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XVI. Schlußverfügung


Zu welchem Ergebnis haben die Ermittlungen geführt?

   Was die Persönlichkeit Emma Pollmer in ihrer Beziehung zu Karl May angeht, ist sie in der ›Studie‹ insgesamt sicherlich zutreffend dargestellt worden. Eine attraktive, kokette, von starken Gefühlsschwankungen beherrschte dominante Frau, triebgesteuert und von materiellen Interessen geleitet. Lust an kämpferischen Auseinandersetzungen, an ›Spielen‹, die den Geschlechtspartner reizen bzw. aufreizen sollen, bereit und fähig zu lügen und die Realität umzudeuten. Eine tiefe Hinwendung zum Okkulten, wobei das Reich des Übersinnlichen wegen mangelnder intellektueller Fähigkeiten in zunehmendem Maß nicht mehr von der Wirklichkeit abgegrenzt werden kann; bei Verletzungen - z. B. durch Ignorieren, durch ›Veredelungsbestrebungen‹ oder gar durch Trennung - zu langandauerndem kalten Haß und überlegten Racheaktionen in der Lage. Empathie und mütterliche Züge scheinen in ihrem Charakter völlig zu fehlen, dafür treten ein Hang zu theatralischen aggressiven Szenen hervor und eine unruhestiftende Fähigkeit zur suggestiven Verführung und zum Ausagieren von Machtstreben. Eine Persönlichkeit mit Charisma also, kaum lenkbar und im alltäglichen Zusammenleben nicht leicht zu ertragen. Sie wäre seinerzeit wohl als klassische Hysterikerin eingestuft worden - und es wäre ihr auch heute kaum anders er-


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gangen, wenn das moralisch negativ besetzte ›weibliche‹ Krankheitsbild nicht im Jahr 1987 von der American Psychiatric Association offiziell von der Liste der psychischen Erkrankungen gestrichen worden wäre. Krankheitsdefinitionen insbesondere im psychiatrischen Bereich (querulatorischer Wahn als Ausgrenzung Andersdenkender beispielsweise) spiegeln nicht selten gesellschaftliche Wertungen wider: denn wenn die festgestellten Eigenschaften Emma Pollmers unwillkürlich als negativ bewertet werden, dann vor allen Dingen deshalb, weil sie in ein Frauenbild nicht hineinpassen, das von der männlichen Sehnsucht nach symbiotischer Komplettierung geprägt ist. Ein aktueller Blick in männlich besetzte Chefetagen beweist, daß die meisten von Emmas Eigenschaften dort als karrierefördernde Qualitäten anzutreffen sind, die, persönlich folgenlos, zu Lasten der Untergebenen und der Unternehmens/Behördeneffizienz ausgelebt werden können.

   Emmas Eigenschaften, wiewohl nicht ›gut‹, können nämlich auch positiv besetzt werden: wenn hysterische Persönlichkeitsmerkmale als Ausformungen der Angst vor dem Notwendigen, dem Endgültigen und den Grenzen der Gesellschaft beschrieben werden; genauer: als Angst vor dem Festgelegtwerden, verbunden mit dem Drang nach Erweiterung der Persönlichkeit, der ein Streben nach immer Neuem, neuen Menschen, neuen Herausforderungen, nach dem Sprengen von Grenzen verursacht:620 dann liegt darin auch das große, aufregende Potential einer eigenwilligen Persönlichkeit, die allerdings ein entsprechend souveränes bzw. gelassenes oder sich willig diesem faszinierenden Charme ergebendes Gegenüber verlangt.

   Solange May, dessen Frauenbild zunächst auch auf attraktive Physis und mit Eroberungswillen verbundener Sexualität ausgerichtet war, ›siegen‹ wollte, seinen ›männlichen Protest‹621 auslebte, stellte Emma für ihn eine Herausforderung ersten Ranges dar, ein Stimulans, das die Bilanz der ersten Ehejahre bis Anfang der neunziger Jahre insgesamt ausgeglichen gestaltet haben dürfte; denn die geistig-seelischen Vereinsamung, unter der er wegen Emmas fehlenden Wärme und ihrer geistigen Anspruchslosigkeit tatsächlich von Anfang an litt, ließ sich durch die Leidenschaft ihrer körperlichen Liebesbeweise und ihrer koketten Eroberungsfeldzüge, wenn er mal wieder zuviel Lebensenergie in den Schreibprozeß steckte, gerade noch so eben aufwiegen. Später allerdings entzog er sich ihr, konnte schlicht nicht mehr auf Emmas so völlig andersartige Bedürfnisse eingehen, und die Spirale der Aggression ihrerseits und des Rückzuges seinerseits mußte dann zwangsläufig zu der Ehehölle führen, die er in der ›Studie‹ beschreibt.

   Entkleidet man die nachfolgende Beschreibung Emmas von deren typischer journalistischer Emphase der fünfziger Jahre und von der Glätte, die eine interpretierte Erinnerung mehr als vierzig Jahre nach dem Ereignis notwendigerweise aufweisen muß, enthält sie immer noch einen Kern von Wahrheit; Fritz Barthel beschreibt im Jahr 1955 eine Begegnung mit Emma Pollmer, die am 25. Februar 1913 im Rahmen einer Karl-May-Versammlung mit Vortrag über die sechs Orientbände stattgefunden haben soll:


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Sie muß einstmals sehr schön gewesen sein, so daß sie selbst jetzt, obgleich herbstlich verblüht, ohne Zweifel auf ein männliches Herz noch einen seltsamen Reiz auszuüben vermag. Gehetzt und unstet ist der Blick. Manchmal blitzt es in ihren Augen auf, als berühre sie ein Wort aus der allgemeinen Unterhaltung besonders (...).

   »Lassen Sie mich in Ruh!« Sie lacht auf. »Ruhe will ich - Ruhe - Ruhe! - Was machen Sie denn von ihm für Aufhebens? - Immer Karl May ... überall Karl May ... Karl May und kein Ende! - Ruhe! - Hier drinnen!« Sie krallt beide Hände in die Brust und reißt an der Bluse, als wolle sie die dunkle Seide zerfetzen. »Dieser lächerliche Mummenschanz! Immer nur sehe ich sein Gesicht vor mir - am Tag und in der Nacht! - Er ist ja gar nicht tot - Er lebt ja! ... Ach, was red' ich Ihnen denn hier vor? Sie kennen mich ja gar nicht! Was wissen denn Sie von mir? Sie haben ja keine Ahnung, wie er mich gequält hat! ... Bis auf's Blut, dieser ... dieser ... gequält!«

   Das ist mir wie ein Schlag ins Gesicht.

   »Gequält?« frage ich überrascht. »Gequält?«

   »Ja! Ja! Mit seiner leidigen Güte! Mit seiner Geduld! Ja, mit seiner teuflischen Nachsicht!« Ihre Stimme wird leise, gehetzt. Sie hält die Worte fast hinter den Zähnen, als spräche sie in sich hinein. »Dieser ... dieser Teufel der Liebe - ja, so ist es richtig! ... Hahahaha! - Diese widerwärtige Güte! - Das begreifen Sie nicht? - Nun, woher denn auch? - Nie konnt' ich ihn packen! Nie konnt' ich ihn reizen! Selbst als ich ihm die Papiere verbrannte und ihm den Trauring vor die Füße warf! - Ich seh' ihn noch: diese Trauer, diese Nachsicht, diese Milde! - Verzehrt hat es mich bei lebendigem Leibe! Wäre er doch ein einziges Mal brutal geworden, die Hände hätt' ich ihm gek...« Jäh bricht sie ab, als sei sie zu weit gegangen. »Ach, was verstehen denn Sie davon!«

   Ihre Augen glühen wie im Fieber.622


Diese stilistisch ziemlich unerträgliche Darstellung stimmt zwar mißtrauisch, was ihren sachlichen Wahrheitsgehalt angeht: warum sollte Emma dem jungen Journalisten ohne Not gestehen, tatsächlich die Münchmeyer-Briefe verbrannt zu haben? Abgesehen davon ist die Trauring-Geschichte in keiner Weise belegt, das Verbrennen des Trauscheins war vielmehr Anlaß für Mays Erschütterung ... Dennoch scheinen mir in dieser Szene Emmas tatsächlich bestehende lebenslange Fixierung auf Karl May und ihr Zorn angesichts der Vergeblichkeit, May in den späten Ehejahren eine heftige Reaktion auf ihre provokativen Akte zu entlocken, zutreffend eingefangen worden zu sein. Dieser Teil der Beschreibung bestätigt die ›Studie‹, die Barthel im Jahr 1955 mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht kannte, auf überzeugende Weise.

   Den kräftezehrenden Wut-und-Glut-Attacken war May, für den das von Anfang an ebenfalls gültige mütterlich betonte Leitbild einer aufopferungsvollen Zugewandtheit, einer geistigen Seelenverwandtschaft, eines Aufgehens über den Tod hinaus, mehr und mehr an Bedeutung gewann, einfach nicht mehr gewachsen. Das unruhige Glück, das Emma allein stiften konnte (und das man sich wie in einer Liz Taylor-Richard Burton-Beziehung vorstellen mag), bedeutete ihm nichts mehr, es erschreckte ihn nur


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noch. Daß er die - vermutlich - letzten zehn Jahre seiner Ehe überhaupt ausgehalten hat, läßt sich nur mit den als heilsam erlebten Kräften der Kreativität und mit der gesellschaftlichen Anerkennung erklären, die ihm - jedenfalls in der von ihm gespielten Heldenrolle - in so singulärer Weise widerfuhr. Als dieser schützende Kokon sich auflöste und er dann auch als Künstler, tastend, einen wenig akklamierten Neuanfang versuchen mußte (und der Realität seiner Ehe keine Illusionen öffentlicher Liebeserklärungen mehr entgegenzusetzen waren), konnte die vernachlässigt-verbitterte Emma ihm nur noch Angstquelle sein. Die Wahrheit der ›Studie‹ über Mays Ehe speist sich aus den Negativ-Erfahrungen dieser letzten Jahre, die er in ihrem Grundgehalt von Anfang an durchleiden mußte. Mit dem Unterschied allerdings, daß da früher immer noch etwas Machtvolles existierte, das ihn lustvoll (und nicht, wie später, in als demütigend empfundener Unterwerfung) an diese Frau band. Emmas körperliche Anziehung kann nicht hoch genug eingeschätzt werden ...


*


Zur ›Studie‹ selbst erscheinen folgende Aussagen hinreichend gesichert:


1) Die ›Studie‹ ist keine Fiktion

Nicht nur die nachgewiesene Faktizität der geschilderten Ereignisse, soweit einem Nachweis zugänglich, widerlegt diese ohnehin weit hergeholte Annahme. Auch die Position des Ich in diesem Text bestätigt das gefundene Ergebnis: das Ich ist ganz und gar bei sich; nirgendwo erlebt man ein Auseinanderfallen von Ich-Erzähler und dem Ich des Autors. Sie sind identisch. Es existiert auch keine einzige Formulierung, mit der man zwingend belegen könnte, daß dieser Text in Erwartung und in der Vorstellung eines Lesers verfaßt wurde. Selbst die einzigen zweifelhaften Stellen, in denen er seine Scham über das eigene Verhalten einräumt - nämlich bei dem Geständnis, er habe Richard Plöhn gegenüber ein weiteres Motiv für seine Bitte, zusammen mit Klara und Emma nach Ägypten zu kommen, verschwiegen (Studie, S. 890) und bei seinem Bekenntnis, er habe trotz allem nicht aufgegeben, Emma erheben zu wollen (Studie, S. 893) -: lassen den eindeutigen Schluß, diese ›Geständnisse‹ seien gegenüber einem Dritten abgelegt worden, nicht zu. May schämte sich vielmehr vor sich selbst. Bei den zitierten Passagen dürfte sich, wie später gezeigt werden wird, seine ständig kontrollierende Moralinstanz, sein Über-Ich, gemeldet haben, dem gegenüber er Rechtfertigungsdruck empfand.

   Eigentlich ist eine nähere Erörterung, ob es sich bei der ›Studie‹ um Fiktion handelt oder nicht, entbehrlich; die ›Studie‹ ist dramaturgisch ungestaltet, sie wird in ihrem ansatzweise vorhandenen chronologischen Erzählfluß ständig unterbrochen, und stringente Handlungsfäden oder gar die Existenz eines Formwillens auf ein auflösendes Ende zu lassen sich schlicht


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und einfach nicht feststellen. Und daß Karl May Fiktion verfassen konnte, wenn er es denn wollte, ist angesichts seines erzählerischen Lebenswerks ja nun wirklich eine Binsenwahrheit.


2) Die ›Studie‹ ist keine Prozeßschrift

Daß die ›Studie‹, von Anlage und Planung her, keine originäre Prozeßschrift mit manipulativem Charakter war, sondern durch den Druck der am Schluß der Niederschrift stattfindenden Ereignisse zu einer ›Quasi-Prozeßschrift‹ mit bewußt begrenzter Wirkung erst geworden ist, ist in dem vorangegangen Abschnitt behandelt worden. Es bleibt nur noch zusammenfassend nachzutragen, daß der ebenfalls immer wieder vorgenommene Vergleich zwischen der ›Studie‹ und den von May zur Veröffentlichung vorgesehenen echten Prozeßschriften (und auch seiner Autobiographie) den Unterschied zwischen beiden Text-Arten deutlich macht: in den für die Öffentlichkeit bestimmten prozessual motivierten Schriften wird das ›Private‹, ohnehin reduziert um das ›Privateste‹, immer zielgerichtet erklärt. Ratlosigkeiten, Erniedrigungen, Zweifel, schmerzvolle Gefühlsanteile bleiben dort ausgespart. Resultate von Lebens-Interpretationen werden abgeliefert, die immer konkret auf juristisch relevante Gesichtspunkte ausgerichtet sind: In der Prozeßschrift ›Ein Schundverlag‹ vermag May mit der Schilderung von Emmas Nähe zu den Münchmeyer-Gegnern und ihrem besänftigenden Einfluß auf ihn zu erklären, warum er erst im Jahr 1902 Klage gegen Pauline Münchmeyer erhob; in der 1911 entstandenen Eingabe dient die Schilderung seines Ehelebens der Beweisführung, aus welchen Gründen Emma Pollmer ihn und Klara haßte und den Einflüsterungen des Lebius unterliegen konnte, der sie zu ihren verwirrten Klatsch-Enthüllungen trieb. In dem sehr persönlichen Schriftsatz von Dezember 1907 in dem Meineidsverfahren stellt er vordergründige Widersprüche zwischen der im Scheidungsverfahren zutage getretenen tiefen Entfremdung zwischen Emma und ihm und seiner Verteidigung für sie im Ermittlungsverfahren richtig und ›erklärt‹ en passant, wie es zu der Anzeige gegen Klara und ihn wegen Betruges im Rahmen der Ehescheidung kommen konnte. Immer nur wird soviel Privates offenbart, wie es zur juristischen Verteidigung erforderlich ist.


3) Die ›Studie‹ ist kein Beleg für eine seelische Erkrankung ihres Verfassers in der Zeit ihres Entstehens

Es erscheint nachgerade verwunderlich, wie manche Interpreten, wenn sie denn nicht nur voneinander abgeschrieben haben sollten, zu der Auffassung gelangen konnten, die ›Studie‹ spiegele Mays seelische Verfassung zum Zeitpunkt der Niederschrift wider. Weder ist May durch das zutreffend eingeschätzte Ermittlungsverfahren selbst (denn er war ja sicher, daß es folgenlos bleiben würde) noch durch die Hausdurchsuchung von November 1907 völlig aus der Fassung geraten: hierfür gibt es nicht den geringsten Be-


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leg. Und wenn man meiner These eines Beginns der Niederschrift bereits im Juni/Juli 1907 zu folgen vermag, fehlte es an jeglicher Begründung für die so unverantwortlich leichthin ausgesprochenen Krankheits-Verdikte. Daß May sich im November/Dezember 1907 empörte über das, was ihm fortgesetzt zugemutet wurde, ist nachvollziehbar; genauso verständlich wäre auch eine episodische Verzweiflungsphase angesichts der himmelschreienden Ungerechtigkeit dieses Verfahrens mitsamt seinem exekutiven Schockerlebnis. Aber daß er, höchst bewußt, alte und langgehegte Gefühle Emma gegenüber aus der Tiefe der Verdrängung hervorholte, vielleicht nur gesteigert in ihrer Intensität durch Emmas Präsenz im Ermittlungsverfahren: dieser Schluß lag doch von Anfang an viel näher als die Annahme eines psychopathologischen Zustandes von Karl May zum Zeitpunkt der Niederschrift. Krankhaft wären seine zutage getretenen Gefühle und Wertungen überdies nur dann, wenn die Realität, an der sie sich entzündeten, keine gewesen wäre. Diese nicht unwichtige Vorfrage allerdings ist bislang von den psychiatrisch urteilenden Diagnostikern noch nicht untersucht worden.


Aber welchen Charakter hat die ›Studie‹ dann?


Ich komme zu dem Ergebnis, daß die ›Studie‹ ein Selbsterfahrungstext mit therapeutischer Zielsetzung ist und auch sein sollte. Eine geplante Katharsis, um sich endlich den Felsbrocken von unbewältigtem Schmerz ›von der Seele schreiben‹ zu können.

   Untersucht man die im Jahr 1902, also zur Zeit der akuten Ehekrise, der Entscheidungsreise und der Scheidungsphase, entstandenen Dramen-Splitter, Sätze, Gedichte aus den Nachlaßmappen ›Weib‹, ›Schetana‹ und ›Wüste‹ genauer, so fallen zwei Textstellen auf, die dem künstlerischen Zugriff der lyrischen Verformung - die ja die artistischste von allen möglichen literarischen Bearbeitungen darstellt und höchste Disziplin erfordert - getrotzt haben. Wie Monolithen ragen sie auf, grob behauen und bearbeitet allein durch den Rhythmus der Sprache. Sie bändigt die den Texten innewohnende elementare Kraft nur mit Mühe. Inhaltlich handelt es sich um die beiden Zentralthemen der ›Studie‹, und es spricht jeweils Schetana. Wer auch sonst, denn 1902 war May zur Darstellung seiner eigenen Reaktionen auf diese in ihr repräsentierte Naturgewalt noch nicht in der Lage:

   ›Cobra di capello‹ - eine Schlangenart - ist der erste Text betitelt


Wer gab mir diesen Leib, den schönen, weichen, glatten?
Und wer gab mir die Seele, die farbenschillernde, die kalte?
Wer gab mir die Begier nach Aas und Fraß?
Und warum gab er's mir? Doch wohl, damit es wirke, wirke, wirke!
Nun wohl, ich schwöre es bei ihm, bei ihm, bei ihm, ich will es wirken lassen!
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Die Diskrepanz zwischen der kalt-theatralischen Seele und dem begehrenswerten Körper, der Wille zur Wirkung, gekoppelt mit tierischer, todesnaher Gier, all das ist mit Wucht in diesen Text geflossen. Dieser er, der gab, und jener ihm, bei dem geschworen wird, lassen sich demgegenüber nicht eindeutig entschlüsseln: aber daß es sich bei dem machtverleihenden er um den Schejtan selbst handeln müßte, liegt nicht fern; und daß bei ihm, dem Teufel, geschworen wird anstatt wie üblicherweise bei Gott, ist jedenfalls wahrscheinlicher, als daß der Eid bei diesem Leib, auf den das ihm sich auch beziehen könnte, abgelegt werden sollte. Daß May die weibliche Perspektive einnimmt, die aktive und machtvolle, schützt ihn vor der Darstellung seiner erniedrigenden Abhängigkeit. Diese zu leisten, sollte er erst 1907 in der Lage sein.

   Bei dem zweiten Text hat May sich zunächst um Integration in einen gereimten Drama-Dialog bemüht; ›Bei der Empfängnis‹ ist er merkwürdigerweise betitelt, und nach den ersten unvollständigen Zeilen heißt es dann:


S c h e i t a n a :  Ihr macht euch frei von dem verfluchten Band;
   Bin ich allein für ewig angekettet?
S t i m m e :  Er wurde zur Erlösung dir gesandt:
  Entsage ihm, so hast du dich gerettet!
624


Hier stimmen zwar Sprachmelodie und Reime, aber inhaltlich stimmt nichts; warum sollte er, May, Mittel zum Zweck ihrer Erlösung sein? Scheitana will ja ihre Ketten sprengen, nichts will sie sehnlicher als das, da bedarf es doch keiner erlösenden ›Entsagung‹, die gemeinhin schmerzvollen Verzicht bedeutet ... May hat Angst ob dieser Entschlossenheit, und die schiebt sich in den Vordergrund; Personale des Dramas sollen sein: Not. Sorge. Gram. Elend. Hunger. Schande. Furcht. Angst. Zorn. Angst. Neid,625 seine ständigen Begleiter in dieser Zeit, zweimal Angst und einmal Furcht ... Und so, unter dem Druck dieser Gefühle, verzichtet er auf hochartifizielle Bewältigung und erklärt, bevor er Scheitana wüten läßt:


S c h e i t a n a :  Sie liebt ihn, fleischlich, wie jeden andern. Das Band ist ihr verhaßt. Darum erscheint ihr jeder andere, an den sie kein Band kettet, besser und begehrenswerter.


- - - - -

Das Band, das Band, das man die Ehe nennt!
Verhaßt, verhaßt, mir fürchterlich verhaßt!
Ich liebe ihn, doch darum haß ich ihn!
626


Da Scheitana jetzt, ungebunden von Reim und Form, nur gezügelt durch den Rhythmus der Sprache, losrasen darf, ist das zweite Zentralthema der ›Studie‹ genau umrissen: Emma will sich befreien, will den Mann loswerden, ein so existentielles Bedürfnis, daß es May Todesangst einflößt, Angst, Angst, Zorn, Furcht und Hunger. Gift im Essen, imaginiert er, so elementar


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erscheinen ihm ihr Freiheitsstreben, ihre Lust auf Andere und Anderes und ihr Bedürfnis nach grenzensprengendem koketten Spiel. Wenn es noch irgendeines Beweises bedurft hätte, daß die in der ›Studie‹ verbalisierten Gefühle ›alt‹ sind, hervorgeholt aus verborgenen Tiefen, aber immer noch mächtig: dann wäre er jetzt abschließend erbracht.

   Danach versucht er, der nur das Stilmittel der Wiederholung kennt, um das gewaltsame Potential dieser Gefühle zu verbalisieren, sich an einer genaueren Charakterisierung dieser Frau; doch sein Bemühen, Emmas Wesen zu erfassen und zugleich eine glättende Form zu finden, scheitert:


Liebe!
   Er will mit seiner Liebe die ganze Welt umfassen.
Ich mit der meinigen auch, doch nur die Männerwelt,
                    die andre ist nichts wert!
Nein, alles Irdische: Schwatzende Weiber, Farben,
   Freuden, Putz (nicht zu materiell schildern!!!)
Ein sehnend Schmachten im verborgnen Blick
Und süßes, holdes Spiel (wie unter Tauben).
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Ein Drama hat er aus diesen Bruchstücken nicht machen können, obwohl die Form grundsätzlich geeignet und dem Thema angemessen gewesen wäre. Aber schon am 31. Januar 1903 besucht May, wie Klara treulich in ihrem Tagebuch notiert, einen Vortrag von Professor Delitzsch über ›Babel und Bibel‹ und beschäftigt sich offenbar auch mit Nietzsche, wenn man davon ausgeht, daß Klara wohl kaum Nietzsche-Aphorismen zitieren würde, hätte May hierzu nicht den entscheidenden Anstoß gegeben ...628 Beide Interessen sollten Mays Kreativität in ganz andere Bahnen lenken: ›Babel und Bibel‹ wurde zu seinem ersten und letzten Drama (1906), das von niederschmetterndem Mißerfolg gekrönt war und niemals aufgeführt wurde; und die Beschäftigung mit Nietzsche ließ der Figur des Ahriman Mirza im ›Silberlöwen IV‹ eine weitere Bedeutungsschicht zuwachsen.629 Ganz abgesehen davon hat er im Jahr 1907, anläßlich seiner Theaterbesuche während der Kur in Bad Salzbrunn, in einem am 15. Juni 1907 in der Salzbrunner Zeitung erschienenen Artikel postuliert, was er denn vom Theater - jedenfalls unter dem Vorzeichen des vor allen Dingen Heilung und Linderung suchenden Leidenden - erwartete:


... geben Sie uns wahre Herzenswärme, wohltuendes Licht und heilenden Sonnenschein; bringen Sie uns anstatt des Zweifels den Glauben, anstatt der düsteren Verneinung die beglückende Bejahung. Zeigen Sie uns nicht die lärmende, kreischende, sinnlose, sondern die wahre, die hohe, die wirkliche Kunst, die mit den einfachsten Mitteln die höchsten Wirkungen erreicht ...630


Diesen hehren Ansprüchen an Erhebung konnte weder der Naturalismus eines Sudermann (der ihn dann aber doch beeindruckte) noch gar das Sujet Scheitana genügen.


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   Wenn die dramatische Form ausscheiden mußte, so blieb doch noch die Prosa; aber der Umstand, daß er im ›Silberlöwen IV‹ die Anlage und das Personal des vorangegangenen Bandes übernehmen und fortentwickeln mußte, war ein zu enges Korsett, um jene Gesteinsbrocken von Emotion ›auflösen‹ zu können, wie er es - möglicherweise im Jahr 1906 - postulierte:


Hauptgedanke:
Erlösung durch Auflösung.
Sogar der Fels muß sich in Geist auflösen!
H ö c h s t e r  G e s i c h t s p u n k t ,  von welchem aus das Stück zu schreiben ist.
631


Die Figur der Pekala in ihrer problemreduzierenden lächerlichen Verkleinerung und die zur Karikatur verkümmerte Gul waren naturgemäß nicht geeignet, Erlösung durch Auflösung herbeizuführen. Im ›Silberlöwen IV‹ konnten lediglich die Trennung als solche, die äußeren Geschehnisse der Entscheidungsreise und der eheliche Neuanfang verarbeitet werden: »Das ist Jubel! Er tut, als habe er dich besiegt anstatt du ihn! Also ein Doppelsieg mit gegenseitigem Wohlgefallen hinterher!«, wie Schakara, laut lachend den ersten geglückten Kurz-Ritt auf Syrr kommentiert (Silberlöwe IV, S. 416); und das markiert schon einen Unterschied zu dem Satz: (Ich) ahnte nicht, daß ich keineswegs der Sieger, sondern nur der ebenso listig wie leicht Besiegte war. (Studie, S. 810)

   Im Jahr 1907 beschäftigte sich May erneut mit seiner eigenen Lebensgeschichte, deren unbewältigtes Material (eigene Kindheit, das verlorene Kind Clara, seine Nichte sowie die Orientreise mit Emma und Klara) an die Oberfläche drängte; in der Erzählung ›Schamah‹,632 entstanden Anfang 1907, werden Erinnerungen an Mays Aufenthalt in Jerusalem im Mai 1900 zum Hintergrundmaterial für eine Geschichte, in der es in Wirklichkeit um wesentlich weiter zurückliegende Lebenssachverhalte geht: die ›Vergötterung‹ des elfjährigen Sohnes Thar (= Vergeltung, Rache) durch die zum Zeitpunkt der Erzählung bereits verstorbene Mutter und den ihn überschätzenden Vater wird hier zum Thema; die Eltern halten ihr Kind für einen ›Auserwählten‹, mit fatalen Folgen. Das Kind Thar, das Heldenrollen biblischer Vorbilder spielt wie im Theater, sich für einen Künstler hält, ein Junge, der sich anmalt und verkleidet, der lausbübisch-charmant seine Umwelt tyrannisiert und auf dem besten Weg ist, eine unumkehrbar ich-bezogene liebeleere Persönlichkeit zu werden: das ist Mays Leitmotiv, ein Abbild seiner lieblosen Kindheit unter dem überfordernden Leistungs- und Erfolgsdruck seines strengen Vaters bei gleichzeitig erlebten ›Publikumserfolgen‹. Der kleine Trommler auf der Bühne und der Geschichtenerzähler in Ernstthal, der erste anerkennende Applaus, der ihm zuteil wurde: Realniederlagen seiner frühen Jahre und Ersatzdroge seiner späten Jahre, erkauft durch Rollenspiel und bezahlt mit dem Wissen, daß das Alles nicht ihn selbst meint. Man versteht, aus welchen zwingenden biographischen Gründen er für Emmas Wesen die ›Vergötterung‹ durch ihren Großvater verant-


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wortlich machte und bei dem Mädchen Marie von Anfang an gegen die ›Vergötterung‹ durch ihre Eltern kämpfen wollte. Aber der kleine Thar wird gewinnen gegen dieses falsche Fremdbild, gegen die Liebe, die ihn nicht meint, schmerzloser, als es May gelang, wenn es ihm überhaupt je richtig gelungen ist; und man liest die Hoffnung weckenden Worte des Kindes (und die Reaktion Mays hierauf) bereits ganz am Anfang der Geschichte nicht ohne Erschütterung:


»Du mußt das richtig erfahren, Effendi; der Vater teilt es dir nicht vollständig mit. Es ist nämlich so: Der Vater sagt: Er ist der ›Auserwählte‹ der Mutter; die sieht ihm alles nach; aber er hat Talent zum Künstler und wird ein großer Mann. Die Mutter sagte immer: Er ist der ›Auserwählte‹ des Vaters; der sieht ihm alles nach; aber er hat Talent zum tapferen Helden und wird ein großer Mann. Und der Lehrer, zu dem ich in den Unterricht gehe, der sagt stets: Er ist der ›Auserwählte‹ seines Vaters, seiner Mutter und seiner ganzen Verwandtschaft; die sehen ihm alles nach; aber er hat nicht das geringste Talent zu irgend etwas Großem und ist nur zum Handel und Schacher und zum Vexieren bestimmt. So, nun weißt du es, Effendi!«

   Er sagte das sehr ernst, und es war auch ernst, und nicht nur das, sondern sogar wichtig, unendlich wichtig. Sein Vater ahnte nicht den tiefen Sinn, der in den ehrlichen Worten des Kindes lag. Meine Frau aber ahnte ihn, denn sie sah mich an und nickte mir bedeutungsvoll zu. ...

   »Sag' mir vorerst deine Meinung darüber, wer recht hat, der Vater, die Mutter oder der Lehrer!«

   Er errötete, warf auf den Vater einen um Verzeihung bittenden Blick und antwortete:

   »Den Vater habe ich lieb, die Mutter habe ich lieb; aber sie haben beide unrecht. Den Lehrer habe ich nicht lieb, aber er hat recht.«

   Da konnte ich nicht anders: Ich zog den Jungen an mich und küßte ihn auf die frei von Farbe gebliebene Stirn. Das Herz wollte mir überquellen, und ich sah, daß auch meine Frau tief innerlich ergriffen war; ihre Augen feuchteten sich. Es war ein geradezu heiliger Augenblick. Und Mustafa Bustani saß neben mir, sah uns lächelnd an und hatte nicht die geringste Ahnung von der tiefen Reinheit, der keuschen Offenheit und dem packenden Zauber der Kinderseele, die uns soeben offenbart worden war.633


Später dann, unter dem Einfluß von Schamah, sagt der Junge:


»Ist es nicht ein Unsinn, daß man mich daheim den ›Auserwählten‹ nennt?«

   »Wie kommst du zu dieser Frage?« versuchte ich die Antwort zu umgehen.

   »Weil ich mich nur in meinen eitlen Stunden über diese Bezeichnung freue; bin ich aber ernst, so ärgere ich mich darüber.«634


Daß das Ich in diesem sehr realen Jerusalem der Orientreise nicht mit Emma, die diese magischen Momente niemals erfaßt hätte, sondern mit seiner fotografierenden Ehefrau Klara herumspaziert, erscheint zwingend. Emma selbst war ja nach Mays Deutung Opfer einer falschen Erziehung, ohne daß sie dies jemals hätte erkennen können oder wollen.


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   Schamah (= Verzeihung) taucht auf, ein liebreizendes Christenmädchen, das dem um sie herum wütenden religiösen Fanatismus der Kinder genauso begegnet, wie man solchen Phänomenen eben begegnen sollte: mit angstfreiem Ignorieren.


Ein jeder drängte sich dazu zur Bestie zu werden, und inmitten all dieser Ungetüme, die nach Rache strebten, saß Schamah, die Verzeihung, ein friedliches Lächeln im lieben Angesicht und ohne alle Furcht verletzt zu werden.635


Das Kind hatte ein gar liebes und zartes, aber trotzdem kerngesundes Gesichtchen, leise gerötete Pfirsichwangen und große, blaugraue Sammetaugen, deren Blick so tief aus dem Innern zu kommen schien, daß er wie ein holdes, aber noch völlig unberührtes Rätsel wirkte. Eine Fülle lichtbraun gewellten Haares quoll unter einem roten Käppchen hervor. Das eine kleine, sonnverbrannte Händchen hielt einige lange, große Glockenblumen gefaßt. Das andere versteckte sich in die Falten des dünnen, aber fleckenlosen Kleidchens und die niedlichen, dunkelgebrannten Füßchen mit den winzigen, elfenbeinernen Miniatur-Nägeln an den feinen Zehen machten einen so eigentümlichen Eindruck auf mich, daß ein unendliches Erbarmen und der Wunsch in mir aufstieg diesem ebenso schönen wie armen Kinde irgend einen recht, recht großen Dienst erweisen zu können. Genau dasselbe fühlte, wie sie mir später mitteilte, auch meine Frau. ...

   [Schamahs] Stimme klang weich, aber eindringlich; sie hatte einen Ton, der nicht leicht zurückzuweisen ist.636


Es bedarf schon gar nicht mehr des Hinweises, daß dieses Mädchen die Nichte von Thars Vater ist, bei dem es später liebevoll aufgenommen wird und in wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen aufwachsen darf; die kleine Schamah, die wirkte wie ein lieber, inniger Sonnenstrahl,637 ist ein Porträt von Mays Nichte Clara. Die niedlichen ... Füßchen, die so eigentümlich - eines jener Worte, die Mays persönliche Betroffenheit kennzeichnen - unendliches Erbarmen auslösen, das sind die Füßchen von Clara:


Ich war glücklich darüber, hatte das Kind lieb und gab mir Mühe, es gegen die Roheiten meiner Frau, der Pollmer, zu schützen. Vergebens! Das Kind wurde geschlagen, mit Hunger bestraft, in den Keller gesteckt, mußte zur Strafe die kleinen nackten Füßchen stundenlang in kaltes Wasser halten, kurz es mußte sich ganz à la Marquis de Sade behandeln lassen, ohne daß ich eine Ahnung davon hatte, denn hätte es sich bei mir beschwert, so wäre noch Schlimmeres zu erwarten gewesen,


wie May in seiner Eingabe schreibt.638

   Obwohl Emma in dieser, durch Schamahs liebliche Naivität positiv endenden, Erlösungs-Geschichte bewußt ausgeblendet ist, wirkt sie doch hinein. Denn sie war ja gerade nicht die beschriebene Ehefrau, in der unendliches Erbarmen beim Anblick des Mädchens aufstieg. Und sie war auch nicht die Frau, die die Zerstörung einer kindlichen Seele durch überfordernde falsche ›Liebe‹, die nur der Selbsterhöhung der Eltern dient, mitfühlend erkannt hätte. Das unbewältigte Thema Emma kam mit Macht wie-


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der an die Oberfläche, und die Form der psychologischen ›Studie‹ bot May das, was die anderen Formen, die der Kunst, an denen er sich bereits versucht und die er wieder verworfen hatte, nicht hatten leisten können.

   Psychologie war für ihn verstehende Erfahrungspsychologie, gewonnen aus niemals nachlassender Fremd- und Eigenbeobachtung, in scharfem Gegensatz zu der wissenschaftlichen Psychologie seiner Zeit, jedenfalls der, die er kannte: Es ist selbstverständlich, daß die forschende Wissenschaft Alles zergliedert, was Glieder hat; aber es ist unerfindlich, aus welchem Grunde der Psycholog auch die Seele wie ein Gliederthier behandelt, so Mays Kommentar in den ›Himmelsgedanken‹ (1900).639 Ein Kommentar, den man als auf Dilettantismus basierende Überheblichkeit abtun könnte, wenn May denn nicht manchmal zu überraschenden Einsichten in der Lage gewesen wäre. Ebenfalls zwei Zitate aus den ›Himmelsgedanken‹:


Gott hat den Eltern einen größern Einfluß gegeben, als sie ahnen. Ihre Macht über die Kinder reicht noch über den Tod, über Körper, Raum und Zeit hinaus.640


Der Schlaf ist nicht blos das, wofür wir ihn bisher hielten. Für den Körper ein Ruhezustand, ist er für die Seele eine Zeit geheimnisvoller Thätigkeit, von welcher wir bis jetzt noch weniger als gar nichts wissen.641


Und in der Mappe ›Wüste‹ findet sich eine Notiz:


Das ewige Gefangenwerden und sich wieder Befreien in meinen Werken ist für den Oberflächlichen eine Qual. Ist es im Innenleben nicht ebenso?642


Die gewählte Form der ›Studie‹ beförderte ihn in das Reich der Wissenschaft, zu dem er schon während der Ehezeit Zuflucht genommen hatte, um Emmas okkulte Aktivitäten ›erklärbar‹ zu machen und damit in ihrer Wirkung auf ihn begrenzen zu können. Der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zwang ihn zu Objektivität: Ich urteile nicht voreingenommen, sondern gerecht und objektiv. Der Herr Staatsanwalt weiß als Psychologe doch sicher ...,643 wie May in seinem Dezember-Schriftsatz schrieb. Im Gegensatz zur Freiheit der Kunst ließ ihn der wissenschaftliche Ansatz Sicherungen einbauen, die ihm von Moral und Gewissen diktiert wurden. Und nachdem er den wissenschaftlichen Anspruch aufgegeben hatte, nämlich ab S. 830 der ›Studie‹, stand er unter dem Eindruck einer noch viel mächtigeren Instanz: der der Strafjustiz nämlich, die ihren Wahrheitsanspruch mit Sanktionen durchzusetzen weiß, deren erste Vorläufer er gerade selbst erlebte. Jemand, der sich gegen den schändlichen Vorwurf des Meineides zu verteidigen hat, empfindet gewiß den Zwang, sich höchst diszipliniert auf Wahrheitssuche zu begeben.

   May wußte nur zu gut, welche Emotionen er da entfesseln würde, wenn er sich an das Thema Emma wagte, und er schämte sich für diese Gefühle. Sie paßten nicht hinein in sein Welt-Ideal von Frieden zwischen den Völkern


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und harmonischer Liebe unter den Menschen. Sich ›freidichten‹, wie er es Marie Hannes attestiert hatte, stand für ihn daher unter dem erkennbaren Vorbehalt, mit größtmöglicher Objektivität, belegbar, beweisbar, kontrolliert, wenigstens die äußeren Ereignisse darzustellen, bevor er sich den durchbrechenden Gefühlsanteilen überlassen konnte. Dies dann allerdings so schonungslos gegenüber sich selbst und seiner Frau, daß der Text noch heute Abwehr erzeugen kann. Und auch diese Art der Bewältigung hatte May bereits in den ›Himmelsgedanken‹ beschrieben:


Von Kampf zu Kampf.

   Geh nicht, geh nicht zurück zur Welt,
Nachdem du glücklich ihr entstiegen!
   Du bist als Mensch nicht immer Held
Und könntest ihr noch unterliegen.
   Sie ruft, sie lockt, sie winkt dir zwar
So liebevoll, zurückzukehren,
   Doch diese Freundschaft ist nicht wahr;
Sie will dir nur den Sieg erschweren.

   Geh nicht zurück! Sie bietet dir
Zunächst nichts gegen dein Gewissen,
   Dann aber, dann verfällst du ihr
Mit Allem, was du ihr entrissen.
   Gelingt es ihr zum zweiten Mal,
Dich bis zur Ohnmacht zu umspinnen,
   So bleibt dir wohl kein Hoffnungsstrahl,
Ihr jemals wieder zu entrinnen.

   Geh nicht, geh nicht zurück zur Welt,
Nachdem du glücklich ihr entstiegen!
   Auch noch auf einem andern Feld
Hast du zu kämpfen und zu siegen.
   Steig nun auch in dich selbst hinein,
Wo deine stärksten Gegner wohnen.
   Willst du befreit von ihnen sein,
So darfst du sie und - - dich nicht schonen!
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Die Welt, die lockende, liebevoll winkende, die zwar gegen das Gewissen nichts wirklich Erhebliches aufzubieten hat, die aber dennoch bis zur Ohnmacht umspinnt, der man verfällt, unterliegt, nicht entrinnen kann, diese Welt ist die der weiblichen Sexualität. Schonungslos ist mit den Gegnern im eigenen Innern umzugehen, so schonungslos wie mit sich selbst, um auch den zweiten Kampf zu bestehen: die Befreiung von den trotz aller Abkehr immer noch mit dieser Welt verbindenden und verbundenen Emotionen. Und das hat May mit seiner ›Studie‹ - für ihn sicherlich erfolgreich - unternommen. Er selbst wird wohl das Ergebnis seiner kathartischen Schreibar-


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beit mit gelindem Schrecken gelesen und immer wieder gelesen haben; wie sonst ließe es sich erklären, mit welcher Akribie er Beweismittel nachschiebt, Erklärungen abgibt, sich vergewissern und bestätigen lassen muß: Ja, so ist es wirklich gewesen. Das sagen auch andere. Ich durfte diese Gefühle haben ...

   In einer vorläufigen abschließenden Wertung der ›Studie‹ läßt sich feststellen, daß May aus einigen selbstvergewissernden Quellen schöpfte; vorrangig aber war sein eigenes Leben. Und so ist sie ein Dokument geworden, das uns auf unverwechselbare und einmalige Weise diesen Menschen, aber auch den Zeitgeist des endenden 19. Jahrhunderts und des Beginns des 20. Jahrhunderts näherbringt.

   Bei aller Akribie der Vorbereitung, bei aller Genauigkeit in den Sachverhaltsdarstellungen, an die seine schmerzhafte, selbstquälerische Wertung anknüpft: die eigentliche Leistung, die Respekt abverlangt, ist die Tatsache, daß May sich seiner Vergangenheit mit all den Gefühlen stellte, die eine solche Bearbeitung von Lebensstoff auslösen mußte. Ein Lebensstoff, der ihn an noch viel tiefere Schichten heranführen mußte als bloß an diejenige des sichtbaren Gegenstandes. »Ich wollte, er lebte noch und Meiner wäre dafür gestorben (Studie, S. 856), dieser Satz Emmas zu der um ihren verstorbenen Mann trauernden Klara negiert die Existenz des Mannes, löscht sie aus, er bedeutet: endgültige Liebesversagung. Und die Beschäftigung mit dieser Ehefrau mußte Zweifel und Ängste auslösen, jemals wirklich geliebt worden zu sein. Der Junge Thar war nicht um seinetwillen geliebt worden, sondern für das, was er im Leben erreichen sollte. Thars Mutter war schon tot: sollte sie das Kind wirklich, wie behauptet, auf dieselbe falsche Art geliebt haben wie der Vater? Oder ließ May die Mutter, ein außerordentlich lebhaftes, liebes, gütiges Wesen, ... heiter ... scherzhaft645 verschwinden, weil die Wahrheit ihrer ›Liebe‹ noch viel schrecklicher gewesen wäre als die beschriebene, vielmehr ihr zugeschriebene, ›Vergötterung‹? Erinnerungen an die erste Frau, die im Leben eines Menschen wichtig, wenn nicht gar entscheidend ist, können bei Niederschrift der ›Studie‹ nicht ausgeblieben sein. Der eigenen Wahrheit zu begegnen ist ein psychischer Kraftakt. Man hätte ihn May, zumal in seiner Lebenssituation, nicht zugetraut. Und seine schriftstellerische Fähigkeit ist ganz offensichtlich so groß, so suggestiv in ihrer Wirkung, daß die meisten Leser, insbesondere männliche, zunächst nur zu emotionaler Reaktion in der Lage sind. Wen das Ich des Textes zur Identifikation auffordert und nicht zur Anteilnahme, sieht sich machtlos in einen Sog bedrohlicher Ängste gezogen. May konnte das für sich selbst besser lösen: Stärkste Kontrolle bei der Schilderung der Tatsachen, konsequente Konzentration auf programmatische Thesen und dennoch größtes Crescendo beim Zulassen der hierdurch moralisch gerechtfertigten, von Scham befreiten, Gefühle der Angst und der angstgeborenen Aggression.

   Wenn Claus Roxin in seinem schönen Wort Mays klassische Reiseerzählungen als »mehrfach geschichtete ›Seelenprotokolle‹« bezeichnet hat,646 so


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müßte dies für Mays ›Studie‹ mit der Abwandlung gelten, daß sie schlicht ein ›Seelenprotokoll‹ darstellt. Sie ist tatsächlich eine ›Studie‹ geworden, und auch des weiteren Studiums wert. Man sollte sie zukünftig ohne die üblichen Anführungszeichen zitieren, mit denen ironische Herablassung lediglich die Distanz einer Ablehnung, nicht aber eine begründete Wertung dokumentiert. Sie läßt sich mit Gewinn lesen als biographisches Material und als beunruhigendes Psychogramm einer Ehe. Ihre Schrecken sind nicht unbedingt andere als die der ›modernen‹ Ehe, die lediglich kürzer währen und zum Ausgleich dann in perfidem Wiederholungszwang mit anderen Partnern immer wieder neu erlebt werden. Und die ›Studie‹ sollte, wie es sich der Autor gewünscht hat, von seinem Biographen als Quelle auch genutzt werden. Denn die sprechend ähnliche Figur (Studie, S. 939) der Emma Pollmer, die mit literarischen Mitteln zu gestalten sein sollte, ist May selbst in seiner Autobiographie so wenig gelungen wie anderen Autoren, die sich um Darstellung bemüht haben. Mays Auftrag: wäre immer noch zu erfüllen.


Auszüge aus dem 1., 2. und 7. Kapitel wurden unter dem Titel: ›Das Frauenbild Mays in: »Frau Pollmer, eine psychologische Studie«‹ am 8. 6. 2000 in Feldkirch/Österreich im Rahmen der 7. Feldkircher Literatur- und Philosophietage zu Karl May vorgetragen.


Ich widme diese Arbeit Claus Roxin, der als erster den juristisch-psychologischen und zugleich literarischen Ansatz in der Deutung von Karl Mays Leben und Werk auf unwiederholbare Art und Weise fruchtbar gemacht hat. Als Praktikerin des Strafrechts und als Autorin fühle ich mich dieser Sicht ganz besonders verbunden.


Von der allseits freundlichen und hilfsbereiten Anteilnahme an meiner Arbeit war ich positiv überrascht. Für wertvolle Hinweise, Inspirationen, tatkräftige Unterstützung und Bereitstellung von Material danke ich herzlich: Uta Drews, Hans Grunert, Klaus Hoffmann, Martin Lowsky, Ulrike Müller-Haarmann, Ulrich Scheinhammer-Schmid, Lothar Schmid, Jürgen Seul, Dieter Sudhoff, Heinz-Dietrich Vick, Hermann Wiedenroth, Hans Wollschläger,

dem Karl-May-Archiv, Familie Schmid, Bamberg,

sowie dem Karl-May-Museum, Radebeul, für die Einsichtnahme in Bücher aus Karl Mays Bibliothek.




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