelangte sie auch nicht an das Licht der Öffentlichkeit. Hier, in der ›Studie‹, macht er eine Andeutung. Als eine der großen Lügen Emmas bezeichnet er ihre Version, daß der Großvater wegen seiner Vorstrafen gegen ihre Eheschließung gewesen sei - eine Version, die angesichts der offensichtlichen Versöhnung mit dem Großvater bereits im April 1878 tatsächlich wenig Glaubhaftigkeit hat. Und zur Widerlegung von Emmas großen Lügen schont May sich selbst nicht:


Das ist niederträchtige Erfindung. Er hat es niemals gewagt, diesen Gegenstand auch nur mit einem einzigen Worte zu erwähnen, und hatte hierfür seine guten, sehr triftigen Gründe. Erstens habe ich bei dem Tode seines vagabundirenden Sohnes eine gerichtliche Blamage, die nur auf ihn zu fallen hatte, ganz allein auf mich genommen, und er war mir großen Dank für dieses schwere Opfer schuldig, welches ich nur unter dem Einflusse der Pollmerschen Dämonen auf meine Schultern lud. (Studie, S. 873f.)


Deutlicher hat May nirgendwo auf diese für ihn schmerzliche, und wohl auch zu Unrecht ergangene, Verurteilung von Stollberg Bezug genommen.81 Diese Selbstbelastung spricht entscheidend für die Wahrheit seiner Angaben über das Dreiecksverhältnis Emma-Großvater-May, jedenfalls ab dem Jahr 1878.

   Spätestens im April 1879, höchstwahrscheinlich aber schon nach Emmas Geburtstag, dem 22. November 1878 (denn nach diesem Zeitpunkt, am 30. 11. 1878, erreichte ihn erstmals eine gerichtliche Zustellung in Ernstthal, und Pollmers wohnten in Hohenstein), war tatsächlich Schluß mit Emma, wie er in der ›Studie‹ schreibt. Emma betrügt ihn mit drei verschiedenen Männern, und er verzichtete auf sie, einer Confrontation mit der leugnenden Emma aus dem Wege gehend (Studie, S. 821).

   Für die Richtigkeit dieser Darstellung gibt es genügend Anhaltspunkte: zunächst der Umstand, daß ein Wohnsitz bei Pollmers seit diesem Zeitpunkt nicht mehr nachweisbar ist. Dann aber auch die Aussage von May als Beschuldigter in dem Ermittlungsverfahren gegen ihn wegen Meineids vom 6. April 1908: Wie ich selbst beobachtet habe, hat sie auch mit anderen Männern intimen Verkehr gehabt. Und er geht in dieser Vernehmung noch über die Ausführungen in der ›Studie‹ hinaus:


Es ging sogar einmal in Hohenstein das Gerücht, sie sei als Mädchen sechs Wochen heimlich in Dresden gewesen, um dort ihre Entbindung abzuwarten. Ob an diesem Gericht [!] etwas wahres ist, vermag ich jedoch nicht anzugeben; ich habe es stets für wahr gehalten und halte es auch noch heute dafür.82


Daß er an dieses Gerücht tatsächlich geglaubt hat, ist nachweisbar; er hat sogar befürchtet, Emma könne ihn als Vater angeben, was seine Überzeugung von einer vorehelichen Untreue Emmas noch während ihrer Beziehung zu May belegt. Emma hat seine schon im Verlaufe des Scheidungsver-


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fahrens im Jahr 1902 geäußerte Befürchtung, sie könne ein uneheliches Kind von ihm geboren haben, in ihrer Vernehmung vom 17. Dezember 1907 bestätigt. Im Hotel Greif, am ersten Sonntag in Bozen - hier müßte es sich um Sonntag, den 12. Oktober 1902, gehandelt haben, denn Emma zog nach eigenen Angaben am 8. oder 9. Oktober 1902 aus dem Hotel Penegal auf der Mendel ins Forsthaus ›Greif‹ in Bozen -, habe May sie aufgesucht und, »wenn ich mich recht besinne«, ihr vorgeworfen, daß sie vor ihrer Verheiratung ein uneheliches Kind von ihm gehabt habe. Emma will diesen Vorwurf seinerzeit gegenüber May nicht bestritten, sondern, hierüber erregt, May Ehebruch mit Klara Plöhn vorgeworfen haben, was aber wiederum May bestritten habe.83

   In Mays Bibliothekskatalog, der einen Teilbestand seiner Bücher ab den Jahren 1903-1905 widerspiegelt, befinden sich übrigens in der Abteilung Nr. 11, von May ›Juristik‹ benannt, auch zwei Werke mit der Thematik ›Das Recht der unehelichen Kinder‹ (Nr. 286 und 287, S. 54 des Verzeichnisses): offen bleiben muß allerdings, ob er sich mit diesem juristischen Problem wegen eines möglicherweise von Emma oder von einer anderen Frau geborenen nichtehelichen Kindes beschäftigte.84

   Diese beiden Bücher, ›Das Recht des unehelichen Kindes‹ von Dr. Brandis, Berlin 1900, und ›Das Recht der unehelichen Kinder und die Ansprüche der Kindsmütter‹ von Hermann Pilz, Leipzig 1900, sollen - wohl im Jahr 1931 - noch in Mays Bibliothek vorhanden gewesen sein, wobei sie allerdings nicht in das im Karl-May-Jahrbuch 1931 erschienene Verzeichnis seiner Bücherei aufgenommen wurden.85 Heute sind sie jedenfalls nach einer Mitteilung von Hans Grunert im Bestand des Karl-May-Museums nicht mehr auffindbar, so daß eine Klärung, aus welchen Gründen May diese Bücher angeschafft haben könnte, nicht mehr möglich erscheint.86

   Klara und Karl dürften im Jahr 1902, nach Erhebung der Scheidungsklage, befürchtet haben, daß Emma schmutzige Wäsche waschen könnte; und so setzte sich auch noch Klara in Marsch, die Vertraute, die intime Freundin und gleichzeitig die Rivalin. Emma sagte insoweit aus, daß Klara, nachdem sie, Emma, in die billigere Villa Lehner in Bozen übergesiedelt sei - was nach Emmas entsprechender Ansichtskarte an Max Welte spätestens am 10. November 1902 der Fall war (Studie, S. 942f. und 955, Beweisstück N° 9) -, kurz vor dem Termin in der Scheidungssache vom 3. Dezember 1902 bei ihr aufgetaucht sei. »Unvermittelt fragte sie mich, ob ich ein Kind gehabt hätte. Ich forderte sie energisch auf, mich mit derartigen Geschichten in Ruhe zu lassen.«87

   Das sind alles keine Dementis, die Emma da liefert.

   Bestätigt wird das Erscheinen von Klara durch die Zimmerwirtin Emmas, Josepha Kößler, in ihrer Vernehmung vom 9. April 1908.88 Der Gesprächsinhalt selbst wird durch einen Brief von Klara an Emma, der leider nur undatiert überliefert ist, aber aus der Jahreswende 1909/1910 stammen dürfte, gestützt:


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Meine Emma!

(...) Eine Angelegenheit die mich sehr drückt. Als ich Dich in Bozen besuchte, schwurst Du, daß Du kein Kind gehabt hättest und daß Dich kein Mann vor Karl berührt hätte. Obwohl ich weiß, wie leicht Du einen Schwur nimmst, glaubte ich Dir, weil sich etwas in mir sträubte, Dich für eine so bejammernswerte Frau zu halten. - - - Du weißt, von wem man sagt, daß jenes Kind gewesen sein soll. - - -

   Nun hatten wir jetzt acht Tage einen Arzt hier zum Besuch: Du kennst ihn, ich brauche ihn Dir nicht zu nennen.

   Nach langem Zögern faßte ich mir ein Herz und sagte ihm, daß Du an den Beinen Aderknoten hättest und ganz blau ausschautest. Ich frug ihn, ob eine Frau, die nicht geboren hat, durch irgendeinen Umstand, auch zu solchen Beinen kommen könnte. Mit aller Bestimmtheit sagte er  n e i n ,  da solche Knoten  n u r  durch Blutstockungen entständen die hervorgerufen würden, dadurch, daß sich die Gebärmutter auf die Adern legt. Nun frug ich weiter, Deiner dunkelbraunen großen Brustwarzen wegen. Die dunkle Färbung ist auch ein Zeichen von Mutterschaft, sagte er mir.

   Du kannst Dir denken, wie mich diese Mitteilungen aufregten. Du weißt, sobald Klage kommt, auf die Karl hofft, um Dich ein für alle Male los zu werden, wirst Du von einem Gerichtsarzt untersucht und der wird dasselbe sagen, was ich vorgestern hörte. Das Resultat ist dann wieder dasselbe, wie Du mir in Bozen sagtest: »Ich habe durch meinen Rechtsanwalt nichts weiter erreicht, als daß ich mich und Karl blamierte und dafür mein Geld los wurde.« So wird es hier genau. Wie gern möchte ich Dich dafür bewahren und Karl die Aufregungen ersparen. (...)89


Während Emma also gegenüber Klara bestritten haben soll, jemals ein Kind bekommen zu haben, tat sie dies gegenüber dem Richter ausdrücklich nicht, ja, sie verschwieg ihm sogar ihre damaligen bestreitenden Aussagen gegenüber Klara. Eine Lüge vor Gericht hat bekanntermaßen eine andere Qualität als eine Lüge im privaten Umfeld. Daß Emma sich vor dem Richter um eine klare Beantwortung der ja von ihr selbst ins Spiel gebrachten Frage drückt, stimmt nachdenklich.

   Für Klaras Version, nämlich, daß Emma damals die entsprechenden Vorwürfe eindeutig zurückgewiesen habe (und nicht nur, ausweichend, ein Gespräch hierüber abgelehnt haben soll), sprechen jedenfalls die überzeugenderen Gründe: es macht wenig Sinn, ausgerechnet der einstigen Gesprächspartnerin gegenüber den Inhalt des damaligen Gespräches unrichtig darzustellen, um dann an der Wahrheit der unzutreffend wiedergegebenen Angaben Emmas Zweifel zu äußern.

   Voreheliche Untreue Emmas spiegelt sich auch in einem Roman, den Karl May relativ zeitnah zu dieser Phase des Bruchs zwischen November 1878 und April 1879 schrieb: in dem in Fortsetzungen zwischen August 1879 und August 1880 in der Zeitschrift ›All-Deutschland‹ veröffentlichten Roman ›Scepter und Hammer‹, in dessen 9. Kapitel, ›Der tolle Prinz‹, der Schriftsteller Karl Goldschmidt die 22jährige Emma Vollmer (Emma Pollmer wurde am 22. November 1878 22 Jahre alt!) liebt, aber unglücklich liebt:


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   Der Schriftsteller Karl Goldschmidt hatte Emma Vollmer, die Braune, Schöne, Feurige gewählt, während sein Freund Paul Held sich für die Blonde, Sanfte (Anna) entschieden hatte.90

   »Du bist glücklich und ich - elend.«, sagt der traurige Karl dort, und:


»[Emma] weiß, daß sie schön ist,« fiel Karl ein. »Sie hat ihre Mutter bei der Geburt verloren und wurde von ihrem Vater durch übergroße Zärtlichkeit und unverständige Nachsicht so verzogen, daß sie kein anderes Gesetz kennt, als das Gefühl des Augenblickes. Sie kennt ihre körperlichen Vorzüge sehr genau; sie bemerkt es, wenn sie bewundert wird, und thut man dies nicht, so fordert sie durch Blick, Bewegung und Geberde dazu auf. Sie hatte mich lieb, aber sie will ihre Vorzüge nicht mir allein widmen, sie bedarf auch der Anerkennung Anderer, welche sie mit suchendem Auge einkassirt.«


Nachdem Freund Paul die Hoffnung äußert, daß Emma sich ja vielleicht noch ändern könnte, entgegnet der junge Schriftsteller:


»Du bist ein großer Psycholog, Paul, um zu wissen, daß eine junge zweiundzwanzigjährige Dame noch zu ziehen ist.«

   »Pah! Du als Literat, der sehr berühmte Romane und Novellen schreibt, bist natürlich seelenkundiger als der bescheidene Uhrmacher Paul Held; aber ich meine, wenn ein Mädchen den Mann ihrer Wahl wirklich lieb hat, so wird sie ihren Fehlern gern entsagen.«91


Emma verkehrt bei einer Frau Schneider, deren Tochter Herrenkreise anzieht; Karl plagt die Eifersucht, Emma soll diese Familie meiden:


»... ich habe es ihr mit Strenge befohlen, sie ist mir ungehorsam gewesen; ich säe Aufrichtigkeit und ernte Lügen; diesem Zustande möchte ich ein Ende machen und kann es doch nicht, weil ich - - sie zu innig, zu innig liebe!«

   »... seit meiner Bekanntschaft mit Emma habe ich nicht eine einzige Arbeit vollendet, welche ich mit gutem Gewissen dem Drucke hätte übergeben dürfen. Wenn es so fortgeht, so bin ich geistig und wirthschaftlich ruinirt.«92


Er durchsucht Emmas Zimmer, um über das Verhalten der Geliebten Aufklärung zu erlangen. Er findet ein fremdes Kästchen mit


duftende(n) Couverts. Die zierlich geschriebene(n) Billetchen ... dufteten so sehr nach dem Weihrauche der Bewunderung und enthielten der Schmeicheleien so kräftige, daß nur einer unkundigen Seele die grobe Absicht dieser Schreibereien entgehen konnte.93


Die Briefchen stammen von dem Oberlieutenant von Polenz. Was macht Karl, der Schriftsteller? Er beobachtet seine Liebste. Er hört ihr helles fröhliches Lachen aus dem Hause Schneider, beobachtet den Eingang, zwei Offiziere unterhalten sich, daß sie »poussiren« wollen im Stadtpark. Von Polenz will »süßen Lohn«, nach einem Pfiff kommt Emma und küßt den Offi-


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zier; der »Scriblifax« Karl, mit dem sie eigentlich verabredet war, ist von ihr schnöde versetzt worden:94

   »Emma, wie lieb, wie unendlich lieb habe ich Dich gehabt!«95 Aber er kämpft um sie: »Sie wird, sie muß erkennen, welcher Unterschied ist zwischen einer schmutzigen Sinnlichkeit und den reinen, treuen Gefühlen, welche ich ihr entgegenbringe.«

   Was macht er?

   Er kommt ihr zuvor, beobachtet und belauscht sie.


Es waren fürchterliche Augenblicke für den jungen Mann, welcher zusehen mußte, daß der Gegner sich in Zärtlichkeiten erging, die ihm selbst verweigert gewesen waren, doch wollte er so lang wie möglich unbemerkt bleiben, um zu erfahren, wie weit die Untreue seines Mädchens bis jetzt gegangen war.96


Als sie - allerdings erstmals - bereit ist, den angeblichen Offizier, bei dem es sich in Wirklichkeit um den verkleideten bösen Prinzen Hugo handelt, mit in ihr Zimmer zu nehmen, geht Karl Goldschmidt, die Romanfigur, dazwischen - Emma war bereits nach den ersten Worten der Gegner im Flur verschwunden, doch stand die Thür noch offen. Wer Sieger blieb, konnte eintreten97 - und erhält einen Degenstich in die Brust, der ihn fast tötet.

   Bis auf den Schluß (und einige andere kleine Details wie die schmutzige Sinnlichkeit, die Karl mit Emma nicht erleben durfte, und den nach heldenhaftem Eingreifen im Versuchsstadium steckengebliebenen Seitensprung) fast ein Stück aus dem Leben also.

   Auch jene Anna mit dem Nachnamen jener zu meidenden Familie Schneider gab es wirklich, Anna Schneider, eine gute Freundin von Emma, in deren Poesiealbum May am 18. November 1878, also kurz vor Emmas Geburtstag, ein Gedicht schrieb, in dem es u. a. um den siegreich draußen gegen finstere Mächte kämpfenden Mann geht, während das Weib ihn warm, hoffnungsreich, ihm Mut und Tröstung spendend, beglückend und beglückt zu umschlingen hat.98 Und das spielt deutlich auf das Stollberg-Verfahren an, in dem May am 13. November 1878 noch einen verzweifelten Antrag auf Fristverlängerung zum Ausfindigmachen von Entlastungszeugen geschrieben hatte, die er natürlich nicht fand.99

   Emma dürfte seinen Erwartungen an weibliche Tröstung in diesen schweren Tagen nicht entsprochen haben, und auch eine - dieselbe? - Familie Schneider erschien ihm suspekt, ja hochgefährlich in seiner Situation; so schreibt er in der ›Studie‹, immer noch im Zusammenhang mit Emmas Lüge, ihr Großvater habe wegen seiner Vorstrafen einer Heirat mit ihr nicht zugestimmt:


Und zweitens habe ich ihn selbst und noch vielmehr auch seine Enkeltochter vor dem Zuchthause bewahrt, als ich in der berüchtigten Schneiderschen Unterschlagungssache sie beide zwang, alle die gestohlenen Sachen, die Schneiders bei ihnen versteckt hatten, sofort herauszugeben. Der eine Hehler bekam, glaube ich, vier


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Jahre Zuchthaus; die beiden Pollmers hätte ganz unbedingt das gleiche Schicksal getroffen. (Studie, S. 874)


Emmas Untreue sowie ihre für den vorbestraften May riskanten Kontakte zu jener Familie Schneider dürften mithin tatsächlich Anlaß zum Bruch gewesen sein, auch wenn May selbst in seiner später verfaßten Eingabe, in der er niemals die allerprivateste Motive verrät, verharmlosend schreibt:


Da, wo sie jetzt verkehrte, gab es nur Alltägliches oder gar Triviales, nur Lachen, Scherzen, Spielen, Tändeln, Tanzen, keinen Sinn für Besseres und Höheres. Ich bat, doch vergebens. Ich wiederholte meine Bitte; sie lachte und nannte mich dumm. Ich zürnte und warnte; da wurde sie grob. ... Sie war empört darüber, daß ich mich bei ihrem Großvater beschwert hatte, und ließ es mich entgelten. Da verwandelte sich die entzückende Sanftmut der Augen in blitzende Wut; die schwellenden Lippen geiferten; aus den kleinen Händchen wurden drohende Fäuste; die zierlichen Füße stampften; die Stimme schnappte über; die Schönheit war vollständig verschwunden, und vor mir stand mit verzerrten Zügen ein häßliches, keifendes Weib, wie man es in den Possenspielen herumziehender Theaterschmieren zu sehen bekommt. Das ekelte mich an; ich ging fort und kam nicht wieder. ... Meine Eltern und Geschwister warnten. Ich sah ein, daß sie Recht hatten, und verzichtete.100


Die hier verratenen Trennungsgründe - Emmas vergnügungssüchtiger Lebensstil und eine einzige Furien-Szene - dürften ebenfalls stimmen; gewichtiger aber sind die in der ›Studie‹ beschriebenen. Warum sie in der zur Veröffentlichung vorgesehenen Eingabe an das Landgericht Berlin nicht genannt werden, leuchtet allerdings ein: Mays Selbstdarstellung als betrogener Fast-Ehemann und das Eingeständnis seiner Ängste, Emmas Kontakte könnten ihn, den Vorbestraften, wieder in den Verdacht krimineller Aktivitäten bringen, wären für das Verfahren, in dem es die Beleidigung Mays durch Rudolf Lebius (›geborener Verbrecher‹) zu bestrafen galt, denkbar unpassend gewesen.

   Trotz dieser Vorgeschichte verspricht May Emma dennoch die Ehe, am Sterbebett des nach einem Schlaganfall halbgelähmten Großvaters, als Emma ihn - und das ist angesichts ihrer ökonomischen Situation ja sehr glaubhaft - anfleht, sie zu heiraten, während der angstvoll-hypnotische Blick des Sterbenden auf ihn gerichtet ist. Obwohl May davon abgestoßen ist, daß Emma erst einmal nach dem kärglichen Erbe gesucht hat, während der Erblasser noch lebt: er verspricht ihr nicht nur die Ehe, sondern hält das Versprechen auch (Studie, S. 822f.). Diese Darstellung gibt May in großer Konstanz in allen Lebenszeugnissen, nur die Akzente ändern sich.101 Kurze Zeit später erlebt er, wie Emma ihn bestiehlt, und es beginnt ein lebenslanger - nachweisbarer - Kampf um das Geld. Er verschweigt ihr, was er verdient, er fängt den Geldbriefträger ab ... (Studie, S. 824f.) Ein solches Gift in der Ehe wirkt wie Schwefelsäure; es frißt alles Glück und alles Vertrauen todt und nagt sogar am Leben!, wie er in der ›Studie‹ schreibt (Studie, S. 824).


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   Eine spiritistische Sitzung, deren Ergebnisse Emma suggeriert, soll May von Trennungsgedanken wenige Wochen nach der Eheschließung abhalten.


Die vier Geister von Großpapa, Onkel, Mama und Mutter sprachen theils solo theils tutti in einer Weise auf mich ein, daß ich innerlich ganz breitgeschlagen und auch äußerlich in jener nervenerschütternden Weise ergriffen wurde, die auf die Kraft des Mediums zurückzuführen ist. Und hier gab es nicht nur ein Medium, sondern zwei, nämlich auch meine Frau. Und grad sie schien das Hauptmedium zu sein, äußerlich scheinbar passiv, in Wahrheit aber die hauptsächlich und dirigirend Wirkende! Sie wurde von den on dit-Geistern als Engel hingestellt, ja fast vergöttert. Ich aber, der ich dieses Juwel erst äußerlich errungen hatte, hatte es mir nun auch innerlich zu erringen und mich seiner würdig zu zeigen. ... Vor allen Dingen aber war es die gewaltige, hypnotische Willenskraft der Anima meiner Frau, welche derart auf mich wirkte, daß ich, als sich der Kreis der aufgelegten und vereinten Hände lößte, wie betrunken nach Hause ging und fast eine ganze Woche lang in diesem schwindel- oder taumelartigen Zustand verharrte. ... Ich mied zwar jede weitere Sitzung, sie aber besuchte jene spiritistische Familie sehr oft ... (Studie, S. 826-828)


Dieselbe Darstellung über jene Sitzung geben Mays Rechtsanwälte in ihrem Schriftsatz vom 5. Juni 1909 in dem Privatklageverfahren May gegen Pollmer; danach habe diese Sitzung wenige Wochen nach der Eheschließung im Jahr 1880 auf Veranlassung Emmas bei einem Dorfmädchen stattgefunden, das nicht einmal habe richtig lesen und schreiben können; May habe die unerfreuliche Entdeckung gemacht, daß seine damalige Frau die »eigentliche treibende Kraft« dieser Veranstaltungen war.102

   Emma bestätigt in ihrer Erwiderung vom 5. Juli 1909 immerhin die äußeren Daten dieser Séance, nämlich, daß eine solche Sitzung im Jahr 1880 stattgefunden habe: mit dem (ihre Rolle minimierenden) Unterschied allerdings, daß eine Bekannte von ihr sie und May animiert hätte, an einer spiritistischen Sitzung des besagten Bauernmädchens in Hohenstein-Ernstthal teilzunehmen; May habe sich dabei »außerordentlich aufgeregt«.103

   May, erschüttert von dieser Erfahrung, will sich in den Schutz der wissenschaftlichen Beobachtung dieses Phänomens geflüchtet haben (Studie, S. 828); und tatsächlich, wenn auch erst ab dem Jahr 1895, nach dem Besuch von Jakob Pfefferkorn, der Anhänger des Spiritismus war und solche Sitzungen durchführte (Studie, S. 867f.), beschäftigte May sich wissenschaftlich mit dem Spiritismus; über 70 Bücher mit dieser Thematik wie ›Animalischer Magnetismus‹ und ›Verkehr mit den Geistern‹ sammelten sich in seiner Bibliothek104 - als Ergebnis des Studiums allerdings entdeckt er die Grausamkeit, die Emma die Wonne der geschlechtlichen Erregung bringe; auch ihre Freundschaft ging stets sinnliche Wege. Es war ihr der größte aller Genüsse, mit einer weiblichen Person im Bett zu liegen. (Studie, S. 829) May wird die finanzielle Unterstützung von Verwandten streng verboten (Studie, S. 829). Emma geht in aufreizendster Kleidung zum Maskenball - kurz: sie braucht eigentlich die Erziehung durch eine feste Hand, und der Wegzug


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aus der Kleinstadt mit ihrer engmaschigen Sozialkontrolle erscheint dringend geboten (Studie, S. 830), zumal Karl Goldschmidt, der Schriftsteller, schon 1879 als kluger Psycholog wußte, daß eine 22jährige nicht mehr zu ändern ist; und Emma ist nun, 1882, schon knapp 26 Jahre alt ...

   Bis zu diesem Zeitpunkt ist der Text völlig frei von irgendwelchen Einflüssen des nur vorläufig entschiedenen Zivilprozesses gegen Pauline Münchmeyer; es gibt nicht die geringsten nachweisbaren Einbrüche des ja erst am 12. Juli 1907 eröffneten Voruntersuchungsverfahrens gegen May und andere wegen Meineids. Alle wesentlichen Tatsachen, die den beschreibenden (nicht den reflektierenden oder emotional wertenden) Passagen zugrunde liegen, lassen sich in einer befriedigenden Weise als zutreffend nachweisen. Zu widerlegen sind sie jedenfalls nicht.

   Und all das, was in den nachfolgenden, unter dem erkennbaren Eindruck des laufenden Ermittlungsverfahrens geschriebenen, Seiten noch weiter offengelegt wird, ist im Keim bereits auf diesen ersten dreißig Seiten enthalten: Emmas dämonische, männerknechtend eingesetzte, nicht domestizierbare Sexualität; ihre hypnotisch-suggestive Anziehungskraft unter dem Deckmantel der kindlichen Fügsamkeit; die Steigerung ihrer Wirkungsmacht durch ein spiritistisches Umfeld; das Gift ihres Klatsches, die geistige Anspruchslosigkeit, ihr Desinteresse an den literarischen Zielen ihres Mannes; Unterschlagung von Geld bei gleichzeitigem Großzügigkeitsverbot für Karl: es kommt zwar noch schlimmer, denn die Furie und die Bestie im Weibe zeigen sich erst in den nachfolgenden Ehejahren. Die Annahme jedoch, zielgerichtet für das Ermittlungsverfahren sei ein Bild von Emma aufgebaut worden, das vorsorglich - für den Fall einer Selbstbelastung, die dann auch May als Anstifter erfassen könnte - ihre Glaubwürdigkeit unterminieren sollte, findet in diesem Teil der ›Studie‹ nicht die geringste Stütze.




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