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ULF ABRAHAM


Der Held als Musterschüler und Oberlehrer
Der Motivkomplex ›Schule - Lernen - Belehren‹ in ausgewählten ›Reiseerzählungen‹ Karl Mays*





Vorbemerkung


Als Fachmann für die Vermittlung von Literatur und literarischer Kompetenz (im Deutschunterricht und anderswo) habe ich gelegentlich Texte von Karl May mit Lernenden gelesen - von der 6. Jahrgangsstufe bis zu ausländischen Studierenden im Rahmen einer Sommerakademie. Immer wieder, besonders im Nachdenken und Diskutieren über die Reiseerzählungen, drängt sich dabei die Frage nach des Erzählers Verhältnis zu Pädagogik und Lehrerrolle auf: Das Folgende versteht sich als Beitrag zur Erhellung eines latenten pädagogischen Diskurses in Texten Mays. Meine Ausgangsfrage lautet also: Wie kommt in den Reiseerzählungen das vor, was scheinbar gar nicht vorkommt, nämlich die leidvolle Erfahrung ihres Autors mit pädagogischen Institutionen? Wie kommt die Schule, die es bekanntlich weder als Lernort noch als Ausbildungs- oder Arbeitsplatz besonders gut mit ihm gemeint hat, in diesen Texten vor, die doch im institutionen- und rechtsfreien Raum einer ›Wildnis‹ angesiedelt scheinen, in der - wie der Held nicht müde wird zu versichern - Schulwissen und Belesenheit nutzlos, ja geradezu schädlich sind? Kann ›Schule‹ da anders als durch Abwesenheit glänzen, kann Belehrung überhaupt stattfinden, wird man da nicht einfach durch Schaden klug?

   Meistens nicht. Meistens findet Belehrung und Unterweisung in Kulturtechniken statt, Prüfung und Fehlernachweis, Benotung und Bestrafung.

   Meistens findet Schule statt.



1. Verdrängte Pädagogik? ›Schule‹ als Metapher und als Lieferant von Strukturmodellen in den Reiseerzählungen


Ich beginne mit einigen Auffälligkeiten in verschiedenen Reiseerzählungen, die auf zwei Ebenen liegen: Erstens kommen ›Schule‹ und ›(Be-)Lehren‹ als Metaphern in Dialogen vor, d. h. als uneigentliche Rede, während es




* Vortrag, gehalten am 21. 9. 2001 auf der 16. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Luzern


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›eigentlich‹ um anderes geht. Und zweitens - das ist vielleicht schwerer zu entdecken, dann aber noch ergiebiger - lassen sich manche Episoden, namentlich bestimmte Handlungsweisen des Helden, überhaupt nur verstehen, wenn man sie auf interaktive Strukturen zurückführt, wie sie die Schule seit bald 200 Jahren hervorbringt: z. B. erzählender Vortrag, gelenktes Lehrgespräch, Strafrede, Prüfungsverhör.

   Im Vokabular des Erzählers, für die Amerika-Romane vielleicht auffälliger als für die Orient-Romane, ist eine Neigung erkennbar, verbale und gelegentlich auch nonverbale Interaktion auf Begriffe zu bringen, die dem pädagogischen Diskurs angehören: So muss der Held etwa im ersten Band von ›Im Reiche des silbernen Löwen‹ die Brüder Snuffle, die natürlich nicht wissen, wen sie vor sich haben, expressis verbis daran hindern ihm »Rat und Unterricht zu erteilen«.1 Eine solche Zurückweisung hätte sich unschwer auch ohne pädagogisches Vokabular formulieren lassen; die gewählte Formulierung hat aber den Vorzug genau zu bezeichnen, was der Held selbst bei der zitierten Gelegenheit und durch die ganze Erzählung hindurch mit den Brüdern tut, die ihm da zugelaufen sind: Er belehrt sie nämlich. Mit anderen Worten: Nicht ein symmetrisches Verhältnis soll hergestellt werden, in dem ›Rat und Unterricht‹ zurückgewiesen werden, sondern eine Asymmetrie zugunsten des Helden ist zu etablieren; ›Unterricht‹ soll ja doch auf Schritt und Tritt stattfinden. Damit das geschehen kann, müssen die Brüder - wie übrigens auch weitere sich einstellende Mitreisende - immer wieder »fehlerhaft denken« und gar »fehlerhaft handeln«.2 Auch der ›Fehlerbegriff‹ im Munde des Ich-Erzählers ist verräterisch. Man sieht, selbst der berühmteste Taschendieb Aegyptens macht Fehler, heißt es im ersten Band von ›Im Lande des Mahdi‹ mit auffälliger Befriedigung.3 Und im gleichen Ton, aber in anderem Kontext:


»Ich scheine nur zu dem Zwecke mit Euch zusammengetroffen zu sein, die fortgesetzten Fehler anderer Leute immer wieder gutmachen zu müssen. Das geschah vom ersten Augenblicke bis jetzt und scheint gar nicht anders werden zu wollen.«4


Es  w i l l  und kann nicht anders werden, weil es das Prinzip ist, nach dem der Held seine eigene Un f e h l barkeit unter Beweis stellt. Die Rede von den Fehlern der andern legitimiert permanente Belehrungen, Zurechtweisungen, Korrekturen sowie vorbeugende Ge- und Verbote. Der Held ist grundsätzlich derjenige, dessen höhere Kompetenz und profundere Kenntnis (der Örtlichkeiten, Sitten, Gebräuche, usw.) ihn dafür prädestiniert, seinen Mitreisenden »Regeln [zu] geben«, wie es an anderer Stelle ausdrücklich heißt.5 Gegen Regeln aber kann verstoßen werden, was Strafpredigten nach sich zieht und im Wiederholungsfalle die Drohung des Ausschlusses aus der Reisegesellschaft: Der Ich-Erzähler droht tatsächlich in hartnäckigen Fällen von Widersetzlichkeit oder Ignoranz damit, die selbstverständlich Hilfsbedürftigen einfach stehen zu lassen. Im pädagogischen


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Diskurs gesagt: Sie würden ›Sitzenbleiber‹. Die meisten der ›Schüler‹, die er sich auf diese Weise zuzieht und zum Zwecke der Belehrung hält, sind zwar nun keine hoffnungslosen Fälle. Bei Adlatus Halef, der wegen seiner Unbeherrschtheit bekanntlich manchen ›Fehler‹ macht, genügt eine sanfte Zurechtweisung, damit er sein Können nicht überschätze: »Du bist damals mein Schüler gewesen, aber nicht bis heut in Uebung geblieben, wirst also wohl von vorn anfangen müssen.«6 Grundsätzlich aber gilt, dass ein Neuling ›unterrichtet‹ werden muss, wie es in ›»Weihnacht!«‹ über den ehemaligen Kellner Rost heißt, der sich Old Shatterhand anschließen durfte, um bei den Indianer die Pflanzenheilkunde zu studieren. Und für selbstverständlich gilt dabei, daß die Rolle des Belehrenden nun einmal mir zugefallen war.7

   Wer also guten Willens ist, kann bei Old Shatterhand in der Schule des Wilden Westens (oder Ostens) etwas lernen; und zwar eben nicht nur ›handlungsorientiert‹ auf dem Weg der Beobachtung und des Mittuns, sondern nicht selten auch auf dem Weg dessen, was die moderne Pädagogik kritisch ›Instruktionslernen‹ nennt, also des umstandslosen Belehrtwerdens. Der dazugehörige Gestus ist selbst dort noch präsent, wo der gerade Belehrte schon längst als unbelehrbar eingestuft ist - wie der eitle und arrogante Kaßim Mirza im Orientteil von Band I des ›Silbernen Löwen‹. Ihm gegenüber tritt die Zurechtweisung als - ironisches - Lob im Ton eines Schulmeisters auf.8

   Soweit es sich nun aber um ernst gemeinte Belehrungen handelt, könnte man versucht sein sie einfach als retardierende Elemente der Handlung zu begreifen, etwa wenn ausgerechnet Halef, der ja doch selbst einem Pferde züchtenden Stamm vorsteht, angesichts eines außergewöhnlichen Anschauungsobjekts einen veritablen Lehrervortrag in Pferdekunde über sich ergehen lassen muss.9 Aber darin erschöpft sich die Funktion solcher Dialogpassagen nicht; und es geht auch nicht an, sie einfach als Zeilenschinderei zu interpretieren und damit zu suggerieren, May habe auf diese Weise das aus Lexika angelesene Wissen druckbogenfüllend zu Dialogen verarbeitet. Zugegeben, die Versuchung ist da, wenn etwa der Junge Adler, ein vielversprechender junger Krieger aus dem Stamm des verstorbenen Winnetou, sich in ›Winnetou IV‹ einen Vortrag seines selbsternannten Mentors Old Shatterhand über indianische Kriegführung anhören muss: Zog man früher in den Krieg, so tat man das in einzelnen Trupps ... (über eine ganze Druckseite in der Freiburger Erstausgabe10). Nun ist natürlich der diesmalige Held, ›Mr. Burton‹ alias Charley May, für den jungen Indianer ein Greis und daher kulturspezifisch eine legitime Quelle des Wissens und der Überlieferung. Trotzdem kann diesem eigentlich nichts von dem neu sein, was er da zu hören bekommt. Wenn er geduldig zuhört, so geschieht das aus Respekt vor seinem Lehrer. Und genau das ist die eigentliche Funktion solcher Belehrungsmonologe (die übrigens nicht selten Bekehrungsmonologe sind): Sie stellen in regelmäßigen Abständen der Handlung die Symmetrie wieder sichtbar her, zeigen den ungeheuren  A b s t a n d


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an Wissen, Erfahrung, Können und daher Befehlsgewalt und Ordnungsmacht.

   Damit habe ich einstweilen nur über die Funktion solcher Elemente eines pädagogischen Diskurses für die  T e x t e,  noch nichts über diejenigen für den Autor selbst gesagt - dazu später. Den Texten aber ist ein solcher Diskurs nun nicht nur unter gelegentlicher Verwendung bestimmter verräterischer Vokabeln eingeschrieben (›Schüler‹, ›Unterricht‹, ›Fehler‹), sondern noch wirkungsvoller dadurch, dass einzelne Interaktionen nach Strukturmodellen aus der Schule ablaufen: So gibt es neben dem einfachen Lehrervortrag (meist über die Verhältnisse im Orient oder im amerikanischen Westen, die entsprechende Landesgeschichte, die Sitten und Gebräuche, seltener auch über geologische oder medizinische Wissensbestände)

-das ›gelenkte Unterrichtsgespräch‹ mit klar erkennbarem Lernziel (etwa im ersten Band des ›Silbernen Löwen‹ zum Widerstand der Indianer gegen die weiße Rasse11)
-den ›Anschauungsunterricht‹ am lebenden oder toten Objekt: ein Tier, ein abgebrochener Ast, ein beschriebenes Totem usw.
-das ›entdeckende Lernen‹: Die Schüler müssen selbst herausfinden, was der Lehrer schon weiß bzw. bereits ›berechnet‹ hat (auch dies eine häufige Vokabel bei May)
-die ›Strafpredigt‹ mit Ausmalen der Folgen, die ein nochmaliges Verstoßen gegen die Schulordnung des Wilden Westens nach sich zöge
-und sogar die Rauferei unter Schülern, sozusagen als Pausenhofinteraktion: Wie anders wolle man interpretieren, dass der Held in ›»Weihnacht!«‹ den alten Lachner, der seinen kränkelnden Neffen - den ehemaligen Klassenkameraden Carpio - zur Schwerstarbeit ins Nugget Hole verschleppen will, nicht nur endlich gefangen nimmt, sondern auf folgende Weise behandelt:
Es widerstrebte mir, mit einem alten und noch dazu mir so widerwärtigen Manne zu ringen, aber um einen langen Wortstreit zu vermeiden und die Sache kurz zu machen, packte ich ihn hüben und drüben fest, hob den wütend mit Händen und Füßen um sich Stoßenden und Schlagenden empor, trug ihn die wenigen Schritte bis hin an den Creek und legte ihn da, so lang er war, ins kalte Wasser, wobei ich seinen Kopf einigemal untertauchte ...12


Sachlich notwendig ist dieses Verfahren keineswegs, es kann auch die verbale Auseinandersetzung nicht überflüssig machen, die danach ja doch geführt wird; es ist nur erklärlich als Aktion des Rachenehmens. Angesichts eines gänzlich Unbelehrbaren wechselt der Lehrer die Rolle und regrediert zum Raufbold.

   Ich belasse es bei diesen Beispielen, habe auch nicht mehr als ein gutes halbes Dutzend Reiseerzählungen auf Einschlägiges hin durchsuchen können; Karl-May-Leser werden unschwer weitere Stellen beibringen, an denen die Schule zum Lieferanten von Interaktionsmodellen wird, d. h.


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die Handelnden sich jeweils so benehmen, als folgten sie dem in der wohlbekannten, in den Texten selbst allerdings mit Ausnahmen nicht thematisierten Institution im späten 19. Jahrhundert Üblichen und Selbstverständlichen: Einer belehrt, bestraft, prüft und bewertet die andern, die ihm an Wissen und Können weit unterlegen sind. Er definiert die Ziele, erklärt die Methoden (Wege) und duldet über beides keine Debatte. Er ist gewissermaßen seine eigene pädagogische Institution; in ihm personifiziert sich die Schule des Lebens auf ambivalente Weise: Während der Lernstoff und die Lernziele ganz anders sind als in der Schule des Buchwissens, sind die Lehrmethoden zum Verwechseln ähnlich: Dem Helden eignet eine unverkennbare Schulmeistermentalität. »Sie scheinen ein Gaudium daran zu finden, andere Leute immer nur zu tadeln«, hält im ersten Band von ›Satan und Ischariot‹ eine aufgebrachte Nebenfigur (der undankbare Haziendero) Old Shatterhand vor.13 Der Mann bringt die Sache auf den Punkt.



2. Schule als prägende Institution und Quelle der Inspiration: Karl May als Schüler und Lehrer-Seminarist


Das war, zugegeben, ein Parforceritt durch die von der Belehrungsobsession des May'schen Helden hervorgebrachte recht eigenartige Vegetation. Wir verlassen jetzt vorübergehend den Wilden West-Osten und befassen uns mit einer Art Parallelwelt, die von Fachleuten für die Geschichte des Schulwesens erforscht wird. Mays eigene Schulzeit fällt bekanntlich in die Jahre zwischen 1848 und 1856. Man hat das 19. Jahrhundert als das »Jahrhundert der Schulen« bezeichnet14 und besonders die Zeit nach dem Revolutionsjahr 1848/49 als die entscheidende Phase einer Konsolidierung und »institutionellen Verselbständigung der Schulerziehung«, betrieben mit einem Eifer, den der Schulhistoriker Gerhardt Petrat »fast neurotisch« nennt. Erstmals, so Petrat, werde die Institution Schule so stark, »daß sie den Verhältnissen gleichsam von einer Gegenwelt aus einen Stempel aufdrücken kann«.15 Das niedere Schulwesen leidet zwar gegenüber dem höheren an einer charakteristischen Verspätung bei der Professionalisierung des Lehrerstandes, hat sich aber ebenfalls schon auf den Weg einer »Verfachlichung des Unterrichts« gemacht.16 Die Volksschule ist, wie Ingmar Winter herausarbeitet, zur Produktionszeit der Reiseerzählungen, also in der entscheidenden Umbruchphase zwischen 1848 und den 90er Jahren dreierlei, nämlich

-›Schule der Armen‹ (will/soll also den Gegensatz zwischen mittellosen und begüterten Schichten durch ›Bildung‹ ausgleichen, allerdings weithin vergeblich)
-›Schule der Kinder‹ (will/soll also den Heranwachsenden aller Schichten jenes Moratorium des Lernens und der persönlichen Entwicklung verschaffen, das bis dahin Privileg der Oberschicht gewesen war)


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-und zunehmend (nach Verbreitung neuer bildungspolitischer und didaktischer Einsichten) ›Schule des Lebens‹ (will/soll also in ihren Unterrichtsgegenständen den Anschluss an Arbeits- und Lebenswelten finden).17


Winter sucht, indem er das feststellt, das »Abbild zeitgenössischer Pädagogik bei Karl May«, aber er sucht es eben als ›Abbild‹, d. h. von einer meines Erachtens problematisch einseitigen Vorannahme aus: »Jede Literatur steht in ihrer Zeit und bildet diese ab (...).«18 Literatur bildet selbst dann, wenn sie sich ›realistisch‹ gibt, nichts ab. Richtiger wäre zu sagen, dass ein Verhältnis  g e g e n s e i t i g e r  Einflussnahme vorliegt: Nicht nur nimmt der literarische Diskurs einer Zeit den pädagogischen auf und antwortet darauf, sondern der pädagogische Diskurs nimmt auch den literarischen auf und antwortet darauf. Wenn das nicht immer bemerkt wird, so deshalb, weil erstens lange Zeiträume darüber vergehen mögen und zweitens die literarische Stellungnahme zum herrschenden pädagogischen Diskurs oft nicht  e i n d e u t i g  ausfällt: Der literarische Text argumentiert ja nicht, sondern entwirft Bilder, und er tut das in Verschränkung verschiedener Diskurse, wie Mays Texte gut zeigen: Neben dem pädagogischen nimmt er besonders den juristischen, den theologischen, daneben aber auch den psychologischen und den medizinischen Diskurs auf. Literatur sagt nicht aus, sondern stellt dar. Und besonders gerne stellt sie, in der Verschränkung der Diskurse,  a m b i v a l e n t e  und  p a r a d o x e  E r f a h r u n g e n  dar - im vorliegenden Fall z. B. die positive und die negative Seite einer starken Lehrerpersönlichkeit, bzw. die paradoxe Aufgabe der Pädagogik schlechthin, in einem  f r e m d b e s t i m m t e n  Lern- und Abhängigkeitsverhältnis selbstbestimmte Persönlichkeiten bilden, durch  Z w a n g  Freiheit befördern zu wollen. Die Spur einer solchen Diagnose der Pädagogik zieht sich durch die Literatur seit der Aufklärung, wie Albrecht Weber in seiner dreibändigen Studie ›Literatur und Erziehung‹ nachgewiesen hat. Im Kapitel über die Lehrerseminare und ihre ›Fiktionalisierung‹ in literarischen Texten19 wird dabei deutlich, dass diese - neben anderen pädagogischen Institutionen mit Internatsbetrieb wie Kloster-, Gelehrten- und Kadettenschulen - erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts von bekannten und unbekannten Autoren aufgegriffen und meist autobiografisch verarbeitet werden. Erich Kästners Wort von der »Lehrkaserne«,20 gemünzt auf das dann abgebrochene Lehrerseminar, fasst den auf die kasernierten Seminaristen ausgeübten Zwang, den herrschenden Drill und systematisch vermittelten Untertanengeist, bündig zusammen. Die Seminare waren Regulative eines begrenzten und damit auch wieder deklassierenden Aufstiegs:


Ganz durch den Zeitgeist der gegenaufklärenden Reaktion geprägt, schloß die Bildungsbegrenzung und strenge Zucht in den Lehrerseminaren eine wissenschaftliche Ausbildung für die Lehrer des Volkes ausdrücklich aus.21


Die »Ungeliebtheit der Lehrerseminare«, so Weber,22 ist vielfältig literarisch dokumentiert - aber eben erst gegen Jahrhundertende, d. h. lange nach


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der Zeit Mays als Seminarist. Einen Abbruch dieser Ausbildung kann  e r   sich im Gegensatz zu Kästner bekanntlich qua Stand nicht leisten, muss vielmehr nach seiner Ausweisung aus dem Lehrerseminar Waldenburg (Januar 1860) angestrengte Versuche unternehmen (lassen), seine Ausbildung woanders beenden zu dürfen - etwa das Gnadengesuch an das Ministerium für Cultus und öffentlichen Unterricht vom 6. 3. 1860, das gleich adressierte des Ernstthaler Pfarrers, das Empfehlungsschreiben des Waldenburger Seminardirektors Schütze an seinen Amtskollegen in Plauen - all das dokumentiert, wie verzweifelt May das Scheitern seiner pädagogischen Karriere zu verhindern suchte.23 Für die mit dieser zunächst einzig denkbaren Aufstiegsorientierung (Volksschüler - Lehrerseminarist - Volksschullehrer) verbundene psychische und physische Qual, für Demütigungen aller Art und für die intellektuelle Unterforderung des begabten Heranwachsenden brauche ich hier keine Belege herbeizuzitieren. Man weiß es, und was man nicht weiß, kann man sich unschwer vorstellen. Ich, der ärmste unter den Schülern, so lautet die bekannte, semantisch geradezu schillernde Selbstbeschreibung des Ich-Erzählers von ›»Weihnacht!«‹24 Dieser Roman, der die reale Parallelwelt der pädagogischen Fantasien der Reiseerzählungen als einziger tatsächlich  t h e m a t i s i e r t,  nämlich in der Wanderung mit dem Klassenkameraden Carpio, zeigt auch am deutlichsten, wie sich die Erfolgs- und Aufstiegsfantasien des Autors nicht nur in einem gleichsam institutionenfreien Erzählraum Amerika/Orient entwickeln, sondern wie sie sich regelrecht  h e r a u s e n t w i c k e l n  aus der fiktionalen Verklärung einer real eher glanzlosen Schülerkarriere. Jene »tiefsten Tiefen der deutschen Schülerseele«,25 auf die der Ich-Erzähler in der Wildwesthandlung des Romans halbironisch zurückblickt, bergen  u n d  verraten das Geheimnis, wie man die Beschädigungen und Beschränkungen autoritärer Schulerziehung in die Unversehrtheit und Freiheit der Selbstbildung umwandelt: May, der Musterschüler der Rhetorik und Poetik, versorgt ja seine 23 Klassenkameraden mit einer Textvorlage für die seinerzeit noch übliche Gedichtdeklamation (»Weihnacht, Gedicht von Karl May«26): »Und im majestätschen Strome / Schwingt sich auf der Chorgesang«.27 Das Kunststück wird möglich, gerade weil der Zwangscharakter der pädagogischen Institution nicht abgelehnt und bekämpft wird (wie später etwa von Kästner), sondern verinnerlicht. Nicht nur die Mitschüler sind zu übertreffen, sondern am besten auch die Lehrer. Andere  b e l e h r e n,  das ist künftig der Gestus, der Erfolg verheißt: Mays Helden nehmen ihn in allen denkbaren Situationen ein, und seine Literatur insgesamt nimmt ihn ja ebenfalls ein - allerdings indem sie Lehrhaftigkeit in Unterhaltung umwandelt. Wenn es vom Weihnachtsgedicht heißt, alle Mitschüler trügen es in ihren Notizbüchern umher, um bei jeder Gelegenheit daraus zu zitieren,28 so ist darin im Kleinen - Literatur in der Literatur - der große Vorgang nachgebildet: das religiöse Lehrgedicht als erbauliche Poesie, didaktische Literatur als Unterhaltungsprogramm.


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   Die Epoche der »institutionellen Verselbstständigung der Schulerziehung« (Gerhardt Petrat) bringt, so betrachtet, in May etwas Paradoxes und Ambivalentes hervor: einen Autodidakten als Resultat von Didaktik, einen zwanghaften Belehrer als Ergebnis gescheiterter Lehrerbildung. Indem er seinen Helden fortwährend gerade als pädagogisches Vorbild und als Bewahrer von Zucht und Ordnung obsiegen lässt, schweigt unser Autor sozusagen beredt davon, wie er als Schüler und Seminarist Opfer solcher Zucht und Ordnung war und wie er im Übrigen als Sohn seines ehrgeizigen Vaters Opfer enzyklopädischer Wissenseintrichterung wurde. Der Held, der alles weiß, alles kann und beiläufig alle anderen erzieht, notfalls aber ›sitzen lässt‹: das ist Mays Antwort auf den pädagogischen Diskurs seiner Zeit. Es ist eine Antwort der überbietenden Aneignung. Auch für sie gibt es eine schöne fiktionale Miniatur, nun aber nicht im Werk, sondern im Leben des Autors: Gerade als ›Seminarlehrer Ferdinand Lohse‹ entwendet er im Dezember 1864 dem Kürschnermeister Nappe seine Pelze. Der Wolf im Schafspelz der zeitgenössischen Pädagogik, könnte man es schöner sagen?



3. Heldentaten, die ›Schule machen‹: Der Held als Musterschüler und Oberlehrer


Dass der Held von ›»Weihnacht!«‹ »die Riten der Schul- als einer Disziplinargesellschaft« mit hinüber nach Amerika nimmt, hat vor längerem schon Gerhard Neumann festgestellt: Der Roman schildere den »Übergang von der ›Schule der Kindheit‹ in die ›Schule des Lebens‹«.29 Nicht eine gänzlich neue, anders geartete Ordnung werde als diejenige des Wilden Westens dabei präsentiert, sondern eine »Umkodierung«30 der Rituale und Ordnungsformen europäischer Erziehungsanstalten. In ›»Weihnacht!«‹ geschehe die Aufnahme des Novizen in diese Schule des Lebens durch Aufnahmeprüfungen in vier ›Fächern‹: Beschleichen und Belauschen, Heben und Werfen, Schießen und Treffer-Erzielen sowie Züchtigen.31 Alsbald, so Neumann, habe der junge Karl nicht nur diese Prüfungen alle bestanden, sondern sei, nunmehr als ›Old Shatterhand‹, »in den Rang des Lehrers aufgestiegen«.32 Dass in diesem Zusammenhang die Kunst des  L e s e n s  von zentraler Bedeutung ist, wird von Neumann ausführlicher belegt, als ich hier nachvollziehen kann. Der Held liest nicht nur alles im Sinn einer Kulturtechnik Lesbare (etwa Totems), sondern er ›liest‹ auch Fährten und Spuren aller Art mit einer Unfehlbarkeit, die seine Meisterschaft in der Schule des Lebens erweist.33 Ja, es ist eine veritable  H o c h schule des Lebens: »Ja, das richtige Spurenlesen im Wildwest ist eine Wissenschaft, gradezu eine Wissenschaft, über die es freilich keine Lehrbücher und auch keine Lehrstühle giebt«, erklärt der Held dem Studenten der Pflanzenheilkunde Rost in ›»Weihnacht!«‹.34 Noch im zweiten Band des ›Silbernen Löwen‹ heißt es ganz ähnlich: »Das Lesen der Fährten ist höchst interessant, aber auch nicht leicht. Es bildet geradezu eine Wissenschaft,


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welche studiert werden muß.«35 Die ›Umkodierung‹, von der Neumann sprach, wird hier - ausnahmsweise - relativ unverstellt sichtbar. Die in den Erziehungsanstalten der Alten Welt vermittelte Kulturtechnik erscheint gleichsam als verfeinert und renaturiert, bezieht sie sich doch auf Spuren in der Natur statt auf dem Papier. Absichtliche Spuren (Totemzeichnungen) erfasst sie ebenso wie unabsichtliche (umgeknickte Grashalme, abgebrochene Zweige) sowie, besonders raffiniert, absichtlich unkenntlich gemachte unabsichtliche Spuren. Die dem Ex-Kellner Rost erteilte Einführung in diese Wissenschaft macht im Übrigen auch deutlich, dass nicht nur das Lesen hier renaturiert wird, sondern auch eine weitere Kulturtechnik der guten alten Volksschule: »Das ist ja eine ganze Menge von Dingen, die man dabei zu berechnen hat!«36 Tatsächlich ist der Held, auch wenn dies meist weniger ausdrücklich gesagt wird als an dieser exemplarischen Stelle, nicht nur dauernd am Lesen, sondern auch am Rechnen. Berechnet werden müssen z. B. ständig Entfernungen, verbrauchte Zeiträume bei ihrer Zurücklegung, die Anzahl der Feinde und daraus die der für ihre Niederwerfung erforderlichen Freunde. Überhaupt ist mit allem Möglichen stets zu  r e c h n e n!  Die Versicherung aus dem zweiten Band von ›Satan und Ischariot‹, Winnetou und Old Shatterhand zählten niemals ihre Gegner,37 sollte niemanden darüber täuschen, wie sehr die Rechenkünste vor allem des Ich-Erzählers immer wieder herausgestellt werden. So wird per Kontrast gelegentlich darauf hingewiesen, dass andere erbärmlich schlechte Rechner sind, z. B. die Safranschmuggler im ›Silbernen Löwen‹, denen ihr Anteil am Gewinn nicht in summa, sondern pro Beutestück ausbezahlt werden muss: Diese Leute waren keine geschulten Rechner ...38

   Eine dritte wohlbekannte Kulturtechnik, seit Alters her in ›europäischen Erziehungsanstalten‹ vermittelt und vervollkommnet, schließlich ist diejenige der  R h e t o r i k.  Nicht nur ein Meister des Lesens und Rechnens, sondern auch ein Meister der Rede ist nämlich hier am Werk. Wie sich der junge Schüler-Held in ›»Weihnacht!«‹ als Meister der Rhetorik und Poetik erweist, wurde schon erwähnt. Es genügt jetzt im Sinne der ›Umkodierung‹ auch dieser Kulturtechnik hinzuzufügen, dass jene Lehrervorträge und Beispiele anschaulichen Unterrichts am Gegenstand, die in alle Reiseerzählungen eingeflochten sind und ethnologische, religiöse oder sachkundliche Belehrung anstreben, nicht selten Meisterstücke geschliffener Rhetorik sind. Zaudernde sind anzufeuern, Zweifelnde zu überzeugen, Unwissende und Vorurteilsbeladene aufzuklären, manchmal ist auch Unmoral, Unglaube oder Banausentum anzuprangern - alles genuine Aufgaben der Rhetorik. »Rhetorik bei Karl May: man braucht wahrhaftig nicht lange danach zu suchen«, schrieb Gert Ueding im einzigen mir bekannten Beitrag zu diesem Thema. Und er fährt fort:


Es genügt, einen beliebigen Band aufzuschlagen, und sofort gerät man mitten in ein Bekehrungsgespräch, eine Verteidigungs- oder Anklagerede, da wird beraten


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und überredet, schwadroniert und palavert, appelliert und verhandelt (...). Keine Redegattung, die fehlte: orientalisch drapierte Gerichtsreden, Beratungsreden unter Stammesältesten oder Westmännern, feierliche Festansprachen und rührende Predigten, Kriegsreden und Friedensverhandlungen - für jede Kategorie gibt es Beispiele genug, und man könnte ein Lehrbuch allein mit ihnen illustrieren, ohne eine Lücke lassen zu müssen.39


Uedings Aufsatz, auf den ich hier nur hinweisen kann, ohne seine Argumentation referieren zu können, sucht mit vollem Recht die »Wurzeln« dieser auffälligen Rhetoriksättigung in Mays


(...) Schüler- und Lehrerausbildung. Beides, den Ludergeruch des Paukers, der immer alles besser weiß und jeden Zuhörer oder Leser in die enge Schulbank von dazumal drückt, und die ›imago‹ des geliebten und verehrten Pädagogen, der seinen Schülern das Leben aufschließt (...), ist May niemals losgeworden (...).40


Was Ueding dann weiter schreibt, bestärkt mich in dem Verdacht, dass die ›Umkodierung‹ von Kulturtechniken keinen anderen Zweck hat als den, der genossenen bzw. erlittenen Seminarausbildung und dem dabei verinnerlichten Ideal des umfassend gebildeten Volksschulmannes sozusagen posthum, also nach dem Scheitern der pädagogischen Karriere, einen höheren Sinn abzugewinnen. In Ermangelung erziehbarer Schüler wird der Leser zum Edukanden ernannt; und in Verlegenheit um reale Anwendbarkeit der gemeisterten Kulturtechniken und der erworbenen Didaktik ihrer Vermittlung werden sie zum pädagogischen Programm der Reiseerzählungen gemacht. Der Held muss vom Meisterschüler zum Oberlehrer aufrücken und seinem Schöpfer einen Verlust und ein Guthaben umwandeln.


Noch seine oftmals so anstößig in Szene gesetzte Vielwisserei, die umfassende Bildung, die er seinen Spiegelfiguren Old Shatterhand oder Kara Ben Nemsi zuschreibt, verraten als wahren Urheber den Volksschullehrer, der sich im Gesangbuch ebenso auskennt wie im Erdkundeatlas, für Sprach- und Sachunterricht gleichermaßen präpariert sein muß und also vom Kopfrechnen bis zur Bürgerkunde, von der Naturgeschichte bis zur Vaterlandslehre, vom Zeichnen bis zur Weltgeschichte, von der Bibelkunde bis zur Rechtschreibung alle wichtigen Grundeinsichten in die vielfältigen Bereiche des Lebens und der Welt zu vermitteln hatte.41


Die Kulturtechniken des ›Wilden‹ West-Ostens: Der Held kann (und lehrt) ...


LESEN:RECHNEN:REDEN:
arabische Schrift und indianische Zeichen lesen,
Totems entziffern
Spuren lesen
...
Entfernungen berechnen
mit dem Gegner rechnen
Feinde zählen
...
Zaudernde anfeuern
Zweifelnde überzeugen
Unwissende aufklären
Schuld nachweisen
Unmoral anprangern
...


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Es sei nochmals betont, dass im Sinn meiner Ausgangsthese kein simples Abbildverhältnis vorliegt (die Reiseerzählungen bilden nicht einfach Schulsituationen nach), sondern ein Verhältnis gegenseitiger Einflussnahme: Der literarische Diskurs, durchsetzt von Kulturtechnikbeherrschung und gesättigt mit den Wissensbeständen seminaristisch erworbener und autodidaktisch überbotener Allgemeinbildung, stellt einen Kommentar zum zeitgenössischen pädagogischen Diskurs bereit: Nicht für die Schule lernen wir (auch nicht als angehende Volksschullehrer), sondern das Leben meistern könnten wir mit Hilfe des Erlernten - wenn man uns denn ins Leben entließe, statt uns zu bevormunden.

   Umgekehrt als Kommentar zur Literatur Mays lesen lässt sich aber auch der pädagogische Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der die Volksschule als Anstalt der Volks-Bildung und das Lehrerseminar als Anstalt der Volksschul-Lehrerbildung etabliert, und zwar beides in der Paradoxie einer fremdbestimmten Selbstbildung, die Aufstieg aus der Unterschicht verheißt und dabei doch klar begrenzt. Der Volksschullehrer soll Garant einer vaterländischen und nicht zuletzt christlichen Gesinnungsbildung des Volkes sein und  n i c h t  dessen Emanzipator und Befreier aus selbstverschuldeter Unmündigkeit; einschlägiges Misstrauen gegen einen Lehrerstand, der tatsächlich oder angeblich nicht mehr staatstragend sei, zieht sich bis in die berüchtigte Schulkonferenzrede Kaiser Wilhelms im Dezember 1890.42 May nimmt sehr selten  a u s d r ü c k l i c h  zu Fragen der Volks- und Lehrerbildung Stellung; er redet aber trotzdem eigentlich dauernd davon, führt nämlich den paradoxen Auftrag, den der Staat seinen Lehrern erteilt, ad absurdum, indem er seine einfache Erfüllung noch überbietet: Man muss schon May heißen, genauer eigentlich ›Karl der Deutsche‹, um  d a s  wirklich zu leisten. Dann aber darf man gelegentlich sogar die Maske ein wenig lüpfen und den Leser einen kurzen Blick dahinter werfen lassen: So, wenn Kara Ben Nemsi ›Im Lande des Mahdi‹ seinen interkulturellen Dialog mit einem gebildeten, mächtigen Mohammedaner (dem Reis Effendina) durch die Bemerkung kommentiert: Man ist nicht Lehrer, nicht Missionar durch Worte allein; man lehrt auch durch die That ...43



4. Resümee: Das bestandene Abenteuer als bestandene Prüfung oder Die Fortsetzung der Schule mit anderen Mitteln


»Gehen Sie doch einmal hinüber nach Deutschland, um zu erfahren, daß dort jeder Knabe mehr weiß und mehr gelernt hat, als Sie in ihrem ganzen Leben jemals wissen und lernen werden!« So emphatisch wird in ›Satan und Ischariot‹ die pädagogische Wirklichkeit, die dem Autor doch wohl bekannt ist, schön geschrieben.44 Was geschieht hier eigentlich, vor dem Hintergrund des bisher Gesagten wohl bedacht? Es soll, nach vollzogener Umkodierung, etwas  g e l ö s c h t  werden, nämlich die demütigende Herkunft der diszipli-


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narisch geordneten Schul-Welt des Wilden West-Ostens aus der Erfahrung des  S c h e i t e r n s  an der Schule der Alten Welt. Die vom Oberlehrer und Ex-Musterschüler Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi angeführte, durch Prüfung und Ausstoßung, Belohnung und Strafe disziplinierte Lerngruppe erfährt sporadisch nur soviel von der Schule der Alten Welt, dass man sich ein Beispiel an ihr nehmen könne. Wie ambivalent dieses Beispiel sich erwiese, wollte man ihm nachsinnen, und wie wenig autonom und souverän der Lehrer solcher Schulen, darüber wird beredt geschwiegen.


Wenn man rückblickend Mays Schüler- und Lehrerzeit (1848-1861) überschaut, war der Unterricht geprägt von strenger Zucht unter geistlicher Schulaufsicht, der auf die Bedürfnisse des Kindes keine Rücksicht nehmen wollte.45


Dagegen May: »ein Lehrer zu sein, ist ein hochwichtiger, ein heiliger Beruf!«46 Helmut Schmiedt kommentiert: »Mag an dem pädagogischen Erfolg im Hinblick auf das Publikum auch einiger Zweifel bestehen, so sind die Wirkungen auf die Begleiter des Helden unübersehbar (...).«47 Mit anderen Worten: der Lehrer braucht Schüler.

   Das bestandene Abenteuer als bestandene Prüfung: Das »geistige Schmugglerprogramm«,48 das nach Löschung dieser Genese die heimliche Umwandlung der Pädagogik in Literatur organisiert, besteht darin, immer wieder jedes bestandene Abenteuer als bestandene Prüfung zu feiern, links und rechts des Weges, den die Handlung geht, jedes halbwegs geeignete Objekt zum anschaulichen Unterricht zu nutzen und jeden nicht völlig Unbelehrbaren eines Besseren, Genaueren, Richtigeren zu belehren. Kurz: es besteht darin, die Fortsetzung der Schule mit anderen Mitteln zu betreiben. Ist der Leser zu erziehen, so geht die Klassenstärke gegen unendlich, und die Lehrprobe wird eins mit dem Lebenswerk. »Der noch sehr junge Lehrer hat kein übles Lehrgeschick aber ist noch sehr haltlos«, gibt ein Superintendent Kohl bei einer Schulrevision 1861 in Altchemnitz zu Protokoll.49 Er spricht vom Fabrikschullehrer Karl Friedrich May in dessen letzter pädagogischer Anstellung vor der Streichung aus der berüchtigten Kandidatenliste. Den ›Halt‹ sucht sich der Pädagoge dann, wie bekannt, in einer anderen Domäne. Das ›Lehrgeschick‹ dürfen wir ihm auch in dieser attestieren.



1 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVI: Im Reiche des silbernen Löwen I. Freiburg 1898, S. 212; Reprint Bamberg 1984

2 Ebd., S. 237

3 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVI: Im Lande des Mahdi I. Freiburg 1896, S. 125; Reprint Bamberg 1983

4 May: Im Reiche des silbernen Löwen I, wie Anm. 1, S. 254

5 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 8: In den Cordilleren. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 85

6 May: Im Reiche des silbernen Löwen I, wie Anm. 1, S. 402


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7 Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. IV Bd. 21: »Weihnacht!«. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Zürich 1989, S. 272

8 May: Im Reiche des silbernen Löwen I, wie Anm. 1, S. 417

9 Vgl. ebd., S. 361f.

10 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXXIII: Winnetou IV. Freiburg 1910, S. 358; Reprint Bamberg 1984

11 May: Im Reiche des silbernen Löwen I, wie Anm. 1, S. 254f.

12 May: »Weihnacht!«, wie Anm. 7, S. 314f.

13 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XX: Satan und Ischariot I. Freiburg 1897, S. 516; Reprint Bamberg 1983

14 Ulrich Seidelmann: Ausdifferenzierung eines mehrgliedrigen Schulwesens im Thüringer Kulturgebiet im 19. Jahrhundert. In: Deutschunterricht und Deutschlehrerausbildung im 19. Jahrhundert in Thüringen. Hrsg. von Hartmut Frentz/Horst Ehrhardt. Frankfurt a. M. 2000, S. 224-257 (231)

15 Gerhardt Petrat: Schulerziehung. Ihre Sozialgeschichte in Deutschland bis 1945. München 1987, S. 143

16 Ebd.

17 Vgl. Ingmar Winter: »Der Unterricht war kalt, streng, hart.« Das Abbild zeitgenössischer Pädagogik bei Karl May. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1988. Husum 1988, S. 292-321.

18 Ebd., S. 293

19 Albrecht Weber: Literatur und Erziehung. Lehrerbilder und Schulmodelle in kulturhistorischer Perspektive. Bd. II. Frankfurt a. M.1999, S. 509ff.

20 Zit. nach ebd., S. 512

21 Vgl. Hans Georg Herrlitz/Wulf Hopf/Hartmut Titze: Deutsche Schulgeschichte von 1800 bis zur Gegenwart. Eine Einführung. 2., durchgesehene Aufl. Königstein/Ts. 1986, S. 42.

22 Vgl. Weber, wie Anm. 19, S. 514.

23 Vgl. Der Seminarist und Lehrer Karl May. Eine Dokumentation der Aktenbestände. Hrsg. von Klaus Ludwig und Bernhard Kosciuszko. Hamburg 1999.

24 May: »Weihnacht!«, wie Anm. 7, S. 10

25 Ebd., S. 146

26 Ebd., S. 23

27 Ebd., S. 17

28 Ebd., S. 23

29 Gerhard Neumann: Das erschriebene Ich. Erwägungen zum Helden im Roman Karl Mays. In: Germanistik in Erlangen. 100 Jahre nach der Gründung des Deutschen Seminars. Hrsg. von Dietmar Peschel. Erlangen 1983, S. 335-363 (338f.); Nachdruck im Jb-KMG 1987. Husum 1987, S. 69-100 (73)

30 Ebd., S. 340 (Jb-KMG S. 74)

31 Ebd., S. 340f. (Jb-KMG S. 74-76)

32 Ebd., S. 342 (Jb-KMG S. 76)

33 Zum Spurenlesen vgl. auch Walther Ilmer: Karl Mays Weihnachten in Karl Mays ›»Weihnacht!«‹ II. Eine Spurenlese auf der Suche nach Fährten. In: Jb-KMG 1988. Husum 1988, S. 209-247; Ingmar Winter: »Bin doch ein dummer Kerl«. Vom Spurenlesen beim Spurenlesen. In: Jb-KMG 1987. Husum 1987, S. 47-68.

34 May: »Weihnacht!«, wie Anm. 7, S. 266

35 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVII: Im Reiche des silbernen Löwen II. Freiburg 1898, S. 102; Reprint Bamberg 1984

36 May: »Weihnacht!«, wie Anm. 7, S. 266

37 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXI: Satan und Ischariot II. Freiburg 1897, S. 161; Reprint Bamberg 1983

38 May: Im Reiche des silbernen Löwen II, wie Anm. 35, S. 310


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39 Gert Ueding: »Howgh, ich habe gesprochen«. Beredsamkeit in der Fremde: Mays Rhetorik. In: Jb-KMG 1996. Husum 1996, S. 109-131 (109)

40 Ebd., S. 113f.

41 Ebd., S. 114

42 Petrat, wie Anm. 15, S. 231ff.

43 May: Im Lande des Mahdi I, wie Anm. 3, S. 152

44 May: Satan und Ischariot I, wie Anm. 13, S. 405

45 Winter: »Der Unterricht war kalt, streng, hart«, wie Anm. 17, S. 307

46 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893, S. 153; Reprint Bamberg 1982

47 Helmut Schmiedt: Karl May. Leben, Werk und Wirkung. Frankfurt a. M. 31992, S. 97

48 Ueding, wie Anm. 39, S. 116

49 Der Seminarist und Lehrer Karl May, wie Anm. 23, S. 355; vgl. auch Hans-Dieter Steinmetz/Andreas Barth: Lektionsbuch und Schulrevisionsbericht. Zu zwei Dokumenten aus Karl Mays Tätigkeit als Fabrikschullehrer. In: Jb-KMG 1999. Husum 1999, S. 11-43 (23).




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