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Werner Kittstein


Karl May, ›Der Sohn des Bärenjägers‹
Eine deutsche Männergeschichte





1. Einleitung: Die zwiespältige Leitfigur des Romans


Nach der Gefangennahme Jemmys und Franks durch die Schoschonen entspinnt sich zwischen Old Shatterhand und Winnetou folgender Dialog:


»Es ist gar nicht gekämpft worden,« meinte Winnetou.

»Nein. Die beiden Bleichgesichter ... haben klugerweise eingesehen, daß ein Kampf nur zu ihrem Nachteile ausschlagen könne, und sich also freiwillig ergeben.«

Winnetou ... fragte:

»Klugerweise, sagt mein Bruder? Ich möchte ihn fragen, ob er und Winnetou sich ergeben hätten, wenn sie es gewesen wären, die von den Schoschonen verfolgt wurden!«

»Ergeben? Wir uns? Ganz gewiß nicht! ... Wir hätten gekämpft bis zum Tode, und viele der Schoschonen wären gefallen, ehe man uns ergriffen hätte.«

»Vielleicht hätten wir auch nicht gekämpft. Winnetou möchte den Schoschonen sehen, der ihn und Old Shatterhand ereilen könnte, wenn beide ihre Rappen unter sich haben. Und ist Old Shatterhand nicht ein Meister ... im Verbergen seiner eigenen Spuren? ... Keines ihrer Augen hätte unsere Fährte bemerkt. Tapferkeit ist die Zierde eines Mannes; durch Klugheit aber vermag er mehr Feinde zu besiegen als durch den Tomahawk.« (124/99f.1)


Das kurze Gespräch wird von zwei Themen bestimmt. Zum einen geht es um das dialektische Verhältnis der Tugenden Tapferkeit und Klugheit. Männer sollten sich wehren, aber dann würden viele Menschen, vielleicht auch sie selbst, sterben; reißen sie aus, setzen sie sich dem Vorwurf der Feigheit aus, aber alle überleben. Der Wert einer Eigenschaft ist nicht absolut positiv oder negativ besetzt, sondern von der jeweiligen Situation abhängig. Zum andern geht es um die geschlechtliche Zuschreibung dieser Tugenden. Tapferkeit ist nach Winnetous Worten ausdrücklich männlich konnotiert; der Klugheit wird zwar ebenso explizit ein bedeutender Wert zuerkannt, aber sie konstituiert nicht männliche Identität! Bemerkenswerterweise muss Old Shatterhand von Winnetou (sehr nachsichtig!) darauf hingewiesen werden, dass er in diesem (theoretischen) Falle die Tapferkeit übersteigert bzw. zum falschen Zeitpunkt anwendet; ein anderes Verhalten wäre viel effektiver und letztlich ebenfalls ehrenhaft. Klug ist aber nicht nur die Entscheidung, den Kampf zu vermeiden; klug ist in der Gesprächssituation auch das Abwägen der verschiedenen Möglichkeiten, wie man in bestimm-



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ten Situationen handeln sollte, ohne dass man sich zu stark von der Außensicht abhängig macht, also der Frage, wie das eigene Verhalten anderen Menschen erscheinen mag und von ihnen bewertet wird. Dieses Abwägen nimmt die Leitfigur des Romans nicht vor. Sie würde rigide nach dem Männlichkeitsmuster handeln, zu dem unbedingt der mutige Kampf gehört, das Winnetou in diesem Fall aber verwirft. Damit erhält die gerade erst in der Begegnung mit Jemmy und Frank als Idealheld aufgebaute Figur Old Shatterhand einen Riss, der auf eine unreflektiert übernommene Männlichkeitskonstruktion zurückzuführen ist.

Während es soziologische bzw. sozialpsychologische und ideologiekritische Arbeiten zu Karl Mays Reiseromanen gibt,2 sind die speziell für die Jugend verfassten Romane Mays bisher kaum einmal unter diesen Aspekten untersucht worden.3 Auch seit dem Einsetzen einer breiten wissenschaftlichen Beschäftigung mit Mays Werk durch die Gründung der Karl-May-Gesellschaft 1969 wurden die Jugendromane fast ausschließlich unter allgemeinen literarischen, literaturpädagogischen sowie, zumal ›Der Sohn des Bärenjägers‹, unter biographischen und psychoanalytischen Gesichtspunkten betrachtet,4 die den Roman weitgehend auf eine Darstellung des gespannten Verhältnisses Karl Mays zu seinem Vater reduzieren. Darin schlägt sich die bis heute vorherrschende biographische Tendenz der Karl-May-Forschung nieder. Eine Interpretation des Romans ›Der Sohn des Bärenjägers‹ unter neuen Fragestellungen kann dagegen seinen gesellschaftspolitischen, ideologischen und sozialpsychologischen Gehalt aufzeigen und ihn - wie auch manche Ich-Romane, z. B. ›Und Friede auf Erden!‹5 - als bedeutsames Produkt und Spiegelbild der inneren Zerrissenheit des ausgehenden 19. Jahrhunderts erweisen.

Im Mittelpunkt des Interesses soll nicht die Titelgestalt, sondern die erwachsene Leitfigur stehen, in der sich wie in einem Brennspiegel alle in dieser Arbeit behandelten Probleme sammeln. Ihr Verhalten ist auffällig und merkwürdig. Old Shatterhand führt eine Gruppe von Westmännern an, die einen Ritt zur Befreiung des Bärenjägers Baumann und seiner Begleiter in gefährliches Indianergebiet unternehmen. Dieser Ritt bildet die äußere Handlung des Romans. Den Gefangenen droht ein grässlicher Martertod, sie sollen an den Gräbern von Erschlagenen regelrecht geopfert werden. Man möchte annehmen, die Befreiung sollte so bald wie möglich erfolgen. Aber der Ritt geht zunächst so gemächlich wie möglich vonstatten. Es wird noch eine große Zahl von Indianern als Verbündete gewonnen, die sich beim Schlusskampf als weitgehend überflüssig erweisen. Man lagert und erzählt ausgiebig - über weite Strecken der Handlung scheint das eigentliche Ziel des Rittes ganz aus dem Blick zu geraten. Verantwortlich dafür sind weniger, wie zu erwarten wäre, Hindernisse, die das Fortkommen verzögern würden, als das von Old Shatterhand verordnete Schneckentempo, das sich nicht nach der Todesgefahr, in der die Gefange-



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nen schweben, richtet, sondern nach dem Termin des nächsten Vollmondes (vgl. 444/279), an dem Baumann und seine Begleiter getötet werden sollen.

Erst die eigensinnige Aktion der Ausreißergruppe um Jemmy und Davy beschleunigt das Tempo der Verfolgung durch den Haupttrupp entscheidend. Aber obwohl sie, wie Old Shatterhand voraussieht, den Erfolg des gesamten Unternehmens gefährdet, unternimmt dieser keinen ernsthaften Versuch, sie zu verhindern.

Das Ziel, um dessentwillen die beschwerliche Reise unternommen wird, steht also gar nicht im Vordergrund. Worum geht es dann in diesem Roman? Die Reise scheint in erster Linie zum Zwecke der Bewährung unternommen zu werden. Die Reisenden müssen individuelle und soziale Tugenden beweisen, sich über sich selbst Rechenschaft ablegen, sie müssen sich mit Anderen auseinandersetzen. Dabei gerät ihr Selbstbild mit dem Fremdbild von den Indianern in Konkurrenz und wird auf die Probe gestellt.

Der spannenden Handlung des Romans eingeschrieben sind Wertungen bis hin zu Begriffsdefinitionen: Was ist richtig, vernünftig, sinnvoll, nützlich oder notwendig zur Erreichung der angestrebten Ziele? Was ist tapfer und ehrenvoll, was ist klug? Antworten auf diese Fragen werden in der Regel durch erfolgreiche oder erfolglose Aktionen gegeben; sie konstituieren, positiv oder negativ, das Selbst- und Fremdbild der Personen und Personengruppen. Seltener werden die Fragen verbal beantwortet, wie in der eingangs besprochenen Szene. Aber immer drehen sie sich um die Möglichkeiten männlicher Bewährung, bei Weißen und Indianern. Darum erscheint es nützlich, den diesbezüglichen ideologischen Hintergrund des Romans zur Klärung heranzuziehen. Welche Eigenschaften wurden zur Entstehungszeit des ›Sohn des Bärenjägers‹ Männern und Frauen zugeschrieben und welchem Wandel unterliegen diese Zuschreibungen?



2. Zum Geschlechterdiskurs um 1890 im Kaiserreich


Die Literatur der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts thematisiert die Veränderungen der physischen und sozialen Welt durch die Auswirkungen der Industriellen Revolution in Deutschland und reflektiert das Gefühl der Umwälzung aller geistigen und moralischen Grundlagen. Die Reaktion der Menschen, vor allem der Angehörigen des Groß- oder Bildungsbürgertums, war zwiespältig, im wirklichen Leben wie auch in der Fiktion. Die rasante Beschleunigung in allen Lebensbereichen, der geographische und vor allem soziale Mobilitätsschub und die damit gegebenen neuen Auf-, aber auch Abstiegsmöglichkeiten in der gesellschaftlichen Hierarchie, das schnelle Wachstum der Städte, die Umbrüche im Familienleben und im Ge-



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nerationenverhältnis, die Veränderung der Landschaft, dazu die politischen Herausforderungen - das alles löste optimistische, aber mehr noch pessimistische Erwartungen aus, je nachdem, ob man von der Entwicklung zu profitieren hoffte oder Nachteile fürchtete. Allen gemeinsame Empfindung aber war die Verunsicherung durch die einschneidenden Veränderungen in den gewohnten Lebensbahnen.

Signifikant für das Urteil der konservativ-kritisch Denkenden über die Moderne ist die Äußerung des nationalliberalen Historikers Max Lenz von 1896 über die ›Fin-de-Siècle‹-Stimmung der bevorstehenden Jahrhundertwende. Danach herrschte bei den Vertretern aller Bevölkerungsgruppen »Misstrauen in die Zukunft«, da keine Zeit »so voll von Verwirrung und Zersetzung wie die von heute« gewesen sei:


Alltäglich liest und hört man es, dass eine Revolution vor der Tür stehe, eine Umwälzung nicht bloß des Staates, sondern der Gesellschaft und der Nationen, aller Lebensgewohnheiten, eine Umschmelzung aller überlieferten Vorstellungen von Recht und Sitte, der moralischen und religiösen Begriffe.6


Für das Thema der vorliegenden Arbeit besonders wichtig ist die sich ausbreitende Angst vor einer »Feminisierung«7 der Gesellschaft, die sich in allen Bereichen des öffentlichen Lebens abzuzeichnen schien, auch auf technisch-industriellen Feldern, ja sogar im Kriegswesen.

Nun hatte das Leitbild des deutschen Mannes - Kraft, Härte, Kampfesmut - schon das ganze 19. Jahrhundert hindurch, spätestens seit den Freiheitskriegen, auch bei den männlichen Gebildeten in einem gewissen Widerspruch zu der Fähigkeit zu empfindsam-zarten Regungen und zur Beschäftigung mit den schönen Künsten gestanden. Auch die wilhelminische Kultur hatte ihre »weiche Seite«.8 Aber dieser Widerspruch verschärfte sich mit der befürchteten Verweichlichung und Verweiblichung des Mannes durch die Bedingungen der industriellen Produktion und durch die in alle Lebensbereiche hineinwirkende Technik, die selbstbestimmten, nur dem Manne möglichen Körpereinsatz zunehmend überflüssig machte. Selbst im Kriege, der männlichen Domäne schlechthin, wurden persönlicher Mut, Einzelaktionen und individueller Opfertod immer mehr von technischen Apparaten, unübersichtlichen Befehlsstrukturen und anonymem Massensterben abgelöst. Unmittelbar nach dem deutsch-französischen Krieg konnte ein Oberst in der Ansprache an seine Soldaten noch echte Mannestugenden preisen:


»Soldaten! Dankbar sieht unser Heldenkaiser Wilhelm, unser geliebter Großherzog, unser ganzes deutsches Vaterland auf Eure Taten hin, und ich, Euer Regiments-Kommandeur, der Euch im Frieden für diesen heißen Kampf vorbilden konnte, und die Ehre gehabt, Euch in diesen heißen Gefechten zu führen, ich spreche Euch heute mit bewegtem Herzen meinen Dank aus für den Heldenmut,



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den Ihr bewiesen, für die Ausdauer, mit der Ihr die großen Strapazen ertragen, für die Manneszucht, die Ihr gehalten habt.«9


Es spielt in unserem Zusammenhang keine Rolle, welchen Realitätsgehalt eine solche Rede hatte, sondern auf welche Stimmungen, Gefühle und Einstellungen sie traf. Der 1870/71 kriegsentscheidende Gebrauch technischer Hilfsmittel wie Eisenbahnen und Telegraph für Transport und strategische Führung wurde aufgrund des Sieges und der pompösen Reichsgründung im allgemeinen deutschen Bewusstsein weitgehend verdrängt zugunsten eines heldischen Tapferkeitsmythos. Spätestens aber die Materialschlachten des Ersten Weltkriegs und der Stellungskrieg im Westen raubten dem Mann seine angeblich geschlechtstypischen Eigenschaften und Kräfte und ließen beim besten Willen keinen Sinn mehr im Einsatz des Einzelnen erkennen. So schreibt der Soldat Dominik Richert nach einem der ersten Gefechte an der Westfront:


Mut, Heldentum, ob es das wohl gibt? Ich will es fast bezweifeln, denn im Feuer sah ich nichts als Angst, Bangen und Verzweiflung in jedem Gesicht geschrieben. Von Mut, Tapferkeit und dergleichen überhaupt nichts, denn in Wirklichkeit ist's doch nur die furchtbare Disziplin, der Zwang, der den Soldaten vorwärts und in den Tod treibt.10


Das wachsende Ohnmachtsgefühl wurde häufig durch die Übersteigerung der Merkmale männlicher Identität kompensiert: Je schwächer sich der Mann fühlte, desto lauter pries er die Kraft, die ihm abhanden zu kommen drohte - eine Entwicklung, die sich im Duellwesen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich artikulierte11 und auch im militärischen Bereich ihre Wirkung zeigte.

Gemeinsam ist den bürgerlichen Männlichkeitsentwürfen12 zur Entstehungszeit des Romans eine Reihe von Merkmalen, zu denen man etwa die folgenden Eigenschaften und Fähigkeiten zählen kann: Freiheit/Freiheitsdrang, Abenteuer, Aktivität, v. a. im Sinne von Kampf/Kampfbereitschaft, Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung, Willenskraft, Mut, Sachkenntnis/Umsicht. Zum Männerbild gehört der ausschließlich in militärischen Kategorien denkende und handelnde, kurz der s o l d a t i s c h e Mann. Er pflegt Waffen und Pferde, übt Gehorsam und Männerkameradschaft, und er liebt sein Vaterland, was die geschlechtlichen Merkmale mit denen nationaler Identität verbindet. Dabei handelt es sich um Zuschreibungen, d. h. um die Konstruktion von Merkmalen, die Bestandteil der »bürgerliche(n) Ideologie vom weiblichen und männlichen ›Geschlechtscharakter‹«13 waren. Vielen dieser Merkmale wohnt eine Problematik inne, die sie entweder selbst brüchig werden oder aber in Konflikt mit anderen Merkmalen geraten lässt. Im nächsten Kapitel sollen einige Beispiele im Roman betrachtet werden.



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Verbreitete Meinung war, geschlechtliche Identitätsmerkmale seien säuberlich zuzuordnen. Eine Äußerung in einem May-Text mag dies illustrieren: (D)er Blick ihres Auges ließ errathen, daß sie neben weiblicher Milde auch über ein gutes Theil männlichen Selbstbewußtseins verfüge.14 Der Satz formuliert in trivialisierter Form, aber kurz und bündig die in dem 1903 erschienenen Buch ›Geschlecht und Charakter‹ von Otto Weininger entwickelte Ansicht, in Männern und Frauen könnten zwar Merkmale des jeweils anderen Geschlechts vorkommen, trotzdem bleibe ein grundlegender Unterschied zwischen »Mann (M)« und »Weib (W)« bestehen. Der Mann allein verfügt danach über Moral, logisches Denkvermögen und Genialität, über »Wahrheit, Reinheit, Treue, Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber«; der Frau bleibt dies alles wesensfremd. »M lebt bewußt, W lebt unbewußt.«15

Entsprechend gab es einen Kanon weiblicher Identitätsmerkmale.16 Die auf Joachim Heinrich Campes berühmtes Buch ›Väterlicher Rath für meine Tochter‹, das 1796 zum ersten Mal erschien, zurückgehende Bestimmung der Frau als ›Gattin, Hausfrau und Mutter‹ war auch im ausgehenden 19. Jahrhundert das ideale Ziel bürgerlichen Frauenlebens. Der weibliche Geschlechtscharakter zeichnete sich danach durch »warmes unmittelbares Gefühl«,17 durch Passivität und Selbstaufgabe aus; die Tätigkeit der Frau sollte auf Haus und Familie beschränkt bleiben. Weibliches Glück bestand in der bergenden Abhängigkeit vom Mann und in der Sorge um das Wohl des Gatten und der Kinder. Liebe, Zuneigung, Pflege, Sanftmut und Rücksichtnahme, nicht zuletzt auf die Gefühle der Familienangehörigen, wurden als die besonderen Tugenden der bürgerlichen Frau angesehen.18 Da aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch die bürgerliche Frau verstärkt in das außerhäusliche Erwerbsleben drängte, »das bisher als die Domäne des Mannes gegolten hatte«, wie Helene Lange, die führende Vertreterin der deutschen Frauenbewegung, 1895 in der ›Gartenlaube‹ feststellte,19 und sich damit das alte Familienband auflöste, waren gerade die Zuschreibungen der Passivität und Selbstverleugnung in Frage gestellt; das Leben der Frauen geriet wie das der Männer zunehmend in Widerspruch zum propagierten Ideal.20



3. Geschlechtliche Identitätsentwürfe im Roman


3.1 Die Männlichkeit der Helden


Wie wird in ›Der Sohn des Bärenjägers‹ die männliche Geschlechtsidentität der weißen Helden konstruiert, welche Merkmale weist der Männlichkeitsentwurf auf?

Das Dasein der Westmänner zeichnet sich vor allem durch F r e i h e i t bzw. einen unbändigen F r e i h e i t s d r a n g aus. Sie sehen sich als selbstbestimmte Menschen, die von Institutionen und geschriebenen Gesetzen, ebenso von



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Alltagsregeln unabhängig sind. So können Jemmy und Davy völlig frei über ihre Zeit verfügen: »Ob wir beide nach Montana reiten, um dort Büffel zu jagen, oder ob wir vorher einen Abstecher nach dem Yellowstone machen, um mit den Sioux-Ogallalla einen Walzer zu tanzen, das ist uns sehr einerlei«, sagt Jemmy (66/54). Vor allem brauchen sie in der reinen Männergruppe auf keine Frauen Rücksicht zu nehmen. Solange weibliche Personen in der Umgebung von Männern leben, solange eine Familie vorhanden ist, die an den Mann als Familienvater aus seiner Männlichkeit resultierende Ansprüche stellt, wird seine Freiheit eingeschränkt und die dem Manne vorbehaltenen Aufgaben werden in sich widersprüchlich. So muss Baumann in der Vorgeschichte für die Ernährung seiner Frau und der beiden Kinder sorgen; als er einmal seine Schutzfunktion als Familienvater zugunsten der Aufgabe als Ernährer vernachlässigt und auf die Jagd geht (»um Fleisch zu schießen«; 67/59), kommt es prompt zur Katastrophe: Frau und Tochter werden von einem Grizzlybären zerfleischt, auch der Sohn gerät in höchste Lebensgefahr.

Ein weiteres Problem ergibt sich aus dem möglichen Konflikt zwischen dem Freiheitsanspruch und dem Männlichkeitsmerkmal Gehorsam, worüber noch zu handeln sein wird.

Das Leben der Westmänner ist ein einziges A b e n t e u e r ; wenn es als Reise gestaltet wird, besteht es aus einer Folge gefährlicher Ereignisse. Oft sind sie vorhersehbar und werden regelrecht aufgesucht; dazu gehört z. B. das Befreiungsunternehmen gegen die Ogallalla. Oft handelt es sich aber auch um unkalkulierbare Wechselfälle, wie das unerwartete Auftauchen der Upsarocas. Nicht nur die Haupthandlung, auch alle Binnengeschichten, die in diesem Roman erzählt werden, zeichnen sich durch ihren Abenteuercharakter aus; sie handeln ausschließlich von unvorhergesehenen Gefahren - allerdings sehr unterschiedlicher Qualität -, in denen sich der Mann als Mann bewähren muss.

Die Westmänner sind dauernd a k t i v , sie leben in immerwährender K a m p f b e r e i t s c h a f t. Sie müssen sich gegen Indianer und wilde Tiere zur Wehr setzen und Befreiungsaktionen durchführen. Als Beispiele freiwillig übernommener heldenhafter Kämpfe seien nur genannt: Old Shatterhands Dreikampf in der Vorgeschichte, die Zweikämpfe gegen die Upsarocas, Martins Kampf mit dem Schweren Moccassin. Eine wesentliche Gemeinsamkeit im Heldischen liegt in der scheinbaren äußerlichen Unterlegenheit der Helden, die durch Mut, Tapferkeit, Selbstbeherrschung und andere überragende Eigenschaften aufgewogen wird. Sogar während der langen Ruhephase in dem Roman, dem Erzählabend am Forellenteich, sind zumindest Old Shatterhand und Winnetou ununterbrochen auf dem Quivive. Umgekehrt bedeutet das, ohne diese beiden wären die übrigen Westmänner einem Angriff der Upsarocas aus dem Hinterhalt ausgesetzt, da sie sich rückhaltlos dem Erzählen hingeben und damit die Erfüllung einer wichtigen Männerpflicht vernachlässigen. Problematisch aber wird diese rastlose Aktivität, wo sie sich beispielsweise im Eindringen in fremde Lebensräume zeigt und die Freiheit



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und die Rechte der Ureinwohner einschränkt, was bis zum kaltblütigen Doppelmord (hier an den Upsaroca-Kundschaftern) führt. Die Aktivität kann sogar in wahre Besessenheit ausarten, wie an der zwanghaften Jagd der beiden Baumanns auf Bären zu sehen ist: »Wenn Vater hört, daß irgendwo sich ein Bär hat sehen lassen, so läßt es ihm keine Ruhe, bis er demselben eine Kugel oder die Klinge gegeben hat.« (81/64) Deren Verhalten illustriert auch den regelrechten Konstruktionscharakter männlicher Identität in diesem Roman, denn die Begründung für den Hass auf eine bestimmte Tiergruppe, von der ein Exemplar nur seinem Instinkt folgte, ist letztlich völlig irrational.

K a l t b l ü t i g k e i t und S e l b s t b e h e r r s c h u n g zeigen sich bei vielen Gelegenheiten, beispielsweise als Old Shatterhand die beiden Ogallalla, die Martin und Wohkadeh im Schlammkrater rösten wollen, erschießt: Hundert andere hätten jetzt vor Aufregung gezittert; dieser Mann aber blieb so ruhig, als ob er beabsichtige, im Freundeskreise nach einer Scheibe zu schießen (531/340), oder als er auf die Schmähungen der Upsarocas mit lächelndem Munde (410/253) antwortet und sich ganz auf den Zweikampf konzentriert. Hier zeigt das anders geartete Verhalten der beiden Jünglinge Martin und Wohkadeh nicht nur ihren Mut, sondern auch einen gewissen Rückstand in der Ausbildung ihrer Männlichkeit, da sie ihre Affekte noch nicht beherrschen können. Problematisch wird es da, wo sich Kaltblütigkeit offensichtlich zu einem absoluten Wert entwickelt, wie beim Doppelmord an den Kundschaftern, der auf der Handlungsebene sinnlos und aus gänzlich anderen Gründen erklärbar ist, die weiter unten an der Figur Old Shatterhands analysiert werden sollen.

Von den weiteren Merkmalen: W i l l e n s k r a f t , M u t (siehe dazu die Einleitung!), S a c h k e n n t n i s / U m s i c h t sollen hier nur ihre negativen Auswirkungen und die Möglichkeit, sie zu verfehlen, betrachtet werden. Old Shatterhand z. B. kennt zwar die indianischen Gebräuche, weshalb er meint, man könne sich mit der Verfolgung noch genügend Zeit lassen, er lässt aber jegliche psychologische Kenntnis vermissen, nämlich die Einsicht in den seelischen Zustand Martin Baumanns, und bringt deshalb nicht das geringste Verständnis für dessen Unruhe und Ungeduld auf; damit provoziert er das Ausreißen Martins und seiner Begleiter. Auch Baumann verfehlt das Ideal männlicher Um- und Voraussicht. Er lässt, wie schon erwähnt, seine Familie ohne Schutz zurück; dabei müsste er wissen, dass ein gefährliches Tier in der Gegend sein kann, und entsprechende Vorkehrungen treffen. Grober Leichtsinn ist es schließlich, dass er allein die im Leben der Wildnis unerfahrenen Edelsteinsucher in das Yellowstone-Gebiet führt.

G e h o r s a m , die notwendige und sinnvolle Unterwerfung unter den Willen einer Autorität, damit die Gruppe ihre Schlagkraft behält und wichtige Ziele erreicht werden können, ist ein weiteres Merkmal des Männlichkeitsentwurfs. In rein männerbündischen Formationen wie dem Militär spielt es, in Einheit mit der K a m e r a d s c h a f t , eine hervorragende Rolle.

Das Unternehmen der Westmannsgruppe und ihrer indianischen Verbündeten ist zwar im strengen Sinne keine militärische Aktion, aber mit ei-



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ner solchen vergleichbar. Die Westmänner, überwiegend Deutsche, dazu der Yankee Davy, der durch das lange Beisammensein mit Jemmy Deutsch versteht und spricht und auch ›deutsche‹ Verhaltensweisen und Einstellungen (Schonung von Menschenleben) erlernt hat, in gewissem Sinne auch Winnetou, der zumindest seiner Gesinnung nach deutsches Wesen angenommen hat,21 stellen sozusagen eine nationale Einheit dar, die sich deutlich von den Indianern absetzt (das zeigt sich besonders anschaulich am Forellenteich, wo sie in einem eigenen Lichtkreis sitzen), aber auch von den Yankees, die Wohkadeh überfallen haben; die Heldengruppe bildet einen eigenen männlich-militärischen Raum. Ihr Unternehmen, in gewissem Sinne also ein Nationalkrieg gegen einen grundsätzlich andersartigen Gegner, wird zur Bewährungsprobe wahrer Männlichkeit unter schwierigsten Bedingungen. Hier herrscht ein Männerbild, das von kriegerischen, überhaupt von männlichen Tugenden beherrscht wird und die enge Verknüpfung von nationaler und geschlechtlicher Identität beweist.

Ein ganz wesentliches Merkmal eines solchen soldatischen Männlichkeitsentwurfs ist der Gehorsam gegenüber dem Vorgesetzten; die Stellung eines Vorgesetzten kann man Old Shatterhand trotz aller Schneckentänze, die er in dieser Hinsicht, etwa Jemmy und Davy gegenüber, aufführt, zusprechen. Dazu mehr weiter unten. Dieses Merkmal ist aber nun gerade sehr problematisch, es birgt reichlichen Konfliktstoff. Das Männerbild der Institution Militär, im Roman der Westmannsgesellschaft, weist zwei wesentliche Merkmale auf: die Bereitschaft, jederzeit individuell zu handeln, und die hohe Wertschätzung der Kameradschaft. Daraus folgen zwei Aufgaben für ihre führenden Persönlichkeiten, beim Militär die Offiziere, im Roman vor allem Old Shatterhand. Sie müssen sich kameradschaftlich in die Gruppe einfügen, sich gleichzeitig aber aufgrund ihrer Funktion aus der Gruppe herauslösen und gewissermaßen einen Herrschaftswillen entwickeln, um zu führen und die anderen zum Gehorsam zu bewegen.

Wie leicht diese Anforderungen in Widerspruch zueinander geraten können, lässt sich an der Führerfigur des Romans zeigen. Diese soll nun einer genaueren Analyse unterzogen werden. Wie gestaltet sich die Beziehung Old Shatterhands zu dem übrigen Personal des Romans, zu den Gefährten und den Indianern? Welches Licht wirft dies auf die ihm zugeschriebenen Eigenschaften? Welche Brüche oder Widersprüche weist die Persönlichkeitsstruktur dieser Leitfigur auf?



3.2 Old Shatterhand: Autorität und Humanität - das Doppelgesicht des ›soldatischen‹ Männlichkeitsentwurfs am Beispiel des ›Vorgesetzten‹


Bezeichnend für die Gestaltung der alle überragenden Führerpersönlichkeit sind die sich leitmotivisch durch den Roman ziehenden ersten Begegnungen Old Shatterhands mit verschiedenen Personen und Gruppen; es



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sind erzählerische Rituale, die nach einem einfachen Schema gestaltet werden: Der berühmte Westmann wird zunächst nicht erkannt oder sogar verkannt; die Nennung seines Namens löst im Allgemeinen höchste Bewunderung und freudige Gefolgschaft aus (zu dem langen Davy als Ausnahme siehe unten). Als zum Beispiel der Schoschonenhäuptling Tokvi-tey erkennt, dass ihn Old Shatterhand besiegt hat, kann er sich unter einem schweren, erlösenden Seufzer (222/146) wieder seines Lebens freuen und ist auch - nicht ohne sich vorher nach der Zahl der Feinde zu erkundigen - zu einem Bündnis gegen die Ogallalla bereit. Selbst hartgesottenen Indianern gibt der berühmte Name Auftrieb: Beim Klange dieses Namens erhoben auch die anderen Upsarocas sich vom Boden. Sie schienen auf einmal ganz andere Menschen zu sein. (442/273)

Als Erstes treffen der dicke Jemmy und der Hobble-Frank auf Old Shatterhand. Beachtenswert ist der Kontext, in dem diese Begegnung stattfindet. Eine überirdisch-geheimnisvolle Stimmung ist während der Verfolgung der rätselhaften Fährte aufgebaut worden; Jemmy vermutet sogar, bei dem Verursacher könne es sich um den Geist der Savanne (106/83) handeln. Unter dem überwältigenden Eindruck seiner Erscheinung spielt Jemmy sein Vorhaben, den Bärenjäger aus der Hand der Ogallalla zu befreien, sogleich herunter zu einem unsicheren: »... wir sind unterwegs, um zu sehen, was wir für ihn thun können.« (107/86) Noch bevor Shatterhand seine wahre Identität enthüllt, nimmt er die bald erfolgende Unterordnung der beiden unter seine Führung vorweg: »Pah!« unterbrach er ihn kurz und befehlend. (120/90)

Anders gestaltet sich die erste Begegnung Shatterhands mit dem langen Davy. Von Beginn an ist sie auf beiden Seiten von unterschwelliger Aggressivität geprägt, die darauf deutet, dass beide ihre Beziehung als ein Konkurrenzverhältnis empfinden. Davy ist von der Erscheinung des großen Westmanns keineswegs beeindruckt, sondern beansprucht gleichen Rang wie dieser: »Mann, dieser Gedanke ist sehr gut; er ist so ausgezeichnet, als ob ich selbst ihn erfunden hätte!« Shatterhand reagiert mit ungewohntem Sarkasmus: »Ja, der lange Davy hat von allen Jägern, welche zwischen den zwei Meeren reiten und laufen, stets die besten Gedanken!« Darauf Davy: »Spottet nicht, Sir! So klug wie Ihr seid, bin ich wohl auch. Verstanden?« (138/105f.) Selbst als klar wird, wen Davy vor sich hat, freut er sich zwar riesig, mit diesem berühmten Westmann und seinem Blutsbruder die Pfeife der Kriegskameradschaft (139/109) (der Erzähler benutzt den Ausdruck des ›soldatischen‹ Mannes!) rauchen zu dürfen, und gesteht aufrichtig, einen »Pudel geschossen« zu haben (138/108). Den Anspruch auf Gleichrangigkeit gibt er aber keineswegs auf; es kommt zu immer neuen Auseinandersetzungen zwischen den beiden, deren zunehmende Schärfe meist von Old Shatterhand ausgeht: »Euer Name ist als der eines guten Westmannes bekannt, und so muß ich mich über Eure Rede wundern, Master Davy.« Oder auf Davys anerkennende Worte: »(D)as was ich Euch sage, muß sich jeder sagen, der



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nur einige Monate lang im Westen gelebt hat«. (153/112f.) Davys Anspruch, überhaupt als Westmann anerkannt zu werden, wird damit zurückgewiesen. Er benimmt sich zwar einige Male tatsächlich eher wie ein Anfänger, der über keinerlei Sachkenntnis verfügt, aber die Kritik könnte weniger herabsetzend formuliert werden.

Sehr schnell wird deutlich, warum Davy so aufmüpfig ist: Er will, weil er sich für gleich fähig und also gleichrangig hält, auch gleichberechtigt sein. Daher fühlt er sich durch Winnetous Worte, alle sollten sich nach Old Shatterhand richten, zurückgesetzt (vgl. 154/114). Es ist das gleiche Problem, wie es mit der Figur Old Wabbles in ›Old Surehand I‹ aufgeworfen wird. Shatterhand propagiert schließlich für alle Gruppenmitglieder das gleiche Recht, an wichtigen Entscheidungen teilzunehmen, worauf Davy eine merkwürdige Antwort gibt: »Well! das wird sich finden.« (154/114) Das kann nur bedeuten, dass Davy dem Zugeständnis Shatterhands misstraut. Die folgende Auseinandersetzung über das angemessene Verhalten den zu erwartenden Schoschonen-Kundschaftern gegenüber zeigt denn auch, wie Shatterhands Worte gemeint sind. Dieser glaubt alles besser zu wissen und demonstriert das sogleich zusammen mit Winnetou, indem er zwei Indianer ohne Blutvergießen gefangen nimmt; darum braucht er sich auf keine demokratische Diskussion oder gar Abstimmung einzulassen.

In dem Examen, das Shatterhand später mit Davy veranstaltet (vgl. 173/121f.), wimmelt es nur so von Anzüglichkeiten und versteckten Vorwürfen gegen den Yankee. Es ist in diesem Zusammenhang nicht nötig, auf die groben Ungereimtheiten in der Befreiungsepisode einzugehen (z. B. mühsames Anschleichen, um alle Spuren zu vermeiden, gleichzeitig aber das Anbringen von Zeichen der Anwesenheit!). Wichtig ist, dass sich Davy zum wiederholten Male als Old Shatterhand gleichwertig brüstet und von diesem rüde zurechtgewiesen wird. Vor allem die ganz unnötige Aufforderung Shatterhands, Davy möge eigene Vorschläge machen, um ihn darauf abzukanzeln (vgl. 173/121f.), kann nur darin begründet sein, dass der berühmte Mann seine Position gefährdet sieht und daher glaubt, sie immer wieder mit Worten und Taten behaupten zu müssen.

Wie anders äußert Jemmy in einer vergleichbaren Szene seine Kritik an Shatterhands Verhalten: » N e h m t s n i c h t ü b e l , Sir, daß ich e i n B e d e n k e n ausspreche,« sagte er. »Ihr habt gegen diese Roten als n o b l e r K e r l gehandelt; aber eine solche N o b l e s s e ist da w o h l am unrechten Platze.« (411/256; Hervorhebung W. K.) Jemmy bittet fast unterwürfig um Verständnis; er leitet seinen Einwand mit einer captatio benevolentiae ein, bevor er maßvoll Kritik übt. Und Shatterhand reagiert entsprechend leutselig, erklärt ausführlich seine Beweggründe, bis er mit einem ironisch gemeinten Vorschlag, Jemmy solle den Zweikampf mit dem Anführer der Upsarocas selbst übernehmen, die erneuten Einwände des Dicken kurzerhand abschneidet.

Die Beziehungsstruktur der Westmannsgruppe ist eben auch eine stilistische: Umgangsformen und Ausdrucksweise prägen sie. Ein mit bewundern-



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dem Lob garniertes zögerndes Zweifeln greift Shatterhands Führerstellung nicht an. Dagegen stellt Davy von Anfang an deren Berechtigung sehr direkt in Frage und provoziert damit nicht allein barsche, ja beleidigende Reaktionen, sondern handfeste Demonstrationen der Fähigkeiten des Führers.

Neben der Führerstellung, die Old Shatterhand in diesem Roman durchgehend abzusichern sucht, ist die humane Einstellung, nach der auch die grimmigsten Feinde wenn irgend möglich geschont werden müssen, eines der charakteristischen Merkmale dieser Figur. Genauer wäre zu sagen: die von ihm propagierte Humanität, die doch zwiespältig erscheint, da sie an prominenter Stelle ins Gegenteil umschlägt. Es handelt sich um die Erschießung der beiden Upsaroca-Kundschafter, einen Vorgang, der ein bezeichnendes Licht auf das zwiespältige Selbstbild der Leitfigur dieses Romans wirft und darum eine genaue Analyse verdient. Diese muss in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.

In einer gewissermaßen offiziösen Verlautbarung erläutert Old Shatterhand selbst dem langen Davy seine Haltung:


»Wißt Ihr, Menschenblut ist eine ungeheuer kostbare Flüssigkeit. Winnetou und Old Shatterhand wissen das ganz genau und haben keinen einzigen Tropfen vergossen, wenn es nicht unbedingt notwendig war. Ich bin ein Freund der Indsmen; ich weiß, wer recht hat, sie oder diejenigen, welche sie immer und immer wieder zwingen, ihre guten Rechte bis aufs Messer zu verteidigen. Der rote Mann kämpft den Verzweiflungskampf; er muß unterliegen; aber ein jeder Schädel eines Indianers, welcher später aus der Erde geackert wird, wird denselben stummen Schrei zum Himmel stoßen, von welchem das vierte Kapitel der Genesis erzählt. Ich schone den Indianer, selbst wenn er mir als Feind entgegentritt, denn ich weiß, daß er von anderen dazu gezwungen wird. Darum kann es mir auch heute nicht einfallen, einen Mord zu begehen.« (154/115)


Es geht darum, die erwarteten Kundschafter der Schoschonen unschädlich zu machen. Soll man sie töten, was Davy für unumgänglich hält, oder gefangen nehmen? Um Letzteres dem ewig nörgelnden Westmann vorzuführen, wünscht sich Shatterhand geradezu die Kundschafter herbei, die ihm auch prompt den Gefallen tun. In der Rede sind zwei Argumente zu erkennen: Grundsätzlich hat jeder Mensch das Recht auf Leben; die Indianer führen einen gerechten Kampf gegen die weißen Eindringlinge und werden von diesen zu ihrem Verhalten gezwungen. Festzuhalten gilt, dass das Töten der Indianer als Mord bezeichnet wird.

Shatterhand hat diese Einstellung in seinem Kampf mit Winnetou praktiziert, von dem dieser dem Schwarzen Hirsch erzählt (vgl. 554/351f.). In der weiteren Vorgeschichte, bei seiner Auseinandersetzung mit den Ogallalla, von der Wohkadeh und Winnetou berichten, ist Shatterhands Verhalten zwiespältig, aber auch etwas unklar, da die Berichte in wichtigen Einzelheiten widersprüchlich sind. In beiden Fällen wird ihm aber menschenfreund-



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liches Verhalten zugesprochen, wenn Wohkadeh sagt: »Er schont das Blut und das Leben seiner Feinde; ... und nur, wenn es sein eigenes Leben gilt, tötet er den Gegner.« (52/52) Darum hat er auch seine drei Gegner damals erst in den Zweikämpfen getötet. Auch Winnetou stellt fest: »Er wollte sie [die Ogallalla] nicht töten ...« (570/359) Den Upsarocas gegenüber lässt Shatterhand die gleiche Milde walten. Er begründet dies in dem schon oben erwähnten Gespräch mit Jemmy ganz ähnlich wie Davy gegenüber (»Und da es mir nicht einfallen kann, Menschen abzuschlachten, denen Gott ganz dieselben Rechte wie mir verliehen hat ...«, 411/257). Aber nicht nur darum will er einen fairen Zweikampf, sondern auch weil er Christ ist und weil er es für ehrlos hält, wehrlose Menschen niederzuschießen. Außerdem erwartet Shatterhand ganz pragmatisch, dass er in den Schoschonen und Upsarocas neue Verbündete gewinnt.

Die Humanität, christlich gesprochen: Nächstenliebe ist nicht durch ein religiöses, ethisches oder soziales System vorgegeben; der Verweis auf sein Christsein erfolgt nur nebenbei (vgl. 411/257). Sie ist auch kein Bestandteil des Männlichkeitsentwurfs. Shatterhand hat offenbar aus individueller Einsicht sein humanes Handeln - wenigstens theoretisch - zur eigentümlichen Gewohnheit werden lassen. Diese Einsicht bestimmt sein Verhalten, das er auch gegen alle Einwände verteidigt, solange es sich mit anderen Teilen seines Selbstbildes vereinbaren lässt; sie ist zu einer Art Selbstzwang geworden, selbst wenn sie Probleme bereitet, beispielsweise dazu zwingt, sein eigenes Leben im Zweikampf einzusetzen, und damit das Rettungsunternehmen für Baumann und dessen Gefährten gefährdet. Er richtet sich fast ausnahmslos nach dieser Maxime. Dass er zwei Ogallalla-Krieger erschießt, als sie im Begriff sind, Martin und Wohkadeh in einen Schlammkrater hinabzulassen, ist als Notwehr vollständig gerechtfertigt, da anders dieser Doppelmord nicht zu verhindern ist. Aber die Hüftschuss-Szene, in der zwei junge Indianer getötet werden, ohne dass es sich um Notwehr handelt, bezieht ihre Problematik aus der besonderen Konfliktträchtigkeit gerade einer so individuell begründeten Humanität; diese kann in bestimmten Situationen mit den internalisierten Männlichkeitsidealen und dem absoluten Führungsanspruch kollidieren. Ganz davon abgesehen, dass genau die Folgen eintreten, die durch die Tötung der Kundschafter angeblich verhindert werden sollen, gibt es nicht nur im ›Bärenjäger‹ eine vergleichbare Stelle (154f./117), die zeigt, dass man feindliche Kundschafter ohne Blutvergießen überwältigen kann. In ›Der Scout‹ etwa22 schleicht sich Old Death an einen Lauscher an und überwältigt ihn. Ähnlich ist es in ›Winnetou I‹,23 wo Old Shatterhand eine Finte anwendet, indem er scheinbar in die Richtung schlendert, die ihn von dem feindlichen Späher wegführt, um sich diesem dann von hinten zu nähern und ihn zu überraschen. Aufschlussreich ist die Alternative, die Winnetou in demselben Roman dem alten Sam Hawkens, der unüberlegt ins Dunkel hinein geschossen hat, auf dessen Frage: »Ja, ja; aber was hätte mein roter Bruder denn an meiner Stelle gethan?« erläutert:



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»Entweder den Knieschuß angewendet oder mich still von hier entfernt, um dem Späher auf einem Umwege in den Rücken zu kommen.«24

Gibt es eine Erklärung für diese befremdliche Episode? Befragt man ihren engeren Kontext, ergibt sich folgendes Bild: Nach dem Forellenfang mit dem Intermezzo von Jemmys und Franks unfreiwilligem Bad wird eine romantische Lagerfeuerunterhaltung inszeniert. Der Erzähler leitet sie ein mit der Bemerkung: Eine solche Unterhaltung am Feuer, im Urwalde oder in der Prairie hat ihre ganz eigentümlichen Reize. Da werden die Erlebnisse der Anwesenden erzählt und die Thaten berühmter Jäger berichtet. (298/188f.) Und tatsächlich folgt nun eine jener traulichen Unterhaltungen, welche, geführt unter ruhig flimmernden Sternen, für lange Jahre in der Erinnerung bleiben,25 Unterhaltungen, die sonst von May nur angekündigt, aber entweder schnell wieder abgebrochen oder gar nicht erst begonnen werden. Jemmy und Frank geben zunächst drei Erzählungen zum Besten, die allerdings weniger von einer mutigen That oder einem hervorragenden Ereignisse (298/189) als von burlesken Streichen handeln und deshalb in einem lebendigen Konversationsstil immer wieder unterbrochen und kommentiert werden; das folgende Skunk-Abenteuer Bobs trübt die gute Stimmung der anderen Weißen keineswegs; dann berichtet Davy kurz von einem seiner Erlebnisse, der Begegnung mit einem meisterhaften Schützen, woraus sich zwanglos seine Aufforderung an Old Shatterhand ergibt, von seinen eigenen Schießkünsten zu erzählen. Der aber erzählt nicht, sondern führt zusammen mit Winnetou seine Treffsicherheit eigenhändig vor. Die Unschädlichmachung der zwei Kundschafter muss aber auf jeden Fall den Haupttrupp der Feinde aufmerksam machen und die Gefahr, die Old Shatterhand angeblich verhindern wollte, geradezu heraufbeschwören. Außerdem machen das feierlich-ehrenvolle Begräbnis der beiden und vor allem der Plan, den Upsarocas entgegenzureiten und sie gefangen zu nehmen, die Tötung im Nachhinein überflüssig. Es handelt sich also um nichts anderes als einen Doppelmord.26 Für das Unternehmen zur Rettung Baumanns und seiner Gefährten ist die Episode vollends überflüssig, denn die Upsarocas tragen nichts Wesentliches zur Rettung bei und erhöhen im Endkampf lediglich die Lautstärke beim Geschrei der Retter.

Es sind zwei außerhalb der Handlungsebene liegende Gründe für die Hüftschüsse zu erkennen, genauer: für Shatterhands Schuss; Winnetou erfüllt hier wie so oft in diesem Roman nur Hilfsdienste. Der eine Erklärungszusammenhang liegt auf der Ebene der von Männlichkeitsentwürfen geprägten P e r s o n e n b e z i e h u n g e n . Der lange Davy - ausgerechnet er, der Old Shatterhand bisher so kritisch gegenüber gestanden hat! - berichtet von einem Schießvirtuosen, mit dem er früher einmal zusammengetroffen war27 (vgl. 362/223). Trotz seiner Feststellung, Old Shatterhand und Winnetou seien unübertroffene Meisterschützen, hat er schon wieder eine Konkurrenzsituation aufgebaut. Und nun fordert er gar den großen Westmann auf, von einem eigenen »Kapitalstreich« (362/224) zu erzählen. Damit



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soll sich Shatterhand auf die gleiche Stufe stellen wie die zweitrangigen Westmänner, die bisher erzählt haben. Dabei ist er als Mann der Tat bekannt: »Der Krieger macht nicht viele Worte, sondern er spricht in Thaten«, äußert Shatterhand an einer Stelle (412/260) programmatisch. Auch das Verlangen Davys, eine Geschichte zum Besten zu geben, ist demnach als indirekter Angriff auf Old Shatterhands überragende Führerstellung zu werten, den dieser parieren muss, indem er seinen Vorrang erneut mit einer entsprechenden Tat beweist, in diesem Falle einem Schießkunststück. Dabei aber ›vergisst‹ er ganz seine humane Einstellung, die er auf seine Begleiter übertragen wollte und die man daher auch als Ausdruck seines Herrschaftswillens interpretieren kann, in den er den verdrängten Tötungstrieb kanalisierte. Das schlechte Gewissen, das dadurch verursacht wird, äußert sich in den leicht widerlegbaren Gründen, die er für die Aktion anführt, und vor allem in dem pompösen Bestattungsritual für die Erschossenen.

Schließlich ist noch eine im engeren Sinne e r z ä h l - s t r u k t u r e l l e Begründung der Hüftschüsse festzustellen: Die Aktion Old Shatterhands folgt fast automatisch auf das Vorhergegangene; die Lagerfeuer-Unterhaltung unterbricht die Abenteuerhandlung, lässt die Zeit sozusagen still stehen, sie steht in überhaupt keinem kausalen Zusammenhang mit dem Hauptstrang der Handlung; die Erzählungen entwickeln eine mächtige Eigendynamik, drei Erzählungen und Davys Aufforderung zwingen Shatterhand fast dazu, ebenfalls zu erzählen - aber kann er das? Der Mann der Tat begnügt sich nicht damit, seine charismatische Vorrangstellung mit Worten zu beweisen und seine eigenen Abenteuer bloß verbal zu wiederholen, er muss die von ihm verlangte Kunstfertigkeit im Schießen unmittelbar demonstrieren. So gesehen, erhält die Szene innerhalb der Romanfiktion nochmals die Qualität von nur in Erzählungen Vorgestelltem.

Demnach kann man der Hüftschussepisode den Rang einer Erzählung zusprechen, die wie die übrigen Binnenerzählungen in die Romanhandlung eingeschaltet ist und für die Handlung ebenso folgenlos bleibt, nur dass sie nicht von einer Romanperson, sondern vom Erzähler höchst persönlich in Form einer Umkehrung der Erzählsituation vom Reden ins Handeln vorgetragen wird. Die Macht des Erzählens ist hier wirksam geworden. Sie entlarvt allerdings die bisher dick aufgetragene Humanität Old Shatterhands als eine recht dünne Zivilisationstünche, die unter bestimmten äußeren und inneren Umständen leicht zugunsten der Aufrechterhaltung einer mit betonter Männlichkeit verbundenen Führerstellung durchbrochen wird. Der autoritäre Charakter der in diesem Roman herrschenden hierarchischen Ordnung wird einmal mehr offenkundig.

Nach dieser ersten Krise, in die das Selbstbild Old Shatterhands gerät und aus der es nur durch einen Akt brutaler Gewalt gerettet wird, folgt als zweite, noch größere Bedrohung seiner Position die Trennung der Ausreißergruppe vom Haupttrupp, womit Jemmy, Davy, Frank, Martin und Wohkadeh gegen den Führungsanspruch Old Shatterhands revoltieren. Diesem



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Akt der Auflehnung geht ein Streitgespräch zwischen Shatterhand und Jemmy (457f./281ff.) voraus. Wegen seiner Schlüsselrolle für die Analyse der Problematik des in diesem Kapitel behandelten Männlichkeitsentwurfs verdient es besondere Aufmerksamkeit. Das Gespräch nimmt eine sehr merkwürdige Stellung innerhalb der Handlung ein: Es bestärkt Old Shatterhand in seinem Verdacht, die Gruppe wolle etwas auf eigene Faust unternehmen und damit die ganze Rettungsaktion gefährden; trotzdem unternimmt der Westmann nichts, um den befürchteten Ausreißversuch zu verhindern. Deshalb wirkt das Gespräch auf den ersten Blick nicht nur überflüssig, sondern geradezu absurd. Erst eine detaillierte Untersuchung des Ablaufs zeigt seine Bedeutung im Sinngefüge des Romans auf.

Durch das Gespräch mit Martin argwöhnisch geworden, beobachtet Shatterhand die Gruppe heimlich und folgt schließlich dem sich entfernenden Jemmy. Seine Absichten scheinen klar: Da er dessen gefährliches Vorhaben durchschaut, steht zu vermuten, dass er in einer Unterredung das Unternehmen zu verhindern sucht, indem er Jemmy das Vorhaben argumentierend ausredet.


Er sah, daß Jemmy sein Pferd, welches nur angehobbelt war, anpflockte, und trat nun schnell auf ihn zu.

»Master Jemmy, was hat Euer Gaul verbrochen, daß er nicht frei fressen soll?« fragte er ihn.

Der einstige Gymnasiast wendete sich erschrocken zu ihm um.

»Ah, Ihr seid es, Sir? Ich hielt Euch doch für eingeschlafen.«


Gleich die erste Frage Shatterhands mit ihrem ganz verdeckten Vorwurf deutet die Strategie an, die Old Shatterhand während des ganzen Gesprächs verfolgen wird und der sich Jemmy anpasst. Beide ›reden um den heißen Brei herum‹, aber dies geschieht durchweg unter der Dominanz Shatterhands.

Zunächst versucht Jemmy, Zeit zu gewinnen, indem er die Frage unbeantwortet lässt. Aber damit hat er keinen Erfolg, Shatterhand steigert den Vorwurf ins Normative: »Und ich hielt Euch bis jetzt für einen ehrlichen Kerl!«

Diese weitere Verschiebung des Gesprächsthemas, die ironische Übernahme von Jemmys Ausdrucksweise und vor allem der Angriff auf dessen persönliche Integrität verleihen der Auseinandersetzung eine Schärfe, die eine Einigung der beiden Sprecher jetzt schon fast unmöglich macht.

»Alle Teufel! Meint Ihr etwa, daß ich es jetzt nicht mehr bin?« »Fast scheint es so!«

Jemmy weicht dem Vorwurf mit einer Gegenfrage aus, der Kraftausdruck zeigt sein schlechtes Gewissen. Die zweifache Abschwächung der Behauptung Shatterhands bestätigt dessen verdeckte Aussageweise.

»Warum?« [fragt Jemmy]



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Bisher hatte Old Shatterhand die Führung des Gesprächs inne, indem er es als ein mit verdeckten Vorwürfen gespicktes Verhör gestaltete; damit zwang er dem dicken Jemmy die Position des Unterlegenen auf. Nun versucht dieser mit seiner Frage, die Machtverhältnisse umzukehren; er will den Dialogpartner zwingen, sein Verhalten zu rechtfertigen. Der Versuch ist aber von vornherein zum Scheitern verurteilt, da das bloße Fragewort dem Gegenüber sogleich die Möglichkeit zu einer längeren Replik einräumt.

»Aus welchem Grunde erschrakt Ihr so, als ich jetzt hierher kam?«

Shatterhand nutzt aber nicht nur diesen Vorteil, sondern kontert mit einer Gegenfrage, die aufgrund ihrer Direktheit den anderen zu einer Rechtfertigung zwingt. Außerdem ignoriert er den Gegenstand der Frage Jemmys einfach und kehrt an den Ausgangspunkt des Streits zurück.

»Aus dem einfachen Grunde, aus welchem ein jeder erschrickt, der bei Nacht ganz unerwartet angeredet wird.«

Old Shatterhands Taktik ist erfolgreich; Jemmy beharrt nicht auf der geforderten Begründung, sondern setzt zu einer - wenn auch für einen Westmann lächerlichen - Erklärung an; auch der leicht sarkastische Unterton in seinen Worten kann die Unhaltbarkeit seiner Ausrede nicht vertuschen, und so hat Shatterhand leichtes Spiel, seine bekannte Arroganz einem Unterlegenen gegenüber auszuspielen, wie er es in diesem Roman des Öfteren mit dem langen Davy macht:

»Der müßte ein ziemlich schlechter Westmann sein. Ein braver Jäger bewegt sich unter Umständen selbst dann nicht, wenn ganz unerwartet vor seinem Ohr ein Schuß abgefeuert wird.«

Wiederum führt Shatterhand einen nur durch die allgemeine und hypothetische Formulierung gemilderten Angriff auf das Zentrum von Jemmys Persönlichkeit, diesmal auf dessen westmännische Fähigkeiten. Das Männlichkeitsmerkmal ›Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung‹ ließ Jemmy in der Tat vermissen. Noch direkter hat Shatterhand schon einmal dem langen Davy die Qualifikation zum Westmann bestritten (vgl. 153/112). Shatterhand stellt Jemmys Existenzberechtigung im Wilden Westen grundsätzlich in Frage. Man sieht, der Gesprächsgegenstand ist meilenweit vom eigentlichen Problem, um das es gehen sollte, entfernt und behandelt stattdessen männliche Identitätsdefizite sowie prinzipielle Verhaltensregeln in der Wildnis.

»Ja, wenn dabei die Kugel ihm durch den Kopf geht, so bewegt er sich allerdings nicht mehr!«

Das kalauerhafte Wortspiel, das Jemmys Verlegenheit überspielen soll, mutet fast frivol an, denkt man an die kurz vorher erfolgte Bestätigung der grundsätzlichen Richtigkeit der Aussage an den beiden unglücklichen Upsaroca-Kundschaftern.

»Pah! Ihr wißt genau, daß es hier kein feindseliges Wesen gibt! Es sollte niemand merken, daß Ihr Euer Pferd angepflockt habt.«



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Der Entlarvung von Jemmys Antwort als durchaus unsinnig lässt Shatterhand zum ersten Mal einen Vorwurf folgen, der auf das eigentlich zu vermutende Gesprächsziel gerichtet ist. Trotzdem spricht er keineswegs das Vorhaben Jemmys direkt an, sondern verengt seine Bemerkung wieder auf ein Nebenthema. Damit gibt er dem kleinlaut gewordenen Jemmy an einer Stelle, wo er ihn eigentlich so weit hat, dass er die Wahrheit über seine Absichten gestehen könnte, Gelegenheit zu dem erneuten Versuch, sich auf dem Felde dieses Nebenthemas herauszureden und die Machtverhältnisse umzukehren.

Der Dicke verbarg seine Verlegenheit hinter einem zornigen Tone: »Jetzt, Sir, begreife ich Euch nicht. Kann ich denn mit meinem Pferde nicht mehr machen was mir beliebt?«

Jemmy flüchtet in einen entrüsteten Angriff, indem er Shatterhands Feststellung absichtlich missversteht; seine rhetorische Frage zielt auf ein Teilthema, das gar nicht zur Debatte steht und von dem Gesprächspartner selbstverständlich nicht gemeint war. Der Versuch Jemmys, in dem Gespräch Dominanz zu gewinnen, scheitert aber wiederum, denn Shatterhand insistiert auf dem von ihm Gemeinten:

»Ja, aber heimlich braucht Ihr es nicht zu thun!« »Von Heimlichkeit ist keine Rede. ... [Jemmy versucht eine sachliche Erklärung. Dann:] Ist das eine Sünde, so hoffe ich, daß ich Vergebung finde.« (457/282)

Shatterhand präzisiert seinen Vorwurf, ohne aber offen auszusprechen, welchen Verdacht er eigentlich hegt. Jemmys verlegenes Ausweichen soll durch die Ironie, die Beleidigtsein signalisiert, verdeckt werden.


Er wendete sich ab, um zum Lager zurückzukehren. Old Shatterhand aber legte ihm die Hand auf die Schulter und bat:

»Bleibt noch einen kurzen Augenblick, Master Jemmy. Es kann nicht meine Absicht sein, Euch zu beleidigen; aber ich glaube Veranlassung zu haben, Euch zu warnen. Daß ich das unter vier Augen thue, mag Euch zeigen, wie hoch ich Euch schätze.«


Die Reaktion Old Shatterhands klingt wie eine Beschwichtigung; sie enthält aber in Wirklichkeit wiederum in verdeckter Form eine starke Kritik an dem Verhalten des Westmanns. Dessen gespielter Entrüstung wird der Boden entzogen; dann schneidet Shatterhand vorsichtig das eigentliche Thema, über das er sprechen müsste, an, wertet aber gerade damit zugleich Jemmys Westmannsstatus ab, da nur der weniger Befähigte vor seinen eigenen Absichten gewarnt werden muss. Auch die Rücksichtnahme, Jemmy vor den anderen eine Blamage zu ersparen, zeigt nur umso deutlicher die Überlegenheit Shatterhands und die Größe des Fehlers, den zu begehen Jemmy im Begriff ist. Die Passage erweckt den Eindruck, hier spräche ein wohlmeinender Erwachsener mit einem unreifen Schuljungen, dem immer noch nicht dem Gymnasiastendasein entwachsenen Jemmy (wozu auch Shatterhands begleitende Geste passt).



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Der Erzähler schildert nun Jemmys Verlegenheit. Dann erfolgt dessen Antwort:


»Sir, wenn ein anderer mir das sagte, so würde ich ihm ein wenig mit der Faust im Gesicht herumlaufen; von Euch aber will ich die Warnung annehmen. Also, wenn Ihr einmal geladen habt, so drückt in Kuckucks Namen los!«


Jemmys grobe Antwort ist in eine ähnliche Beschwichtigungs- oder Rücksichtsformel gefasst wie vorher Old Shatterhands Äußerung. Dann aber fordert er diesen endlich auf, zur Sache zu kommen, allerdings in einer redensartlichen Weise, die verrät, dass Jemmy nicht gewillt ist, die erwarteten Einwände Shatterhands als begründet und sinnvoll anzuerkennen. Dies ist sein dritter Versuch, die Machtverhältnisse umzukehren.

»Schön! Welche Heimlichkeiten habt Ihr mit dem Sohne des Bärenjägers?«

Die Frage zwingt Jemmy erneut in die Rolle des sich Rechtfertigenden, also des Unterlegenen.

Es dauerte eine kleine Weile, bevor Jemmy antwortete: »Heimlichkeiten? Ich mit dem? Dann sind diese Heimlichkeiten so sehr heimlich, daß ich selbst von ihnen nicht das Geringste weiß.«

Die bisherige Gesprächsstrategie wird weiterhin angewandt und macht Jemmys unterlegene Position überdeutlich; diese ist natürlich auch durch die Zwickmühle bedingt, in der er sich befindet, da er Martin sein Wort gegeben hat, nichts zu verraten.

»Ihr flüstert immer miteinander!« (457/283)

Shatterhand entlarvt das verhüllte Leugnen auch sofort mit einer Tatsachenfeststellung, die aber wiederum vom Kern des zugrunde liegenden Problems ablenkt und Jemmy nun Gelegenheit gibt, neue Ausreden zu erfinden; gleichzeitig macht er es mit seiner strengen Feststellung dem Dicken fast unmöglich, jetzt noch die Wahrheit zu sagen, weil das einer Kapitulation gleichkäme.

Im weiteren Fortgang des Gesprächs folgen Ausreden und Andeutungen, Fragen und ablenkende Gegenfragen aufeinander, die nichts wesentlich Neues enthalten. Mit seiner Redestrategie erreicht Old Shatterhand nur, dass Jemmy bei seinem mit leichtem Spott garnierten Leugnen bleibt.

Nun geht das Gespräch seinem Ende zu:

»Also er hat Euch wirklich nichts mitgeteilt, woraus zu folgern wäre, daß er etwas beabsichtigt, was ich nicht billigen könnte?«

Jetzt endlich lässt Old Shatterhand die Katze aus dem Sack: Es geht ihm offenkundig um seine Autorität innerhalb der Westmannsgruppe; er befürchtet, durch die eigenmächtige Aktion eines Gruppenmitglieds könnte seine Führungsposition in Frage gestellt werden. Das aktuelle Problem hingegen, die vermutete Trennung von der Gesamtgruppe, bleibt wiederum verdeckt. Immerhin müsste Jemmy jetzt auf die so formulierte Frage mit einem klaren Ja oder Nein antworten, ein Ausweichen scheint kaum noch



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möglich. Aber sein Schweigeversprechen und vor allem das bisherige Redeverhalten Shatterhands lassen es nicht zu, jetzt noch die Wahrheit zu gestehen; darum flüchtet er sich erneut in einen Kraftausdruck:


»Alle Teufel! Ihr stellt da ja ein wirkliches Examen mit mir an. Bedenkt, Sir, daß ich kein Schulknabe bin! Wenn mir jemand über seine Familienverhältnisse und Herzensangelegenheiten eine Mitteilung macht, so bin ich nicht berechtigt, einem anderen darüber Rede zu stehen.«


Jemmy spielt den aufs Äußerste Beleidigten. Dabei kennzeichnet er Old Shatterhands Vorgehen sachlich völlig zutreffend als Examen, aber nur, um einer klaren Antwort auszuweichen. Doch diese Verteidigung ist nur formal richtig; in Wirklichkeit verhält sich der dicke Jemmy trotz der dreißig Westmannsjahre, die er auf dem Buckel hat, wie ein Kind, indem er Offenkundiges abstreitet und sich hinter Frechheit und aufgesetzter Entrüstung versteckt. Angriff scheint ihm die beste Verteidigung zu sein: Darum wirft er Shatterhand zuletzt vor, er wolle sich in Privatangelegenheiten anderer einmischen.


»Gut, Master Jemmy! Das, was Ihr jetzt sagtet, war zwar eine Grobheit, hat aber seine Richtigkeit. Ich will also nicht weiter in Euch dringen und genau so thun, als ob ich nichts bemerkt hätte. Geschieht aber etwas, was einen von uns in Schaden bringt, so weise ich alle Verantwortlichkeit von mir ab. Wir sind fertig.« (457/284)


Der Sprecher konstatiert das Scheitern des Versuchs einer einvernehmlichen Problemlösung, und zwar so prinzipiell, dass er so tun will, als habe sogar dessen Anlass (die Beobachtung der Heimlichkeiten) nicht stattgefunden. Damit zeigt er deutlich, dass es ihm im Grunde gleichgültig ist, wer in diesem Falle Recht hat; zugleich schiebt er alle Verantwortung für die aus dem Fehlverhalten anderer resultierenden Folgen von sich. Shatterhands Feststellung ist ganz wörtlich zu nehmen; sie begründet sein weiteres Verhalten, das zunächst absurd erschien: Er tut nichts, um zu verhindern, was er mit Recht befürchtet hat, und legt - sich schlafen.

Kennzeichnend für diese Unterredung sind die A s y m m e t r i e und die v e r d e c k t e S t r a t e g i e ,28 die beide Partner anwenden. Old Shatterhand ist der dominierende Gesprächspartner, der meist wertende Aussagen macht; er kleidet sie in die Form von Fragen, die in Wirklichkeit Vorwürfe darstellen. Damit wird dem dicken Jemmy permanent eine defensive Rolle aufgezwungen. Er versucht zwar mehrfach, aus dieser Rolle auszubrechen und die Machtverhältnisse zu seinen Gunsten umzukehren oder wenigstens eine symmetrische Gesprächssituation herzustellen, an der beide Partner gleichgewichtige Anteile haben, scheitert aber damit, da es Shatterhand jedes Mal gelingt, die Asymmetrie, d. h. seine eigene Dominanz, wiederherzustellen. Erst am Schluss, als Jemmy mit unverhohlener Grobheit und einer durch Wortklauberei ganz verdeckten Lüge (der ›Mitteilung über Her-



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zensangelegenheiten‹ statt Martins Aufforderung zum ›Ausreißen‹) das abrupte Ende des Gesprächs provoziert, ist eine gewisse Symmetrie hergestellt, die man aber eher als Patt-Situation bewerten muss.

Beide Sprecher versuchen, den anderen zum völligen Verzicht auf seinen Standpunkt zu veranlassen; die Angelegenheit, über die verhandelt wird, und die Frage, wer im konkreten Problemfall Recht hat, ist ihnen im Grunde gleichgültig. Sie reden deshalb häufig ›aneinander vorbei‹, produzieren absichtlich Missverständnisse, legen den Worten unterschiedliche Bedeutungen unter und provozieren damit den ergebnislosen Abbruch des Gesprächs. Begründet ist dies auf Old Shatterhands Seite in seinem Herrschaftswillen. Er hat gar nicht vor, das Unternehmen Martins zu verhindern. Vielmehr beabsichtigt er, seinen prinzipiellen Machtanspruch innerhalb der Gruppe durchzusetzen, und dies erfordert, dass der zweitrangige Westmann von sich aus ein Geständnis ablegt, auf sein Vorhaben verzichtet und die Führungsrolle Old Shatterhands freiwillig anerkennt. Da dem ›großen Jäger‹ dies - nicht zuletzt, weil er den Bogen überspannt und Jemmys Unterwerfung geradezu erzwingen will - misslingt, lässt er das gefährliche Unternehmen vonstatten gehen, als habe es das Gespräch und seinen Anlass gar nicht gegeben. Er nimmt die sich abzeichnende Katastrophe zumindest billigend in Kauf. Seine Vorrangstellung ist ihm wichtiger als das Gelingen des ganzen Unternehmens!

Jemmys Verhalten ist nicht allein in dem Schweigeversprechen, das er Martin gegeben hat, begründet. Ihn beherrschen offenkundig Minderwertigkeitsgefühle; er hat einfach Angst vor Shatterhands Reaktion, falls er sein Vorhaben zugibt. Die Kommunikationsbeziehungen zwischen den Gruppenmitgliedern, genauer gesagt zwischen Old Shatterhand (und Winnetou) auf der einen, den übrigen Personen auf der anderen Seite in Bezug auf die Art der Durchführung des Rettungsunternehmens, vor allem das Tempo des Rittes, sind grundsätzlich gestört, was auf die extensive Auslegung des Führungsanspruchs durch Shatterhand zurückzuführen ist. Der Anführer weiht die Gefährten nicht rückhaltlos in seine Pläne ein, legt die Gründe für sein Verhalten nur unzureichend dar, lässt sich (Martin gegenüber) nur zu dürren Erklärungen herab, hat kein Verständnis für dessen Befürchtungen und die daraus folgende Ungeduld. Bezeichnend dafür ist die aus der Perspektive der Ogallalla formulierte, hier aber gefühllos klingende Erklärung, die Shatterhand dem jungen Baumann unmittelbar vor dem Gespräch mit Jemmy gibt: »Je später die Unglücklichen getötet werden, d e s t o l ä n g e r d a u e r n d i e Q u a l e n , w e l c h e s i e z u e r d u l d e n h a b e n «. (457/281; Hervorhebung W. K.) Man braucht nur die Perspektive zu ändern und das Verb getötet durch ›befreit‹ zu ersetzen, um Shatterhands Verhalten mit anderen Augen zu sehen. Statt die Gefangenen möglichst frühzeitig von diesen Qualen zu erlösen, trödelt er durch die Gegend und vertröstet Martin auf einen bestimmten Termin, zu dem man noch rechtzeitig kommen werde. Auch im Gespräch mit Jemmy äußert er kein einziges Mal offen und direkt seinen Verdacht, sondern steuert auf Umwegen sein eigentliches Ziel



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an, den Dicken zur Mitteilung eines Vorhabens zu bringen, das er doch längst kennt. Damit verrät sich die wahre Absicht des großen Jägers: Er will den Westmann zur Unterordnung unter seine Autorität zwingen. Damit erweisen sich gerade die Anforderungen männlicher Identität in Verbindung mit den Bedingungen charismatischer Führerschaft als Ursachen für die Art, wie Old Shatterhand das für die Handlung letztlich überflüssige, für die hierarchischen Beziehungen und das Selbstbild der erwachsenen Hauptperson aber umso aufschlussreichere Gespräch anlegt und steuert.29

Welche Konsequenzen zieht nun Old Shatterhand aus seiner Mitverantwortung für die Vergrößerung der Lebensgefahr, die den Gefangenen droht; erkennt er sie überhaupt? Aufschlussreich ist die Szene mit seinem Dankgebet.

Die Gefangenen sind befreit, der feindliche Häuptling ist gefangen, Vater und Sohn Baumann liegen sich in den Armen. Martin hebt einen der Retter heraus:


»Hier aber ist Old Shatterhand, der Meister unter ihnen allen. Er und Winnetou sind es, denen das Gelingen unseres Unternehmens zu verdanken ist. Unser ganzes Leben würde nicht reichen, das quitt zu machen, was wir ihnen schuldig sind.« (586f./374)


Der Verweis auf Winnetou ist reine Rhetorik, an den kriegerischen Aktionen ist dieser ja kaum beteiligt gewesen. Was Shatterhand betrifft, so wird seine Verantwortung für die gefährliche Zuspitzung des Geschehens nicht erwähnt. Seine Antwort auf den Dank des Bärenjägers ist hochinteressant:


Old Shatterhand ... zeigte ... zum Himmel empor und sagte im herzlichsten Tone: »Danken Sie nicht den Menschen, lieber Freund, sondern danken Sie unserem Herrgott da oben, welcher Ihnen die Kraft gegeben hat, den unbeschreiblichen Jammer zu überstehen. Er ist es ja, der uns geleitet und beschützt hat, so daß wir gerade noch zur rechten Zeit hier eingetroffen sind. Uns haben Sie nicht Dank zu sagen. Wir sind nur seine Werkzeuge gewesen; zu ihm aber wollen wir alle unser Gebet emporsenden, wie es in unserem schönen, deutschen Kirchenliede heißt:


Ich rief den Herrn in meiner Not:
›Ach Gott, vernimm mein Schreien!‹
Da half mein Helfer mir vom Tod
Und ließ mir Trost gedeihen.
Drum dank', ach Gott, drum dank' ich dir!
Ach, danket, danket Gott mit mir;
Gebt unserm Gott die Ehre!«


Er hatte seinen Hut abgenommen und die Worte langsam, laut und innig wie ein Gebet gesprochen. Auch die andern hatten ihre Häupter entblößt, und als er geendet hatte, erklang aus jedem Munde ein frommes, kräftiges »Amen!« (587/374f.)



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Das symbolträchtige Tableau soll die übermenschliche Größe des Westmanns zeigen; indem er stellvertretend für einen anderen, den Bärenjäger, das Dankgebet spricht - auf den Sprecher selbst trifft ja die Aussage der beiden ersten Zeilen nicht zu -, bestätigt er seinen eigenen Anspruch, Mittler zwischen Mensch und Gott zu sein. Wohlgschaft deutet den Liedtext als »eigentliches - katechetisches - Lehrziel« des Romans, »auf das die gesamte Erzählung sich hinbewegt«.30 Stellt man aber das Lied in den weiteren Kontext, erweist sich diese Deutung als kaum überzeugend. Der »Jammer«, den Baumann zu erdulden hatte, also die Leiden während seiner Gefangenschaft, ist durch das von Old Shatterhand bewusst verlangsamte Reisetempo verlängert worden; und dass der Jammer »unbeschreiblich« wurde, als Baumann mitansehen musste, wie sein eigener Sohn im Schlammkrater geröstet werden sollte, ist indirekt der männlich-harten Reaktion Shatterhands auf Martins Sorgen zu verdanken. Den Ausreißversuch schließlich hat der »Meister unter ihnen allen« bewusst in Kauf genommen, weil er die Pflege seines charismatischen Selbstbildes höher veranschlagte als Leben und Gesundheit der Gefährten. Inhaltlich lenken die Worte, die Old Shatterhand in den Mund gelegt werden, nur von seinem eigenen menschlichen Versagen ab, und so erhält die Anrufung Gottes einen blasphemischen Beigeschmack. Ungeachtet der psychischen Bedrängnisse, die dem Autor bei der Abfassung dieser Szene die Feder geführt haben mögen, muss man das Tableau als verlogenen, pseudo-religiösen Kitsch werten. Weder passt die behauptete schicksalhafte Notsituation zu den von Old Shatterhand verschuldeten Umständen noch fügt sich die auf den himmlischen Vater weisende Jesus-Travestie in die Runde des umstehenden und -liegenden Wildwest-Personals ein.

Wenn über Martin bei seinem ersten Zusammentreffen mit Old Shatterhand und Winnetou gesagt wird: Er stand da zwei Vorbildern gegenüber, welchen nachzueifern sein heißes Bestreben war, obgleich er nicht hoffen konnte, sie jemals im Leben zu erreichen (138/109), so sollte das auch für die jugendlichen Leser des Romans gelten. Aber es blieb bei der guten Absicht. Als Vorbild in Tüchtigkeit und Humanität, wie es May wohl vorschwebte, taugte diese Shatterhand-Figur für die Jugend sicher nicht. Tatsächlich trägt die Leitfigur eindeutig autoritäre Züge; Winnetou darf einige Male mitkämpfen und frohe Botschaften verkünden. Wird die Autorität der Leitfigur angezweifelt oder gar untergraben, reagiert sie mit typischen Unsicherheits- oder Angstsymptomen: Old Shatterhand wird verbal aggressiv, versucht sogleich seine körperliche und geistige Überlegenheit zu beweisen, und wo das nicht geht, handelt er bedenkenlos nach dem Motto ›Wer nicht hören will, muss fühlen‹. Die Krise der männlichen Attitüde setzt das Leben vieler Menschen aufs Spiel.



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3.3 Jemmy und Davy: Freiheit und Gehorsam - die Kollision zweier Männlichkeitsmerkmale am Beispiel der ›Untergebenen‹


Wie gezeigt, weist sowohl das Männlichkeitsbild des Führenden wie das der Geführten zwei Seiten auf: der Führer muss sich als den anderen übergeordnet, überlegen fühlen und sie zugleich als gleichwertige Mitstreiter anerkennen; die Geführten müssen sich als dem Führer gleichberechtigte Kameraden erkennen und zugleich bereit sein, die Befehle des Vorgesetzten auszuführen.

Im Roman handelt es sich natürlich nicht um eine institutionalisierte Struktur von Befehl und Gehorsam; die Westmänner geben nicht, wie Soldaten, ihr Recht auf Freiheit ab, sondern ordnen sich freiwillig dem Anführer unter. Genau daraus ergibt sich aber eine weitere Schwierigkeit: das Männlichkeitsmerkmal ›Gehorsam‹ kollidiert mit dem Merkmal ›Freiheit/Freiheitsdrang‹.

Dies zeigt sich in den Umständen, die zu der eigensinnigen Unternehmung der Ausreißer führen. Die Spannung zwischen dem Gleichmut des Anführers und der Ungeduld Martins wächst bis zu einem Punkt an, da eine Entscheidung unumgänglich ist: entweder Unterwerfung unter die Anweisungen Old Shatterhands oder eine Aktion auf eigene Faust. Zu erwarten wäre nun, dass Martin, Jemmy und Davy ein offenes Gespräch mit Shatterhand führen, in dem sie ihm klar machen, dass sein Standpunkt in diesem besonderen Fall falsch ist, und ihn zu größerer Eile auffordern. Stattdessen unternehmen sie heimlich den Ausreißversuch. Wie stehen Davy und Jemmy dazu? Davy hat zwar Bedenken wegen der Gefahren, die auf sie lauern (»Ich habe Euch gewarnt und warne Euch auch noch jetzt!«, 458/285), da er aber aus Gutmütigkeit Martin sein Wort gegeben hat, will er ihm helfen. Besonders aufschlussreich ist Jemmys Haltung. Er gesteht:


»Einerseits ist es mir gar nicht lieb, daß wir gezwungen sind, die Gefährten zu täuschen, andererseits aber kann es ihnen auch nichts schaden. Früher hatten auch wir ein Wort zu sagen; jetzt aber sind Old Shatterhand und Winnetou die Kommandanten [!]. Jemmy und Davy werden nur so nebenbei einmal um ihre Ansicht gefragt. Da ist es eigentlich ganz an der Zeit, ihnen zu zeigen, daß wir auch noch zu den Westmännern gehören, die einen Plan entwerfen und ihn auch ausführen können.« (458/287)


Der Freiheitsdrang, verbunden mit der Fähigkeit, umsichtig zu planen und selbstständig zu handeln, ist e i n wichtiger Auslöser für den Verstoß gegen die informelle Gehorsamspflicht und für den Vertrauensbruch mit all seinen unangenehmen Folgen. Jemmy artikuliert deutlich das Problem, das sich aus der Unterordnung freier Westmänner unter die Autorität eines anderen ergibt. Aber statt eine offene Diskussion um Fragen der hierarchischen Ordnung und Befehlsstruktur innerhalb der Gruppe zu suchen, nehmen Davy und Jemmy, wenn auch mit schlechtem Gewissen, ihre Zuflucht zu heimlicher Revolte - anders kann man ihr Unternehmen nicht bezeich-



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nen. Es ist der radikalste Versuch, sich von der Vormundschaft des alles beherrschenden Führers zu emanzipieren und die Ebenbürtigkeit des freien Westmanns zu beweisen. Denn die Kränkung ihres männlichen Selbstwertgefühls spielt - neben dem Mitleid mit Martin (dazu später mehr) - bei dieser Aktion die entscheidende Rolle. Jemmy und Davy sind tüchtige Westmänner, solange sie allein agieren. Ihr mutiges und kluges Vorgehen bei der Befreiung Wohkadehs zeigt das - wenn auch die Gegner nicht gerade bedeutende Helden sind; ebenso Jemmys besonnene Planung des Rettungsunternehmens im Anfangsteil des Romans. Aber diese Tüchtigkeit kann sich in der Zusammenarbeit mit einem Mann wie Old Shatterhand, der nicht allein noch tüchtiger ist, sondern dies auch bei jeder Gelegenheit verbal und faktisch demonstriert, nicht bewähren.

Entscheidende Ziele männlichen Verhaltens sind Anerkennung und Ehre. Sie spielen in Mays Wildwest-Welt überhaupt eine große Rolle. Schon die umständliche und bedeutungsvolle Nennung der Namen bei den Vorstellungsszenen beweist dies; sogar bei der Gefangennahme durch die Ogallalla können diese ihr bewunderndes Erstaunen bei der Namensnennung nicht unterdrücken (vgl. 467/304). Das Problem der Anerkennung ist existenzieller Natur, die Art seiner Berücksichtigung prägt entscheidend Selbstbild und Selbstwertgefühl der Menschen. Dabei ist es objektiv nicht ausschlaggebend, ob Jemmy und Davy wirklich gebraucht werden, ob sie tatsächlich so wertvoll für das Gelingen des Unternehmens sind wie Old Shatterhand; es spielt auch keine entscheidende Rolle, ob Martins Sorgen wirklich begründet sind. Wichtig ist ihre subjektive Einschätzung: Martin empfindet trotz der beruhigenden Worte Shatterhands große Angst um den Vater; Jemmy und Davy fühlen sich überflüssig, ungerecht behandelt, ungleichwertig, und das Empfinden, dass ihnen seit der Zusammenkunft mit den beiden berühmten Männern wichtige Merkmale männlicher Identität vorenthalten werden und ihr Ansehen geringer geworden ist, lässt in ihnen den Willen zum eigensinnig-selbstständigen Handeln wachsen.

Der Fortgang der Handlung kann innerhalb der Fiktion gewissermaßen Objektivität beanspruchen, und er fällt über die Ausreißer ein vernichtendes Urteil. Jemmy und seine Begleiter laufen prompt in eine Falle, sie gefährden sich und andere damit aufs Höchste; nach der Befreiung und dem siegreichen Endkampf wird kein Wort mehr darüber verloren: die Fakten waren Strafe genug. Der Erzähler nimmt eindeutig Stellung zugunsten der erwachsenen Leitfigur. Dementsprechend wird die früher aus Old Shatterhands und Winnetous Perspektive geäußerte Kritik an Jemmys und Franks unmännlichem und unklugem Verhalten (vgl. 124/99f.) bei der Gefangennahme Jemmys und Davys durch die Ogallalla im Erzählerkommentar objektiviert: Old Shatterhand und Winnetou hätten sich wohl nicht ergeben .... (466/297) Gegen den Willen der obersten Autorität zu handeln führt zwangsläufig ins Verderben - und das ist ein auffälliger Beweis für die Anbindung des Konflikts an den Geschlechterdiskurs der Zeit: Zur Männlichkeit gehört der Gehorsam!



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4. Entwürfe von Alterität: Die Indianer im Roman


Wie das Selbstbild der Weißen teils in der Inszenierung der Handlung und durch Erzählerkommentare quasi ›objektiv‹ vorgestellt wird, teils in der Perspektive von Weißen und Indianern ›subjektiviert‹ erscheint, so ist es auch mit dem Selbstbild der Indianer. Dieses ist aber im Roman notwendigerweise das Bild, das von Weißen entworfen wird, dem Autor/Erzähler oder den von ihm geschaffenen Figuren; in jedem Falle ist es aus deren Sicht ein Bild vom Anderen, also ein Fremdbild. Einfach gesagt: Was auch immer ein Indianer über sich äußert, der deutsche Autor hat es ihm in den Mund gelegt.

Mit den Entwürfen eigener geschlechtlicher Identität verbindet sich die Konstruktion von Alterität anderer Völker oder Rassen, hier der Indianer. Positive wie negative Vorstellungen sind Projektionen, die dem Anderen Eigenschaften und Verhaltensweisen zuschreiben, die man in ihm sehen will, um sich von ihm abzusetzen und sich in seiner eigenen Identität abzusichern.



4.1 Der Männlichkeitsentwurf


Inwieweit und in welcher Form werden den Indianern Merkmale von Männlichkeit zugeschrieben? Zu differenzieren ist zwischen den unbelehrbaren Feinden, den Ogallalla, und denen, die zu Verbündeten werden, z. B. den Upsarocas.

Die Ogallalla erscheinen durchweg in negativem Licht. Sie sind im Grunde nichts als feige Schwächlinge. Sie überfallen mit Übermacht den einsamen Old Shatterhand, kämpfen zu dritt gegen ihn und unterliegen dennoch (vgl. 52/52f.). Der Häuptling gerät bei einem unerklärlichen Vorgang sogleich in Panik (vgl. 531/341). Er wird vom Erzähler hart, grausam und blutdürstig genannt (467/301); er ist hinterlistig und wortbrüchig (vgl. 490/309). Bezeichnenderweise werden dem Häuptling mehrfach Begriffe aus der Wortfamilie ›Teufel‹ zugeordnet.

In Wohkadehs Erzählung von Old Shatterhands Ogallalla-Abenteuer wird der Projektionscharakter der negativen Zuschreibungen besonders deutlich, zumal die Perspektive eines Indianers angelegt wird. Vor der Folie positiver Werte wie Humanität und Menschenliebe (»Er [Shatterhand] liebt die roten Männer« usw.; 52/52) zeichnen sich die Aggressivität, Feigheit und Schwäche der ›Roten‹ deutlich ab. Darin deutet sich auch die Funktion der betont negativen Darstellung der Ogallalla an: Sie dient der Rechtfertigung von Aktionen der Weißen, die eigentlich als Aggressionen zu werten sind (an keiner Stelle des Romans wird gefragt, ob Old Shatterhand zur Jagd oder die Weißen zur Ausbeutung der Bodenschätze im Indianergebiet berechtigt sind), und deutet sie in Abwehrhandlungen um.



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Die Darstellung der Upsarocas ist differenzierter. Ihnen werden bestimmte Männlichkeitsideale zugeordnet, die aber sogleich von eher unmännlichen Merkmalen überlagert und damit relativiert werden: Der Anführer ist zwar umsichtig und reaktionsschnell, aber auch schreckhaft; er ist furchtlos, aber prahlerisch und versucht den Gegner zu übervorteilen (vgl. 410f./254f.). Ganz im Gegensatz dazu handelt Old Shatterhand wirklich ritterlich oder, wie der Amerikaner sich ausdrückt, gentlemanlike (412/260). In der Perspektivierung erscheinen die Upsarocas vollends in schlechtem Licht: So verdient der Medizinmann Martins Worten zufolge keinen Mann wie Old Shatterhand als Gegner, und die Indianer müssen unwillkürlich Martins höheren Wert anerkennen: »(E)r ist ein Tapferer!« entfuhr es selbst dem riesigen Upsaroca. (426/262) Eine feine Differenzierung erfolgt in Bezug auf den Anführer der Upsarocas: Er besteht zwar auf einem Losentscheid (vgl. 427/269), aber weniger aus einer individuellen Tugend heraus als aus Angst, von anderen, vor allem den Squaws, verachtet zu werden. Old Shatterhand hingegen wird vom Erzähler ausdrücklich Edelmut attestiert, der den Verstehenshorizont des Indianers gänzlich übersteigt. Der positiven Zuschreibung einer individuellen Tugend des Weißen steht also die Zuschreibung bloßer sozialer Gebundenheit des Indianers gegenüber; dieser macht die Außensicht zum Kriterium seines Verhaltens, er verfügt nicht über eine subjektiv begründete, sondern nur über eine bloß von gesellschaftlich festgelegten Verhaltensstrukturen abgeleitete Identität.

Es fällt auf, dass gerade der Bereich, in dem sich in den Romanen Mays die Indianer im Allgemeinen hervortun, nämlich dem der Männlichkeitsmerkmale Mut/Tapferkeit und Kaltblütigkeit/Selbstbeherrschung, in ›Der Sohn des Bärenjägers‹ von negativen Zuschreibungen überlagert wird. Aus der Fülle von Beispielen seien nur noch zwei genannt:

Nach Old Shatterhands Aussage entwickelt ein Indianer nach dem Verlust seines Medizinbeutels eine beinahe wahnsinnige Verwegenheit (393/237f.); der positive Wert ›Mut/Tapferkeit‹ wird also unter dem Zwang indianischer Anschauungen zur Unvernunft. Bezeichnenderweise fehlt dieses Attribut bei der Charakterisierung des europäisierten Winnetou, der u. a. ›nur‹ als tapfer bis zur Verwegenheit (123/95) bezeichnet wird.

Die Kampfhandlungen am Schluss zeigen ein entsprechendes Bild: Die verbündeten Indianer haben keinen nennenswerten Anteil am Kampf und am Sieg über die Ogallalla und erst recht keinen Einfluss auf den Friedensschluss.



4.2 Die Affektkontrolle


Die Ogallalla rauben bedenkenlos die Medizinbeutel der badenden Upsarocas, die »größten Heiligtümer« (379/236) der Indianer. Der Häuptling der Schoschonen will das Grabmal der von Shatterhand im Kampf getöteten



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Sioux zerstören und deren Knochen in einen Schlammkrater werfen, »damit ihre Seelen unten in der Tiefe jammern müssen«. (570/360)

Das sind nur zwei Beispiele für die Hemmungslosigkeit, mit der die Indianer in diesem Roman ihre aggressiven Triebe ausleben; sie halten ihren Feinden gegenüber nicht einmal die ihnen allen gemeinsamen religiösen Bräuche ein. Diese erschöpfen sich allerdings in rein äußerlichen Ritualen und werden nur praktiziert, so weit sie sich auf die eigene Person beziehen, wie die schon erwähnte wahnsinnige Verwegenheit beim Verlust der Medizin zeigt. Tokvi-tey kann nur durch Gewalt oder deren Androhung davon abgehalten werden, ein Sakrileg zu begehen.

Dementsprechend sind auch die Begegnungen der Weißen um Shatterhand mit Indianern durchweg von Gewalt geprägt, deren Provozierung aber fast immer auf die ›Roten‹ geschoben wird. Dass Old Shatterhand aus reiner Jagdlust in das Yellowstone-Gebiet eingedrungen ist, dass die Gruppe um Baumann die Bodenschätze dieser Gegend ausbeuten will, wird nicht weiter bewertet. Die Aktionen und Reden dagegen, die zu Versöhnung und Freundschaft führen, werden allein der Klugheit der friedliebenden und besonnenen Weißen, vor allem Shatterhands, zugeschrieben; er weiß Mittel anzuwenden, die die Aggressionsbereitschaft abbauen bzw. auf nicht zu bekehrende Indianer lenken.

Mit der Veräußerlichung religiöser Normen vergleichbar sind die sozialen Beziehungen der Indianer innerhalb ihrer Gruppe. Das Gemeinschaftsgefühl ist noch wenig ausgeprägt, genauer: es gibt noch gar kein solches G e f ü h l , gemeinschaftliches Verhalten ist nicht verinnerlicht, sondern hängt allein von äußeren Faktoren ab, etwa Über- oder Unterlegenheit, Sieg oder Niederlage. Ein aufschlussreiches Beispiel ist das Verhalten der beiden Upsarocas bei den Zweikämpfen mit Old Shatterhand und Winnetou, vor allem nach der Niederlage des Hundertfachen Donners. Der Unterlegene wird von seinem Anführer aus dem Stamm ausgestoßen (»... kannst du zu den Wölfen der Prairie gehen, um bei ihnen zu wohnen. Die Heimkehr zu dem Wigwam ist dir verboten!«; 427/268), obwohl es ein fairer Kampf war, bei dem es nun einmal einen Verlierer geben muss. Trotzdem wird die Niederlage als Schande empfunden, und seine Stammesgenossen verachten ihn (Kein Blick aus den Augen der Seinen fiel auf ihn. 427/268). Erst als der Anführer ebenfalls unterliegt, entschuldigt er den Hundertfachen Donner: »Der große Geist hat es so gewollt. Wir haben unsere Medizinen verloren.« (442/272) Der Verlust der heiligen Gegenstände hat den Indianern nach ihrem Glauben die Fähigkeit zum Siegen genommen, die allein den Wert des Mannes bestimmt. Die Tatsache aber, dass der Anführer der Upsarocas erst nach der eigenen Niederlage zu dieser Erkenntnis gelangt, zeigt, wie ausschließlich das Handeln bzw. Erleiden des Einzelnen seine Stellung innerhalb der Gemeinschaft bestimmt.

Wie versucht nun ein Indianer seine Interessen und Absichten in einer Gesellschaft niederer Zivilisationsstufe durchzusetzen? Dazu soll der



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Putschversuch Wohkadehs gegen den Schweren Moccassin untersucht werden.

Im Streit zwischen Wohkadeh und dem Ogallalla-Häuptling geht es darum, ob und wie der junge Indianer seine Gefangennahme zu verhindern weiß, damit er seine weißen Begleiter retten kann. Er muss sich als Mann beweisen und die Gegner des Häuptlings auf seine Seite ziehen. Der Häuptling dagegen spricht dem jungen Indianer gerade seine Männlichkeit ab (so bezweifelt er, dass Wohkadeh den weißen Büffel getötet hat) und will ihn durch den Vorwurf, ein »Verräter« (467/301 u. ö.) zu sein, isolieren.

Für die hier behandelte Problemstellung ist ein Vergleich mit dem Streitgespräch zwischen Old Shatterhand und Jemmy aufschlussreich. Die Personenkonstellation ist ähnlich: Old Shatterhand wie der Schwere Moccassin wollen den anderen zu einem Geständnis bringen, Jemmy und Wohkadeh dagegen wollen gerade nicht mit der Wahrheit herausrücken, weil das ihre Pläne vereiteln würde. Nun besteht aber ein entscheidender Unterschied in der Art, wie die jeweiligen Kontrahenten ihre Auffassungen und Absichten vertreten. Zwar gibt auch Wohkadeh zunächst seine Absichten nicht zu erkennen, aber dies ist in der Sache begründet und berechtigt, da er ja nicht offen bekennen kann, die Gefangenen befreien zu wollen. Aber auf den Vorwurf der Feigheit (vgl. 524/331f.), also die Unterstellung, kein Mann zu sein, gibt er die Taktik der Verstellung auf und sagt die Wahrheit, weil ihm seine Indianerehre wichtiger ist als sein Leben und das Schicksal der Gefährten; Jemmy dagegen beharrt nach vergleichbaren Vorwürfen, wie gezeigt, auf seiner Verstellung. Hier erscheint nun Wohkadeh, der Verbündete der Weißen, als echter Mann, dem seine männliche Identität über alles geht. Noch unterschiedlicher ist das Verhalten, das Shatterhand und der Schwere Moccassin zeigen. Während der Weiße durchweg bei seiner verdeckten Strategie bleibt, äußert der Häuptling unverblümt seine Meinung, pocht offen auf seine Führungsposition und richtet direkte Angriffe auf den Gegenspieler:

»Er nimmt sich dieses Recht selbst. Er ist der Anführer dieses Kriegszuges und kann thun, was ihm beliebt.« (466/300) »Du selbst wirst sie [die Waffen] ablegen. Und wenn du das nicht thust, so wirst du eine Kugel erhalten.« (467/302) »Wohkadeh ist ein Mandane. Es hat ihn keine Squaw der Sioux geboren.« (467/302) »Diese Erlaubnis [Wohkadeh binden zu lassen] nehme ich mir ...« (467/303) »Wohkadeh lügt. ... Du bist ein Feigling, denn du fürchtest dich, die Wahrheit zu sagen!« (524/331f.)

Während dem Häuptling ausschließlich negative Merkmale zugeschrieben werden, fällt die Darstellung des jungen indianischen Verbündeten der Heldengruppe in dieser Situation ambivalent aus: Zwar weist er viele Sympathiewerte auf, indem er sich zunächst unerschrocken für seine Begleiter einsetzt und dem Häuptling Paroli bietet, aber dann wird sein weiteres Verhalten doch auf die soziale Gebundenheit zurückgeführt (Kein Indianer läßt sich einen Feigling nennen, ohne sofort zu zeigen, daß er mutig sei. 524/331).



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Vergleicht man in dieser Hinsicht Indianer und Weiße, kann man bei einigen der Letzteren (Shatterhand, Jemmy) einen höheren Grad von Zivilisiertheit auch in dem Maße feststellen, in dem sie ihre aggressiven Triebregungen und Affekte zurückgedrängt und Selbstzwänge entwickelt haben.31 Es wird aber auch sichtbar, welcher Preis für diese Verdrängungsleistung zu entrichten ist: Die auf hoher Zivilisationsstufe stehenden Männer geraten in den Konflikt zwischen ihren unterdrückten Regungen und dem Ziel ihres ganzen Unternehmens, das sie sich gesetzt haben und das nur im solidarischen Zusammenwirken aller Gruppenmitglieder zu erreichen ist; aber sie sprechen ihre wahren Ansichten und Wünsche nicht offen aus, bzw. sie äußern sie nur in verdeckter Form und sind dadurch außerstande, ein gefährliches Fehlverhalten zu vermeiden. Der unzivilisierte ›Wilde‹ dagegen kann immerhin wie im Falle des Schweren Moccassins seine Interessen durchsetzen, und auch der äußerlich unterlegene Wohkadeh vermag schließlich vor der Öffentlichkeit der Stammesmitglieder seine persönliche Reputation zu wahren, auch wenn er damit sein Leben aufs Spiel setzt.

Neben den besprochenen Trieben, Affekten und Gefühlen, deren Ausbruch nicht zur Identität des selbstbeherrschten Mannes gehört, gibt es ein weiteres Verhaltensmerkmal, das in einer reinen Männergesellschaft große Verwirrung stiften kann. Es soll im folgenden Kapitel untersucht werden.



5. Der Einbruch weiblich konnotierter Identitätsmerkmale in den Männlichkeitsentwurf und die Angst vor dem Modernen


Rassische bzw. ›nationale‹ Alterität wird in diesem Roman, wie gezeigt werden konnte, vor allem durch die Verweigerung oder wenigstens stete Relativierung und damit Entwertung von Merkmalen männlicher Geschlechtsidentität konstruiert. Dies betont andererseits den hohen Wert, den die Zuschreibung von Männlichkeit an die Weißen besitzt. Ausgeschlossen sind damit Verhaltensweisen, die gemeinhin als typisch weiblich angesehen werden. Es kann nun aber gezeigt werden, dass nicht zuletzt auch weiblich konnotierte Identitätsmerkmale die Beinahe-Katastrophe verursachen.

Die drei erwachsenen ›Ausreißer‹ Jemmy, Davy und Frank unterscheiden sich äußerlich stark von der Leitfigur Old Shatterhand. Besonders bezeichnend ist ihre Kleidung. Trotz der Versicherung des Erzählers, im Wilden Westen gelte der Mann mehr als das Kleid (35/39), charakterisiert dieses seinen Träger, sonst würde es nicht so ausführlich beschrieben. Gerade die auffällige Kleidung versieht die drei Männer mit weiblichen Attributen. Sie signalisiert individuelle Körperlichkeit, die bei den bürgerlichen Männern der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verpönt war.32 Vor allem der lange Davy zeigt in gänzlich unmännlicher Weise viel nackte Haut; so präsentiert er z. B. nackte Waden (vgl. 1/10), die noch kurz nach 1800 als ein »erotisches Signal galten«,33 später aber lächerlich wirkten. Im Unterschied dazu trägt



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Old Shatterhand rein funktionale Kleidung, wenn es auch schwer vorstellbar ist, dass er sich mit dem ganzen Klimbim, der an ihm hängt, so bewegen kann, wie es der Erzähler schildert. Vollbart und Zigarre vervollständigen seinen Aufzug, der ein wichtiges Indiz vollkommener Männlichkeit darstellt.

Für die Handlung wichtiger ist ein weiterer Unterschied. Zur Männlichkeit gehört in diesem Roman nicht allein das Verbergen von Emotionen; Old Shatterhand versteht die Sohnesgefühle Martins im Grunde überhaupt nicht. Er kann sich zwar in die Gedankenwelt eines Indianers hinein versetzen, nicht aber in die Gefühlswelt eines Jugendlichen. Über genau diese Fähigkeit verfügt dagegen Davy: »Ich kann es mir lebhaft vorstellen, wie es in Eurem Herzen aussehen mag. Ihr steht eine reelle Angst um Euren Vater aus. Das rührt mein altes, gutes Gemüt, und ich begleite Euch.« (458/286) Ebenso Jemmy: »(D)er kleine Bärenjäger wußte so schön zu bitten, und da ist mir altem, dickem Waschbären das Herz mit dem Verstande davongelaufen.« (457/284) Weiblich konnotierte Begriffe (›Herz‹, ›Gemüt‹)34 verraten die im Männlichkeitsentwurf eigentlich ausgeschlossenen sentimentalen Regungen. Beide Affektregungen - Beeinträchtigung des Selbstwertgefühls und Mitgefühl für Martin - verbinden sich zu dem Widerstandsakt gegen den ›Kommandanten‹ und führen zugleich dazu, dass die Ausreißer ihre gewohnte Vor- und Umsicht vergessen und fast blind in die Falle laufen.

Das Mitleid mit Martin als eine der beiden Ursachen für das eigensinnige Unternehmen zeigt eine prinzipielle Problematik des Männlichkeitsentwurfs, der dem Roman zugrunde liegt. Einige w e i b l i c h k o n n o t i e r t e I d e n t i t ä t s m e r k m a l e bestimmen auch das Verhalten in einer reinen Männergruppe: Liebe, Zuneigung, Einfühlung, Rücksichtnahme - nicht auf körperliche Unversehrtheit der Gefährten (das gehört zu den Männlichkeitsmerkmalen), sondern auf Gefühle, in diesem Falle auf kindliche Gefühle, wie sie Martin hegt. Damit dringt durch die Hintertür der am Anfang der Geschichte durch den Tod von Martins Mutter und Schwester eigentlich ausgeschlossene, weiblich konnotierte familiär-private Bereich wieder in den Männlichkeitsentwurf ein und lässt ihn brüchig erscheinen. Aber dadurch tritt auch der innere Zwiespalt, der in einem weiteren, soldatischen Männlichkeitsmerkmal, der Kameradschaft, herrscht, zu Tage: Muss Kameradschaft immer gegenüber der ganzen Gruppe geübt werden, oder kann sie sich auch auf eine Teilgruppe oder gar wie hier auf einen Einzelnen richten? In diesem immanenten Konflikt entscheiden sich Jemmy und Davy für den letzten Fall; sie zeigen aber gerade dadurch ein eigentlich unmännliches Verhalten. Sie kündigen durch nicht-männliche Gefühlsregungen den Zusammenhalt der Westmannsgruppe auf und gefährden dadurch deren Überleben.

Träger dieser Weiblichkeitsmerkmale sind bemerkenswerterweise Männer; weibliches Personal fehlt in der Haupthandlung des Romans ganz. Meines Wissens ist noch nie ernsthaft die Frage gestellt worden, warum am Anfang des Romans überhaupt zwei weibliche Personen vorkommen, wenn sie



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doch sogleich wieder - und auf besonders spektakulär-grausame Weise - beseitigt werden.35

Einen wichtigen Hinweis auf die Bedeutung dieser Eliminierung des weiblichen Elements, die genau so ostentativ in Szene gesetzt wird wie die Männlichkeitsbeweise der Protagonisten, geben die beiden aitiologischen Sagen vom »Berg der Schildkröte« (282/181f.) und vom ›Häuptling Feuerwasser‹ (553f./347f.). Gemeinsam ist ihnen die Vorstellung von der Entstehung der gegenwärtigen Verhältnisse durch das rettende bzw. strafende Eingreifen des ›großen Geistes‹, also durch göttliche Fügung. Sie gestalten ein existenzielles Ur-Erlebnis der Menschheit, das ambivalente Bedeutungsdimensionen hat: Die Angstvorstellung, vom Untergang durch Naturgewalten bedroht zu sein, wird in der Sintflutsage durch die trostreiche Versicherung göttlicher Hilfe gemildert, in der Feuerwassersage für den Fall, dass sich Menschen gegen göttliche oder menschliche Gesetze versündigen, durch die göttliche Strafgewalt bestätigt. Strukturelles Kennzeichen der sagenhaft verdichteten Vorstellungen ist die heimtückische, nicht vorhersehbare dauernde Bewegung. Sie bestimmt auch andere Handlungsteile: So ist das Hochwasser in Jemmys Bärengeschichte über Nacht gekommen und hat Jemmys Aufenthaltsort zu einer Insel gemacht, auf der ein Bär haust. Die dauernde Veränderung der Erdoberfläche im Yellowstonepark gibt den topographischen Hintergrund des gesamten Endkampfs gegen die Ogallalla ab. Noch auffälliger ist ein weiterer Aspekt: In den bedrohlichen Elementen wechseln sich in kürzester Zeit Schönes und Hässliches ab, und neben der erschreckenden Wirkung üben sie zugleich eine Faszination auf die Menschen aus. Der Anblick ist schier überwältigend, im Guten wie im Bösen: Man möchte alle Sekunden ein »Herrlich! Unvergleichlich! Himmlisch!« rufen, wenn das alles nicht gar so angsterregend, so höllisch wäre. (507/323)

Feuer, Wasser und seismische Kräfte sind kollektive Symbole, in denen sich ganz verschiedene Erfahrungen vereinigen, die zugleich positive und negative Konnotationen auslösen können. Im ausgehenden 19. Jahrhundert aber standen sie für einen ›Fortschrittsglaube(n) am Abgrund‹,36 für Ängste vor dem steten Wandel aller Lebensumstände, kurz: vor der ›Modernisierung‹. Dazu gehörten die Industrialisierung und Technisierung, die Erfahrung der Beschleunigung (unabhängig von der Verlangsamung, die es in vielen Bereichen auch gab, etwa beim Hineinwachsen junger Menschen in die Erwachsenenwelt durch die Entdeckung der Kindheit als eigenwertiger Lebensphase), Veränderungen in der Beziehung der Generationen37 und - nicht zuletzt - der Geschlechter. Helene Lange zitiert in ihrem schon erwähnten Beitrag in der ›Gartenlaube‹ eine Begründung für die Abweisung einer gewissen »Miß Blackwell« vom Medizinstudium in den USA; die Universität »sprach von der ›unerhörten Anmaßung, die die Antragstellerin mit dem Wunsch und der Hoffnung erfüllt hat, in einen Beruf einzudringen, der dem edleren Geschlecht vorbehalten ist‹«.38



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Überhaupt ist die Sphäre des Erotischen ein besonders beunruhigender Bestandteil dieses männlichen Angstsyndroms.39 Nun gab es immer schon die Angst vor der männerverderbenden Frau, als vielfältiger Reflex natürlich auch ein beliebtes Thema der Literatur.40 Im ausgehenden 19. Jahrhundert war sie als Gegenspielerin von »weichen, passiven Männergestalten«41 der Inbegriff der ›Feminisierung‹ der Gesellschaft; einen Reflex dieser Angstvorstellung bietet noch Herder's Lexikon von 1904, wo der Begriff ›Feminismus‹ als »krankhafte, auf Gleichstellung der Frau mit dem Mann gerichtete Bewegung« definiert wird.42

In diesem Kontext lässt sich vielleicht die Antwort auf die oben gestellte Frage nach dem tieferen Sinn der Erzählung Martins von seinem Kindheitserlebnis finden: Frauen bedrohen den Trieb- und Affekthaushalt des Mannes. »Daß es nottat, den traditionellen Männlichkeitsgestus derart ostentativ zu betonen und zu verstärken, läßt eine große Verunsicherung durch ›entmännlichende‹ Gegenkräfte, z. B. die Frauenbewegung, vermuten.«43 Also sollten sie aus der Welt, in der sich Männer zu bewähren haben, ausgeschlossen werden.

Aber die Ersetzung weiblicher Personen durch unverfänglichere Symbole in diesem Roman beseitigt die prinzipielle Problematik nicht: Die Reise ins Yellowstonetal, wo die Helden vielfältige Gelegenheit zum Beweis ihrer Männlichkeit suchen und finden, führt zugleich in das Reich der ungebändigten und unbeherrschbaren Naturgewalten; sie ist auch eine Reise ins Innere des modernen Menschen, genauer: des bürgerlichen Mannes am Ende des 19. Jahrhunderts, der in sich die unbegrenzten Möglichkeiten des Fortschritts auf allen Gebieten des kulturellen Lebens spürt und gleichzeitig die gefährliche Kehrseite dieses Fortschritts ahnt: Wird er die Entfesselung der Naturkräfte, des Kapitalismus, der Welteroberung - technisch, militärisch-politisch und moralisch - beherrschen können? Wird er den außerhäuslichen gesellschaftlichen Bereich weiterhin dominieren, wird er seine Stellung in der Öffentlichkeit angesichts der in diese bisherige Männerdomäne drängenden bürgerlichen Frauen behaupten können?

In Mays Roman tun die Weißen jedenfalls alles ihnen Mögliche, um »die Angst vor den ›Fluten‹ und der ›Lava‹, die aus dem Innern des soldatischen Mannes hervorbrechen können«,44 zu verdrängen und ihre ungebrochene Männlichkeit zu beweisen; beim Schlusskampf gesteht der Erzähler/Autor auch den zweitrangigen Westmännern mehr oder weniger bedeutende Heldentaten zu. Jemmy und Davy bewähren sich im Kampf Mann gegen Mann, und Martin befördert schließlich den feindlichen Häuptling für immer ins Schlammloch. Der Hobble-Frank besiegt den Schweren Moccassin, und Winnetou formuliert seine Anerkennung schlicht, aber grundsätzlich: »(D)u bist ein tüchtiger Mann!« (586/372) Nach diesen glorreich bewältigten Strapazen und Gefahren darf Frank sich und die Seinen unwidersprochen als »Helden« (603/386) bezeichnen. Aber gerade aus seinem Munde wirkt die abschließende Feststellung so wenig überzeugend wie jede seiner



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Ruhmredigkeiten. Der humoristische Charakter der Schluss-Szene, in der Frank das große Wort führt, bestätigt die ambivalente Rolle, die die Männer in diesem Roman spielen.

Bisher ist mehrfach der Zusammenhang zwischen der gedanklichen Struktur des Romans und der psycho-sozialen Struktur der bürgerlichen Männer des späten 19. Jahrhunderts angedeutet worden. Dieser Aspekt soll abschließend vertieft werden.



6. Der Roman als Ausdruck der Krise männlicher Selbstwahrnehmung am Ende des 19. Jahrhunderts


Kann man die bisher erarbeiteten Befunde als Bestandteil eines allgemeinen Geschlechterdiskurses um 1880/90 im wilhelminischen Deutschland auffassen? Ist der Roman imstande, ein Männlichkeitsideal einzuüben und so an der Sozialisation seines Lesepublikums, gutbürgerlicher Heranwachsender, mitzuarbeiten?

Der Roman selbst gibt einen unübersehbaren Hinweis auf den Zusammenhang der Männergeschichte, die er erzählt, mit dem genannten Diskurs seiner Entstehungszeit. In Winnetous Lobrede auf Kaiser Wilhelm I. wird das Vorbild des großen, alle überragenden Einzelnen gezeichnet; sie ist in ihrer idealisierenden Überhöhung ein typisches Beispiel für das Pathos wilhelminischen Herrscherlobs:


»Er [Kaiser Wilhelm] ist ein alter, kluger, tapferer Krieger, der in allen Kämpfen gesiegt und doch niemals einen Skalp genommen hat. Sein Haar ist weiß wie der Schnee der Berge; seine Jahre sind fast nicht zu zählen, aber seine Gestalt ist noch hoch und stolz, und sein Roß zittert vor Freude, wenn er in den Sattel steigt. Sein Arm ist stark und sein Befehl ohne Widerspruch; aber in seinem Herzen wohnt die Liebe, und in seiner Hand glänzt der Stab des Friedens. In seinem Wigwam verkehren die Häuptlinge aller Völker, und sein Rat wird geachtet vom Aufgang bis zum Niedergange der Sonne.« (554/350)


An dieser Lobrede fällt vor allem auf, dass in der Person des Monarchen verschiedene, ja widersprüchliche Eigenschaften miteinander vereint sind, die ihn zu einem schlechthin vollkommenen Menschen machen. Unbesiegbar, aber den Feind schonend; uralt, doch jugendlich straff; von umfassendem Herrschaftswillen, aber zugleich von Menschenliebe und friedlicher Gesinnung beseelt. Dieses Bild des ehemaligen ›Kartätschenprinzen‹ ist keineswegs von May erfunden. Es etablierte sich bald nach der Reichsgründung im Januar 1871 und wurde von immer weiteren Bevölkerungskreisen akzeptiert, je mehr das Reich nach innen und außen an Ansehen gewann. Einen bezeichnenden Beleg dafür bildet der Vortrag, den der Althistoriker Theodor Mommsen, dessen idealisiertes Caesar-Bild übrigens in diesem Zusammenhang zu sehen ist, am 22. März 1888 »anläßlich des Ablebens des



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Kaisers und Königs Wilhelm« vor der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin hielt. Er verdichtet die im engeren Sinne politischen Kernaussagen der Rede Winnetous in einem einzigen Satz: »In dem großen Trauergeleit des S c h l a c h t e n s i e g e r s und des F r i e d e n s f ü r s t e n hat k e i n e N a t i o n g e f e h l t .«45 Die Aussagen lassen sich problemlos auf Old Shatterhand übertragen: Unbesiegbar (z. B. im Zweikampf mit dem Medizinmann der Upsarocas), erfolgreich zum Frieden drängend (gegenüber den drei Indianerstämmen) und aus Feinden Freunde machend (am Schluss im Verein mit dem dicken Jemmy): Als dann am Abend die Lagerfeuer brannten und Freunde und Feinde versöhnt bei einander saßen (603/386); kein Stamm fehlt!

Winnetous Rede kompiliert die im damaligen Bewusstsein verankerten Züge Wilhelms I. und Bismarcks. Zumindest seine letzte Feststellung spielt auf die international akzeptierte Autorität des Reichskanzlers an (man denke etwa an Bismarck als ›ehrlichen Makler‹ auf dem Berliner Kongress 1878). Es ist ein umfassendes politisches Bekenntnis, das Winnetou in den Mund gelegt wird, und es bezieht sich auch auf ihn selbst, zumal er bei seinem ersten Auftreten in diesem Roman im ähnlichen pathetischen Stil beschrieben wird wie der Kaiser: Wer nur einen Blick auf ihn richtete, der hatte sofort die Ueberzeugung, einen bedeutenden Mann vor sich zu haben. (122/94) Die Reihe seiner Eigenschaften ist der Wilhelms vergleichbar. Aber die zentralen Bezüge werden zwischen dem Kaiser und Old Shatterhand hergestellt: Die Charakteristik des deutschen Monarchen weist dieselbe autoritäre und zugleich brüchige Struktur auf wie die der erwachsenen Hauptperson des Romans. Beide überragen alle anderen Menschen, weil sie eben alle - widersprüchlichen - Eigenschaften in sich vereinen sollen, die zur Ausübung einer Herrschaft taugen und das Wohlergehen aller garantieren.

Wie authentisch kann ein solcher Mensch in der wirklichen und in der fiktiven Welt sein? In beiden Fällen handelt es sich um ein Phantombild. Die Identitätsentwürfe treffen weder Old Shatterhand noch Wilhelm ›den Großen‹. Winnetous (und Mommsens!) Herrscherpreis wird dem mediokren Kaiser in keiner Weise gerecht, und auch Old Shatterhands Handeln entspricht, wie gezeigt worden ist, den zahlreichen Lobeshymnen, die vom Erzähler und von den Romanpersonen angestimmt werden, übrigens auch seinen eigenen Ansprüchen, in entscheidenden Situationen nicht - ohne dass dies jemals explizit ausgesprochen würde. Kurz gesagt: Die Kaiserideologie stimmt mit der deutschen Wirklichkeit nicht überein, und das Bild von der ethisch hochstehenden Leitfigur des Romans kommt mit der fiktiven Realität nicht zur Deckung. Weder bietet Karl May mit dem ›Sohn des Bärenjägers‹ »seinen rollenverunsicherten Lesern Geschichten an, mit deren Hilfe (sie) ihre bedrohten Sinnorientierungen festigen können«,46 noch entwirft er eine »im Grunde wohlgeordnete Welt« als Raum für eine »romantische Flucht«.47 Eher dürfte die - nicht geringe - Leistung dieses



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Romans für die Jugend darin liegen, dass unter der vordergründigen Handlung eine höchst beunruhigende fiktive Welt gestaltet wird, die in ihrer Zeit geeignet war - und vielleicht auch heute noch ist -, den Leser in seiner Fähigkeit zur Wahrnehmung der realen Umwelt zu irritieren und seine Orientierungslosigkeit noch zu verstärken. Damit lässt sich der Widerspruch zwischen der dem Roman zugrunde liegenden Intention und dem Ergebnis aber auch positiv fassen: Er weist den ›Sohn des Bärenjägers‹ als ein Werk aus, das, im Gewand des spannenden Abenteuerromans, mit seiner seismographisch-genauen Analyse des »Zeitalters der Nervosität«48 den kompetenten Leser zur kritischen Selbstreflexion sensibilisieren konnte - und immer noch kann.




1 Zitiert wird nach Karl May: Der Sohn des Bärenjägers. In: Der Gute Kamerad. 1. Jg. (1887); Reprint in: Karl May: Der Sohn des Bärenjagers/Der Geist der Llano estakata. Hrsg. von der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg 1983 (Seitenzahl vor dem Schrägstrich) und nach Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Abt. III Bd. 1: Der Sohn des Bärenjägers. Hrsg. von Hermann Wiedenroth/Hans Wollschläger. Zürich 1992 (Seitenzahl hinter dem Schrägstrich).
2 Zum Beispiel Gertrud Oel-Willenborg: Von deutschen Helden. Eine Inhaltsanalyse der Karl-May-Romane. Weinheim/Basel 1973; Jochen Schulte-Sasse: Karl Mays Amerika-Exotik und deutsche Wirklichkeit. Zur sozialpsychologischen Funktion von Trivialliteratur im wilhelminischen Deutschland. In: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt a. M. 1983, S. 101-129; Claus Roxin: »Winnetou« im Widerstreit von Ideologie und Ideologiekritik. In: Karl Mays ›Winnetou‹. Hrsg. von Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Frankfurt a. M. 1989, S. 283-305; die Arbeit von Hans-Joachim Jürgens: Männlichkeitskonstruktionen in Karl Mays Reiseerzählungen. In: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (Jb-KMG) 2003. Husum 2003, S. 119-139 konnte ich erst nach Fertigstellung meines Manuskripts einsehen.
3 Eine ältere Ausnahme ist die »ideologiekritische Studie« von Rainer Jeglin über ›Das Vermächtnis des Inka‹ und ›Der Ölprinz‹. In: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 9/1971, S. 3-13, und 10/1971, S. 3-12.
4 Klaus Eggers: Hobble und Oedipus. In: M-KMG 57/1983, S. 3-18, und 58/1983, S. 21-30; Bernhard Kosciuszko: Helden des Westens. Vorschläge zu einer Interpretation. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft (S-KMG) Nr. 42/1983; dazu die Diskussion in: Gerhard Klußmeier u. a.: Karl May und die Psychoanalyse. Standpunkte und Kontroversen. S-KMG Nr. 51/1984; Wilhelm Vinzenz: Feuer und Wasser. Zum Erlösungsmotiv bei Karl May. S-KMG Nr. 26/1980
5 Vgl. Werner Kittstein: »Ach was Chinese! Er ist ja gar keiner! Sondern ein Gentleman ...« Imperialistische Tendenzen in Karl Mays ›Und Friede auf Erden!‹ In: Karl Mays »Und Friede auf Erden!« Hrsg. von Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Oldenburg 2001, S. 237-271.
6 Max Lenz: Jahrhunderts-Ende vor hundert Jahren und jetzt. In: Cosmopolis. Internationale Revue. 4, Nr. 10. Berlin u. a. 1896; zit. nach: Quellen zur Alltagsgeschichte der Deutschen 1871-1914. Hrsg. von Jens Flemming/Klaus Saul/Peter-Christian Witt. Darmstadt 1997, S. 39
7 Ute Frevert: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991, S. 215



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8 Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler. München/Wien 1998, S. 295
9 Ansprache des Obersten Freiherrn von Wechmar an die Soldaten des Großh. Bad. Leib-Grenadier-Regiments, 27. März 1871. In: Im Bismarckschen Reich 1871-1890. Hrsg. von Hans Fenske. Darmstadt 1978, S. 40-41
10 Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit. Quellen und Dokumente. Hrsg. von Bernd Ulrich/Benjamin Ziemann. Frankfurt a. M. 1994, S. 87; zit. nach: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung. Bd. 8: Kaiserreich und Erster Weltkrieg 1871-1918. Hrsg. von Rüdiger vom Bruch/Björn Hofmeister. Stuttgart 2000, S. 365
11 Vgl. Frevert: Ehrenmänner, wie Anm. 7, S. 214ff.; Radkau, wie Anm. 8, S. 297 und S. 389ff.
12 Vgl. Ute Frevert: »Wo du hingehst ...« - Aufbrüche im Verhältnis der Geschlechter. In: Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930. Bd. 2. Hrsg. von August Nitschke/Gerhard A. Ritter/Detlev J. K. Peukert/Rüdiger vom Bruch. Reinbek bei Hamburg 1990, S. 90-93. Vgl. auch: Ute Frevert: Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit. In: Männergeschichte - Geschlechtergeschichte. Männlichkeit im Wandel der Moderne. Hrsg. von Thomas Kühne. Frankfurt a. M./New York 1996, S. 69-87, mit der Annahme, »daß der männliche Geschlechtscharakter im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend soldatische Elemente inkorporierte« (S. 76).
13 Gisela Wilkending: Mädchenliteratur von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. In: Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur. Hrsg. von Reiner Wild. Stuttgart 22002, S. 250
14 Karl May: Der Scheerenschleifer. In: Für alle Welt! 5. Jg. (1881), S. 107; Reprint in: Karl May: Old Firehand. Seltene Originaltexte Bd. 3. Hrsg. von Ruprecht Gammler. Hamburg 2003
15 Otto Weininger: Geschlecht und Charakter. Wien/Leipzig 1903; zit. nach: Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Bd. 13: Impressionismus, Symbolismus und Jugendstil. Hrsg. von Ulrich Karthaus. Stuttgart 1977, S. 41-52
16 Vgl. Frevert: Aufbrüche, wie Anm. 12, S. 90-93.
17 So noch in der 20. Auflage (Leipzig 1928) von Albert Soergel: Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte (gemeint sind die Jahre 1884-1910).
18 Gisela Wilkending bietet einen allgemeinen Überblick über die »Mädchenbildung im Kontext historischer Weiblichkeitsentwürfe«. In: Einleitung. In: Kinder- und Jugendliteratur - Mädchenliteratur. Vom 18. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. Hrsg. von Gisela Wilkending. Stuttgart 1994, S. 8-34.
19 Zit. nach: Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Bd. 12: Naturalismus. Hrsg. von Walter Schmähling. Stuttgart 1977, S. 33.
20 Vgl. Wilkending: Mädchenliteratur, wie Anm. 13, S. 220f.
21 Die Figuren Winnetous und des Schwarzen Bob ausführlich zu behandeln würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen.
22 Vgl. Karl May: Der Scout. In: Deutscher Hausschatz. XV. Jg. (1888/89), S. 463; Reprint in: Karl May: Der Scout/Deadly Dust/Ave Maria. Hrsg. von der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg (2., erweiterte Auflage) 1997.
23 Vgl. Karl May: Gesammelte Reiseromane Bd. VII: Winnetou der Rote Gentleman I. Freiburg 1893, S. 523f.; Reprint Bamberg 1982.
24 Ebd., S. 486f.
25 Im fernen Westen. Zwei Erzählungen aus dem Indianerleben für die Jugend von Carl May und Fr. C. von Wickede. Stuttgart o. J. [1879], S. 61; Reprint Bamberg 1975
26 Befremdlich ist etwa die milde Kritik Erich Heinemanns an dem »Hüftenschuß«, der »nicht so recht ins Konzept« der humanen Grundhaltung Old Shatterhands passe. Erich Heinemann: Einführung (zu ›Der Sohn des Bärenjägers/Der Geist der Llano estakata‹), wie Anm. 1, S. 10 (Anm. 53).



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27 Bezeichnend für die auch auf der Erzähler-Ebene differenziert gestufte Rangordnung unter den Westmännern ist es, dass Davys Bericht nicht wörtlich wiedergegeben, sondern vom Erzähler nur kurz zusammengefasst wird.
28 Allgemein dazu vgl. Gerhard Bauer: Zur Poetik des Dialogs. Leistung und Formen der Gesprächsführung in der neueren deutschen Literatur. Darmstadt 21977.
29 Die sogar den Erzählstil beeinflussenden Folgen des Führungsanspruchs Old Shatterhands und der Konflikte mit seiner ›Gefolgschaft‹ werden untersucht in Werner Kittstein: »Was nun thun? War ich denn noch nicht da?« Beobachtungen zur Erzählsituation in Karl Mays ›Satan und Ischariot‹. In: Karl Mays ›Satan und Ischariot‹. Hrsg. von Dieter Sudhoff/Hartmut Vollmer. Oldenburg 1999, S. 62-77.
30 Hermann Wohlgschaft: Große Karl-May-Biographie. Paderborn 1994, S. 212
31 Der Begriff ›Zivilisiertheit‹ meint hier im Sinne von Norbert Elias' Zivilisationstheorie den Grad der Verinnerlichung von Triebkontrollen. Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. 2 Bände. Frankfurt a. M. 211997.
32 Zur Rolle der Kleidung vgl. Sabina Brändli: »... die Männer sollten schöner geputzt sein als die Weiber«. Zur Konstruktion bürgerlicher Männlichkeit im 19. Jahrhundert. In: Kühne, wie Anm. 12, S. 101-118.
33 Ebd., S. 112
34 An dieser Stelle ist »Gemüt« im Sinne von Mitleidfähigkeit gemeint, nicht mit der Konnotation ›Gemütlichkeit‹ wie in dem Ausdruck vom ›deutschen Gemüt‹; Davy ist ja ein Yankee.
35 Die lebenslange Jagd Baumanns und Martins auf Grizzlys könnte durchaus anders motiviert werden.
36 Michael Stürmer: Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918. Berlin 1994, S. 249ff.
37 Einen interessanten Reflex auf das Problemfeld ›Erziehung‹ bildet die indirekte Kritik an der deutschen Jugend in einem der wenigen Erzählerkommentare: (B)ei den Indianern ist die Jugend eben gewöhnt, bescheiden zu sein (138/109).
38 Zitiert nach Schmähling, wie Anm. 19, S. 34
39 Vgl. Frevert: Aufbrüche, wie Anm. 12, S. 98-100.
40 Vgl. Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Stuttgart 21980. Stichwort »Verführerin, Die dämonische«, S. 737-751.
41 Ebd., S. 750
42 Herders Konversations-Lexikon. Dritte Auflage. Dritter Band. Freiburg i. B. 1904, Sp. 489
43 Frevert: Ehrenmänner, wie Anm. 7, S. 325, Anm. 146
44 Klaus Theweleit: Männerphantasien. Band 1: Frauen, Fluten, Körper, Geschichte. München/Zürich 22002, S. 262; darin eine Geschichte der »Entstehung des Panzers gegen die Frau« in der Neuzeit, S. 311-377
45 Fenske, wie Anm. 9, S. 394-397 (Hervorhebung W. K.)
46 Dies behauptet Schulte-Sasse, wie Anm. 2, S. 116, vom »Abenteuerromancier May« in Bezug auf die amerikanischen Reiseromane, vor allem den ›Old Surehand‹.
47 So Oel-Willenborg, wie Anm. 2, S. 146 und 148, über einige Amerika- und Orient-Romane Mays
48 So der Titel des Buchs von Joachim Radkau, wie Anm. 8





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