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WALTHER ILMER


Karl Mays ›Et in terra pax‹
Hehres Anliegen im Zwielicht*





Da sitzen wir nun auf der Rigi - wie er vor genau einhundert Jahren -, jedoch, wie es uns zukommt, in einem Haus von bescheideneren Ausmaßen, nicht so wuchtig wie das damalige Hotel,1 das ja so gut zum Wesen dieses Mannes paßte. Der nur 1,66 Meter hohe Karl May verschwand förmlich in dem Riesenbau, den er sich (vielleicht gerade deshalb?) ausgesucht hatte für einen vierzehntägigen Aufenthalt. Die mammutartige Wucht mußte ihm vorkommen wie Stein gewordenes Bild seiner Großmannssucht, und der bessere Teil seines Ich flüchtete davor in sich selbst hinein.

   Sein hier entstandenes vierstrophiges Gedicht ›Rigi‹2 ist, wie so viele seiner ins Lyrische abdriftenden Schaffensproben, ein Hilfeschrei im seelischen Konflikt, auf der Suche nach innerer Rechtfertigung seines Tuns. Er rief immer zu Gott empor, wenn er sich im Unrecht wußte und sich fürchtete.

   Hier beendete er am 26. oder 27. September 1901, etwa eine Woche nach seinem Eintreffen, die letzten 44 Manuskriptseiten seiner Erzählung ›Et in terra pax‹, die die Versöhnung aller Völker miteinander, das friedliche Beieinander aller Religionen propagierte - - und beschäftigte sich dann eilends mit der pompösen Rechtfertigungs- und Streitschrift ›»Karl May als Erzieher« und »Die Wahrheit über Karl May« oder Die Gegner Karl Mays in ihrem eigenen Lichte, von einem dankbaren May-Leser‹,3 worin die Übersteigerung seines Ego sich bedenkenlos zur Schau stellte. Und ihm zur Seite, ihn eifersüchtig beobachtend und ebenso eifersüchtig einander belauernd, die beiden entscheidenden Gefährtinnen seines Schicksals: Ehefrau Emma und Klara Plöhn, seine sogenannte Sekretärin, Witwe seines Freundes Richard Plöhn.

   Man möchte sagen: Die klassische Manifestation des Zwielichts, des Zwiespalts. Friedenssehnsucht und Leuchten der alle Menschen vereinigenden Güte unmittelbar gefolgt von harscher Polemik zur Abwehr der drohenden Gewitter, die sich aufbauen im deutschen Blätterwald. Ein Schriftsteller im Aufbruch zu neuen, hohen Zielen - - und das Menschlein Karl May mit den beiden Frauen nahe dem Abgrund, innen wie außen.

   Ja, auch das Verhalten dieser drei Menschen zueinander erreichte hier seinen Kulminationspunkt. Hier in Rigi-Kulm. Ich mag mir das Wortspiel




* Vortrag, gehalten am 21. 9. 2001 auf der 16. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Luzern


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   nicht versagen. Von hier aus ging es unerbittlich und rigide abwärts ins Ungewisse einer vom Zwielicht verhangenen Zukunft.


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Die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte des Manuskripts ›Et in terra pax‹ - von etwa Mitte April bis Ende September 1901 - verdanken wir Hainer Plaul. Er hat sie, umfassend kommentiert, anhand des Briefwechsels zwischen dem Leipziger Verleger Hermann Zieger und dem damals weithin bekannten Publizisten Joseph Kürschner über Karl Mays Beteiligung an dem Sammelwerk ›China‹ veröffentlicht im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1983.4 Hainer Plaul kommt, wie alle Beurteiler, die Karl Mays Eintreten für Frieden und Völkerverständigung zum maßgeblichen Kriterium erheben, zu dem schlüssigen Befund:


Im Spiegel dieser Korrespondenz des Jahres 1901 gibt sich May als ein selbstbewußter und zugleich sensibler Autor zu erkennen, als ein Mann, der in sozialen und politischen Fragen einen sicheren, wenngleich noch nicht endgültigen, eigenen Standpunkt gewonnen hat, den er mit Erfolg - und das war für ihn zweifellos eine ganz wichtige Erfahrung - gegen ernste Widerstände zu behaupten vermochte.5


Dem wäre nichts hinzuzufügen - oder entgegen zu halten -, wenn nicht ... wenn nicht Karl May sich unwürdig benommen hätte.


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Karl May hielt sich viel zugute auf seine bewährte, erfreuliche Beziehung zu Joseph Kürschner, der mehrere May-Erzählungen in seine Zeitschrift ›Vom Fels zum Meer‹ untergebracht hatte und dem May es verdankte, als Autor der Knabenzeitschrift ›Der Gute Kamerad‹ hervorzutreten. Noch in ›Mein Leben und Streben‹ rühmte sich May, dabei einen Brief von Kürschner zitierend, Kürschner habe ihm bereits 1886 das außergewöhnliche Honorar von »bis zu 1000 Mark je ›Fels‹-Bogen« geboten.6 May hatte also keinerlei Grund, Kürschner zu verletzen oder zu düpieren, als dieser ihn um einen längeren, erzählenden Beitrag für den Sammelband ›China‹ bat. Und auch Kürschners Mitstreiter, der Verleger Hermann Zieger, hatte May nichts zuleide getan.

   Aber was geschah? Am 12. Mai 1901, einem Sonntag, erschien Zieger, der bis dahin vergebens auf jegliche Manuskriptlieferung Mays gewartet hatte, in Radebeul, um sich bei dem von ihm und Kürschner umbuhlten Autor Klarheit zu verschaffen, und wurde vor dem Hause abgefangen von »eine(r) Art Gärtnergestalt«, die sich dann »als Verwandter« und »als ein in jeder Beziehung völlig Vertrauter des Dr. M.« (May) »entpuppte«. Mit ihm


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hat Zieger sich »ziemlich eine Stunde vor den Stufen der Villa unterhalten«, und »der Cousin« versicherte auch, der Herr Doktor May werde seinen Verpflichtungen unbedingt nachkommen - - aber nichts, auch nicht die schon eingangs von Zieger übermittelten Grüße Kürschners, brachte den neu erstandenen ›Dr. Heilig‹ alias ›Albin Wadenbach‹ dazu, das Visier zu öffnen.7

   Hainer Plaul bemerkt hierzu, das »läßt ahnen, wie sehr May das alte Rollen- und Verkleidungsspiel noch bis ins Alter hinein geliebt haben muß.«8 Er trifft den Nagel auf den Kopf, läßt es aber bei dieser Bemerkung bewenden. Die Frage erhebt sich: Warum das Rollen- und Maskenspiel?

   Karl May, spätestens seit diesem Besuch völlig im Bilde, welche Art Beitrag von ihm erwartet wurde, verschwieg in voller Absicht, welche Art Text er soeben in Arbeit hatte und an Kürschner zu liefern gedachte. Sein Selbstbewußtsein, die hohe Einschätzung seines Ego standen auf zerbrechlichen Füßen, wenn er sich nicht zutraute, Kürschner und Zieger davon zu überzeugen, daß ein den Frieden statt Kampf und Krieg betonender Beitrag in den Sammelband hineingehöre.

   Mays Unaufrichtigkeit war, rundheraus gesagt, schofel. Warum schwenkte er, der ideenreiche Erzähler, nicht behende um, lenkte ein - und verfocht dennoch zugleich sein ihm vorschwebendes Anliegen? Schrieb nicht eine Hurra-Geschichte mit Aufeinanderprallen von Europäern und Asiaten, von zur Schau getragenem Überlegenheitsgefühl eines Eroberungslustigen und vom Dulden und Aufbäumen eines Verleumdeten, die beide überraschend die wahren inneren Werte des anderen erkennen und beispielgebend wirken bei Freund und Feind und Frieden herbeibeschwören statt einer Katastrophe ... Das hätte eine auch äußerlich spannende, packende Handlung erbracht - und wäre Mays Absicht wie der seines Gönners Kürschner gerecht geworden. Konnte Karl May, wie Hainer Plaul meint, »sich dafür viel zu schade«9 sein? Bot nicht gerade Kürschner ihm die Gelegenheit, augenfällig ›den früheren May‹ mit ›dem neuen May‹ zu verknüpfen und in anschaulicher Form zu werben für die Behandlung des Friedens-Themas? Sein gerade damals in der Wiener Zeitung ›Reichspost‹ ausgetragener Streit mit seinem früheren Gönner Pustet vom ›Deutschen Hausschatz‹ in Regensburg hätte May gewiß ›Rohstoff‹ zur literarischen Umsetzung liefern können.10

   Nein - er trieb das betrügerische Spiel weiter, schrieb einen handlungsarmen Text, worin es sehr weltfremd zuging und der Herausgeber und Verleger und Illustrator verwunderte. May ließ keinen Zweifel daran, daß der Ich-Erzähler wirklich er selber war, der Autor Karl May persönlich, und er ließ auch willig durchblicken, er nehme als Schriftsteller einen bedeutenden Rang ein;11 zugleich aber war er ängstlich darauf bedacht, das vor anderen in der Erzählung auftretenden Personen (die im übrigen keinen Leser wahrhaft zu fesseln vermochten) geheimzuhalten, insbesondere vor der jungen Mary Waller, die von eben diesem Autor Karl May und seinen


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Büchern ›Im Lande des Mahdi‹ und ›Am Jenseits‹ schwärmt.12

   Der Ton der Erzählung ist in sich stimmig, das Anliegen des Autors wird plausibel vorgetragen. In jenem Teil seines vielgestaltigen Inneren, der sich dem ›Pax‹-Manuskript widmet, fühlte Karl May sich vermutlich sicher, »in sozialen und politischen Fragen einen (...) eigenen Standpunkt gewonnen«13 zu haben und die Form und Weise, wie er ihn hier vertrat, straflos den Herren Kürschner und Zieger aufzwingen zu können. Er mochte die heimliche Schadenfreude des einstigen ›Polizeileutnants von Wolframsdorf‹ darüber empfinden - - stolz darauf sein durfte er nicht.

   Er handelte unehrlich, unbillig, wollte seinen Erfolg erringen auf Kosten vertrauensvoller Kontrahenten, die ihm schlicht keine Hinterhältigkeit zutrauten (und doch durch ›die Gärtnergestalt‹, ›den Verwandten‹ hätten gewarnt sein sollen). Warum dies Handeln? Warum verkroch er sich in die Täuschung?

   Wieder legt Hainer Plaul die Spur - und folgt ihr nicht -, als er davon spricht, May habe es in jenem Jahr 1901 auch »mit den aufbrechenden Mißhelligkeiten in seiner Ehe« zu tun gehabt.14 Eben diese Spur weist den Weg.

   Das Spritzige, Lebendige, Mitreißende früherer May-Erzählungen fehlt in dem ›Pax‹-Manuskript völlig. Der Autor konnte nichts davon in die Erzählung einbringen, weil ihn eine Last drückte, die den einstigen Quell abschnitt. ›Et in terra pax‹ mit seiner schwunglosen Handlung, mit des Autors sauertöpfischem Spiegelbild Waller, mit der sensiblen Mary und den konfusen Anstrengungen im Text ist Karl Mays verkrampftes Bemühen um Gegengewicht zum Tumult tief drinnen im Gemüt, um Ausweg aus der von ihm selbst verschuldeten Krise. Aber er wird diesen Tumult nicht los, verschafft sich den Ausweg nicht. Je mehr das Manuskript fortschreitet, desto härter pocht es ihm ins Gewissen.


*


Im Februar 1901 verstarb Richard Plöhn. Klara hielt Einzug in die Villa Shatterhand. Beinahe schon war der Weg frei für sie - zu Karl. Nur das lebende Hindernis Emma war noch zu beseitigen.

   Karl May verließ in diesen Tagen das eheliche Schlafgemach, zog sich in eine Bodenkammer zurück, um dem bisherigen - nicht gerade seltenen - intimen Beisammensein mit Emma füglich zu entgehen. Trügerisch erklärte er ihr, er tue es, »weil er (...) höheren Zielen zustrebe und sich von der Materie frei machen wollte«.15 Welch ein Hohn gegenüber der nach wie vor - und zumal jetzt - liebebedürftigen Frau: Emma war an einem Unterleibsmyom erkrankt und mußte darüber hinaus in schlimmer Weise unter den Erscheinungen der Wechseljahre leiden.16 Den Mut zur Wahrheit hatte Karl May nicht; er spielte Emma etwas vor, übte sich wieder einmal in Maskerade. Das Unbehagen darüber verfolgte ihn am Schreibtisch: Die Briefe an


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die Wiener Zeitung ›Reichspost‹ gerieten zu lang, zu bauschig, bekunden, daß das Unschuldslamm Karl May etliche Schwachpunkte zuzudecken trachtet. Und das ›Pax‹-Manuskript entsteht als Trotzreaktion - im Versuch, den böswilligen geplanten Bruch des Ehebandes und die rüde Vernachlässigung Emmas zu übertünchen durch salbungsvolles Schreiben von unerläßlicher Güte zum Gedeihen des menschlichen Zusammenlebens allüberall. May kam davon nicht los. Er wußte, daß ein solches Manuskript nicht den Wünschen der Besteller entsprach; so flüchtete er auch vor Zieger hinter die Larve der Arglist.


*


Eine Erzählung, wie Kürschner und Zieger sie erhofften, hätte Karl May aufgrund seiner seelischen Verfassung nicht fertig gebracht. Im tiefen Inneren quälte ihn das schon seit geraumer Zeit vorangeschrittene Verhältnis zu Klara, ängstigte er sich vor dem Schritt, Emma im Stich zu lassen. Er suchte Beschwichtigung des Aufruhrs in einer selbstgestellten ›höheren Aufgabe‹ - und spielte dabei auch vor sich selbst eine Rolle.

   Vor keinem der Beteiligten - Klara Plöhn einmal ausgenommen - fand Karl May den Mut zum klärenden Wort. Während Kürschner und Zieger rätselten über die ihnen unbegreifliche literarische Arbeit, die ihnen da vorgelegt wurde, zog die Parallele durch die Villa Shatterhand. Emma war überrascht, verstört über den Gatten, begriff nicht, daß sich hinter Karls Abwenden von ihr der üble Plan verbarg, auf Kosten ihres noch ungetrübten Vertrauens zu ihm die Scheidung zu betreiben, sie zum schuldigen Teil zu stempeln.

 ›Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein‹ durchzieht als Motto die ganze Erzählung. Wieder und wieder läßt May sein von diesen Worten getragenes Gedicht im Text erscheinen, wird nicht müde, es den Menschen auf Erden ans Herz zu legen. Er selbst gab keine Liebe. Er gab Täuschung, Betrug, Verrat. Im Manuskript war er der Biedermann, der Vermittler einer alles Irdische wohlgefällig einenden Philosophie; wenn er in den Spiegel sah, starrte ihm der ›Kupferstecher Hermes‹ entgegen, der im Angesicht der Leipziger Thomaskirche, dem Wahrzeichen der Gottesmacht, schimpfliche Büberei beging an arglosen Mitmenschen.


*


Der Schwindel gipfelte in jenen Sätzen, die Karl May noch in Radebeul - wahrscheinlich zur Nachtzeit - vor der Abreise in die Schweiz zu Papier brachte. Er hatte sein Abziehbild Waller endlich zum Brandstifter gemacht, zum Fieberkranken, der vor sich hin phantasiert und an dessen Bett der Ich-Erzähler May Wache hält, dieweil er zum Sternenhimmel emporschaut. Und May phantasiert seinerseits:


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Als ich am Beginn der jetzigen Reise in Genua, wohin sie mich begleitet hatte, von meiner Frau Abschied nahm, war ich mit der Guten übereingekommen, uns täglich abends durch den Himmelswagen [Fußnote: auch »großer Bär.«] Grüße zuzusenden. Dieses Versprechen haben wir treu gehalten, sie immerfort und ich, so lange ich konnte, denn im südlichen Teile des Roten Meeres verlor ich ihn aus den Augen. Aber es hat keinen einzigen Abend gegeben, an dem ich nicht auch beim Glanz der südlichen Sterne der lieben, reinen Seele gedachte, die mit der meinigen für immerdar so eng verbunden ist.17


Das ist allemal schnöder Verrat an Emma. ›Liebe, reine Seele‹, mit ihm ›immerdar eng verbunden‹? Hat es ihn nicht kalt durchrieselt, als er dies niederschrieb? Seit Monaten hatte er sich aus der engen ehelichen Verbundenheit gelöst, suchte gemeinsam mit Klara nach Rechtfertigungsgründen für ein Scheidungsbegehren, tappte in Eigenqual einher. Falls - es sei einmal unterstellt - er die Zeilen in Gedanken an Emma schrieb, so verbot es sich, zugleich ihr gegenüber ein böses Täuschungsmanöver zu betreiben. Falls aber die Zeilen de facto nicht Emma galten, sondern einer damals zwischen Klara und ihm geheim getroffenen romantischen Verabredung, so war die Bezeichnung ›meine Frau‹ eine Perfidie. Im Sommer 1901 war im Herzen Karl Mays kein Raum für eine an Emma gerichtete Liebeserklärung - aber es gab auch keinen Raum darin für die Wahrheit.


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Gleichwohl - unterschwellig huscht ein Abglanz Emmas durch die ›Pax‹-Erzählung: Mary Waller, die liebende Tochter, die unverbrüchlich loyal zum unausstehlichen Vater hält, liest mit Hingabe Karl Mays ›Am Jenseits‹, ein Buch, in dem Mays Spiegelbild Halef häufig anerkennend von ›Emmeh‹ spricht und über das die leibhaftige Emma eine ganze Menge wußte, wie aus ihrem Brief vom 28. Februar 1899 an ihre Freundin Agnes Seyler hervorgeht: »Sehr neugierig bin ich was die Leser zu den [!] 25. Band sagen werden !!«, schließt der Brief - mit zwei Ausrufungszeichen.18 May fügte in einem Nachsatz noch Grüße an Agnes und Emil Seyler bei, kannte also zumindest den Schlußsatz von Emmas Brief.19 Bemerkenswert ist nun, daß May im ›Pax‹-Manuskript Mary Wallers verständnisinnige Lektüre des Buches ›Am Jenseits‹ unmittelbar vor dem romantischen Sternengruß-Rendezvous erwähnt, das nicht zu Emma-und-May paßt. Welche Klüfte in der Seele des Autors tun sich da auf! Denn Mary Waller bleibt im unklaren darüber, daß der Ich-Erzähler ihr die Wahrheit über sich verbirgt.


*


Was mag in ihm vorgegangen sein, als er, umlauert von zwei Frauen, hier auf der Rigi sein ›Pax‹-Manuskript abschloß und sich sofort dem nächsten Projekt der Täuschung in die Arme warf? ›»Karl May als Erzieher« und »Die


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Wahrheit über Karl May« (...) von einem dankbaren May-Leser‹ betitelte er das Pamphlet, mit dem er das gegen ihn laut gewordene Grollen der Neider zum Schweigen zu bringen hoffte. Seltsam, welche direkte Verbindung zur ›Pax‹-Erzählung er durch den Titel des Pamphlets knüpfte: ›»Karl May als Erzieher«‹ - ja, das ist ihm zuzugestehen, wenn man die Erzählung ›Et in terra pax‹ in der dargebotenen Form akzeptiert, wenn man im Geiste May sagen hört: »Nehmt Abstand davon, immer abenteuerliches Geschehen von mir zu erwarten; fügt euch willig ein in die hier ausgebreitete Gedankenwelt und macht sie euch zu eigen; folgt dem Gebot der Nächstenliebe und bewegt andere dazu, es euch gleich zu tun; setzt euch zum Ziel, die Menschheit im Sinne der Güte Gottes zu einigen.« Wer darf aus Überzeugung dagegen sprechen?

   ›Die Wahrheit über Karl May‹ aber war weder die ›Pax‹-Erzählung noch die Broschüre des angeblichen ›Dankbaren Lesers‹. Auch sie bestand aus Irrlichtern und Flunkerei und Täuschung - - schon damals im Grunde als solche erkennbar für alle, die wachen Auges und wachen Herzens waren. Warum hätte ein echter dankbarer May-Leser seine Identität verschweigen sollen, nachdem doch deutsche Bischöfe Mays Bücher warm empfohlen hatten, Pädagogen ihn lobten, der Autor in Adelskreisen verkehrte und Karl May, als Verfasser der Broschüre genannt, sie allesamt damit hätte herausfordernd konfrontieren können? Warum trat er nicht offen als Kompilator auf, hüllte sich sogar vor seinem nichtsahnenden Verleger Fehsenfeld in Schweigen?20 Sein Zwiespalt wird offenbar: Er wollte seinen Zorn über das Aufflammen der gegen ihn gerichteten Angriffe durch heftiges Um-sich-Schlagen loswerden, aber er fürchtete auch die Blamage, die gerade dies ihm eintragen konnte.21 Was mag er empfunden haben, als ein früher Wintereinbruch auf der Rigi22 symbolisch seine Mühen erstickte? Fiel der Schnee auch in sein Gemüt, bewies ihm die Vergeblichkeit seines Tuns? Wäre er innerlich gefestigt gewesen, unangerührt vom fehlgedeuteten, fehlorientierten ›Johannistrieb‹ des alternden Mannes, verschont von zielbewußter weiblicher Intrige, hätte er die Stürme gemeistert. Aber er wurde zur Unzeit schwach - und bereitete sich den Weg ins Unglück. Die von Fehsenfeld massenhaft verbreitete Kampf- und Schmähschrift des ›Dankbaren Lesers‹ nützte Karl May gar nichts; sie hielt seinen Ansehensverlust und die nachfolgende Hetze nicht auf.


*


Und er, Karl May, hielt seine Mitverschworene Klara Plöhn nicht auf; er ließ es zu, daß die mehr und mehr zu Gemütsstörungen und zu Hysterie-ähnlichen Wutausbrüchen neigende Emma nicht ärztlicher Betreuung zugeführt, sondern in die ihr gestellte Falle gelockt wurde. In der literarischen Rückschau auf das Rigi-Debakel fanden die gewaltigen Mauern des hochragenden Hotels ihren Niederschlag in den eine ganze Bergwand ein-


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nehmenden vieletagigen Felsenmauern mit ›Hohem Haus‹ des Ustad, die »der kranke Effendi«23 Kara Ben Nemsi im Tal der Dschamikun kritisch und sezierend betrachtete.24 Ein Karl May nach dem sattsam bekannten ›Sprung über die Vergangenheit‹ auf der Suche nach seinem eigentlichen Ich. Vergebliche Mühe. Ein knappes Jahr nach dem Rigi-Aufenthalt, beim Versuch, noch einmal Höhenluft zu schnuppern, auf der Mendel bei Bozen, im Hotel Penegal, einem ähnlichen Mammutbau wie auf Rigi-Kulm, lag das unabwendbare Abwärts zutage. Mit unlauteren Tricks, Blendwerk, Winkelzügen zwangen Karl und Klara die wehrlose Emma, sich von ihnen zu trennen und in die Scheidung einzuwilligen.


*


Karl May im Zwielicht. Ich würdige selbstverständlich sein Eintreten für Frieden und Völkerverständigung, kann es aber nicht zum maßgeblichen Kriterium erheben bei der Bewertung seiner ›Pax‹-Erzählung. Die Leistung, die er sich, befangen im Konflikt des Gemütes, abgerungen hat, verdient Anerkennung, Respekt; das sei nicht verhehlt. Aber mich bedrückt es, daß er um seines lockenden Zieles willen wohlmeinende, ihm wohlwollende Menschen getäuscht hat, daß er seine Frau feige von sich stieß, als sie begann, aufgrund gesundheitlicher Beschwerden eine Last zu werden, daß er sie unwürdig behandelte, während er von Liebe und Menschlichkeit und Güte schrieb.

   Für mich steht er im Zwielicht. Sein Leben lang war er ein in sich Zerrissener, Gespaltener. Das hat er nie überwunden. Wie seine ›eigentlichen Werke‹25 ungeschrieben blieben (bis auf das stupende ›Ardistan und Dschinnistan‹), so war sein eigentliches Ich ihm höchstens sichtbar, als er im Zwielicht des 30. März 1912 ganz sanft einging nach Dschinnistan hinüber ...

   Das Zwielicht aber schimmert nicht nur am Ende des Tages vor dem Herabsinken der Nacht. Es schimmert auch, gerade ehe die Sonne sich anschickt, uns alle mit neuem Licht zu beschenken. Und Sonne hat Karl May reichlich hineingetragen in unser Leben. In ihr und in Frieden möge er ruhen.



Nachbemerkung:

Der Vollständigkeit halber sei verwiesen auf das von Karl May im Juli 1901 verfaßte und an den Verleger Zieger gesandte Gleichnis ›Der Zauberteppich‹, worin er kritischen Einwänden Ziegers und Kürschners gegen ›Et in terra pax‹ auf dichterischen Umwegen zu begegnen hoffte. (Schilderung im Jb-KMG 1983, S. 165f.) Der Text ›Der Zauberteppich‹ ist neuerdings abgedruckt in: Karl May's Gesammelte Werke Bd. 81: Abdahn Effendi. Bamberg/Radebeul 2000, S. 196-199 - Kommentar ebd., S. 200-205. - Ungeachtet der positiven Würdigung, die das Märchen vom Zauberteppich in der Karl-May-Forschung erfahren hat, befand Hermann Zieger bereits am 17. 7. 1901 im Brief an Joseph Kürschner nüchtern und klarsichtig: »Dieser neueste Erguss zeigt wiederum die Selbstverherrlichung May's. Man muss diesen Menschen eben nehmen, wie er ist.« (Jb-KMG 1983, S. 165)


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1 Abbildungen des 1875 eröffneten und rund 75 Jahre später abgerissenen Hotels Schreiber finden sich bei Reinhard F. Gusky/Willi Olbrich: Auf Karl Mays Fährte. Bamberg/Radebeul 2001, S.187; bei Elmar Elbs: Zum 100-jährigen Jubiläum von Karl Mays Reise auf die Rigi. Hrsg. von Lothar und Bernhard Schmid. Bamberg 2001, Titelseite sowie S. 11 u. 16; auf der Titelseite des Programmheftes ›16. Kongress der Karl-May-Gesellschaft e. V.‹ (Zeichnung von Elmar Elbs)

2 Abdruck des Gedichtes bei Elbs, wie Anm. 1, S. 3, sowie in Karl May's Gesammelte Werke Bd. 49: Lichte Höhen, 19.-38. Tsd. Bamberg 1956, S. 450f. (und in den weiteren Auflagen dieses Bandes vor 1998)

3 Reprint der Ausgabe 1902 unter dem Titel: Karl May: Der dankbare Leser. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 1. Ubstadt 1974 (bisher 3 Auflagen)

4 [Hainer Plaul:] Hermann Zieger/Joseph Kürschner: Briefe über Karl Mays Roman ›Et in terra pax‹. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1983. Husum 1983, S. 146-196 (Hainer Plaul wurde seinerzeit aus politischen Rücksichten nur als Entdecker und Vermittler des Briefwechsels genannt, nicht als Verfasser des hochwichtigen Beitrags.)

5 Ebd., S. 185

6 Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg o. J. (1910), S. 197; Reprint Hildesheim/New York 1975. Hrsg. von Hainer Plaul

7 Zitate hier gem. Ziegers Karte vom 12. 5. 1901 und zwei Briefen vom 14. 5. 1901; wiedergegeben bei Plaul, wie Anm. 4, S. 149 und 150

8 Ebd., S. 149

9 Ebd., S. 159

10 Siehe Wilhelm Vinzenz: Karl Mays Reichspost-Briefe. Zur Beziehung Karl Mays zum ›Deutschen Hausschatz‹. In: Jb-KMG 1982. Husum 1982, S. 211-233.

11 Karl May: Et in terra pax. In: China. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik. Hrsg. von Joseph Kürschner. Dritter Teil: Erzählendes und Anderes von und aus China. Erster Abschnitt. Leipzig 1901, Spalten 1-284 (11 und 209); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hrsg. von Dieter Sudhoff. Hamburg 2001

12 Ebd., Spalten 11, 209, 238

13 Wie Anm. 5

14 Plaul, wie Anm. 4, S. 160

15 Aussage Emma Pollmer geschiedene May vor dem Landgericht Dresden am 13. Dezember 1907, abgedruckt bei Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Ein Beitrag zur Krimialgeschichte unserer Zeit. Berlin-Charlottenburg 1910, S. 48; Reprint Lütjenburg 1991; ebd., S. 30-32, Abdruck der Scheidungsklage Karl Mays vom 10. September 1902, mit Angabe: »Parteien leben seit Ende August 1902 getrennt und seit etwa 1 1/2 Jahre ohne Geschlechtsverkehr.« (S. 31)

16 Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Bamberg 1972, S. 89

17 May: Et in terra pax, wie Anm. 11, Spalten 238/239

18 Abdruck bei Maschke, wie Anm. 16, S. 227

19 Ebd.

20 Mays Rechtsanwälte wußten zwar Bescheid und hatten mit Unbehagen die von May in zahlreichen Leserbriefen vorgenommenen erheblichen Retuschen wahrgenommen; aber ihr privilegiertes Wissen kaschierten sie nur notdürftig, als sie bescheinigten, die Urschriften der Briefe seien bei ihnen in Verwahrung; aus beruflich auferlegter Verpflichtung enthüllten sie nichts Weiteres.

21 Schon zwei Jahre zuvor (1899, während seiner Orientreise) ließ May eine (überlange) Replik auf die in der ›Frankfurter Zeitung‹ gegen ihn erschienenen Spottartikel unter dem Namen ›Richard Plöhn‹ in den Zeitungen ›Bayerischer Courier‹ und ›Tremonia‹ veröffentlichen; der Text ist vollständig abgedruckt u. d. T. May gegen


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Mamroth. Antwort an die »Frankfurter Zeitung«. In Jb-KMG 1974. Hamburg 1973, S. 131-152. May scheute sich nicht, den dritten Teil seiner von Selbstlob triefenden Ausführungen mit den Worten zu beginnen: Und dieser so öffentlich an das Kreuz, nein an den Schandpfahl geschlagene Mann ist der frömmste, gläubigste Christ, der edelste, beste Mensch, den es nur geben kann, der durch seinen edlen, wohltätigen Sinn bekannteste Bürger seines Wohnortes ... (S. 145) Daß Richard Plöhn sich bereit fand, seinen Namen dafür herzugeben, legt den Verdacht auf gänzlichen Mangel an Selbstwertgefühl und an ein kaudinisches Joch nahe, in dem er sich gegenüber May befand. (Zum Komplex ›Dankbarer Leser‹ / ›Frankfurter Zeitung‹ / ›Richard Plöhn‹ siehe neuerdings auch Jürgen Seul: Karl May im Urteil der ›Frankfurter Zeitung‹. Materialien zum Werk Karl Mays. Band 3. Husum 2001.)

22 Die Information verdanke ich Elmar Elbs (KMG), Luzern, der zeitgenössische Meldungen über den Wetterumschwung ermittelte.

23 Anleihe bei: Martin Lowsky: Der kranke Effendi. Über das Motiv der Krankheit in Karl Mays Werk. In: Jb-KMG 1980. Hamburg 1980, S. 78-96

24 Siehe Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVIII: Im Reiche des silbernen Löwen III. Freiburg 1902, S. 500-511; Reprint Bamberg 1984.

25 Der Ausdruck meine eigentlichen Werke als Leitbegriff für geplante Arbeiten findet sich im Brief Karl Mays vom 20. Dezember 1908 an Fehsenfeld, zitiert in: Roland Schmid: Anhang (zu ›Im Reiche des silbernen Löwen IV‹). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben Bd. XXIX. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, A 8. Vom eigentlichen, tiefsten Inhalt meiner Reiseerzählungen spricht May in ›Mein Leben und Streben‹ (wie Anm. 6), S. 211, und ebd., S. 310, wünscht er sich, daß ich endlich, endlich Zeit ... gewinne, an mein eigentliches ...»Werk« zu gehen.





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