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Andenken an Hansotto Hatzig





Wenn einen bestimmte Autoren, bestimmte Werke, kulturelle: literarische, filmische, bildnerische, musikalische, ein Leben lang begleiten trotz aller angreifenden Störung, sie einem Trost spenden gegen alle Widerlichkeiten der Existenz, dann hat man's doch einigermaßen gut getroffen mit seiner oft nicht sonderlich selbstentschieden erscheinenden Lebens-Wahl.

   Hansotto Hatzig, der am 24. April 2001 im 82. Lebensjahr plötzlich verstarb und der Karl-May-Gesellschaft seit ihrer Gründung 1969 in mehreren entscheidenden Funktionen jahrzehntelang und bis zu seinem Tode verbunden war, hatte - und er selbst äußerte im Gespräch mit Freunden oft genug dankbares Erstaunen darüber - in diesem Sinne angesichts der Zeit- und Lebensumstände, denen er ausgesetzt war, es letztendlich bemerkenswert gut getroffen: Mit nur durchs eigene Temperament gestörter Muße konnte er sich neben seiner Berufstätigkeit als Redakteur in einem großen pharmazeutischen Unternehmen seinen geistigen Tröstungen hingeben - der lebenslangen Arbeit am Textmaterial seiner geliebten Autoren, allen voran Karl May; dann seiner Leidenschaft fürs Filmische und fürs Theater. Hätten ihn mehr auf der Bühne erleben können nach einem Schauspielstudium 1946, wären Respekt und Hochachtung vor seiner Leistung als Mime gewachsen und hätten sich ins Angemessene gefunden. So hatten ihn im Grunde zu wenige während der sechziger Jahre als ›Eingebildeten Kranken‹, im ›Zerbrochnen Krug‹, in Stücken von Tchechov und Kishon erleben können, wenn er mit dem Kammerspielkreis Mannheim-Ludwigshafen, im Theater der Jugend Mannheim oder mit dem Märchentheater Kurpfalz auf der Bühne stand, oft auch vor sozial Ausgegrenzten spielend.1

   Der darin sichtbar werdende autodidaktische Idealismus hatte seine Wurzeln bei Karl May, in dessen anrührend-naiver, aus dem Christentum ebenfalls autodidaktisch, das heißt heterodox entwickelter Liebes-Ethik, wie sie vor allem die späten Werke propagieren. Bereits als Gymnasiast (Abitur 1938) trug Hansotto Hatzig, wie er Vertrauten in späten Jahren gerne mitteilte, den Spitznamen ›der Karl-May-Christ‹ aufgrund entsprechender Referate, Äußerungen und Verhaltensweisen.

   Bewahrt hat er sich diesen, den meisten zu Unrecht kindlich erscheinenden Idealismus (warum herrscht denn Thanatos und nicht Eros?) bis zuletzt, doch stets verschattet durch die selbst erlittenen existentiellen Grenzsituationen in all ihrer Schärfe - Glück im Schmerz, verwundet dem Kessel von Stalingrad entronnen zu sein, Monte Cassino überlebt und,


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wenn man das so sagen darf, dabei die italienische Sprache und einige ihrer Dichter entdeckt zu haben.

   Kultur war ihm Halt und Rettung sein Leben lang, auch nach dem für ihn so schmerzlichen Tod seiner Frau Inge im Jahr 1987, mit der er vierzig Jahre verbunden war und die ihm sein Leben zu leben in großer Liebe fürsorglich leichter gemacht hatte.

   Trauerarbeit, in Worte gefaßt, war das, was ihm zu leisten übrig blieb, immer wieder:

   Gegen den kollektiven Tod und die allgemeine Zerstörung im Zweiten Weltkrieg (›Das russische Jahr‹, eine Sammlung von Gedichten, 1955 erschienen als »Dokument menschlicher Sehnsucht« nach Friede und Schönheit, wie der Vorspruch verdeutlicht).

   Gegen den Tod der ersten von drei Töchtern nach nur neun Lebensmonaten (›Requiem für Angelika‹, dessen letzte Zeilen ihm von seinen Anverwandten auch nach seinem Tode nachgerufen wurden: »Irgendwo im All der Welt / lebst du - / irgendwo -«).

   Gegen den Tod seiner Frau, der er lange, seiner Sehnsucht gemäß, fast wie Orpheus seiner Eurydike, in seinen Träumen zu folgen und sie, zunehmend resignierend, aber begleitet meist von tröstenden Worten Karl Mays, zurückzuholen suchte - die Träume zeichnete er aus der Erinnerung in über zwanzig Heften auf, die er den Nächsten, die ihn in seinen letzten anderthalb Lebensjahrzehnten begleiteten, zukommen ließ.

   Trauerarbeit war aber auch das, was er, datenregistrierend, in großer Arbeit für das kollektive Gedächtnis seiner zweite Heimat gewordenen Region leistete: die ›Chronik der Ärzte Mannheims. 350 Jahre Medizin in der Stadt der Quadrate‹, deren Gesamtredaktion ihm oblag und die, fast 500 Seiten stark, 1978 zum 81. Deutschen Ärztetag erschien und für die er 1982 die Oskar-Barber-Medaille verliehen bekam. Es folgte noch die Fragment gebliebene ›Chronik der Ärzte Heidelbergs‹ (1985). Mitgearbeitet hatte er auch an der Schrift ›Albert Fraenkel. Arzt und Forscher‹ (1963, 21964), die diesen Begründer der intravenösen Strophantintherapie, diesen »Arzt großen Stils« (den als solchen Hermann Hesse liebevoll würdigte) unter anderem in seiner Korrespondenz-Beziehung zu Karl Jaspers, Albert Schweitzer und zu Hansotto Hatzigs Schwiegervater Fritz Johannessohn zeigt, den wissenschaftlichen Leiter der Firma Boehringer Mannheim.

   Hansotto Hatzigs Vater war Apotheker - so schließt sich der Kreis: Das Thema der Menschenheilung war Hansotto Hatzig gewissermaßen urvertraut, und so nimmt es nicht wunder, daß einer seiner ersten Beiträge für die ›Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft‹ Karl May und Albert Schweitzer galt (Nr. 3, März 1970, S. 3-7) und ebenso einer seiner letzten (›Liebe und Versöhnung oder Das Programm Albert Schweitzers. Träume von einer Erlösung‹ im 1995 erschienenen Sammelband ›Karl Mays »Old Surehand«‹, herausgegeben von Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer, die er - auch dies einer seiner wertvollen Charakterzüge - bestärkte, bereits in jungen Jahren zur May-Forschung beizutragen).


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   Der Humanitas galt überhaupt zeitlebens sein Sehnen und Streben. Zeugnis davon legen, wenn nicht unmittelbar, so doch mittelbar die meisten seiner Beiträge zur Karl-May-Forschung ab. Ob Hansotto Hatzig sich der Beziehung der Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner zu Karl May widmete (im Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft von 1971) oder monographisch umfassend Mays Freundschaft mit dem Maler Sascha Schneider (Beiträge zur Karl-May-Forschung, Band 2, 1967) darstellte, ob er registrierend die Textvarianten von Mays ›Et in terra pax‹ mit ›Und Friede auf Erden!‹ auflistete (Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1972/73, S. 144-170), oft genug stand die Sehnsucht nach Ausgleich zwischen den antagonistischen Strebungen des Menschen im Zentrum seiner Bemühungen, welche sich philologischer Gewandung bedienten.

   Nachdem Hansotto Hatzig 1950 in die Pressestelle der Firma Boehringer Mannheim (heute Roche Diagnostics) eingetreten war, wo er später zeitweise nicht nur an der Seite von Hoimar von Ditfurth, sondern auch des jüngst verstorbenen großen Essayisten und May-Forschers Wolf-Dieter Bach arbeitete, begann er sich in der verbleibenden Zeit literarisch wie philologisch zu betätigen. Eine Reihe von Gedichten und kurzen Erzählungen, gelegentlich unter dem Pseudonym Otto Baders (der Zuname nach dem Ort Badersleben, wo Hatzig am 29. November 1919 geboren wurde), entstand im Laufe von rund einem Jahrzehnt und wurde in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Gegen Ende der fünfziger Jahre erschien auch sein erster Beitrag zur Karl-May-Forschung, und zwar 1958 in der 21. Auflage des Bandes »Ich«. ›Schrifttum um Karl May‹ ist er betitelt, eine kommentierte Datensammlung zu Mays Wirkung, in ihrer aufzählend-registrierenden Form charakteristisch für Hansotto Hatzigs bevorzugte Umgangsweise mit Texten.

   Ebenfalls in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre setzte seine lange Jahre währende und nie genug zu rühmende Tätigkeit ein, Mays wahrhaft umfangreiches Werk leichter durchdringbar zu machen durch ein kombiniertes Namen- und Sachregister, verbunden mit einer Blütenlese ›schöner‹ oder auffälliger Stellen. Eine Veröffentlichungsmöglichkeit bot sich allerdings erst nach Gründung der Karl-May-Gesellschaft. Ein erstes Register wurde beim Auftakt der ›Jahrbuch‹-Reihe 1970 abgedruckt, und von 1978 bis 1986 erschienen peu à peu 15 Sonderhefte der Karl-May-Gesellschaft mit den das erzählerische Gesamtwerk Mays nahezu komplett erschließenden Verzeichnissen. Als 1995 die ›Register zu Karl Mays Reiseerzählungen‹ in einer korrigierten und erweiterten einbändigen Ausgabe in der Reihe der ›Materialien der Karl-May-Forschung‹ herauskamen, konnte dieser Band sehr zu Recht als ehrende Festgabe anläßlich Hansotto Hatzigs 75. Geburtstag bezeichnet werden.

   Als weiterer Schwerpunkt seines mit ungewöhnlicher persönlicher Bescheidenheit gepaarten Schaffens ist Hansotto Hatzigs redigierender Fleiß zu nennen, den er für die Sache Karl May über vierzig Jahre lang unermüd-


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lich aufbrachte - eine Leistung ganz besonderer Art. Zunächst stellte er ihn in den Dienst von Mays Alterswerken.2 Dann gehörte er dem Redaktionsstab des ersten ›Jahrbuchs der Karl-May-Gesellschaft‹ an. Und ab Nr. 11 der ›Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft‹ (März 1972) zeichnete er bis zur Nr. 120 (Juni 1999) als ihr Redakteur verantwortlich, ebenso für weit über hundert Sonderhefte der Karl-May-Gesellschaft, die ab 1972 zu erscheinen begannen. Eminent war das Ausmaß der für diese beiden geliebten Objekte zu bewältigenden, auch internationalen Korrespondenz, und immer wußte Hansotto Hatzig für ›sein‹ Periodikum auch aus Briefen Mitteilenswertes umzuschöpfen zu Miszellen und Marginalien. Für viele war er erster Ansprechpartner, wenn es um Karl May ging; viele, zumal junge förderte er und regte sie zu ersten Beiträgen im Forum der ›Mitteilungen‹ an. In tiefer Dankbarkeit werden seiner insbesondere zahlreiche mittlerweile gestandene May-Forscher und -Forscherinnen für dieses alles andere als selbstverständliche Verdienst gedenken.

   Hansotto Hatzigs philologischer Forscherdrang erlahmte mit der Übernahme der beiden Redaktionen keineswegs. Ob Erläuterungen und Kommentare zur Biographie Mays, ob Darstellungen zur Werkerhellung, ob Einführungen zu Reprints der Originaltexte Mays, ob Handbuchartikel, ob Miszellen oder längere Untersuchungen, ob Anthologien oder Filmographien - die Liste seiner Beiträge ist lang und deren informativer Gehalt in der Summe enorm. Auf Karl May konzentrierte er sich jedoch nicht ausschließlich; zu erinnern ist vor allem an seine Bemühungen um das Nicht-Vergessen der jung, mit siebzehn Jahren verstorbenen Lyrikerin Elisabeth Kulmann (1808-1825), die in russischer, deutscher und französischer Sprache dichtete, Kenntnisse in dreizehn Sprachen hatte und sich in acht geläufig zu bewegen wußte. Hansotto Hatzig brachte unter dem Titel ›Mond, meiner Seele Liebling‹ 1981 eine Auswahl ihrer Gedichte heraus. Ebenso setzte er sich für Emilio Salgari (1862-1911) ein, den italienischen Karl May. Zeugnis von Hatzigs Engagement legt in diesem Fall sein Biographie wie Bibliographie umfassender Beitrag im ›Lexikon der Reise- und Abenteuerliteratur‹ (1. Ergänzungslieferung / März 1989) ab.


   Die Karl-May-Gesellschaft, deren stellvertretender Vorsitzender Hansotto Hatzig von 1983 bis 1995 war und zu deren Ehrenmitglied er danach ernannt wurde, verdankt ihm unendlich viel. Als kleines Zeichen unserer Dankbarkeit wollen wir ein Bändchen mit seinen meist von einer ›May-Aura‹ umgebenen frühen feuilletonistischen Beiträgen aus den fünfziger und sechziger Jahren sowie einer Personalbibliographie in der von ihm so lange und mit nimmermüdem Enthusiasmus betreuten Reihe der ›Sonderhefte der Karl-May-Gesellschaft‹ herausbringen. Und als Einstimmung hierzu möge der anschließende Abdruck seines Artikels aus Anlaß von Mays 50. Todestag dienen, den die ›Fuldaer Volkszeitung‹ am 30. 3. 1962 veröffentlichte. Er führt uns in jene Zeit, da von der ›literarischen Wert-


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haltigkeit‹ Mayscher Produkte, außer durch Arno Schmidt, kaum die Rede war und letzterer zusammen mit Hans Wollschläger und Hansotto Hatzig noch an der Entschlüsselung von Mays sehr spezieller Form von Symbolik tüftelte und herumprobierte, sie mühsam nach unbearbeiteten Ausgaben und so gut wie unauffindbaren Erstdrucken fahnden mußten und überhaupt die Karl-May-Forschung, so wie wir sie heute kennen, langsam erst zu entstehen begann.

   Der Auftakt, den Hansotto Hatzig für seine Darstellung der ›Wende‹ wählte, sollte im übrigen auch der Auftakt sein in Hatzigs damals geplanter eigener May-Biographie, die, bedingt durch das Erscheinen von Hans Wollschlägers Monographie (1965), im Entwurfsstadium blieb. - »Einsam lehnte ein Mann an der Reling«. »Manchmal wehte ihm der Wind die langen grauen Haare über das Gesicht.« Sehen wir in jenem Mann nicht auch ein wenig Hansotto Hatzig selbst, wie wir ihn die letzten Jahrzehnte über gekannt haben?



1 Immerhin rühmte der ›Mannheimer Morgen‹ in seinem Nachruf auch Hansotto Hatzigs schauspielerische Leistung. (Vgl. i-k [= Illa Senk]: Trauer um Hansotto Hatzig. Ehemaliger Mitarbeiter der Boehringer-Pressestelle gestorben. In: Mannheimer Morgen Nr. 97 vom 27. 4. 2001, S. 18.)

2 Vgl. Euchar Albrecht Schmid/Roland Schmid: Gestalt und Idee (1916 - 1942 - 1958). In: Karl May's Gesammelte Werke Bd. 34: »Ich«. Karl Mays Leben und Werk. Bamberg 1958, S. 339: »Die Alterswerke (Bd. 28-34) sind zudem in Zusammenarbeit der Herren Roland Schmid, Wollschläger und Hatzig nochmals sorgfältig auf Grund des Urtextes überprüft worden.«





Die Wende in Leben und Werk des Karl May


Zu seinem 50. Todestag am 30. März 1962

Von Hansotto Hatzig



Vorbemerkung der Zeitungsredaktion 1962:

Karl Mays Name ist ein Begriff, und sein Werk erweckt ganz bestimmte Vorstellungen. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, ob dieser ›Begriff‹ und diese ›Vorstellungen‹ jetzt - nach einem halben Jahrhundert - nicht endlich einer kleinen Korrektur bedürften. Auf die andernorts des öfteren gebotenen Darstellungen von Mays Jugendjahren und ersten Erfolgen des Schöpfers von Winnetou und Hadschi Halef Omar wird dabei bewußt verzichtet.

Am 4. April 1899 verließ der ›Reichspostdampfer Preußen‹ des Norddeutschen Lloyd den Hafen von Genua in Richtung Port Said. Die Sonne des frühen italienischen Frühlings stand hoch am Himmel und strahlte auf


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das Silberspiel der Wogen. Einsam lehnte ein Mann an der Reling und blickte auf das Land hinüber, auf Genua, das in weitem Halbrund im Schutz der kahlen Berge vor seinen Augen lag. Manchmal wehte ihm der Wind die langen grauen Haare über das Gesicht. Er stand reglos, während in immer größerer Ferne das Ufer zurückblieb. Ahnte er, was für ihn mit dieser Fahrt begann? Was er gewinnen und was er verlieren sollte?

   Mit dieser Reise, die ihn über Ägypten, Palästina, Syrien, den Sudan, Indien, Ceylon und Sumatra für ein ganzes Jahr aus der Heimat entführte, setzt in Leben und Werk Karl Mays die große Wende ein. Alles was er zurückgelassen hat, ist für immer dahin; niemals wieder wird er solche Reiseerzählungen schreiben wie bisher; und die Frau, mit der er seit zwanzig Jahren verheiratet ist, wird er für immer verlieren. Nein, das - will er noch nicht ahnen, denn aus allen Städten des Orients schreibt der nahezu Sechzigjährige sehnsuchtsvolle und herzzerreißende Briefe an sie.

   Emma Pollmer war eine Schönheit von beinahe slawischer Prägung, und der junge May, damals noch nicht lange aus dem Gefängnis entlassen, glaubte sich in den siebten Himmel versetzt, als sie ihm zum erstenmal einen rätselhaft-schmachtenden Augenaufschlag schenkte. Wohl merkte er dann bald, daß ihr Charakter nicht ganz so war, wie er gedacht hatte, und daß sie seinen geistigen Höhenflügen nicht zu folgen vermochte. Doch das ließe sich ja ausgleichen: er würde sie an der Hand nehmen und mit sich hinaufführen! Doch die Jahre vergingen, und sie blieb hinter ihm zurück. Seine Liebe zu ihr war aber so stark - mit anderen Worten: er war ihr so verfallen -, daß er ihr beinahe alles verzieh und nach zwanzig Jahren immer noch hoffte, ›ihre Seele‹ zu gewinnen.

   Während Karl May in fernen Ländern weilte, braute sich in der Heimat ein Unwetter zusammen. Hier und da war zwar in den vergangenen Jahren schon einmal etwas aufgeflackert; schließlich hat ja jeder Schriftsteller seine Gegner. Nun setzte jedoch ein regelrechter Pressefeldzug gegen ihn ein. Kirchliche und atheistische Kreise, Kunstpäpste und ›Gelbe Gewerkschaftler‹ schlugen fast gleichzeitig zu: die Hölzer für den Scheiterhaufen, auf dem Karl May verbrannt werden sollte, wurden von Hand zu Hand gereicht. - Worum es ging? Das kann hier nur in Stichworten angedeutet werden: Schundschriftsteller, Lügner, Heuchler und Vorbestrafter waren die Schlagworte. Jeder behauptete, seine ›heiligsten Güter‹ zu verteidigen; in Wahrheit feierten die meisten jedoch die Orgie des selbstgerechten ›Untertanen‹ auf den Knochen eines einzigen ihrer Mitmenschen.

   Als Karl May aus dem Orient zurückkehrte, fand er eine für ihn veränderte Welt vor: er war verfemt. Nur mühsam und manchmal auch ungeschickt wehrte er die Angriffe von allen Seiten ab, denn er fürchtete - nur zu verständlich - seine eigene Vergangenheit. Zu der Zeit begannen die Prozesse, die ihn bis an sein Lebensende nicht mehr zur Ruhe kommen lassen sollten.

   Sein einziger Freund, der jüdische Fabrikant Richard Plöhn aus Radebeul, der während Mays Abwesenheit die Zeitungen mit flammenden


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Verteidigungsbriefen bombardiert hatte, starb im Jahre 1901 an einem alten Leiden; Mays Ehe hielt dieser härtesten Krise nicht stand, er wurde im Jahre 1902 von seiner Frau Emma geschieden und heiratete im darauffolgenden Jahre die Witwe Klara Plöhn.

   In diesen fürchterlichen Jahren, die angefüllt waren mit seelischen Erschütterungen, körperlichen Zusammenbrüchen und Tränen, erstand das neue Werk: Aus dem Schriftsteller wurde der Dichter Karl May.

   Rein äußerlich gesehen, knüpft Karl May da wieder an, wo er vor Jahren aufgehört hat: er schreibt den dritten Band ›Im Reiche des silbernen Löwen‹. Und da heißt es nun plötzlich mitten darin:

   »Du bist Old Shatterhand? ... bist Kara Ben Nemsi?« Der Ustad fragt, und Kara Ben Nemsi antwortet: »Ich war es.« ... »Bist es nicht mehr? Beides nicht mehr?« ... »Beides nicht mehr!« ... »Seit wann?« ... »Seit diese beiden Namen das geleistet haben, was sie leisten sollten und leisten mußten! ... Dieses so viel verachtete und so grimmig angefeindete ›Ich‹ in meinen Büchern hat allen denen, welche Ohren haben, von einer neuen, ungeahnten Welt zu erzählen, in welcher Leib, Geist und Seele ... Hand in Hand nebeneinanderstehen und miteinander wirken.« ... »Wenn du nicht mehr in dieser deiner bekannten Weise schreibst, wird man gar nicht mehr von dir sprechen! Dann bist du tot, tot, tot!« ... »Du irrst! Ich ging in diesem Augenblicke in ein anderes Leben über, und dieses andere wird ein höheres, schöneres, edleres, unendlich wertvolleres sein ... Von heute an werde ich im ›hohen Hause‹ schreiben - ganz anders als bisher.«

   Bei diesem ›Selbstgespräch‹ (denn er tritt nun in mehreren Verkleidungen auf) ist er endlich wieder genesen. Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar (beide: May) haben sich in den Sumpfgegenden von Basra eine schwere Krankheit zugezogen. In der beginnenden Erschöpfung erleben sie noch einmal alles wie in einem Fiebertraum: Auf dem Wege in die Berge fallen sie Räubern in die Hände, können sich von ihnen befreien und erreichen durch einen waghalsigen Sprung zu Pferde über einen fürchterlichen Abgrund das Hoheitsgebiet der Dschamikun, in dem der Ustad, der Meister regiert. Dort sind sie gerettet, liegen aber völlig darnieder und sind dem Tode nahe. Nur langsam genesen sie unter der aufopfernden Pflege des Ustad (Geist) und der Schakara (Seele), Halef nur, weil man aus der fernen Heimat seine Hanneh herbeigeholt hat. Inzwischen haben die Feinde das Feld vorbereitet, die das Land der Dschamikun vernichten wollen: es sind die ›Schatten‹; an ihrer Spitze: der geistvolle Verführer Ahriman Mirza, der Scheik ul Islam als Dogmatiker und Ghulam al Multasim, der Henker. (Noch heute kann man in jeder Universitätsbibliothek nachlesen, was diese Herren Karl May einst vorzuwerfen hatten.) - Karl May zur Seite stehen nur Schakara (seine Frau Klara), der Pedehr (sein Verleger Fehsenfeld), der Chodj (sein Freund) und die Dschamikun (seine treuen Leser). Nicht zu vergessen: Dschafar, der Sendbote des Schah-in-Schah (Gott), der ihm den ›Rappen mit der Funkenmähne‹ überbringt. Zwischen den beiden Lagern:


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Pekala (seine Frau Emma), die zwar nicht zu den Gegnern übergeht, aber noch vor der Entscheidung mit einigen Begleitern - darunter eine Gestalt, die ein Stück von Karl May selbst ist, ein ›Stück von seinem Herzen‹ - das Land der Dschamikun verläßt.

   Wenn Karl May nichts weiter hätte tun wollen, als das Schicksal seiner Lebenswende in ein geheimnisvolles Gewand zu kleiden, dann hätte er an dieser Stelle aufhören müssen zu schreiben, denn er war nun an dem Wendepunkt des Schreibens selbst angekommen. Von da ab aber schaut er in seine und in des Menschen Zukunft.

   Der Konflikt - ›Schatten‹ gegen Dschamikun - scheint sich in friedlichen Bahnen halten zu wollen; er wird in Form eines Pferderennens ausgetragen. Wer gewinnt, dem soll das Land gehören. Syrr, Assil Ben Rih, Barkh, Sahm, Ghalib und Kyss-y-Darr, alle ›seine‹ Pferde (Werke!) erringen den Sieg über Iblis und die anderen berühmten Renner aus dem Stalle der Gegner. Doch das ist nun schon nicht mehr sein Leben allein: Die riesige Turm-von-Babel-Ruine, von der die Sage geht, daß man Gott dort eingemauert habe, stürzt in sich zusammen und legt die in einer Nische am Berghang aufragende Alabasterstatue des ›versteinerten Gebetes‹ frei. Im Morgengrauen verflüchtigen sich die ›Schatten‹ zu einem Nichts. Er aber tritt zu Schakara und schaut von der Plattform des ›hohen Hauses‹ auf das ›Gebet‹. Und Schakara fragt ihn nach der Sage vom eingemauerten Gott und nach der Sage vom versteinerten Gebet. »Bevor du kamst«, sagt sie, »stand ich hier und dachte darüber nach, ob diese beiden Sagen wohl ganz dasselbe meinen. Ich glaube, ja. Und wenn das richtig ist, so habe ich den Berg gefunden, den ich suchte.«

   Ja, er hat gefunden, was seine Seele so lange suchte, das versteinerte Gebet, die Verkörperung des Höchsten, was der Mensch jemals erreichen und jemals aus sich machen kann: sich selbst zu finden; die Aufgabe des Menschen zu finden - Gebet zu sein.

   Karl May selbst gibt den Schlüssel hierzu, indem er fast tausend Seiten zuvor verkündet, daß des Ustad Werk (das ist seines!) mit den Worten der Mekkapilger schließe, die lauten: »Hier bin ich, o mein Gott!«

   Die Sprache begleitet ihn auf seinem Weg zur Höhe; sie erhält eine Form und Bildkraft, deren nur ein Dichter mächtig ist. Die Handlung: märchenhafte orientalische Erzählung plus biographischer Schlüsselroman plus mehrfaches Zwiegespräch mit sich selbst und anderen, ist voller Symbole. Da sind die Rosen, die immer für das Wort ›Liebe‹ stehen, ob sie nun das Gebetshaus zieren oder einer Frau zum Schmuck dienen. Denn: »Die Liebe ist eins, ist unteilbar« (›Am Jenseits‹).

   Mit diesem Werk (›Silberlöwe‹ Band III und IV) ist Karl May auf der Höhe seines Schaffens und auf dem Gipfel seines Menschentums angelangt. Nun braucht er nur noch auszubauen, den Gipfel zu einem Hochplateau zu erweitern.

   Doch der Ausbau des Hochplateaus läßt auf sich warten. Nur ein paar kleinere Sachen werden fertig. Endlich tritt er wieder mit einem zweibändi-


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gen Werk hervor: ›Ardistan und Dschinnistan‹. Schon in seinen früheren Werken spielten Friedensliebe und Menschlichkeit eine große Rolle, was z. B. auch Albert Schweitzer mit rührenden Worten anerkannt hat. Hier wird nun gleich auf den ersten Seiten der Friede als Aufgabe genannt. Und gegen das Ende zu ist der Roman von einer gewaltigen und überwältigenden Friedenssymphonie erfüllt. Wer das schreiben konnte, ohne es auch nur mit einem Fünkchen von Kitsch zu durchsetzen, ist ein Dichter, ein Dichter, der ein großes Anliegen hat.

   Klara May berichtete später, Karl May hätte sich der ernsthaften Hoffnung hingegeben, der Kaiser (Wilhelm II.) würde gerade dieses Werk lesen. Der Gedanke ist nicht so lächerlich, wie er zunächst erscheinen mag, denn Karl May war in einigen fürstlichen Familien immerhin recht freundlich empfangen worden. Diese Erinnerung seiner Frau offenbart zumindest, daß der Dichter, der ausschließlich in seiner eigenen Phantasiewelt zu leben schien, genau wußte, auf welchem Gebiet sein Kaiser besonders bildungsbedürftig war.

   Noch einmal trieb es Karl May hinaus in die Welt. 1908 unternahm er mit seiner Frau Klara eine vier Monate dauernde Reise nach Nordamerika. Zurückgekehrt, schrieb er ›Winnetous Erben‹. Ich kann an dieser Stelle nichts Besseres tun, als Arno Schmidt zu zitieren: »... bei May ist die Tatsache unbestreitbar, daß er seine höchsten künstlerischen Leistungen eben im Alter vorgelegt hat. Akzeptieren wir also auch ›Winnetous Erben‹, diesen zitterigen Swan-Song eines Greises, der meint, daß Liebe und Friede wertvoller sind als die interessanteste Prügelei und der sein unsinnig umfangreiches Lebenswerk in dieser Hinsicht, in aller Einfalt und Ruhe, zu ergänzen gedachte. Zu ergänzen: nicht umzufälschen! Denn er ließ auch den früheren Bänden ihr Recht; ließ sie, wie sie waren, in all ihrer dumm-tapferen Buntheit; wies jedoch nun mit strengem Nachdruck darauf hin, daß es bei jener Sorte ›Heldentum‹ gefährliche Konsequenzen geben möchte!« (Die Andere Zeitung v. 15. 7. 1957) [Anmerkung der Internet-Redaktion: richtig: 1959]

   Karl Mays letztes Werk war seine Autobiographie ›Mein Leben und Streben‹. Er hatte noch Pläne für mehr als ein Jahrzehnt, aber die jahrelangen Kämpfe mit den Gegnern hatten ihn zermürbt und kränklich gemacht.

   Eine große und tiefe Freude stand dem Siebzigjährigen noch bevor. Auf Einladung des Verbandes für Literatur und Musik konnte Karl May am 22. März 1912 im überfüllten Sophiensaal in Wien seinen Vortrag ›Empor ins Reich der Edelmenschen‹ halten, am gleichen Tag, an dem Wilhelm II., der König von Sachsen und der Fürst von Monaco als Gäste des Kaisers Franz Joseph ebenfalls in Wien weilten. Worüber mögen sie sich unterhalten haben? Karl May jedenfalls überraschte seine Zuhörer - die bestenfalls etwas über Old Shatterhand erwartet hatten - mit einer Friedensrede, wie sie in damaliger Zeit nur ein Mensch hervorbringen konnte, der weiter blickte als bis zur Türschwelle seines ›goldenen Zeitalters‹. Das noch erhaltene Konzept kann den Eindruck dieser Rede nur unvollständig wieder-


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geben, denn Karl May sprach darüber hinaus frei. Ungeheurer Jubel und echte Begeisterung umbrandeten ihn am Schluß seiner Worte. Bertha von Suttner, die Friedensnobelpreisträgerin, hinterließ uns einen Bericht: »Wer den schönen, alten Mann an jenem 22. März sprechen gehört, durch ganze zwei Stunden, weihevoll, begeisterungsvoll, in die höchsten Regionen des Gedankens strebend, der mußte das Gefühl haben: In dieser Seele lodert das Feuer der Güte.« (Wiener ›Zeit‹ v. 5. 4. 1912)

   Doch als sie das schrieb, lebte Karl May schon nicht mehr. Trotz der Warnung des Arztes war er nach Wien gefahren und hatte sich dort eine Erkältung zugezogen. Es blieben ihm nur noch acht Tage bis zu seinem Todestag.

   Wie wohltuend muß er die Huldigungen der Wiener Bevölkerung empfunden haben, da ihn seine Mitmenschen doch so bitter enttäuscht hatten. Nur in sich selbst hatte er sich nicht getäuscht. Er war sich treu geblieben und stand im Frieden mit Gott. Der Tod trat gnädig an ihn heran.

   Der Pilger war in Mekka angekommen und konnte ausrufen: »Hier bin ich, o mein Gott!«


(Fuldaer Volkszeitung, 30. März 1962)




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