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RUPRECHT GAMMLER


Literaturbericht II





›Karl Mays »Im Lande des Mahdi«‹ ist der siebte Band der Karl-May-Studien1 gewidmet. Der Mangel an relevanter Forschungsliteratur - der möglicherweise auch durch die Schwächen eines Werkes wie der ›Mahdi‹-Trilogie mit den oft schlecht umgesetzten Umfangsvorgaben der Fehsenfeld-Bände mitverursacht ist - gestattete den Abdruck nur eines älteren Beitrages, Alfred Biedermanns ›Über Karl Mays »Mahdi«‹ aus dem Karl-May-Jahrbuch 1927. Deswegen läßt sich auch die Entscheidung der Herausgeber rechtfertigen, zwei noch greifbare Aufsätze aus den Jahrbüchern der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 1995 und 1981 aufzunehmen: Eckehard Koch: ›Im Lande des Mahdi. Karl Mays Roman zwischen Zeitgeschichte und Moderne‹ (überarbeitet und modifiziert) und unverändert Bernhard Kosciuszko: ›»In meiner Heimat gibt es Bücher ...«. Die Quellen der Sudanromane Karl Mays‹. Mit zwei neuen thematisch verwandten Untersuchungen von Johannes Zeilinger ›Mohammed Achmed ibn Abdullah. Der sudanesische Mahdi‹ und Helmut Lieblang: ›Quilt. Die Quellen der Sudanromane Karl Mays. Eine Ergänzung‹ bildet dieser Forschungskomplex, der mit seinen 178 Seiten fast 60 % des Bandes füllt, eindeutig den Schwerpunkt.

Kochs gründliche Studie, die zeitlich bis zu dem im Westen noch vor kurzem unbeachteten aktuellen blutigen Konflikt im Sudan reicht, läßt einige Fragen noch unbeantwortet. Er benennt zwar Mays besonders abschätzige Darstellung des Islam und seiner Vertreter in diesem Roman, ohne jedoch eine spezielle Ursache zu ergründen, und verweist lediglich auf dessen insgesamt positivere Schilderung im Gesamtwerk. Dabei bewertet er auch die als »etwas einseitige Sichtweise« (S. 104) Mays bezeichnete negative Darstellung des historischen Mahdi etwas zu verharmlosend. Zeilingers wohltuend sachlicher Beitrag korrigiert auf der Basis von neuerem objektiven Material diese Verzeichnung. Galten 1981 Kosciuszkos Quellenstudien zum ›Mahdi‹ als abschließend, so bietet Lieblangs bescheiden benannte, jedoch umfangreiche »Ergänzung« ansehnliches neues Material. Sein besonderes Verdienst liegt auch hier in der in früheren Arbeiten entwickelten Darstellung von Mays raffinierter Quellenverarbeitung und -mischung, die nicht zuletzt voreilige Zuschreibungen entlarvt. May mußte nicht dort gewesen sein, um in der Fiktion jene Authentizität zu erreichen, die in der Lektüre überzeugt. Orte und Landschaften mögen in der Wirklichkeit manchmal weitaus weniger gewaltig sein, als die Romane suggerieren, doch das beunruhigt nur jene, denen jedes Verständnis dafür abgeht, daß der Roman seine eigenen Wirklichkeiten und auch seine Räume schafft.



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Auf literaturwissenschaftlichem Gebiet können die Arbeiten des Bandes zur Mahdi-Trilogie nur einen ersten Auftakt bieten: Silvia Zahners »erzähltheoretische Analyse« ›Das Ich im Lande des Mahdi‹ verdankt ihre Entstehung Zahners Dissertation ›Karl Mays »Ich« in den Reiseerzählungen und im Spätwerk. Eine erzähltheoretische Analyse‹ (veröffentlicht als Sonderheft der KMG Nr. 123/2001). In dem Befund, daß das erzählende ›Ich‹ bei May sich - wie in den meisten seiner Romane - nicht an die Regeln hält, vor allem die Perspektiven vermischt, sieht sie seine besondere Wirkung; die zahlreichen Dialoge, die vom ›Ich‹ in geradezu bewundernswerter Weise erinnert werden, seien als »weitaus häufigste erzählerische Mittel (...) verantwortlich für die relativ hohe Unmittelbarkeit des Textes« (S. 220). Ob die Dialoglastigkeit ein bewußt gewähltes Stilmittel des Autors ist oder auch der Entstehungsform in Fortsetzungen oder Lieferungen und damit einer größeren zu honorierenden Textmenge geschuldet ist, bleibt zu untersuchen.

Um das Bild des Ich-Helden, »(w)ie Karl May im ›Mahdi‹ seine Leser beeindruckt«, geht es auch in Helmut Schmiedts Studie ›Autor und Autorität‹, um eine Frage, die in der Forschung schon öfter gestellt wurde, hier jedoch weitere Ergebnisse zeitigt. Allgemein menschliche Eigenschaften, geschickt gepaart mit übermenschlichen, kreieren einen zwar omnipotenten Helden, der sich jedoch wirkungsvoll bescheiden zurückzunehmen vermag. Der Autor überzeugt durch den gelungenen Einsatz vielfältiger Erzählmittel und legitimiert sich durch Spezialwissen, in einem zentralen Punkt jedoch beim zeitgenössischen Leser fatalerweise durch die höchst fragwürdige Darstellung von Islam und Orient, da dieser seine bekannten Vorurteile bestätigt sieht.

Innovativ entwickelt Michael Niehaus anhand von ›Karl Mays »Im Lande des Mahdi«‹ Überlegungen zu einer ›Theorie der Warnung‹, die bisherige sprechakttheoretische Untersuchungen erweitert, basierend auf dem Befund, daß »verschiedene Formen des Warnens und Gewarntwerdens eine strukturell bedeutsame Funktion haben« (S. 239) für den Status des Romans und des Ich-Erzählers. Seine Ergebnisse dürften nicht nur für den vorliegenden Roman Gültigkeit besitzen, sondern - wie auch die Arbeiten von Zahner und Schmiedt - für das gesamte Werk Mays, darüber hinaus möglicherweise für das ganze Genre.

›»Welch ein Sujet für einen Dichter!«. Der Nil als Schauplatz in Karl Mays »Im Lande des Mahdi«‹ ist die Studie von Joachim Biermann überschrieben, die aufzeigt, »daß May den Mahdi ganz bewußt als Nil-Roman konzipiert hat« (S. 262), eingefangen wie seine Zeitgenossen vom Mythos dieser Landschaft, den auch seine Leser teilen konnten. Der Strom bestimmt nicht nur die Reiseroute, sondern inspiriert unmittelbar und zentral den Gang der Handlung bis in letzte Verästelungen, ja bis zur ungewöhnlichen Benennung zweier Personen des Werks mit seinem Namen.



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Als Reverenz an den 2003 verstorbenen Mitarbeiter an mehreren Studien-Bänden nahmen die Herausgeber Walther Ilmers ›Nachwort‹ zum 1979 erschienenen Hausschatz-Reprint unter dem Titel ›Autobiographische Spiegelungen im »Mahdi«-Roman‹ als letzten Beitrag auf.

Auch mit diesem siebten Band gelingt es den Herausgebern, insgesamt das Niveau der vorhergehenden zu halten. Die Aufsätze nehmen im wesentlichen den abgeschlossenen Text der ›Hausschatz‹-Fabel in den Blick, die aus Umfangsgründen angeleimte Erzählung im 3. Band der Buchausgabe bleibt unberücksichtigt. Ihre postulierte Aufwertung des Romans in diesem Rahmen wirkt durchaus nachvollziehbar. Die vermehrt auftretenden Druckfehler dürften dem Verlag anzulasten sein. Als nächstes Projekt werden die Südamerikaromane ›Am Rio de la Plata/In den Cordilleren‹ aufbereitet.

Der Rezensent hatte seinerzeit auf die Bedeutung der verstreut veröffentlichten Beiträge Helmut Schmiedts hingewiesen, die inzwischen in einem Sammelband vorliegen. Doch ist der Autor seitdem nicht untätig geblieben. In der Jubiläumsschrift zum 175jährigen Bestehen der Stadtbibliothek Koblenz,2 die an der Entstehung des KMG-Reprints ›Am Tode‹ beteiligt war, findet sich der Aufsatz ›Kurioses und Paradoxes aus der Wirkungsgeschichte Karl Mays‹. Er bietet zwar dem Kenner nichts wesentlich Neues, erläutert jedoch präzise an Beispielen - wie Mays Renommiersucht in den neunziger Jahren, dem Fall des Lehrers Fronemann, der für seinen Mayhaß die jeweilige, konträre politische Großwetterlage zu instrumentalisieren trachtete, Arno Schmidts seinerzeit umstrittenem Buch ›Sitara‹, das im Ergebnis die eigentliche Mayforschung initiierte, den Filmen und der höchst fragwürdigen Bearbeitungspraxis seiner Werke - Mays unvorhersehbar wechselvolle Wirkungsgeschichte. Den Auftakt bildet die Beobachtung, daß in der deutschen Übersetzung von John Lennons Buch ›In seiner eigenen Schreibe‹ verballhornte Mayfiguren auftreten; das Original bezieht sich auf Enid Blyton, die ja in Deutschland durchaus präsent ist, während May Lennon kaum bekannt gewesen sein dürfte.

Es gibt schon mehrere dem Komplex May gewidmete enzyklopädische Werke, so z. B. ›Das große Karl May Figurenlexikon‹, herausgegeben von Bernhard Kosciuszko, oder ›Das neue Lexikon rund um Karl May‹ von Michael Petzel und Jürgen Wehnert. In einem weiteren biographischen Spezialwerk ›Karl May. Personen in seinem Leben‹,3 das Auskünfte erteilen soll, mit wem »May Umgang pflegte, sei es persönlich oder per Brief« (S. 8), listet Volker Griese Hunderte von Namen auf. Da May erst in den 1890er Jahren aus seiner lebensgeschichtlich begründeten, selbstgewählten Isolation trat und den Kontakt mit seinen Lesern und der Öffentlichkeit geradezu suchte, mußte der Anteil beschriebener Personen aus früherer Zeit vergleichsweise gering bleiben. Dem Autor ist durchaus bewußt, daß er mit diesem Unternehmen unter vertretbarem Einsatz zunächst einmal ein soli-



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des Fundament gelegt hat, dem aufwendige Spezialforschungen zur Ergänzung der Daten - hierbei ist besonders noch ›Das Genealogische Handbuch des Adels‹ heranzuziehen - folgen müssen, wie die Erfassung weiteren Personals, was nur von mehreren zu leisten ist. Trotzdem ist das Ergebnis beachtlich, den Forscher wie den interessierten Laien dürfte die hohe Zahl der Einträge überraschen.

Über die Qualität der Karl-May-Haus-Informationen brauchen hier keine weiteren Worte verloren zu werden. Heft 164 bietet schwerpunktmäßig wieder biographisches Material, so z. B. die Dokumentationen von Hans-Dieter Steinmetz über ›Karl Mays Aufenthalte im Sommerkurort Mulda‹ nahe Freiberg/Sachsen ab 1898 und Hartmut Schmidt über Mays Begegnung mit dem Orientreisenden, Diplomaten und Ausgräber Max von Oppenheim in Kairo, dessen Lebensweg den selbsternannten ›Weltreisenden‹ fasziniert haben dürfte. Beiträge zur Wirkung schließen sich an: In gewohnt gründlicher Weise unterrichtet Steinmetz, der in diesem Heft gleich dreimal vertreten ist, über die Karl-May-Ehrung 1942 in Hohenstein-Ernstthal, ein Beispiel des »Umgang(s) mit Leben und Werk Karl Mays während des Nationalsozialismus« (S. 28). Die Sonderausstellung im Karl-May-Haus ›Karl May in der DDR‹, die auch das trübe Kapitel ›Stasi‹ und ihre Helfer nicht ausspart, wird von Klaus-Peter Heuer gewürdigt. Ihm ist beizupflichten, daß diese Ausstellung insbesondere »zwischen Rhein und Elbe (...) immer wieder gezeigt werden« (S. 65) sollte.

Pünktlich zur Tagung der KMG in Plauen erschien Heft 17,5 dessen Inhalt zu mehr als zwei Dritteln wiederum von dem derzeit emsigsten biographischen Mayforscher Hans-Dieter Steinmetz bestritten wird mit seiner umfänglichen Arbeit zum ›Aufenthalt Karl Mays am Lehrerseminar der Vogtlandstadt‹ Plauen, die erweitert im vorliegenden Jahrbuch abgedruckt ist. Zwei weitere kürzere Beiträge von Karin Mogritz über ›Schenkungen Karl Mays für Bibliotheken der Lößnitzgemeinden (1896)‹ und von Steinmetz zu Mays amerikanischem Doktordiplom liefern Bausteine zu seiner Vita. Positiv ist anzumerken, daß der Redakteur in diesem Heft auf seine sonst regelmäßig gepflegte Polemik verzichtet hat.

Zu seinen runden Jubiläen (25, 50 und 75 Jahre) hat der 1913 gegründete Karl-May-Verlag Festschriften unterschiedlichen Umfangs veröffentlicht. Dazu gesellt sich zur 90-Jahrfeier eine Broschüre,6 die überwiegend als Programmheft mit zahlreichen Anzeigen und Glückwünschen für das ›Karl-May-Fest 2003 in Bamberg‹ konzipiert war.

Nach letztem ›Kenntnisstand‹ hatte Franz Kafka May während der Amerikareise 1908 kennengelernt (vgl. die Besprechung von Peter Henischs bekanntem Werk in Jb-KMG 1995, S. 371ff.), und der Leser konnte einiges über die Entstehung bedeutender Werke erfahren. Nun belehrt uns Otto Emersleben, daß doch alles ganz anders war und wie »Karl May den Nordpol entdeckte«.7 Bereits 1904 überquerte er, wie unzählige Male zuvor, den Atlantik, um auf einem Geographenkongreß in New York einen Vortrag zu



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halten, und wurde dort von dem Polarforscher Peary eingeladen, an seiner nächsten Expedition teilzunehmen. Viel wichtiger war die Aufgabe, die ihn die nächsten Jahre beschäftigte. Von Präsident Teddy Roosevelt persönlich beauftragt, Frieden zu stiften zwischen Japan und Rußland, unternimmt er diverse abenteuerliche Reisen von Petersburg bis Tanger mit tollen Verwicklungen und Begegnungen, etwa mit Wilhelm II., der ihm sogleich das Du anbietet. Anschließend gelingt es ihm als einzigem Mitglied der Expedition von Commander Peary, als Eskimo verkleidet den Nordpol zu erreichen.

Wirkungsmächtige Werke, deren Helden längst ein Eigenleben führen, und die schillernde Biographie eines Autors, der pointiert im Gewande des Ich-Erzählers auftritt, haben eine starke Gravitation, wie die qualitativ höchst unterschiedlichen Schriften eines Dworczak, Weiszt, Kreiner oder Henisch zeigen. Der Reiz des vorliegenden Buches liegt in der Gegenüberstellung und dem gemeinsamen Auftreten eines weltläufig bis aberwitzig agierenden Schriftstellers May alias Old Shatterhand alias Kara Ben Nemsi, dessen immense zeitgenössische Wirkung nicht zuletzt auf seiner Reputation als Reisender beruhte, und des realen Forschers Peary, dem es letztlich genügt, sein Ziel tatsächlich nur in der Phantasie erreicht zu haben, wenn er der Presse und damit der Öffentlichkeit den Erfolg vorgaukeln kann, wobei die Aktionen unseres Autors am Ende fast realer wirken.

Das Genre, dem dieser Roman zuzurechnen ist, ist im angelsächsischen Raum entstanden und besitzt seine besten Vertreter dort - etwa Laurie King, die jüngst mit ihren Büchern über den alternden, jung verheirateten Holmes den Sherlock-Holmes-Kosmos innovativ bereichert hat, oder George MacDonald Fraser, der gründlichst recherchiert, fact und fiction stilsicher vermischend, mit den Memoiren seines notorischen ›Helden‹ Flashman die legendären Höhepunkte des viktorianischen Empire ironisierend auferstehen läßt. Obwohl Emersleben zahlreiche Zitate Mays und seiner Protagonisten verwendet und seine Großsprecherei phantastisch überzogen karikiert, wobei ihm sehr schöne, entlarvende Szenen gelingen, erreicht er dieses Niveau nur teilweise, da in seiner Geschichte innere Stringenz und Geschlossenheit insgesamt nicht durchgehalten sind.



1 Karl Mays ›Im Lande des Mahdi‹. Karl-May-Studien Bd. 7. Hrsg. von Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Oldenburg 2003
2 Helmut Schmiedt: Kurioses und Paradoxes aus der Wirkungsgeschichte Karl Mays. In: Bürgerbibliothek seit 1827. Jubiläumsschrift zum 175jährigem Bestehen der Stadtbibliothek Koblenz. Veröffentlichungen der Stadtbibliothek Koblenz 46. Hrsg. von Ulrich Theuerkauf. Koblenz 2002, S. 205-216
3 Volker Griese unter der Mitwirkung von Wolfgang Sämmer: Karl May - Personen in seinem Leben - ein alphabetisches annotiertes Namensverzeichnis. Münster 2003



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4 Karl-May-Haus-Information. Heft 16. Hrsg. vom Karl-May-Haus Hohenstein-Ernstthal/IG des Karl-May-Hauses e. V. (2003)
5 Karl-May-Haus-Information. Heft 17. Hrsg. vom Karl-May-Haus Hohenstein-Ernstthal/IG des Karl-May-Hauses e. V. (2003)
6 Karl-May-Fest 2003 in Bamberg. 90 Jahre Karl-May-Verlag. Bamberg 2003
7 Otto Emersleben: In den Schründen der Arktik. Wie Karl May den Nordpol entdeckte. Leipzig 2003





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