//105//

HELMUT SCHMIEDT


Von Trauerrändern, Kamelexkrementen und Verwesungsgeruch
Karl Mays Umgang mit einer anderen Seite des abenteuerlichen Lebens*





Als Erwachsener liest man die Bücher, die man schon in seiner Jugend gelesen hat, mit anderen Augen. Veränderte und erweiterte Lektüre- und Lebenserfahrungen sind dafür verantwortlich, dass man das Bekannte bei der Wiederbegegnung ertragreich unter neuen Vorzeichen betrachten kann. Aber manchmal erscheint es ratsam, sich auf das frühere Leseerlebnis zu besinnen: Mag sein, dass der kindlichen Spontaneität einiges auf- und eingefallen ist, was sich der Routine des Erwachsenen nicht mehr erschließt, weil es von den mittlerweile eingeübten Wahrnehmungsmechanismen gar nicht mehr erkannt oder sogleich hinwegrubriziert wird, obwohl es von der Sache her eigentlich besondere Aufmerksamkeit verdiente. Mit anderen Worten: man soll das Gewicht früher Leseerfahrungen nicht gering schätzen.

Ich habe mir bei meiner Karl-May-Lektüre in jungen Jahren gelegentlich eine Frage gestellt, die damals nie eine Antwort fand. Bekanntlich wird Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi immer wieder von seinen Feinden überwältigt, gefesselt und dann für längere Zeit, z. T. über viele Tage hinweg in diesem Zustand gehalten. Auch da muss er doch regelmäßig - so habe ich mir ganz naiv gedacht - im Hinblick auf die Verdauung, die körperliche Verarbeitung des Gegessenen und Getrunkenen, seinen natürlichen Bedürfnissen nachgeben, und wenn die Feinde ihn zu diesem Zweck losbinden und beiseite treten lassen - wovon ich fest überzeugt war -, dann ergeben sich wunderbare Möglichkeiten zur Flucht. Aber nichts dergleichen wird erzählt, May schweigt sich über das Ganze aus, als gebe es bei seinem Helden diese natürlichen Bedürfnisse nicht!

Er hält sich auch zurück in Bezug auf ähnliche, sozusagen benachbarte Themen. Z. B. beim Spurenlesen: Wenn die Helden die Fährte einer Reitergruppe prüfen, um zu ergründen, wer sich wie weit und in welcher Absicht vor ihnen her bewegt, dann beachten sie alles Mögliche, vom Feuchtigkeitsgehalt des Bodens bis zum Knickwinkel zertretener Gräser; aber ein hinter allen Reitergruppen zweifellos vorhandenes, aussagekräftiges




* Vortrag, gehalten am 17.10.2004 auf der 17. Tagung der Karl-May-Gesellschaft in Plauen



//106//

Indiz beachten sie offenbar überhaupt nicht: die Ausscheidungen der Tiere. Dass sich aus deren Zustand Vermutungen ableiten ließen, wann die Reiter an diesem Ort gewesen sein müssen, liegt geradezu auf der Hand; umso erstaunlicher ist es, dass das Thema ausgespart bleibt.

Dem erwachsenen Leser bereiten solche Defizite keine Probleme mehr. Er registriert sie überhaupt nicht oder geht, wenn es doch geschieht, routiniert darüber hinweg, denn er weiß inzwischen, dass der allergrößte Teil der Literatur generell keinen Wert darauf legt, seine Figuren in sämtlichen Dimensionen ihrer Alltäglichkeit zu präsentieren, dass Exkremente traditionsgemäß nur begrenzt literaturfähig sind, und er unterstellt wie selbstverständlich, dass es bei May auch so ist. Literarisch gezeugte Lebewesen funktionieren nicht nach den üblichen biologischen Regeln.

Doch gar zu schnell sollte man das Problem nicht als erledigt ansehen, die kindliche Perspektive hat durchaus einiges für sich. Das Geschehen in Mays Romanen wird ja in hohem, gegenüber vielen anderen literarischen Werken überdurchschnittlichem Maße durch körperliche Aktivitäten bestimmt; wie kräftig jemand im Vergleich zu anderen ist, wie weit er schauen und wie genau er riechen kann, wie sehr seine Feinmotorik ausgebildet ist, wie ausdauernd er zu reiten oder laufen vermag: das alles ist von entscheidendem Gewicht für den Spielraum May'scher Figuren und damit für die Entwicklung der Handlung, und in diesem Zusammenhang hat die Forschung denn auch zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich um Abenteuer für die Sinne handelt.1 Die Bedeutung von Intelligenz, Wissen und Bildung, die zumal den Ich-Helden prägt, darf darüber nicht ignoriert werden; aber es führt kein Weg an der Feststellung vorbei, wie sehr Mays Texte das Körperliche akzentuieren, und da ist es schon bemerkenswert, dass in diesem Bereich zumindest auf den ersten Blick so große Lücken klaffen: im Unterschied übrigens zu einigen Quellen Mays, denn der Graf d'Escayrac z. B., dessen Reiseberichte Mays Schilderungen vom Spurenlesen wesentlich mit inspiriert haben, weist sehr deutlich sogar auf die Aussagekraft menschlicher Exkremente hin.2 Vom literaturhistorischen Umfeld wird Mays Zurückhaltung auch nicht unbedingt nahegelegt: Die späten 1880er und die 1890er Jahre bilden die Epoche des deutschen Naturalismus, und da wird die physische Komponente des menschlichen Daseins fast programmatisch in den Mittelpunkt literarischen Interesses gerückt, wobei - ganz anders als im vorausgehenden Realismus - gerade allerlei unerquickliche Besonderheiten breit ausgemalt werden, etwa Alkoholismus und körperliche Brutalität.

Wir stoßen hier auf ein unter den verschiedensten kulturgeschichtlichen Aspekten höchst interessantes Phänomen. Zum guten Geschmack, zum


bürgerlichen Verständnis angemessener Kommunikation und wertvoller Kultur, wie es sich zumal im 18. Jahrhundert ausbildet, gehört, dass man über bestimmte Bereiche des menschlichen Lebens - z. B. über Sexualität - nur sehr diskret und über anderes - z. B. alles, was mit der Verdauung zusammenhängt - am besten gar



//107//

nicht spricht. (...) diese Haltung (bestimmt) das äußere Erscheinungsbild weiter Phasen der Literatur in Aufklärung und Klassik und dominiert auch im 19. Jahrhundert;3


nur in verklausulierter, verkappter Form oder bei den Außenseitern, Provokateuren und Avantgardisten der Literatur können »die für heikel befundenen Aspekte der Körperlichkeit des Menschen ins Licht rücken«.4 Seit einigen Jahrzehnten allerdings gilt das nicht mehr: Die vorher weithin tabuisierten Seiten unserer Existenz haben Literatur, Bühne, Bildschirm, Kinoleinwand usw. erobert, Wörter wie ›Arsch‹, ›Scheiße‹ und Entsprechendes aus dem Sexualbereich sind zu Standardvokabeln in öffentlichen Darbietungen geworden, und dass die Kategorie des Ekels lange Zeit das ganz Andere im Spektrum ästhetischer Empfindungen war,5 lässt sich inzwischen kaum noch nachvollziehen. Vor einigen Jahren hat Daniel Calls Theaterstück ›Tumult auf Villa Shatterhand‹ etliche Gemüter erhitzt;6 vermutlich lag das nicht zuletzt auch daran, dass es weitgehend dem skizzierten neuen Trend folgt.

Wie steht es da nun bei näherer Prüfung mit Karl May? Wird er in den Abenteuerromanen mit seiner bekannten Ambition, »der Lehrer meiner Leser«7 zu sein, so sehr von literarischen Konzepten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts geprägt, dass er sich gewissen Tendenzen völlig verschließt, die in der Luft liegen und vom Stoff der Romane eigentlich begünstigt werden? Oder ist es - man denke daran, dass er immerhin des öfteren exzessive Gewalttaten und Sadismen schildert - doch anders, gibt es doch ein intensiveres Sich-Einlassen auf traditionell tabuisierte Körperlichkeit, als der junge May-Leser registriert hat? - Ich nehme die Antwort pauschal vorweg: Der Komplex der Ausscheidungen, des Schmutzes, des Ekligen überhaupt taucht in der Tat nicht eben selten auf; es lohnt sich, der Sache genauer nachzugehen.

In einem Privatbrief aus dem Jahr 1894, der mit einem Hinweis auf die noch heut vorhandenen Narben von den Wunden, die ich erhalten habe, intensiv an der Old-Shatterhand-Legende webt, schreibt May: Von den kleineren Beschwerden, Entbehrungen und Entsagungen, die man zu erdulden hat und die in ihrer Gesamtheit viel schwerer zu ertragen sind als einzelne schwerere Schicksalsstreiche, kann man freilich in keinem Buche erzählen.8 Warum kann man das nicht? Die Antwort muss wohl lauten: weil es sich nicht ziemt, weil es unschicklich wäre; es gibt Dinge im Alltagsleben des Abenteurers, über die damals zu schreiben die Peinlichkeitsschwelle zu überschreiten hieße. Noch deutlicher wird May an sehr exponierter, von vornherein für die Öffentlichkeit bestimmter Stelle: im ersten ›Winnetou‹-Band. Der Ich-Erzähler berichtet da, dass er ein dreiwöchiges Wundfieber in ein und derselben Kleidung durchlitten hat, und dann fährt er verallgemeinernd fort:



//108//

Was das heißt, drei Wochen lang in einem solchen Anzuge im Wundfieber zu liegen, das kann man sich wohl denken. Es giebt Verhältnisse, die man zwar durchmachen und erleben kann, niemals aber in einem Buche mit erzählen darf. Der Leser eines solchen Buches beneidet wohl einen solchen weitgereisten, vielerfahrenen Mann, würde sich aber, wenn er die mit Schweigen übergangenen Nebendinge erführe, sehr hüten, in seine Fußstapfen zu treten. Wie oft bekomme ich Briefe von begeisterten Lesern meiner Werke, in denen sie mich benachrichtigen, daß sie ähnliche Reisen unternehmen wollen. Sie fragen mich nach den Kosten, nach der Ausrüstung, wenige aber auch nach den Kenntnissen, welche dazu gehören und nach den Sprachen, die man vorher zu lernen hat. Diese abenteuerlichen Herren kuriere ich mit untrüglicher Sicherheit durch meine aufrichtigen Antworten, in denen ich den Vorhang von jenen verschwiegenen Dingen ziehe.9


Man muss nicht lange darüber nachgrübeln, auf welche Aspekte des Abenteuerlebens der Erzähler hier anspielt. Es handelt sich offenbar um ziemlich extreme Erfahrungen, da der Bericht über sie geeignet ist, ganze Lebensplanungen umzustoßen - aber indem May dies den Romanlesern sagt, erspart er es sich, hier Konkreteres über sie selbst zu sagen.

Dass er die Nebendinge in seinen Büchern gänzlich ignoriert, trifft indes nicht zu; schon die gerade zitierte Passage bietet ja, wenn man sie in den Zusammenhang des Textes rückt, ein Gegenbeispiel. Der im Apachenlager gefangene Old Shatterhand steht da im Begriff, sich von den Folgen seiner schweren Verletzung zu erholen. Er gilt den Apachen als Feind, hat aber seinerzeit heimlich den gefesselten Winnetou befreit und ihm dabei ebenso unbemerkt eine ›Haarlocke‹ abgeschnitten; wenn er die nun vorlegt, ist der Beweis erbracht, dass er de facto auf der Seite der Apachen steht. Die Frage ist nur, ob das wertvolle Indiz noch zu finden ist; denkbar wäre, dass die Apachen es dem Gefangenen während seiner wochenlangen Bewusstlosigkeit abgenommen haben. An dieser Stelle erwähnt der Erzähler/Held, dass er immer noch seinen vollständigen Anzug10 trägt, vom Beginn der Leidensphase an, und dieser Umstand bietet dann den Anlass für die zitierten grundsätzlichen Darlegungen. Bis jetzt weiß der Leser nicht, wie es um die Haarlocke steht; erst im Anschluss an das allgemeine Räsonnement notiert das Ich, es habe seine Taschen untersucht und festgestellt, dass mit Ausnahme der Waffen alles noch vorhanden ist, Winnetous Locke inklusive.

Die Erläuterung zu den verschwiegenen Dingen hat also, neben ihrer sachlichen Bedeutung, eine retardierende Funktion: Sie verzögert den Fortgang der Schilderung dessen, was aktuell von Belang ist. Soeben hat Nscho-tschi dem Gefangenen in Aussicht gestellt, er werde bald sterben; der Arme besinnt sich auf ein unfehlbares Mittel,11 diesem Schicksal zu entgehen, eben auf die Haarlocke, erschrickt plötzlich, weil er sich ihres Vorhandenseins nicht sicher sein kann, und durchsucht eilends seine Taschen - aber statt dass der Leser sogleich über das Ergebnis der Suche informiert wird, belehrt der Erzähler ihn eine halbe Seite lang über jene unhygienischen Nebendinge und seinen erzieherisch geschickten außerliterarischen Umgang damit.



//109//

Wir betrachten weitere Textpassagen dieser Art. Nach einer alten Tradition werden die handfesten und die akustisch wahrnehmbaren Folge- bzw. Begleiterscheinungen des Verdauungsvorgangs oft für derb-komische Szenen genutzt; der skatologische Schwank vergangener Jahrhunderte arbeitet mit dieser Möglichkeit, ebenso mancher neuere Film, heiße er nun ›Ballermann 6‹, ›Scary Movie‹ oder ›Der Schuh des Manitu‹. Auch Karl May greift auf diese Tradition zurück, allerdings nur im Hinblick auf tierische Produkte und unter Aussparung des Akustischen. In einer Episode des Bandes ›In den Schluchten des Balkan‹ kriecht Kara Ben Nemsi in einen morschen Taubenschlag, um die eine Etage darunter stattfindende Versammlung der Feinde zu belauschen. Schmutz gab es da in Masse;12 man kann sich vorstellen, woraus er in erster Linie besteht. Nach einiger Zeit findet sich auch Halef oben ein, gegen den Willen seines Sihdi, und er stellt gleich ausdrücklich fest, was den Lauscherraum auszeichnet: »Wie stinkt es hier!« Halefs Bewegungen führen dazu, dass getrockneter »Kot« aufgewirbelt wird und nach unten rieselt, was die dort sitzenden Verbrecher zunächst einmal fluchend auf das Wirken einer herumstreunenden Katze zurückführen. Aber Halef ist auch weiterhin den Anforderungen der Umgebung nicht gewachsen. Ein heftiger Husten- und Niesreiz ergreift ihn, treibt ihn zu erst noch halb unterdrückten Äußerungen wie »Puh«, »Ah« und »oh«, versetzt seinen Körper dann in eine krampfhafte, wurmartige Bewegung13 und entlädt sich schließlich in einem heftigen Ausbruch, der so gewaltig gerät, dass er einen Teil des Taubenschlagbodens zum Einsturz bringt und Halef mitten zwischen die Feinde fällt. Erst jetzt kann auch Kara Ben Nemsi nicht mehr an sich halten: Ich ... hustete und nieste, als ob ich es bezahlt bekäme.14

Die Szene verbindet Elemente der Spannung mit solchen der Komik. In motivischer Hinsicht ist sie durch das Verfahren der Umkehrung mit einer Episode des Folgebandes ›Durch das Land der Skipetaren‹ verbunden: Werden hier die Verbrecher unfreiwillig mit Kot beschmutzt, der von oben auf sie herabfällt, so wird dort eine ähnliche Ganovenversammlung im oberen Teil eines Turmes absichtlich festgesetzt und mit Wasser übergossen, das Halef mit einem Schlauch in die Höhe treibt.15 Darüber hinaus trägt die Taubenschlag-Szene zur Charakterisierung der Figuren bei: Kara Ben Nemsi quartiert sich frühzeitig an dem unwirtlichen Ort ein, harrt ruhig der Dinge, die da kommen werden, und wird auch physisch mit den unerquicklichen äußeren Umständen fertig; Halef dagegen mag auf den lange abwesenden Freund nicht warten, folgt ihm ungeduldig und ist dann prompt den ekelhaften Verhältnissen nicht gewachsen. Der Besonnenheit, Umsicht und Selbstdisziplin des obersten Helden kontrastieren die Unvorsichtigkeit und körperliche Reizbarkeit Halefs. Einmal mehr ergibt sich, welche Unterschiede zwischen den beiden Hauptfiguren des Orientromans bestehen und dass es für die Begleiter des Helden gut und richtig wäre, sich stets an seinen Vorgaben zu orientieren.



//110//

Solche Hierarchisierungen kristallisieren sich auch in anderen Zusammenhängen heraus. In der Erzählung vom ›Sohn des Bärenjägers‹ kehrt geradezu leitmotivisch die Jagd auf wilde Tiere wieder. Zunächst erzählt Martin Baumann, unter welch furchtbaren Umständen er vor vielen Jahren in den Besitz eines Bärenfells gelangt ist; dann muss er einen Grizzly zu seinem Schutz und dem des Negers Bob töten. Bald darauf erzählt der Hobble-Frank von einer lange zurückliegenden Konfrontation mit einem Bären, die eher groteske Züge aufwies, und vollends komisch wird es schließlich bei der Wildtierjagd von Masser Bob: Er will ein Opossum zur Strecke bringen, stößt aber versehentlich auf ein Stinktier.16 Es spritzt zu seiner Verteidigung eine außerordentlich schlecht riechende, scharfe, gelb ölige Flüssigkeit aus,17 und anschließend verbreitet Bob einen derart entsetzlichen Geruch,18 dass sich niemand mehr in seiner Nähe aufhalten mag.

Das viermalige Auftauchen des Jagdmotivs ist durch wenigstens zwei konsequente Entwicklungen gekennzeichnet. Die erste betrifft den dramatischen Gehalt der Ereignisse: Die zunächst erzählte Auseinandersetzung mit einem Bären kostete Martins Mutter und Schwester und beinahe auch ihn selbst das Leben, die folgenden entbehren jeder Tragik und geraten sogar zunehmend komischer. Entsprechend hat es der Leser mit immer weniger ernsten Figuren zu tun. Martin Baumann, Protagonist der Jagden eins und zwei, ist der jugendliche Held der Erzählung, Hobble-Frank ist eine Mischung aus komischer Figur und solidem Westmann, und am unteren Ende der Skala rangiert der gelegentlich zwar auch heroische, im Kern aber als lustige Figur angelegte, radebrechende, kurios eitle Bob, dem der Autor denn auch nicht die Ehre gönnt, sich mit einem ernsthaften tierischen Gegner zu duellieren. Zum Abschluss seines Abenteuers wird Bob bedeutet, dass er sich ob des an ihm haftenden Geruchs tagelang von den Mitreisenden werde fernhalten müssen, und erst einmal setzt er sich zwecks intensiven Waschens in einen Teich, dabei Grimassen schneidend, denen, so der Erzähler, wirklich lustig zuzusehen19 ist. In der Taubenschlag-Episode mokiert sich der Text nur bedingt über Halef, die Person, die unfreiwillig für den humoristischen Einschlag sorgt. Die Komik im ›Bärenjäger‹ dagegen geht voll auf Kosten Bobs; dass es gerade ein als nett, aber auch ziemlich dumm gezeichneter ›Neger‹ ist, mit dem May auf ›lustige‹ Weise das Motiv des unausstehlichen Gestanks verknüpft, mag auch der kritische Leser für etwas heikel halten, der nicht gleich die Maßstäbe späterer Political Correctness anlegt.

Ähnlich dubios, dabei allerdings ohne jeglichen Ausgriff ins Komische, verfährt May mit dem Phänomen des Schmutzes bei Judith Silberstein, der jüdischen Femme fatale in der ›Satan‹-Trilogie. Judith ist bekanntlich eine Frau, die sich ihre Liebhaber nach deren mutmaßlicher ökonomischer Potenz aussucht, und da sie so außerordentlich attraktiv ist, dass sie selbst Old Shatterhand nicht ganz kalt zu lassen scheint, fallen ihr die diesbezüglichen zahlreichen Wechsel nicht schwer. Auch noch in der im dritten Band ge-



//111//

schilderten späten Phase dieser Amerika, Deutschland und Nordafrika umspannenden Abenteuergeschichte bemerkt der Ich-Held, dass Judith ein schönes Weib ist, und er sitzt einmal sogar händchenhaltend neben ihr auf dem Diwan und wird mit einem neckischen Augenaufschlage beglückt. Aber er registriert auch noch anderes: Ihr Scheitel lag voller Haarschuppen; der Hals schien heute noch nicht gewaschen zu sein; die schön geformten Fingernägel hatten Trauerränder.20

Die schöne Judith ist also eine unreine, eine schmutzige Frau, und ganz ohne Zweifel darf man diese Feststellung auch im übertragenen Sinne verstehen. May operiert hier unter der Hand mit einer Vorstellung, die sich in der gutbürgerlichen Gedankenwelt seit langem festgesetzt hat und noch heute etwa in der Werbung und sicherlich im Alltagsleben unzähliger deutscher Familien eine zentrale Rolle spielt: mit der Vorstellung vom einzigartigen Wert absoluter Sauberkeit. Wo sie fehlt, ist generell nichts Gutes zu erwarten; wo sie zu finden ist, kann es wenigstens nicht ganz schlimm zugehen. Insbesondere die in Deutschland angesiedelten Teile der Münchmeyer-Romane - ein Bereich des May'schen Gesamtwerks, der sonst nicht Gegenstand dieser Untersuchung ist - enthalten etliche Schilderungen trauriger Verhältnisse, die durch den Verweis auf die in den betreffenden Räumen herrschende Reinlichkeit letztlich doch aufgehellt werden und den Stempel sittlicher Hochwertigkeit erhalten. So betritt im ›Verlornen Sohn‹ einmal der ebenso reiche wie zwielichtige Herr Seidelmann ein Haus, das außen und innen einen Anblick der bittersten Armuth, ja des Elendes bietet; er findet eine mangels Brennmaterials kalte Wohnung vor sowie Möbel und andere Utensilien in ganz geringer Zahl und obendrein jämmerlichstem Zustand - Und doch war Alles blank und sauber. Dieses Elend wurde verklärt durch jene Reinlichkeit, welche selbst den ärmlichsten Gegenstand noch besitzenswerth erscheinen läßt.21 Wenn Judith Silberstein demgegenüber zwar von der Natur mit großer Schönheit ausgestattet worden ist, Hygiene und Sauberkeit aber vernachlässigt, weiß der Kundige sofort, dass es um ihre moralische Qualität schlecht bestellt sein muss, schlechter noch als vorher, und tatsächlich notiert der Erzähler, dass sie ihre zweifelhaften Anlagen fleißig ausgebildet hatte und eine vollständige Kokette geworden war.22

Immer wieder verweist der Erzähler da, wo ihm etwas suspekt erscheint oder wo er negative Urteile formuliert, auf ein Übermaß an Schmutz. So verhält es sich bei den großen Städten des Orients: Von außen, aus der Ferne betrachtet, machen sie mitunter einen imponierenden Eindruck; aber in ihrem Inneren sieht es oft ganz anders aus, dort herrschen Dreck und Verkommenheit, und analog dazu entdeckt man Brutstätten des Verbrechens. Konstantinopel etwa bietet von außen einen herrlichen Anblick; aber tritt man in die engen Straßen selbst, so ist's mit der schönen Täuschung vorüber.23 Auch religiöser Fanatismus kann sich physisch in höchst widerlicher Weise artikulieren. Am Rande der Todeskarawane stoßen Kara Ben Nem-



//112//

si und seine Begleiter auf einen Bettler, der Nägel, Haken und Nadeln an seinem Körper befestigt hat und aufgrund der dadurch verursachten Wunden von einem Schwarm von Fliegen und Mücken24 umgeben ist. Der Erzähler spricht von einem fanatisch dummen Menschen, der einen ekelhafte(n) Anblick25 biete, und konsequenterweise verhält sich der Bettler dann auch höchst abstoßend, als er ein nach seiner Ansicht zu geringes Almosen erhält.

Das extrem widerliche Äußere dieses Menschen ist also von vornherein ein Indiz für die Nichtsnutzigkeit der Person insgesamt. Ekelhafte physische Phänomene können aber nicht nur als signifikante Begleiterscheinung, sondern auch als Konsequenz bösartigen Verhaltens auftreten, und dann wirken sie wie eine gerechte Strafe. Diese Verbindung ergibt sich bei einem Schurken des Orientromans, der ein Doppelleben als frommer Mübarek und armer Krüppel Busra führt, von Kara Ben Nemsi entlarvt und in den Arm geschossen wird. Schon nach zwei Tagen klingen die medizinischen Prognosen für den Verletzten nicht optimistisch: Im allergünstigsten Fall behielt er einen steifen Arm; wahrscheinlicher aber war, daß ihm wenigstens der Vorderarm amputiert werden müsse. Wenn der Verwundete nicht sehr bald in die richtige Pflege kam, so stand mit Sicherheit zu erwarten, daß der Brand eintreten würde.26 Später hat Kara Ben Nemsi die Gelegenheit, den Mübarek genauer zu untersuchen, und da werden - entsprechend dem fortgeschrittenen Siechtum - diese vergleichsweise nüchternen Formulierungen durch drastische Worte ersetzt. Erst ist die Rede von blutunterlaufenen Augen, ... Gischt, welcher ihm vor dem Mund stand, und im Hinblick auf die Verletzung von einem üble(n) Geruch. Als Kara Ben Nemsi die nachlässig verbundene Wunde freilegt, kommt es noch schlimmer: Der Brand, die zersetzende Fäulnis, war bereits eingetreten, und die ekelhafte Jauche verbreitete einen Verwesungsgeruch, welcher entsetzlich war.27 Das Leben des Mübarek ist nicht mehr zu retten, schließlich wird er von einem Bären zerfetzt.

Kein Zweifel: es geschieht ihm recht. Der Mübarek ist ein zu allen Schandtaten bis hin zum Mord bereiter Schwindler, der mit der Manipulation seiner Physis die Umgebung getäuscht hat; wer in der Nähe des scheinbar uralten heiligen Mannes stand, konnte angeblich die Knochen in dem dürren Körper aneinander stoßen hören, aber was da klapperte, waren in Wirklichkeit die unter dem weiten Gewand verborgenen Krücken, mit denen der Bösewicht sich als Busra fortbewegte. Nachdem dieser Verbrecher lange Zeit in zwei scharf voneinander abgegrenzten Rollen agiert hat, löst sich nun der Körper, mit dem er manipulierte, in schrecklicher Weise auf und wird dann auch noch von martialischer Gewalt zerstört.

Einige Zeit vorher droht auch Kara Ben Nemsi ein schlimmes Schicksal: Er wird im Zusammenhang seiner Begegnung mit der Todeskarawane von der Pest befallen. Äußere Eindrücke, wie die vom eben erwähnten Bettler und von Männern, die eine halb verfaulte Menschenleiche wieder in die auf-



//113//

geplatzte Filzdecke zu wickeln versuchen, stimmen atmosphärisch auf die Krankheit ein. Der Held selbst fühlt sich erst matt, dann zunehmend unwohl und wird plötzlich von einem unwiderstehlichen Brechreiz ergriffen, dessen Produkt über eine schleimig gallige Beschaffenheit28 verfügt. Auf dem Höhepunkt der Krankheit treten Pestbeulen an diversen genau benannten Stellen des Körpers auf. Dem Erzähler scheint der eigene Mut, all diese Details wiederzugeben, nicht ganz geheuer zu sein, aber er beruft sich auch jetzt auf seine Aufgaben als literarischer Lehrer: Die Schilderung falle deshalb so ausführlich aus, weil ein Pestfall bei uns eine so große Seltenheit ist;29 man muss die Gelegenheit nutzen, genauestens über die Krankheit zu informieren.

Die Therapie, die Kara Ben Nemsi anwendet, steht nun bezeichnenderweise in diametralem Gegensatz zu allen Erscheinungen von Widerwärtigem und Unreinem: Neben einem Schnitt in den Karfunkel erscheinen ihm nur frische Luft, gute Reinigung der Haut durch fleißiges Baden30 sinnvoll, nicht etwa irgendeine der Arzneien, die er mit sich führt. Die Kur bewährt sich, der Held bleibt folglich dabei, Rettung vom Wasser und von der freien Luft zu erwarten,31 und erholt sich ebenso wie der gleichfalls erkrankte Halef. Bei Judith Silberstein und dem Bettler sind die abstoßenden Äußerlichkeiten Zeichen der Verdorbenheit ihrer Person, beim Mübarek entwickeln sie sich im Zuge seiner Bestrafung, während im Falle Kara Ben Nemsis quasi das Gegenteil zu Schmutz und Gestank erfolgreich herangezogen wird, um die hässliche und lebensgefährliche Krankheit zu bekämpfen.

Der hier vielleicht nahe liegende Gedanke, dass Sauberkeit immer und überall die Domäne des obersten Helden sei, dass man ihn womöglich mit Hilfe dieses Kriteriums von allen anderen und zumal den bösen Figuren generell unterscheiden könne, trifft freilich nicht zu; erinnert sei noch einmal an die Taubenschlag-Episode und an Old Shatterhands Leiden im Apachenlager. Überhaupt ist es auch für ihn im abenteuerlichen Leben nahezu unvermeidbar, mit Schmutz aller Art in engste Berührung zu kommen. Im zweiten Band des ›Mahdi‹-Romans wird Kara Ben Nemsi für kurze Zeit in einer tiefen Grube gefangen gehalten, die in unmittelbarer Nähe des Nils liegt, und da kann man sich denken, daß der Grund derselben feucht, moderig, ja schlammig ist, daß allerhand Unrat da abgeworfen wird, allerhand Ungeziefer dort sein Wesen treibt.32 Der Held wird aber rasch befreit und tritt direkt danach einigen Frauen unter die Augen: in seiner


Erscheinung so wenig salonfähig, daß ich jetzt, wo ich dies niederschreibe, die Augen, allerdings nur für zwei Sekunden, niederschlage. Hatte mein Anzug schon während der langen Fahrt und der vorherigen Erlebnisse bedeutend gelitten, so war ihm nun vorhin in der schlammigen Grube der »letzte Rest« gegeben. Mein Aussehen war nichts weniger als gentlemanlike.33


Dies ist eine jener Stellen, an denen May mit unnachahmlicher Beiläufigkeit die Identität des Helden mit dem deutschen Reiseschriftsteller betont.



//114//

Es wird auch deutlich, dass der Erzähler in Verhältnissen beheimatet ist, die dem Prinzip größtmöglicher Sauberkeit huldigen: Andernfalls würde er nicht beim Schreiben die Augen schamhaft niederschlagen. Aber das tut er eben nur für zwei Sekunden, denn die äußeren Umstände ließen kein anderes Auftreten zu, und so kommen auch die Besonderheiten des Abenteuers zu ihrem Recht. Mit Begriffen wie ›salonfähig‹ und ›gentlemanlike‹ auf der einen Seite und dem Plädoyer zugunsten der Legitimität situationsbedingten Schmutzes auf der anderen fixiert May ein weiteres Mal die Doppelrolle seines Ichs, das sich souverän durch unterschiedliche Kulturen und Lebensverhältnisse bewegt.

Manchmal schildert der Erzähler positiv Konnotiertes aus dem abenteuerlichen Kosmos, das er dem Leser doch nicht ganz uneingeschränkt ans Herz legen mag. In ›Old Surehand III‹ hat man Bärenbraten gegessen und sieht einer äußerst schmackhaften Fortsetzung dieses Genusses entgegen: Die Tatzen, bekanntlich das beste von dem Bären, wurden eingewickelt, um aufgehoben zu werden, denn sie haben erst dann den höchsten Grad von Delikatesse erreicht, wenn die Würmer darin zu »wibbeln« beginnen. Sie haben dann den höchsten Grad von Delikatesse erreicht: das ist eine eindeutige Feststellung, ohne Einschränkungen und Wenn und Aber, so dass man annehmen muss, der Erzähler wolle hier etwas über jeden Zweifel Erhabenes vermitteln. Aber natürlich ist May - dem deutschen Schriftsteller, der er ist, und dem, den er in seinen Romanen fingiert - bewusst, dass dieses Mahl nicht alle Leser goutieren werden und sich vielleicht schon beim Lesen schütteln, und so setzt er einen abgekürzten und unbeantwortet bleibenden Fragesatz hinzu: Ob jedermanns Geschmack?34 Der Satz dementiert die vorherige Auskunft nicht und bietet doch eine Konzession an die Empfindungen eines Publikums, das den wildwestlichen Essensgewohnheiten ziemlich fern steht.

Mein letztes Beispiel führt noch einmal in die ›Satan‹-Trilogie. Dort meldet sich Old Shatterhand in einer Amtsstube der Stadt Ures, um Hilfe für bedrohte deutsche Auswanderer zu erbitten. Er findet unter anderem eine junge Dame vor, Cigaretten rauchend und nicht allzu wählerisch in ein nicht allzu weißes Morgengewand gekleidet,35 dazu mit ungeordneten Haaren; ferner gibt es da einen mit einem Kettchen angebundenen Papagei. Nachdem Old Shatterhand mit Goldmünzen das Interesse der Dame geweckt hat, schickt sie sich freundlich an, auch ihm eine Zigarette zu drehen. Dazu heißt es im Text:


Unter dem Sitze des Papageies war ein Kästchen angebracht, in welchem sich Tabak und Cigarettenpapier befand. Sie nahm eines dieser Papiere in den Mund, um es mit Speichel anzufeuchten, legte eine Prise Tabak darauf und drehte beides mit ihren niedlichen Fingern in Raupenform, brannte diese Raupe an ihrem Stummel an und reichte sie mir dann mit einem herzgewinnenden Lächeln zu.

Hm! Das Anfeuchten! Diese Fingerchen, bei deren melierter Färbung man im unklaren war, ob sie in Handschuhen steckten, oder einen sonstigen Ueberzug hat-



//115//

ten! Und dazu der Ort, an welchem sich der Tabak befand, gerade unter dem Papagei! Kurz und gut, ich nahm die Cigarette zwar mit einer tiefen Verbeugung an, hütete mich aber, sie nach dem Munde zu führen.36


Aus der erbetenen Hilfe für die Auswanderer wird im Übrigen nichts, die Zigarette landet am Ende wieder im »Tabakskasten«,37 zusammen mit einer weiteren, die die Dame auf Bitten ihres Gemahls für Old Shatterhand gedreht hat.

Es ist eine höchst eigenartige, doppelbödige Begegnung, die May seinen Figuren in diesen Sätzen beschert. An der Oberfläche dominieren Freundlichkeit, Höflichkeit, formvollendetes Benehmen: Die Dame bietet dem »Cavallero«38 eine Gabe an, er nimmt sie mit einer gründlich ausgeführten Dankesbezeugung entgegen. Aber damit betreibt er ein falsches Spiel, denn in Wahrheit ekelt es ihn davor, die Zigarette nun auch zu rauchen: Er hat die Spenderin sofort als unrein und ungepflegt identifiziert; im mutmaßlichen Kot an der Aufbewahrungsstelle des Tabaks gipfelt ein Crescendo vom Unsauberen bis zum dezidiert Widerwärtigen. Zunächst aber benimmt sich der Held in diesem Fall durchaus gentlemanlike, allerdings unter strikter Wahrung seiner körperlichen Unversehrtheit und seines Geschmacksempfindens. Der Leser wird ihn dafür nicht tadeln und sein Verhalten leicht nachvollziehen können, denn was die Dame dem Herrn zumutet, ist, wenn man genauer hinsieht, in der Tat ein starkes Stück. Sie erscheint freilich zu arglos, als dass sie die Schattenseiten bemerken könnte, und handelt insofern ausgesprochen ehrlich; der Held aber durchschaut die Situation in ihrer Widersprüchlichkeit, weiß, was er einerseits der Dame und ihrem Angebot, andererseits sich selbst schuldig ist, und entwickelt eine Reaktion, die beiden Verpflichtungen entspricht. Er kennt sich mit den Regeln des konventionellen guten Benehmens aus und wendet sie flexibel an, im Hinblick auf die näheren Umstände einer genau beobachteten speziellen Situation. Dass er auch ein wenig komisch wirkt, wie er so dasteht, schließlich gar zwei von ihr angebrannte, zwischen meinen Fingern aber wieder ausgelöschte Tabakswürmer in der Hand,39 ficht ihn nicht an, denn diesen Nebeneindruck gewinnt allenfalls der Leser, nicht aber die Dame. Zusätzlich spiegelt die dezente Rhetorik der Schilderung ihren zwiespältigen Inhalt: Zwar wird für jeden Leser unmissverständlich klar, was der Erzähler meint, aber anders als in der Taubenschlag-Episode aus ›Balkan‹ und der Grubenszene des ›Mahdi‹ arbeitet er hier nicht mit expliziten Formulierungen - ›Kot‹, ›Unrat‹, ›Ungeziefer‹ -, sondern mit diskreten Andeutungen.

Man könnte die Liste solcher Beispiele noch lange fortsetzen. Erinnert sei an jene Szene im ›Schut‹, in der Halef beharrlich an einem ebenso wohlschmeckenden wie zähen Stück Wurst herumkaut; die nähere Untersuchung ergibt schließlich, dass sich die Zähigkeit einem Stück Handschuh verdankt, das in die Wurst geraten ist.40 Im dritten ›Mahdi‹-Band tritt ein



//116//

Wirt auf, bei dem die am Körper klebenden Exkremente buchstäblich Teile der Kleidung ersetzen.41 In demselben Band stößt der Held auf Reste von Kamelexkrementen,42 die zwar nicht näher untersucht werden, aber immerhin als Beweis dienen, dass er einen Karawanenweg gefunden hat. Die Heroen des Wilden Westens legen normalerweise keinen Wert auf Glanz und Sauberkeit und verachten einen jeden, der auf sein Aeußeres etwas gibt; dies führt gelegentlich dazu, dass sie Old Shatterhand verkennen, der dann, wenn es die Umstände gestatten, sogar seine Hände rein gewaschen hat.43 Von erlesener Ekelhaftigkeit ist eine Szene, die mit allerlei Hinweisen auf die Schattenseiten des Reisens im Orient, auf das Schicklichkeitsgefühl44 des Erzählers und den Kampf gegen Schmutz und Ungeziefer45 eingerahmt wird: Eine Reiskugel landet auf Umwegen im Mund von Krüger-Bey, und der Arme muss sie hinunterschlucken, obwohl er genau weiß, dass darin ungekochte Kleintiere stecken, die deren voriger Besitzer sich gerade aus dem Nacken gezogen und zwischen den Nägeln seiner Daumen guillotiniert hat.46 Aber auch ohne den genauen Blick auf weitere Textstellen lässt sich ein Fazit formulieren, das unsere einleitenden Beobachtungen weiterführt.

Zunächst einmal: Es ist also tatsächlich ganz und gar nicht richtig, dass Mays Abenteuerromane den Komplex Schmutz, Kot, Gestank, körperlicher Ekel etc. vollständig aussparen; das alles kommt in reichem Maße und in den verschiedensten Zusammenhängen vor (in den Kolportageromanen wohl noch intensiver als in den hier besprochenen, aber sie sind eben nicht Gegenstand dieser Arbeit). Der Autor geht mit dem Thema phantasievoll um und spricht dabei die ganze Spannbreite menschlicher Sinne an. Einige seiner Figuren produzieren durch mangelhafte Hygiene ihre körperliche Unsauberkeit selbst, anderen wird sie durch äußere Umstände aufgezwungen. Schmutz und Schlimmeres können ein Zeichen charakterlicher Defizite sein, das Schlimmere kann aber auch im Dienste höherer Gerechtigkeit den Erzbösewicht strafen. Der atmosphärische Gehalt der einschlägigen Szenen variiert ebenfalls: Sie können komisch, aber auch tragisch sein oder irgendwie dazwischen liegen und diverse Kombinationen aufweisen. Gelegentlich wird die Reflexion über das Thema als retardierendes Moment eingesetzt; es kann sich aber auch als unmittelbar spannungssteigerndes Element entfalten und dazu dienen, die Identität von handelndem Ich, erzählendem Ich und Reiseschriftsteller zu beglaubigen. Von Unsauberkeit ist manchmal ganz nebenbei, in kaum mehr als einem Halbsatz, die Rede; an anderer Stelle wird sie dagegen zum Motor der Handlung.

Auffallend ist, dass an fast allen Stellen, da von besonders ekligen Dingen die Rede ist, diese rasch in einen übergreifenden bzw. anderweitigen Kontext eingeordnet werden: Als die Ausscheidungen ins Blickfeld rücken, in denen der verletzte Old Shatterhand wochenlang herumliegt, kommt der Erzähler auf den Umgang mit gewissen Lesern zu sprechen; Judith Silbersteins Körperschmutz wird sogleich als Zeichen ihrer charakterlichen Entwicklung gedeutet; die Schilderung der Pestsymptome wird als



//117//

Angebot für ein Bildungserlebnis deklariert. May vermeidet es also in der Regel, die Unappetitlichkeiten lange als solche stehen zu lassen, und mindert damit ihren unmittelbaren Eindruck. Er zielt auf gedämpfte Effekte und Affekte.

Wenn man von den Einzelheiten abstrahiert und nach einer Gesamttendenz sucht, muss man zunächst wieder den - ich nenne es einmal so - ideologischen Stellenwert des Prinzips Sauberkeit beachten: Das Reine adelt, das Unreine ist schändlich. May nutzt das Thema, um seine Figuren zu sortieren und damit Übersicht und Ordnung in seinem abenteuerlichen Kosmos zu fördern: Der oberste Held hängt dem Prinzip Sauberkeit an - einmal rettet es ihm sogar das Leben -, seine Freunde folgen ihm da in gewissem Abstand, und wer fahrlässig oder absichtlich grob gegen das Prinzip verstößt, ist in unterschiedlichem Grade negativ konnotiert; auch rassische, nationale und kulturelle Stereotypen machen sich bemerkbar. Aber die Wildnis ist nun einmal kein heimatliches Wohnzimmer, in dem ein Staubkörnchen auf der Vitrine oder ein Schmutzfleck im Sofakissen die Hausfrau blamieren würde; absolute Prinzipientreue wäre hier lächerlich, und so huldigt May vor seiner Phantasiewelt denn auch noch einem anderen Grundgedanken, dem Realitätsprinzip: Bis ins Extrem kann er das reinlichkeitsorientierte Sortieren in Anbetracht der Verhältnisse nicht treiben. Wenn die Situation es erfordert, darf auch der Held im Dreck agieren; mehr als eine sekundenlange spätere Scham kostet ihn das nicht, und es ziert ihn sogar, dass er - siehe die Taubenschlag-Episode - eine verkotete, stinkende Umgebung besser erträgt als Freund Halef. Wie wenig das Empfinden des Normallesers dazu taugt, die besonderen Umstände der Abenteuerwelt einvernehmlich nachzuvollziehen, zeigt en passant, aber dafür umso nachdrücklicher das Beispiel der schmackhaft durchwurmten Bärentatzen, und die Reflexion aus ›Winnetou I‹, die ich zu Beginn zitiert habe, weist generalisierend auf diese Fremdheit hin. Indem May einerseits das jedem Leser bekannte Prinzip Sauberkeit hochhält, es andererseits aber vielfältig relativiert, wird auch bei diesem Komplex sichtbar, wie heikel und facettenreich sich die Beziehungen zwischen der Traumwelt des Helden und der empirischen Wirklichkeit von Autor und Leser gestalten.

Mays Umgang mit dem Thema hat Grenzen, die er nicht überschreitet: Seine Figuren müssen nicht urinieren und nichts ausscheiden, die menschliche Anal- und Sexualsphäre bleiben - zumindest vordergründig - tabu; Sätze wie das aus dem ›Götz von Berlichingen‹ stammende berühmteste aller Goethe-Zitate scheinen bei Karl May ebenso undenkbar wie Länder namens Pipi und Popo, die in Georg Büchners ›Leonce und Lena‹ auftauchen. Andererseits meidet er im Hinblick auf physische Aspekte des Schmutzes und Ekels nur Schilderungen, die er für extrem gehalten haben mag: Während menschliche Fäkalien nicht vorkommen, kann vom Erbrechen als einem Krankheitssymptom im Zusammenhang mit Informationen über eine seltene Krankheit die Rede sein; von der eigentlich sinnvollen genauen Untersuchung tierischen Kots wird nichts gesagt, die Sache selbst aber wird zum Agens spannender Episoden. So bewegt sich der Erzähler May an den Schicklichkeitsgrenzen seiner Zeit entlang und entwirft einen fruchtbaren Kompromiss zwischen den edlen idealistisch-erzieherischen Ambitionen seiner Texte und der Rekapitulation durchaus unedler Körperfunktionen, die unabdingbar zur vermeintlichen Realität der dargestellten Welt gehören. Es ist ein Kompromiss, der sich auch literaturhistorisch gut nachvollziehen lässt, indem er auf originelle Weise alte Tabus und neue Derbheit verknüpft.



Für Hinweise danke ich den Herren Klaus Eggers, Walther Ilmer (†) und Martin Lowsky.



1 Vgl. Harald Eggebrecht: Sinnlichkeit und Abenteuer. Die Entstehung des Abenteuerromans im 19. Jahrhundert. Berlin/Marburg 1985; Andreas Graf: Abenteuer und Sinnlichkeit. Ein Versuch. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1993. Husum 1993, S. 338-355.
2 Vgl. Helmut Lieblang: »Sieh diese Darb, Sihdi ...«. Karl May auf den Spuren des Grafen d'Escayrac de Lauture. In: Jb-KMG 1996. Husum 1996, S. 133.
3 Helmut Schmiedt: Analrhetorik. Zur literarischen Karriere von etwas, über das man nicht spricht. In: Wirkendes Wort. 50. Jg. (2000), Heft 3, S. 337
4 Ebd, S. 338
5 Vgl. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a. M. 1999. Zum neueren kulturellen Umgang mit der Analsphäre generell vgl. Reinhard Wilczek: »Ich find' dich scheiße«. Anmerkungen zur (literarischen) Analkultur der Gegenwart. In: Wirkendes Wort. 52. Jg. (2002), Heft 1, S. 138-148.
6 Vgl. Helmut Schmiedt: Ein neues deutsches Theaterstück in Dortmund uraufgeführt. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft 115/1998, S. 48f.
7 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou, der Rote Gentleman I. Freiburg 1893, S. 153; Reprint Bamberg 1982. Zu Mays pädagogisch-didaktischen Intentionen generell vgl. Ulf Abraham: Der Held als Musterschüler und Oberlehrer. Der Motivkomplex ›Schule - Lernen - Belehren‹ in ausgewählten ›Reiseerzählungen‹ Karl Mays. In: Jb-KMG 2002. Husum 2002, S. 67-80.
8 Zit. nach: Bernhard Kosciuszko: »Mit herzlichem Gruße Ihr Old Shatterhand«. Karl May als Briefeschreiber. In: Briefkultur des 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Rainer Baasner. Tübingen 1999, S. 127
9 May: Winnetou I, wie Anm. 7, S. 317
10 Ebd.
11 Ebd.
12 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. IV: In den Schluchten des Balkan. Freiburg 1892, S. 372; Reprint Bamberg 1982
13 Ebd., S. 382
14 Ebd., S. 383
15 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. V: Durch das Land der Skipetaren. Freiburg 1892, S. 463ff.; Reprint Bamberg 1982.
16 Vgl. Karl May: Der Sohn des Bärenjägers. In: Die Helden des Westens. Stuttgart u. a. o. J. (1890), S. 39ff., S. 114ff., S. 128ff., S. 137ff.; Reprint der ersten Buchausgabe u. d. T. Der Sohn des Bärenjägers. Bamberg 1995.



//119//
17 Ebd., S. 138
18 Ebd., S. 139
19 Ebd., S. 141
20 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXII: Satan und Ischariot III. Freiburg 1897, S. 34; Reprint Bamberg 1983
21 Karl May: Der verlorne Sohn oder Der Fürst des Elends. Dresden 1884-86, S. 113; Reprint Hildesheim/New York 1970
22 May: Satan und Ischariot III, wie Anm. 20, S. 33
23 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VI: Der Schut. Freiburg 1892, S. 100; Reprint Bamberg 1982
24 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. III: Von Bagdad nach Stambul. Freiburg 1892, S. 304; Reprint Bamberg 1982
25 Ebd., S. 305
26 May: Durch das Land der Skipetaren, wie Anm. 15, S. 443
27 May: Der Schut, wie Anm. 23, S. 117f.
28 May: Von Bagdad nach Stambul, wie Anm. 24, S. 324
29 Ebd., S. 333
30 Ebd., S. 334
31 Ebd., S. 339
32 Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. XVII: Im Lande des Mahdi II. Freiburg 1896, S. 550; Reprint Bamberg 1983
33 Ebd., S. 555
34 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XIX: Old Surehand III. Freiburg 1896, S. 406; Reprint Bamberg 1983
35 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XX: Satan und Ischariot I. Freiburg 1897, S. 88; Reprint Bamberg 1983
36 Ebd., S. 90
37 Ebd., S. 94
38 Ebd., S. 90
39 Ebd., S. 91
40 Vgl. May: Der Schut, wie Anm. 23, S. 82ff.
41 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XVIII: Im Lande des Mahdi III. Freiburg 1896, S. 155 und 157; Reprint Bamberg 1983.
42 Ebd., S. 408
43 May: Der Sohn des Bärenjägers, wie Anm. 16, S. 56f.
44 May: Der Schut, wie Anm. 23, S. 99
45 Ebd., S. 102
46 Ebd., S. 100



//120//

[leere Seite]





Inhaltsverzeichnis
Alle Jahrbücher
Titelseite KMG

Impressum Datenschutz