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VI. Plädoyer


Die Auswirkung des Ermittlungsverfahrens auf die ›Studie‹ läßt sich zum einen an der gegenüber den Anfangsseiten veränderten Wortwahl nachweisen. Während klinisch anmutende Worte wie Voluptuosität, Kupidität, seelische Impotenz, Obscönitäten, Onanie, Genitalien und Exaltation ab S. 830 der ›Studie‹ nicht mehr auftauchen, werden erstmals nach S. 830 emotional besetzte Begriffe wie Vampyr, Vampyrismus, Tribadenhaus, Poussade, vaginelle Kurzsichtigkeit, Hetäre, Messaline und Bestie benutzt.

   Verallgemeinernde psychologische Theoriebildungen gibt es in dem nachfolgenden Teil nicht mehr, wie auch ein Anspruch auf Wissenschaftlichkeit der Darstellung nicht mehr ersichtlich ist; sie kommt vielmehr nun emotional-assoziativ daher und gewinnt ihren inneren Zusammenhalt nur noch durch die Verknüpfung der negativen Eigenschaften Emmas mit den juristischen Auseinandersetzungen in Sachen Münchmeyer & Fischer sowie durch eine gewisse Chronologie der sich steigernden Ereignisse.

   Trotz der zunächst betroffen machenden Wucht der Gefühle, die vor allem durch die Wortwahl und die Selbstdarstellung des Autors als leidender Ehemann vermittelt wird: die ›Studie‹ ist ein bewußt gestaltetes Dokument, bei dessen Herstellung May, insbesondere bei den juristisch relevanten Passagen, äußerst genau bleibt und zum Teil sogar aus entsprechenden Akten zitiert (Studie, S. 917), Emmas Worte an Klara bei dem ›Diebstahl‹ von 100 Mark aus Mays Westentasche in Berlin, Juli 1902, entsprechen nahezu wörtlich Klaras Aussage hierzu im Scheidungsprozeß am 22. Dezember 1902; die von May wiedergegebenen verächtlichen Beschimpfungen Emmas auf S. 911 und 918 der ›Studie‹ orientieren sich teilweise wörtlich an den entsprechenden Aussagen von Klara Plöhn und Wilhelmine Beibler im Ehescheidungsverfahren; auf S. 928 der ›Studie‹ zitiert er folgende Alinea seines Scheidungsantrages, die offensichtlich einem unterrichtenden Schreiben an seinen Rechtsanwalt Merkel entnommen sind; inhaltlich hat dieses Schreiben in Ziff. 6 der von dem Rechtsanwalt formulierten Scheidungsklage Eingang gefunden; die Abmachung mit Münchmeyer, die er zitiert, entspricht


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exakt dem Inhalt seines in dem Münchmeyer-Verfahrens geleisteten Parteieides (Studie, S. 833; S. 835). Die absatzweise formulierten Nachträge zu dem zusammenhängenden Text schließlich bestehen nahezu ausschließlich aus Zitaten aus Briefen und scharfsinnig-sensiblen Kommentierungen zu Beweismitteln, die den vorangegangenen Text beglaubigen sollen.

   Präzise, geradezu bemüht, sich nicht nur auf sein Gedächtnis zu verlassen und jede Übertreibung in der Sache zu vermeiden, sind insbesondere die Passagen, in denen es um die Qualität der ›Beweise‹ geht, die Emma im Jahr 1899 vernichtet bzw. an die Prozeßgegnerin Pauline Münchmeyer weitergereicht haben soll. Und eine genaue Untersuchung dieser juristisch relevanten Ausführungen zeigt Mays subtile Technik auf, mit der er auch den heutigen Leser bei spärlichster Information über den Inhalt der Schriftstücke dennoch zu der tiefen Überzeugung bringt, daß es ohne Emmas böse Tat diesen elenden Mammutprozeß niemals gegeben hätte.

   Denn die in dem Abschreckungsbrief an Adalbert Fischer vom 30. April 1899 offenbar erhobene Behauptung, er, May, verfüge über ein Schreiben von Heinrich Münchmeyer, das konkret die mündlichen Abmachungen mit ihm bestätige, fehlt in der ›Studie‹, die damit seinem freimütigen Geständnis gegenüber Staatsanwalt Seyfert während der Hausdurchsuchung exakt entspricht. In der ›Studie‹ finden sich lediglich folgende Angaben über die Geschichte der berühmten, später verschwundenen Beweismittel:


Im höchsten Grade bemerkenswerth ist es, daß diese Frau [Münchmeyer] während der Spaziergänge durch die Haide die Rede zuweilen geflissentlich darauf brachte, ob ich die Geschäftsbriefe Münchmeyers an mich weggeworfen oder aufgehoben habe. Ich antwortete der Wahrheit gemäß, daß ich sie natürlich aufgehoben habe, weil sie sich doch auf meine Abmachungen mit ihm bezögen. (Studie, S. 840f.)


Diese feinsinnige Formulierung ist eines Advokaten würdig: nichtssagend und doch eine Relevanz der Schriftstücke insinuierend, denn warum sonst würde Pauline sich, noch dazu in diesem frühen Stadium kurz vor Beendigung von Mays Kolportagezeit, nach diesen Briefen erkundigt haben?


Und zu ganz derselben Zeit sandte Münchmeyer sein Faktotum Walther wiederholt zu mir, um mich zu andern Abmachungen zu verführen und auf mancherlei gewundenen Wegen zu erfahren, ob ich seine Briefe wirklich aufgehoben habe oder nicht! (Studie, S. 847)


Wenn selbst der Verfasser der Geschäftsbriefe diese für beweiserheblich gehalten hatte, dann müssen sie einfach wichtig gewesen sein.


Es handelte sich hierbei um die alten Briefe, Karten und Notizen Münchmeyers, die ich mir so heilig aufhob, um, falls ich ja beschwindelt werden sollte, durch diese vollgültigen Beweise einem langen, zweifelhaften Prozesse vorbeugen zu können. (Studie, S. 860)


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Hier wird nur die subjektiv-abstrakte Bewertung der Korrespondenz mit Münchmeyer mitgeteilt; wer könnte widerlegen, daß May, als juristischer Laie, die Schriftstücke für beweiserheblich gehalten hat?


Das erweckte und befestigte in mir die Ueberzeugung, daß man den Entschluß gefaßt habe, mir meine Werke, meine Rechte und meine Gratifikationen zu unterschlagen und mich um alle Früchte meiner Arbeit zu betrügen. Dadurch gewannen die Münchmeyerschen Zuschriften den Werth hochwichtigster Dokumente für mich, die ich sorgfältig sammelte und in einem besondern Kasten meines Schreibtisches verwahrte. Nicht zehn-, nein hundertmal sprach ich mit meiner Frau über dieses unwiderlegliche Beweismaterial und verbot ihr streng, es jemals anzutasten. (Studie, S. 861)


Exakt und logisch formuliert; denn selbstverständlich gewinnt ein Beweis dann an Wert, wenn man des Beweises auch konkret bedarf. Und nun entäußert sich das ›heilige Aufheben‹ auch in erkennbaren Aktionen: in der Verwahrung der Dokumente in einem besonderen Kasten und in den Ermahnungen an die Frau.


Frau Münchmeyer bekam Angst, daß ich ihr den Roman abschlagen werde. Sie sendete eine schriftliche Einladung für mich und meine Frau zum Mittagessen bei ihr. Den Brief, der sie enthielt, legte ich zu den Münchmeyerbriefen, und dies ist der Punkt, an dem ich zu erwähnen habe, daß sie während eines der erwähnten neuen Spaziergänge mich dummschlau haranguirte, ich habe ihren Mann doch auch sehr lieb gehabt und mir seine Briefe darum ganz gewiß als heilige Andenken aufgehoben; sind die noch immer da? (Studie, S. 865)


Jetzt wird es ernst. Die Auseinandersetzung steht kurz bevor, und Pauline befürchtet immer noch, May könnte die ihr ja unbekannten Briefe gegen sie verwenden. Das beglaubigt Mays bislang durch inhaltliche Angaben nicht gestützte Einschätzung des Beweiswertes der Korrespondenz.


Um diese Zeit, noch vor meiner Abreise, erfuhr ich, daß Frau Münchmeyer ihr Geschäft verkaufen wolle. ... Auch packte ich die Briefe ihres Mannes und auch die paar ihrigen noch ganz besonders ein, verwahrte sie in dem schon erwähnten Schreibtischkasten und übergab sie und ihn der ganz besondern Obhut meiner Frau, indem ich ihr die Wichtigkeit dieser Skripturen so ernst und dringend wie möglich an das Herz legte. ... Ich muß hierbei noch ganz besonders erwähnen, daß sich unter den Münchmeyerschen Briefen der sogenannte »Schutzengel« befand, ein Brief, für den meine Frau sich ganz besonders interessirte, weil Münchmeyer sie in demselben als seinen guten, schützenden Engel bezeichnet hatte. (Studie, S. 879f.)


Der Inhalt eines einzigen Briefes wird konkret zitiert; dieser war zur Zeit der Niederschrift noch vorhanden und lag den Justizbehörden vor. Grund genug, peinlich genau zu sein und eine Erklärung zu liefern, wieso dieser, und nur noch dieser, vorhanden war. Ganz nebenbei war die Erklärung, die


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May gibt, geeignet, Emmas Aussagen zugunsten von May im Münchmeyer-Verfahren eine besondere Glaubhaftigkeit zu verleihen: denn eigentlich stand sie ja im Lager der Münchmeyers ...


Nämlich eines Tages kommt sie ganz freudestrahlend zu Plöhns und sagt: »Heut habe ich mir aber eine Güte gethan! Ich habe unsern Trauschein in den Ofen gesteckt!« ... sie aber hat sich lachend die Hände gerieben. (Studie, S. 884)

   Eines Tages erscheint sie [Emma] wieder bei Plöhns und zeigt sich entzückt darüber, daß sie nun endlich einmal droben in meinem Schreibtische Ordnung geschafft habe. Sie habe die Kästen leer gemacht


- hier folgt eine der seltenen und daher aufschlußreichen Korrekturen Mays, die ein Bedürfnis nach Genauigkeit dokumentieren, nämlich der nachträgliche Einschub: und Alles verbrannt,


auch die Münchmeyerbriefe, und nun könne man doch wieder etwas Neueres und Besseres hineinlegen. Es sei den alten Briefen recht geschehen, über die sie sich doch immer so geärgert habe. Man kann sich denken, was für ein Entsetzen diese ihre mit lächelndem Munde hervorgebrachte Enthüllung hervorrief. Man wußte ja, daß diese Briefe für mich einen schnell und glatt und unbedingt gewonnenen Prozeß bedeuteten! (Studie, S. 885)


Diese entscheidende Passage ist von besonderer Zurückhaltung geprägt und entspricht Mays Angaben gegenüber Staatsanwalt Seyfert während der Hausdurchsuchung am 9. November 1907; Emma hat demnach die Wichtigkeit dieser Dokumente lediglich unterschätzt (und damit Mays warnende Worte, als er ihr die Schriftstücke zur Aufbewahrung anvertraute, wie langjährige Ehefrauen nun mal sind, nicht ernst genommen). Bei der Sache mit dem Trauschein dagegen kommt Emma wesentlich schlechter weg. Während sie sich dort lachend die Hände reibt, lächelt sie im übrigen nur harmlos.


Später aber versprach sie sich wiederholt, und es gab während des Prozesses gewisse theils immer wiederkehrende, theils sich ergänzende Redewendungen, die in mir den Verdacht erweckten und bestätigten, daß die Briefe nicht verbrannt, sondern an Frau Münchmeyer ausgeliefert worden seien. (Studie, S. 885f.)


Mitteilung eigener Schlußfolgerungen aus nicht konkretisierten Anknüpfungstatsachen, mehr nicht.


Meine Frau beraubte mich dieser beweiseskräftigen Briefe genau zu derselben Zeit, in welcher die öffentlichen Angriffe der Presse gegen mich begannen und es also sicher war, daß ich die Firma Münchmeyer ganz unbedingt verklagen werde! (Studie, S. 886)


Hier beschränkt May sich, in der sachlichen Darstellung zutreffend, auf die Notierung eines rein zeitlichen Zusammenhangs zwischen Emmas Tat und


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den Umständen, die die prozessuale Relevanz der Briefe herbeiführten. ›Es war sicher‹ - das heißt keineswegs, daß seine Frau dieselbe sichere Überzeugung gehabt haben muß. Eine kausale Verknüpfung wird nicht einmal angedeutet.


Und andere Briefe, die sie angeblich mit verbrannt haben wollte, waren nicht verbrannt, sondern ich fand sie in Gegenwart von Frau Plöhn zwei volle Jahre später sehr wohlverwahrt in einem alten Vertikow, bei alten Strümpfen, Wischlappen u.s.w. liegen! Sie hat nur einen einzigen von allen diesen Briefen zurückbehalten und heilig aufbewahrt. Das ist der bereits erwähnte, sogenannte »Schutzengel«, den sie brauchte, um einem Jeden, der es lesen wollte, zu beweisen, daß sie ein guter Engel sei. Er befindet sich jetzt mit bei den Akten. (Studie, S. 887)


Hier ist May auf der ganz sicheren Seite, denn beide Aussagen kann er beweisen: die erste anhand der Scheidungsakten, bestätigt durch die seinerzeitigen Zeugenaussagen von Klara Plöhn und Wilhelmine Beibler. Die zweite, weil sich dieser Brief bei den Justizbehörden befindet, entweder in den Akten des Münchmeyer-Zivilverfahrens oder, wahrscheinlicher noch, bei den Ermittlungsakten nach Sicherstellung durch Staatsanwalt Seyfert/Richter Larrass.


Sie wußte, wenn ich das erfuhr, würde ich sofort nach Hause reisen. Sie stellte also die Lage so ungefährlich wie möglich dar und verbarg die Angst, die sie selbst empfand, wenn sie an die Folgen ihrer That dachte. Sie hatte das, was sie that, nur der Frau Münchmeyer zu Liebe gethan und gerieth in die größte Sorge, als sie die Fischerschen Ungeheuerlichkeiten sah, die so groß und öffentlich aus dieser ihrer That erwuchsen. (Studie, S. 899)


Hier unterliegt May einem der seltenen Irrtümer in seinen Sachverhaltsdarstellungen. Im Dezember 1899/März 1900, während des hier beschriebenen Aufenthalts an der Riviera, gab es noch keine Fischerschen Ungeheuerlichkeiten, die massiv erst ab Ende 1900 bzw. Februar 1901 folgen sollten. Tatsächlich war es die Pressekampagne der ›Frankfurter Zeitung‹, die Angst machte. Ursächlich für die sich schon im Jahr 1905 abzeichnende Fehleinschätzung dürfte das von ihm für Richard Plöhn verfaßte Verteidigungsschreiben gegen die Zeitungsangriffe sein, die Plöhn auf den 20. August 1899 datierte und unter seinem Namen veröffentlichen ließ; gegen Schluß der langen Erwiderung heißt es dort:


Sie ist leider aus einer nicht mit den schriftstellerischen Verhältnissen vertrauten Feder geflossen und wird manchen Mangel und manche Lücke zeigen. Die Vervollständigung muß ich meinem Freunde überlassen, der, sobald er das rote Meer erreicht, alle diese Zeitungen vorfinden wird.146


Die selbst kreierte Mystifikation einer Unterrichtung von den Angriffen erst im September 1899 in Massaua gewann Eigenleben und der Irrtum ver-


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tiefte sich später noch, wie schon von Hans Wollschläger bemerkt, als May in seiner Selbstbiographie davon schrieb, daß er in Massaua von einem Fischer-Nachdruck eines seiner früheren Kolportageromane erfahren habe. Irrtümer über zeitliche Abläufe gehören im übrigen zu den häufigsten Fehlern bereits bei der Wahrnehmung wie auch der Reproduktion von Ereignissen.147

   Seine Bemerkung zu Emmas Motiv jedenfalls: Frau Münchmeyer zu Liebe, hat entschuldigenden Charakter. Frauen handeln nun mal gefühlsbetont, und danach reut es sie auch gleich wieder. Staatsanwalt Seyfert hatte recht: May verteidigt Emma, sogar in der ›Studie‹.


Ich fragte sie, ob die Münchmeyerbriefe wirklich noch da seien, denn sofort nach meiner Heimkehr werde der Prozeß beginnen. »Die alten Wische?« antwortete sie. »Es fällt mir gar nicht ein, die anzugreifen! Ueberhaupt solche Fragen verbitte ich mir!« (Studie, S. 902)


Die alten Wische: diese Formulierung bestärkt noch die vorangegangene Information, Emma habe den Briefen keine Bedeutung beigemessen.


Als wir dann nach Hause kamen, stellte sich zu meinem Entsetzen heraus, daß die Münchmeyerbriefe und auch die andern Prozeßunterlagen verschwunden waren. Sie leugnete erst, war aber den Thatsachen gegenüber denn doch gezwungen, die Sache einzugestehen. Ein Anderer hätte sie todtgeschlagen; ich habe sie nicht angerührt. Ich konnte mir diese That gar nicht erklären, auch nicht durch ihre Perversität. Erst später, als sich herausstellte, wie sehr und wie hoch ich von ihr bestohlen worden war, trat der nexus rerum auch in dieser Beziehung für mich an das Tageslicht. ... Hätte ich die Briefe gehabt, so wäre der Münchmeyerprozeß in einem einzigen kurzen Schlage entschieden gewesen ... (Studie, S. 902f.)


Weder May noch Emma erklären ihr Motiv; aber ganz nebenbei wird durch die Worte ›Entsetzen‹, ›todtschlagen‹ und ›einziger, kurzer Schlag‹ die Bedeutung der Dokumente ins Immense gesteigert, ohne daß zu ihrem Inhalt auch nur die geringsten Andeutungen gemacht worden wären.

   Der nexus rerum, wie May sich ausdrückt, wird dann auch andernorts enthüllt: Emmas Gründe seien sowohl im Ganzen als auch im Besonderen nur in »dem Weib als Bestie« zu suchen, die auf die psychische und physische Vernichtung des Mannes hinarbeite, so Mays Beschreibung des ehelichen Kriegsschauplatzes (Studie, S. 888).


Also, der Münchmeyerprozeß hatte begonnen, doch aber ganz anders, als von mir geplant worden war. Ich hatte Schlag auf Schlag und Hieb auf Hieb auf die Gegner führen wollen, aber mein eigenes Weib hatte mich der hierzu gehörigen, jahrelang sorgfältig bewahrten Waffen beraubt! (Studie, S. 905)


Liest man diese über den gesamten Text verstreuten Stellen über die besagten Dokumente, die Emma vernichtet haben soll, nur ungenau, ergibt sich


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der zwingende Eindruck, Emma habe bewußt und gewollt, nur um ihm, May, zu schaden, objektiv hochwichtige Beweismittel vernichtet. Der Leser gerät unversehens in den Sog der sich langsam steigernden Formulierungen, wird gegen jede kritisch-intellektuelle Würdigung des mitgeteilten Sachverhalts hineingezogen in den emotionalen Gehalt des Textes - denn diese juristischen Passagen stehen ja nicht isoliert da, sondern werden verstärkt durch die weiteren, ebenfalls in dem gesamten Text verstreuten Informationen über die intime Freundschaft, ja, die ausdrücklich als lesbisch bezeichnete Beziehung zwischen Emma und Pauline Münchmeyer (Studie, S. 836f.; 842; 848; 863; 905), die auch zu Konsequenzen in der juristischen Verfolgung der Angelegenheit führte:


Und ich habe mich sehr lange Zeit dagegen gewehrt, meine erste Frau als Zeugin anzugeben, weil ich sehr wohl wußte, daß ihr die Münchmeyer höher und näher stand als ich selbst. Zwischen perversen Weibern herrscht ganz unbedingt eine gewisse Art seelischer Freimaurerei. Sie erkennen einander an den stets erregten Nasenflügeln und an dem geilen Lächeln, welches niemals schwindet. Und sie halten fest zusammen, selbst wenn sie keinen sichtbaren Nutzen davon haben. (Studie, S. 905)


   Daß sie später doch noch als Zeugin vernommen wurde, war mir gar nicht lieb, und es ist ein wirkliches Wunder, daß sie trotz ihrer perversen Affecte für die Münchmeyer und trotz ihres glühenden Verlangens, an mir und meiner jetzigen Frau Vergeltung zu üben, der Wahrheit schließlich doch die Ehre gegeben hat! (Studie, S. 907)


Erfährt man dann noch, daß bereits Heinrich Münchmeyers sinnlich gefärbte Bewunderung für Emma dazu geführt habe, daß Emma, entzückt von diesem Kavalier, im Jahr 1882 ihren Karl überredete, auf Münchmeyers Kolportageangebot einzugehen, wobei sie alle Töne, die ihr zu Gebote standen, erklingen ließ, ihn sogar während der Nacht weckte und auch am Morgen von Neuem begann (Studie, S. 832); daß sie ihren Mann davon abhielt, bereits nach Münchmeyers Tod Rechnungslegung zu verlangen (Studie, S. 862), ihn davon abhielt, gegen Pauline Münchmeyer strafrechtlich vorzugehen (Studie, S. 867) und dann auch noch sowohl May als auch dessen Anwalt mittels suggestiven Einflusses zunächst davon ›überzeugte‹, wegen des Geschäftsverkaufs von Münchmeyer an Fischer nicht auch noch strafrechtlich gegen den Erwerber vorzugehen (Studie, S. 906f.), dann verstärkt sich dieser Eindruck geradezu zur Gewißheit.

   Die Geschichte erfährt zusätzlich eine stimmige Pointe, wenn May am Schluß des durchgehend gestalteten Textes, also vor den einzeln abgesetzten Nachträgen, als späte Folge von Emmas Wirken auch noch den Verkauf des Münchmeyer-Imperiums an Fischer auflistet; Emma habe ihm nämlich, seine Großzügigkeit fürchtend, systematisch an ihn herangetragene Bitten um finanzielle Unterstützung vorenthalten und die Kasse geleert, wenn er jemanden habe unterstützen wollen. So sei es ihm nicht möglich gewesen,


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dem von ihm heimlich unterstützten Schriftsteller Lilie Geld zu geben, als dieser in einer akuten Notlage gewesen sei. Es sei deswegen zu einer heftigen Szene zwischen Emma und Lilie gekommen, die dieser als gemeine Beleidigung habe auffassen müssen. Daher habe Lilie sich gerächt und Adalbert Fischer verführt, Mays Werke von Pauline Münchmeyer zu erwerben ...

   Fazit: So wurde dieser Pollmersche Dämon zum Alpha und zum Omega des unglückseligen Münchmeyer-May-Prozesses! (Studie, S. 935)

   Das aktuelle Ermittlungsverfahren wirkt sich mithin auf den gesamten Text aus; es verleiht ihm Struktur, inneren Zusammenhalt und führt zu einem abschließenden Fazit. Die anfangs das Bild von Emma prägenden Charakterzüge von dämonischer, suggestiver, expansiver und die Geschlechtergrenzen überschreitender Sexualität, von Grausamkeit, Lust am Peinigen und am Kampf werden verknüpft mit Mays sämtlichen Fehlentscheidungen und Niederlagen als Autor, als Geschäftsmann und als Prozeßführender in der Münchmeyer-Angelegenheit in der Zeit zwischen 1882 und 1902.

   Eine Wertung, die zwar subjektiv-radikal ist, zugleich aber auch durch äußere Ereignisse nachvollziehbar erscheint. Denn in dem Feldzug gegen May gab es ja tatsächlich zahlreiche unheilige Allianzen, die sich in den Jahren 1909 bis 1911 noch ins Unerträgliche steigern sollten. Für May im Jahr 1907 waren die Verbindungen Emma und Pauline, Pauline und Rechtsanwalt Gerlach, Gerlach und Hermann Cardauns sowie Gerlach und Staatsanwalt Seyfert Konstellationen mit einem objektiv hohen Bedrohlichkeitsfaktor. Denn hier verbündeten sich private Unberechenbarkeit und feindseliges Potential mit zivilrechtlichem Existenzkampf der Pauline, Presseöffentlichkeit mit Winkeladvokatentum und finanzielle Interessen mit möglichem Mißbrauch von strafrechtlichen Machtmitteln. Kein Verfolgungswahn, keine haltlose Komplott-Theorie, sondern reale Gefahren, denen er ins Auge blicken mußte.

   In der juristischen Causa selbst bleibt er daher peinlich genau - was verständlich ist für jemanden, dem gerade der Vorwurf des Meineids angelastet wird.

   Denn der oberflächliche Eindruck der zitierten Passagen erweist sich ja bei genauer Betrachtung als unzutreffend. Der Sachverhaltskern (es gab einstmals geschäftliche Briefe Münchmeyers, die nach Mays subjektiver Einschätzung beweiserheblich waren und die Emma vernichtet oder beiseite geschafft hat) ist zurückhaltend, geradezu vorsichtig formuliert und dürfte zutreffend sein.

   An keiner Stelle auch behauptet er, ein konkretes, juristisch relevantes Motiv für Emmas Handlung zu kennen; weder berichtet er, daß sie ihm ein solches Motiv genannt habe, noch unterstellt er ihr schlicht eines. Er stellt die Vernichtung der Dokumente vielmehr, in kompletter Ratlosigkeit, als eine jener unbegreiflichen Handlungen und Launenhaftigkeiten (wie das Verbrennen des Trauscheins) dar, die Ausdruck der Bedrohlichkeit der Frau an sich ist: Es gab eine Angst und eine Wuth in ihr, die zu Allem fähig


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war. (Studie, S. 902) Die allerkleinste ihrer vielen perversen Launen war da im Stande, mich zu verderben. (Studie, S. 905)

   Der Sachverhaltskern selbst wird durch zahlreiche Dokumente gestützt:

   Im Ehescheidungsverfahren war die Unterschlagung von wichtigen Geschäftsbriefen durch Emma, die zum Teil verbrannt, zum Teil versteckt worden seien, wobei man kürzlich ca. 60 wieder gefunden habe, neben Gelddiebstählen in Höhe von ca. 40.000 Mark eine der Hauptbegründungen für den Scheidungsantrag vom 10. September 1902, wobei diese Darstellung von Klara Plöhn und ihrer Mutter Wilhelmine Beibler am 22. Dezember 1902 zeugenschaftlich bestätigt wurde.148

   Von Emma selbst sind Äußerungen hierzu nicht bekannt. Falls sie je, insbesondere in dem Ermittlungsverfahren wegen Meineids, hierzu Stellung bezogen haben sollte, hat Lebius diese Einlassungen jedenfalls nicht der Veröffentlichung wert befunden, denn er wählte die Auszüge nach möglichst hohem Peinlichkeits- und Belastungsfaktor zum Nachteil vom May aus, wenn er in der Eile auch schon einmal May-Positives übersah. Ein Detail der Vorwürfe scheint Emma jedenfalls später bestätigt zu haben: so schreibt May in einem Schriftsatz vom 26. Dezember 1909 in dem Beleidigungsverfahren May ./. Pollmer (nach Zuarbeit von Emma an Lebius für seinen Artikel vom 28. März 1909 in ›Der Bund‹ über das ›spiritistische Schreibmedium‹ Klara), daß Frau Pollmer allenthalben ihre Erklärung widerrufen könne, daß sie ihre Beschuldigungen zurücknehme, wie am 14. Dezember 1909 geschehen.


...  n i e  aber kann sie zurücknehmen, was sie außerdem konstatierte, nämlich außer Anderem die hier  s e h r  w i c h t i g e n  P u n k t e :  1. daß sie während meiner Abwesenheit unsern Trauschein glattweg verbrannte. Das tut man doch nur, wenn man von der Ehe nichts mehr wissen will.149


Es bedarf keines Kommentars, daß Lebius diese von Emma Pollmer am 14. Dezember 1909 abgegebene Widerrufserklärung sowie ihre vorangegangene, von May zitierte, Erklärung im Wortlaut nicht abgedruckt hat.150

   Eine Zeugin vom Hörensagen, nämlich Emmas Freundin Selma vom Scheidt aus Weimar, die zwar eindeutig für Emma und gegen das Ehepaar May Position bezieht, aber von wohltuend intelligenter Aufrichtigkeit ist, hat in ihrer Vernehmung vom 21. September 1909 in dem Verfahren gegen Karl und Klara May wegen Betruges im Zusammenhang mit dem Ehescheidungsverfahren jedenfalls weitere Hinweise gegeben, die das Bild aufhellen:


Sie [Emma] hat mir weiter erzählt, daß sie öfters aus den Taschen ihres Mannes, wenn sie die Kleider ausbür[stete], darin befindliches Geld und Briefschaften herausgenommen und fortgelegt habe. Was sie allerdings mit beiden angefangen haben will, dessen kann ich mich nicht entsinnen. (...) Ob Frau Emma May Briefe und sonstige Schriftstücke ihrem Mann entwendet hat, weiß ich nicht. Sie hat


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mir nur erzählt, daß an ihren Mann außerordentlich viel Korrespondenz, darunter viele Bettelbriefe eingegangen seien und daß sie deshalb letztere immer gleich selbst aussortiert und beiseite gelegt habe, (...)151


Bedenkt man, daß Emma regelmäßig Vorwürfe nicht komplett zu bestreiten pflegt, sondern harmlose Auslegungen und Rechtfertigungen sucht, hat sie ihrer Freundin gegenüber jedenfalls schon Erhebliches eingeräumt: nämlich das Vorenthalten von Bettelbriefen, wie ihr von May u. a. im Fall Lilie vorgeworfen wird, sowie die Anmaßung der Entscheidungsgewalt, welche an May gerichtete Post nach ihren Maßstäben wichtig oder unwichtig war, mithin ›beiseitegelegt‹ werden konnte. Die Wegnahme von Geldbeträgen beim Ausbürsten von Mays Kleidung hat sie darüber hinaus, ganz nebenbei, als unschuldig-alltäglichen Vorgang geschildert (und damit einen entsprechenden Vorwurf in dem Scheidungsverfahren bagatellisiert).

   Mays Beschreibung der Kolportagezeit mitsamt der besonderen Freundschaftsbeziehung - ohne intime Details selbstverständlich - zwischen Emma und Pauline Münchmeyer nebst Emmas beschwichtigenden Einwirkungen hinsichtlich einer etwaigen Prozeßführung gegen Münchmeyers ist auch in der ›wirklichen‹ Prozeßschrift aus dem Jahr 1905 vorhanden (›Ein Schundverlag‹), während dort die ehelichen Probleme nebst ihrer daraus resultierenden Beweisvernichtung, eben wegen der andersartigen Natur dieser Streitschrift, ausgespart sind.152

   Auch die Passage über die Rolle des Schriftstellers Eduard Moritz Lilie, Nachfolger des Redakteurs Otto Freitag bei der Neuen Sonntags-Post in Dresden im Jahr 1876, hat, jedenfalls soweit der Erwerb des Münchmeyer-Verlages durch Fischer und eine Beleidigung Lilies, der gegen May im Jahr 1892 eine entsprechende Privatklage erhoben hatte, angesprochen ist, eine reale Grundlage.153

   Wesentlich weitergehend in der Belastungstendenz zum Nachteil Emmas als die Darlegungen in der ›Studie‹ sind dagegen die entsprechenden Ausführungen in Mays 1910 geschriebener Autobiographie, in der er behauptete, er habe bereits zu Münchmeyers Lebzeiten, um Beweise an die Hand zu bekommen, bewußt Antwortschreiben von Münchmeyer derart evoziert, daß sie die mündlichen Abmachungen konkret bestätigten.154 Emma habe nicht nur den Trauschein verbrannt, der Vorbedeutung wegen, die sie damit verbunden habe, sondern habe Klara Plöhn auch lachend mitgeteilt, daß sie die Münchmeyer-Dokumente verbrannt habe, um zu verhüten, daß er, May, Münchmeyers verklage.155

   In derselben Weise belastend führt May in der 1911 verfaßten Eingabe an die 4. Strafkammer des Kgl. Landgerichts Berlin aus, daß die Pollmer ihm ständig Szenen, deren Häßlichkeit kein Mensch hätte widerstehen können, gemacht habe, um ihn von frühzeitigen Prozessen gegen Münchmeyer abzuhalten. Hierdurch habe sich die Ausführung seiner Absichten eines zivilrechtlichen und strafrechtlichen Vorgehens gegen Münchmeyer von Jahr zu


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Jahr verschoben, und die unwiderleglichen Beweise der Münchmeyerschen Schuld blieben im Kasten liegen.156 Eines Abends sei sie bei Plöhns erschienen und habe ganz vergnügt mitgeteilt, daß sie den wichtigen Kasten geleert und sämtliche Münchmeyersche Dokumente verbrannt habe. »Nun ist es ihm doch nicht mehr möglich, die Münchmeyer anzuzeigen!«, habe sie hinzugefügt.157 Die Szene, in der er sie nach Reiserückkehr zur Rede stellt, ist gar dramatisch als Dialog angelegt:


»Wo sind sie, die Dokumente?« fragte ich.

   Da gab es kein gutes Wort, keine Entschuldigung, keine Bitte. Ihre Augen funkelten grad wie damals in Hohenstein. Sie ballte die Fäuste, stampfte mit dem Fuße und antwortete:

   »Verbrannt habe ich sie!«

   Mir war, als habe mich jemand mit einer Keule auf den Kopf geschlagen.

   »Warum?« fragte ich.

   »Du sollst die Frau Münchmeyer nicht anzeigen und nicht verklagen! Ich dulde das nicht!«

   »Habe ich etwa nicht recht?«

   »Ja, Du hast recht! Aber ich will nicht! Ich sag nicht, warum! Nun komm: erschlage mich!«

   »Dich schlagen, Dich? So ein Weib? Nein, nie!«

   Ich griff zum Hute und ging fort, hinaus in die Luft, hinaus auf das Feld, hinaus in den Wald. Da bin ich geblieben, die ganze, lange Nacht, bis es Morgen wurde.158


Je länger die Ereignisse, als letztes: die Rückkehr von der Orientreise am 1. August 1900, zurückliegen, desto mehr sinkt naturgemäß die Fähigkeit des sich Erinnernden, zwischen Tatsachen und deren Wertung zu differenzieren; irgendwann lösen sich die Grenzen auf, und es verfestigt sich der Nachhall des aus beiden Bestandteilen zusammengefügten Eindrucks; irgendwann gerinnt er zwangsläufig zu einem traumähnlichen Erinnerungsbild, das nur noch Grundstrukturen der Realität aufweist, ohne wirklich falsch zu sein. Bei aller emotionalen Beteiligung: in der ›Studie‹ war May noch zu gerechter Differenzierung in der Lage. In ihrer Sachverhaltsdarstellung ist sie von einer geradezu unglaublichen Kontrolliertheit, die mit der sie begleitenden Aggression, die frisch und neu wirkt, kaum in Übereinstimmung zu bringen ist.

   Die ›Studie‹ ist daher von Mays Selbstzeugnissen immer das genaueste, wenn man sie ebenso genau liest.

   Die juristische Bedeutung der ›Studie‹ als ›Prozeß-Schrift‹ erschöpft sich in diesen Darlegungen über Emmas Rolle im gesamten Münchmeyer-Komplex. Ein Verständniszugang vielleicht für Mays wenig entschlossene Reaktionen in der Vergangenheit und für etwaige zu erwartende Aussagen Emmas, die vielleicht nicht noch einmal in der Lage sein würde, das ›Wunder‹ einer wahrheitsgemäßen Aussage zu wiederholen, zu launisch, zu zerstörerisch-selbstzerstörerisch erscheint May diese nicht einzuschätzende Frau.


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   Was schrieb er bereits im Jahr 1903 über Pekala im ›Silberlöwen IV‹?

   Jetzt aber wurde es ernst, sehr ernst! Ein Mensch, welcher Charakter und Inhalt besitzt, kann berechnet werden, eine Pekala aber nicht. (Silberlöwe IV, S. 203)




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