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Rudi Schweikert


Historische ›Schatten‹
Quellen und Anregungen zu einer Grundidee von Karl Mays ›Im Reiche des silbernen Löwen‹





Die äußere Handlung der im Orient spielenden Teile von Karl Mays Reiseerzählung ›Im Reiche des silbernen Löwen‹ dreht sich im Kern um die Machenschaften eines Geheimbundes, der Sillan, der Schatten. Anfänglich als Verbrecherbande mit besonderer Vorliebe fürs Schmugglerwesen gezeichnet, gipfeln die geschilderten Umtriebe der Sillan in einer Empörung gegen den Schah von Persien.

Karl May greift mit dem Thema der geheimen Verbindung nicht nur zum wiederholten Mal ein allbekanntes (schauer)romantisches Motiv auf, nein, diesmal macht er mehr. Was genau - und wie dies mit dem mutmaßlichen Auslöser für die Grundidee von der geheimen persischen Verbindung zusammenhängt -, das möchte ich im Folgenden vorstellen.



I


Nachdem Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar auf Mitglieder des Geheimbundes gestoßen sind, lässt Karl May seinen Erzähler zwecks Spannungssteigerung zunächst sinnieren:


Aber was für Menschen waren das, und warum wurden sie Sillan, Schatten genannt? Bedeutete der Ausdruck »Fürst der Schatten« einen Rang? Wenn ja, dann mußten »Schatten des Safrans« und »Vater der Gewürze« auch wohl Chargen sein. Es schien sich um Vorgesetzte und Untergebene zu handeln, und wie mir dies alles ein Geheimnis war, so handelte es sich hier wahrscheinlich überhaupt um eine geheime Verbindung oder Körperschaft, welche das Licht des Tages und der Oeffentlichkeit zu scheuen hatte.1


Um das Geheimbund-Motiv überzeugender zu gestalten, um es sowohl besser zu legitimieren als auch gegenüber seinem Leserpublikum verstärkt zu plausibilisieren, verbindet es May wenig später - und das ist das entscheidend Neue und der autorintendierte besondere ›Kick‹ - mit einer tatsächlich existierenden geheimen Vereinigung, die im zeitgenössischen Diskurs präsent war, nämlich der Sekte der Babi, die wir heute (ideologisch gewandelt) als Bahai'i kennen. Karl May lässt Halef folgende Vermutung gegenüber Kara Ben Nemsi äußern:



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»Sihdi, ich habe einen Gedanken! Sollte es sich [bei den Sillan] um die Sekte der Babi handeln?«

»Das ist möglich. Zwar möchte ich die Babi und die Sillan nicht als gleichbedeutend nehmen, aber es ist nicht unwahrscheinlich, daß die letzteren zu den ersteren gehören. Du weißt genau, was die Babi sind und was sie wollen?«

»Nicht genau. Ich habe nur gehört, daß sie Feinde des Schah sind und von diesem unerbittlich verfolgt werden; warum aber, das ist mir unbekannt. Kannst du es mir sagen, Effendi?«

»Ja. Der Gründer dieser Sekte war der junge Ali Mohammed aus Schiras, welcher sich Bab [Fußnote: Pforte] nannte, weil er lehrte, daß man durch ihn zu Gott gelange. Seine Anhänger glauben, daß der Bab höher als Muhammed stehe, daß es in der Welt nichts Böses, also auch keine Sünde gebe und daß das Gebet nicht unbedingt nötig sei. Sie verbieten den Frauen, sich mit dem Schleier zu verhüllen, und wollen dem Manne nur eine Frau erlauben. Dies alles verstößt gegen die Lehren der Sunna und der Schia. Die weltliche Regierung haben sie sich dadurch zur Feindin gemacht, daß sie neunzehn Oberpriester haben wollen, welche über dem Herrscher stehen sollen.«

»Das wird der Schah nie zugeben!«

»Richtig! Nassr-ed-din hat sehr strenge Maßregeln gegen sie ergriffen, welche sich in grausame Verfolgungen verwandelten, als einige Babi ein Attentat gegen das Leben des Schah ausführten. Alle, welche als Anhänger der Sekte erkannt und ergriffen wurden, starben einen qualvollen Martertod; die andern waren gezwungen, scheinbar ihrem Glauben zu entsagen oder sich außerhalb des Landes zu flüchten. Aber im stillen zählt diese Sekte viele, viele tausend Anhänger, welche fest zusammenhalten, sich gegenseitig schützen und helfen, kein Opfer scheuen und, wenn es ihren Glauben gilt, auch vor keinem Verbrechen, und wenn es das schwerste sei, zurückschrecken. Menschen, welche behaupten, daß es keine Sünde gebe, kennen auch den Begriff und das Wort Verbrechen nicht.«

»Grad und genau wie so einer kommt mir der Perser vor, dem ich die Peitsche gegeben habe!«

»Mir auch. Ich bin überzeugt, daß die Babi der Regierung von Persien noch viel zu schaffen machen werden, wie auch dieser von dir Gezüchtigte uns sehr zu schaffen machen wird, falls unser Weg sich mit dem seinigen wieder einmal kreuzen sollte.«2


Wie so häufig in Mays Texten geht es auch hier um eine Wissensprobe, die nicht der mit der eigenen Kultur Vertraute besteht, sondern der überlegene Fremde. Und zwar aufgrund - metafiktional gesehen - bestimmten (Lexikon-)Wissens des Autors. Hinzu kommt hier noch das - poietisch aufgrund des historischen Mehrwissens besonders billige - sichere Vorausahnen (»Ich bin überzeugt, daß die Babi der Regierung von Persien noch viel zu schaffen machen werden«), denn May weiß zum Zeitpunkt der Niederschrift (vermutlich Frühjahr/Sommer 18973), Handlungszeit 1878,4 dass der Schah Nasir od-Din, so jedenfalls die zeitgenössischen Meldungen, von einem Babi-Anhänger ermordet worden war (am 1. Mai 1896). Ich gehe darauf weiter unten ausführlicher ein.

Die auffordernde Frage Kara Ben Nemsis an Hadschi Halef Omar, ob dieser genau wisse, was die Babi sind und was sie wollen, beantwortet Halef



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mit der Gegenfrage, die seinem Sihdi den ›schwarzen Peter‹ zuschiebt, nämlich dass besser dieser die Frage beantworten solle. Und wie üblich antwortet Kara Ben Nemsi schlau wie ein Buch, nämlich konversationslexikongelehrt konversierend.

Was er über die Anhänger von Ali Mohammed und diesen selbst zu sagen weiß, sind Informationen aus zwei Lexika, dem Brockhaus der 13. Auflage und dem Meyer in der 5. Auflage. May wandte hier wieder einmal das Verfahren der Quellenmixtur an, das heißt, er mischte Angaben, die er jeweils unter dem Stichwort ›Babi‹ vorfand, zu einem Neuen-Ganzen.

Lesen wir diese Einträge, so erfahren wir mehr und weiteres über die Sekte, als May uns bietet - aber wir erfahren dies nur, sofern wir ›Babi‹ bei May als ›Schlüssel-Wort‹ begreifen, als Schlüsselwort, das uns zum Nachforschen animiert. Tun wir das, befinden wir uns sozusagen in der Transzendenz von Mays Text, in jener Sphäre, die sich hinter dem Schlüsselwort auftut.

Wir erreichen dies zwar auch, wenn wir zum ›falschen‹ zeitgenössischen Lexikon beziehungsweise zu einer ›falschen‹ Auflage greifen. Aber es entgeht uns manches Detail, das May wörtlich abgeschrieben hat und nur in der ›richtigen‹ Auflage oder den ›richtigen‹ Auflagen überliefert ist.

Ich gebe zunächst den Artikel ›Babi‹ aus der 5. Auflage des Meyer wieder, der Mays Text am nächsten steht.


Babi, eine geheime, seit einigen Jahrzehnten aufgekommene mohammedan. Sekte in Persien. Ihr Stifter war ein Jüngling aus Schiraz, Ali Mohammed, welcher, wie es heißt, 1820 geboren, um 1844 als Reformator des Islam auftrat und sich B a b (»Pforte«) nannte, weil man durch ihn zu Gott gelange. Er fand durch sein gewinnendes Wesen und seine Beredsamkeit bald zahlreiche Anhänger, unter ihnen einen Priester aus Chorasan, Namens Hussein. Als die persische Regierung auf Anstiften der Geistlichkeit gegen die Sektierer vorging, setzten sich diese unter Hussein zur Wehr. Zuerst wütete der Kampf in Chorasan und dann in Masenderan, beim Ort Scheich Tebersi, wo sich die B[abi] 1848 verschanzt hatten und etwa ein Jahr lang hielten, aber nach der Übergabe sämtlich hingerichtet wurden. Das gleiche Schicksal traf Mohammed Ali, der inzwischen an verschiedenen Orten interniert gehalten war, 8. Juli 1850; und gegen Ende des Jahres fiel auch Sendschan in Medien, dessen sich die B[abi] bemächtigt hatten. Ein 15. Aug. 1852 von einigen B[abi] versuchtes Attentat auf den Schah Naßir-ud-din veranlaßte wiederholte grausame Verfolgungen, welche die B[abi] unter Mirza Jahja veranlaßten, ihren Hauptsitz nach Bagdad zu verlegen. Von dort wurden ihre Führer infolge von Streitigkeiten, welche die Ordnung störten, nach Konstantinopel, Adrianopel und schließlich nach Cypern gebracht. Die beiden Söhne Mirza Jahjas wurden von der türkischen Regierung in Adrianopel interniert und später, als sie sich wegen der Nachfolge entzweiten, der eine, Subh Azal, auf Cypern, der andre, Beha Allah, zu Akka in Syrien interniert. Letzterer galt als Chef der Sekte und starb im Mai 1892. Obwohl so gewaltsam unterdrückt, besteht die Sekte im geheimen weiter; und es scheint, daß sie in Persien und einem Teil der angrenzenden türkischen Gebiete außerordentlich verbreitet ist. Die Lehre der B[abiten]



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(B a b i s m u s) gibt sich als eine Vollendung des Inhalts des Korans, in dessen allegorischer Deutung sie an ältere, besonders schiitische Sekten anknüpft. Ebenso hat sie mit diesen die Emanationstheorie gemeinsam, nach welcher der alles durchdringende Gottesgeist sich in den Propheten stufenweise offenbart. Der Bab steht höher als Mohammed, wie dieser höher als Christus stand; er schreibt weniger Gebete vor und verhält sich den islamitischen Waschungen und Reinheitsgesetzen gegenüber gleichgültig. Ein engerer Verkehr mit Christen ist gestattet, das weibliche Geschlecht darf ohne Schleier am bürgerlichen Leben teilnehmen; bezüglich der Getränke und Speisen besteht nur das Verbot von Wein und Opium. Bettelei ist untersagt. Jedenfalls entspricht der Babismus dem kritischen Geist der Neuperser weit mehr als der Islam, und die jetzt unterdrückte, sich verbergende Sekte dürfte dereinst noch eine große Rolle zu spielen berufen sein.5


Mit Neuperser bezeichnete man die Einwohner Persiens, des neupersischen Reichs (ab ca. 1500). Karl May verwendete diesen Begriff nur einmal, und dies justament in diesem ersten Band des ›Silbernen Löwen‹ (S. 408), 24 Seiten vor der oben zitierten Stelle.

14 Druckseiten nach der zitierten Stelle kommt Kara Ben Nemsi noch einmal auf die Babi zu sprechen und gibt Halef eine historische Information, die wir aus dem Meyer bereits kennen. Zunächst bemerkt Halef:


»Ich dachte, daß es Sillan nur in Persien gebe!«

»Ich nicht. Ich erinnere dich an unsere gestrige Vermutung, daß die Sillan vielleicht mit den Babi in irgend einem Zusammenhange stehen. Als diese infolge des Attentates gegen den Schah so unnachsichtlich verfolgt wurden, flohen Tausende von ihnen unter Mirza Jahja nach Iraq Arabi herüber, wo sie ihren Hauptsitz nach Bagdad verlegten. Von jener Zeit her sind jedenfalls noch viele von ihnen hier vorhanden, wenn sie sich auch nicht öffentlich als Anhänger bekennen, und wenn es wahr ist, daß es eine Beziehung zwischen ihnen und den Sillan giebt, so brauchen wir uns nicht darüber zu wundern, daß wir heut einen hiesigen Sill getroffen haben.«6


Aber noch sind einige Angaben wie die von den neunzehn Oberpriester(n) oder die Rede vom qualvollen Martertod oder die gegenüber dem Lexikontext verschärften Aussagen wie Sie verbieten den Frauen, sich mit dem Schleier zu verhüllen ihrer Herkunft nach ungeklärt beziehungsweise könnten als May'sche ›Eigenleistungen‹ aufgefasst werden.

Um diese Erkenntnis-Lücken zu schließen, gebe ich jetzt den ›Babi‹-Artikel des Brockhaus in der 13. Auflage wieder. Nicht nur parallele Informationsübermittlung zum Meyer in teilweise abweichender Formulierung, sondern auch weiterführende Angaben werden gegeben. Wichtig wird der Artikel auch wegen einer von May unterstrichenen Bemerkung in seinem Exemplar des Lexikons, die erklären könnte, warum im Geheimbund der Sillan eine Frau, die rätselhafte Gul-i-Schiras, eine so hervorragende Rolle spielt.



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Babi oder B a b i s t e n , eine mohammed. Sekte in Persien, deren Stifter der aus einer Seïdenfamilie stammende 19jährige Hadschi Ali-Mohammed aus Schiraz war. Seine Jugend, der schwärmerische Charakter, die Beredsamkeit, der klassische arab. Stil seiner Abhandlungen (bayan), seine Predigten und gelehrten Disputationen mit Priestern gewannen ihm bald einen weiten Kreis von Anhängern im ganzen Lande, besonders unter Priestern, Seïden und selbst unter Juden. Den Neophyten suchte er den Glauben beizubringen, daß er der Prophet sei, auf welchen der Geist der frühern Propheten durch Seelenwanderung übergegangen, und daß er der »Bâb«, d. h. die »Pforte« (der Erkenntnis) sei, daher auch der Name der Sekte Babi. Nach ihm ist Gott das einzige, ewige, unwandelbare Urleben (hai), und da dieses Wort nach arab. Buchstabenzahl (hj) 18 bedeutet, so ist hiermit die Zahl 19 (mit Zugabe der Einheit des Trägers) die heilige Zahl, nach welcher alle Staatseinrichtungen (19 Monate, 19 Hohepriester u. s. w.) zu organisieren sind. Gott konnte seine Attribute nur durch die Schöpfung kundgeben; diese als Emanation von ihm konnte nur gut sein, das Böse ist nichts als eine Abweichung von der heiligen Zahl, gleichsam ein Rechnungsfehler, vorübergehend, weil zu korrigieren. Den Staat will er auf theokratisch-demokratisch-sozialer Grundlage eingerichtet wissen; der König wird von den 19 Priestern zum Guten angehalten; die Steuern fließen aus freiwilligen Beiträgen. Bab verbietet den Frauen den Gebrauch des Schleiers, läßt sie selbst am Apostolat teilnehmen; er beschränkt aufs äußerste die Polygamie, erschwert die Scheidung, hebt den Gebetzwang der Muslims auf. In Bezug auf Verbreitung des neuen Glaubens befiehlt er den Proselytismus und verspricht den Märtyrern Wiederaufleben durch Wanderung ihres Geistes. Von den 18 eingesetzten Aposteln zeichneten sich besonders drei durch ihren Eifer, ihre Energie und Organisationstalente aus: Mulla Hussein aus Chorassan, Mulla Mohammed-Ali aus Balafrusch und die schöne und gelehrte Frau Kurret-el-ayn aus Kaswin. Anfangs ließ die Regierung sie gewähren, als jedoch Unruhen in Meschhed entstanden und Nass'r-eddin auf den Thron kam (1848), wurden strengere Maßregeln ergriffen. Die B[abi] unter Führung des Mulla Hussein bauten ein Fort bei Astaneh-Scheich-Tabersy in Masanderan. Es kostete der Regierung viele Anstrengung und große Verluste, ehe sie durch Kapitulation das Fort nehmen konnte. Einige Monate später entbrannte ein noch heftigerer Kampf in Zendschan, welcher vielen Regierungstruppen das Leben kostete; Bab selbst wurde gefangen nach Gilan in die Feste Tscherik und später zur Hinrichtung nach Tabris geführt (1849). Ein Attentat der B[abi] auf den Schah 1852 führte zu einer furchtbaren Katastrophe, wobei alle Ergriffenen unter qualvollen Martern den Tod erlitten. Der Rest der noch immer zahlreichen Sekte war gezwungen, äußerlich den Glauben zu verleugnen oder sich in die Türkei oder nach Indien zu flüchten.7


Die »heilige Zahl« 19 hat May sich gemerkt und bei einer weiteren Parallelisierung der ›Babi-Verschwörung‹ mit der Verschwörung der Sillan gegen den Schah im vierten Band des ›Silbernen Löwen‹ verwendet. Kara Ben Nemsi doziert dort gegenüber dem Ustad und Dschafar:


»Der Schah hat zwar Recht, wenn er von einem Babiaufstande spricht, und doch ist es noch anders. Man hat nämlich die Babi nur zu dem Zwecke mit herbeigezogen, um die Schuld, falls der Aufstand mißlingen sollte, ihnen in die Schuhe schieben zu können. Auch ist man auf einige Forderungen der Babi zurückgekommen, weil sie den Zwecken



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der eigentlichen Macher gut entsprechen. So soll das neue Reich ein Wahlreich sein, in welchem nach 19, der heiligen Babizahl, neunzehn Hohepriester nach Ableben des alten den neuen Herrscher zu wählen haben. Und ebenso soll die Stellung der Frau eine freiere sein, ja noch viel freier, als die Babi jemals gefordert haben. Die Haremswirtschaft hat aufzuhören, weil man Eingang in die Familie und Einfluß auf die Frauen haben will. Darum ist auch dem neuen Kaiser, wie jedem seiner Untertanen, nur eine einzige öffentliche Frau erlaubt, welche den Titel Kaiserin zu führen hat, nachdem sie von den Hohenpriestern für ihn gewählt worden ist. Die erste Kaiserin ist schon gewählt.«8


Die ›Kaiserin‹, das ist die für den ›Silbernen Löwen‹ immerhin romanabteilungsüberschriftswürdige Rose von Schiras (in der Zeitschriftenfassung9; eine weitere Romanabteilung gibt es dort nicht), die Gul-i-Schiras, die Mays (zeitgenössisch gängiges) männliches Phantasma von der ›gefährlichen‹ Frau verkörpert, die »Teufelin«.10 Eine Art absichernde und die Fiktion legitimierende ›historische Grundlage‹ für die Idee der Figurenkonzeption eines hochrangigen weiblichen Mitglieds des geheimen Verschwörerbunds könnte May dem Brockhaus-Artikel entnommen haben, denn er unterstrich »Frau Kurret-el-ayn aus Kaswin«, die als besonders ausgezeichnet unter den Babi sowie als schön und gelehrt bezeichnet wurde. Zudem wird der Ort Kaswin von Karl May nur zweimal in seinem Werk erwähnt, und dies ausgerechnet in Band 1 und 2 des ›Silberlöwen‹.11 Das mag Zufall sein - oder auch nicht.

Außerdem sind bestimmte Aussagen in Mays Text nun mit Umformulierungen als übernommen identifiziert. (»Bab verbietet den Frauen den Gebrauch des Schleiers« > Sie verbieten den Frauen, sich mit dem Schleier zu verhüllen; »wobei alle Ergriffenen unter qualvollen Martern den Tod erlitten. Der Rest der noch immer zahlreichen Sekte war gezwungen, äußerlich den Glauben zu verleugnen oder sich in die Türkei oder nach Indien zu flüchten.« > Alle, welche als Anhänger der Sekte erkannt und ergriffen wurden, starben einen qualvollen Martertod; die andern waren gezwungen, scheinbar ihrem Glauben zu entsagen oder sich außerhalb des Landes zu flüchten.) Andere Aussagen sind als aus dem Lexikontext auf verstärkende, steigernde Weise umformuliert erkennbar (»er beschränkt aufs äußerste die Polygamie« > Sie ... wollen dem Manne nur eine Frau erlauben; »Bab (...) hebt den Gebetzwang der Muslims auf« > und daß das Gebet nicht unbedingt nötig sei; »als (...) Nass'r-eddin auf den Thron kam (1848), wurden strengere Maßregeln ergriffen« > Nassr-ed-din hat sehr strenge Maßregeln gegen sie ergriffen).



II


Für die vom ›Hausschatz‹-Erstabdruck des späteren ersten und zweiten Bandes des ›Silberlöwen‹ abgelöste Fortführung im ›Regensburger Marienkalender‹ unter dem Titel »Die ›Umm ed Dschamahl‹« (1899) fühlte May sich genötigt, die Babi erneut vorzustellen und orientierte sich dabei hauptsächlich am zitierten Meyer-Artikel:



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Freilich war uns schon in Chanekihn und dann auch in Serpuhl erzählt worden, daß weiter im Innern des Landes vor kurzem einige Fälle von Babi-Empörung vorgekommen seien; aber wir hatten nichts Genaueres darüber erfahren können und hielten diese Warnung auch nur für einen Versuch, uns eine Sicherheitswache aufzuschwatzen. Was hatten wir, die Fremden, mit der persischen Sekte der Babi zu schaffen, deren Angehörige nicht den mindesten Grund hatten, uns als Feinde zu betrachten?

Der Stifter dieser Sekte war der Hadschi Ali Muhammed aus Schiras; er behauptete, seine Lehre sei der Eingang zur wahren Glückseligkeit und wurde darum Bab [Fußnote: Das Thor] genannt; daher der Name Babi. Da die neue Lehre als eine Vollendung des Kuran bezeichnet wurde und »Bab« behauptete, er stehe höher als Muhammed, ging die persische Regierung auf Anstiften der islamitischen Geistlichkeit gegen die Sektierer vor, deren Hauptschar nach langem Widerstande besiegt und dann grausam hingerichtet wurde. Die von diesem Schlage nicht Getroffenen sammelten neue Anhänger und predigten Rache. Es wurde ein Attentat auf den Schah Naßr ed Din versucht, welches aber nicht gelang. Die Schuldigen erlitten unmenschliche Strafen, und jeder, der sich zum Babismus bekannt hatte, mußte entweder flüchten oder seinen Glauben abschwören. Die Regierung glaubte, der Sekte damit den Todesstoß versetzt zu haben; aber das Feuer glimmte heimlich fort. Man wußte, daß es sich in der Verborgenheit immer weiter ausdehnte und bald hier, bald da in einzelnen Funken zu Tage kam. Über ganz Persien verbreitete sich die Ansicht, daß der Schah gewiß nicht eines natürlichen Todes, sondern von der Hand eines Babi sterben werde. Einige von den erwähnten Funken waren es, von denen man uns in Chanekihn und Serpuhl erzählt hatte. Wir achteten nicht darauf; denn, wie gesagt, wir hatten mit dem Rachedurst der Babisten nichts zu thun und fürchteten sie ebensowenig, wie wir uns vor den Bachtijaren und Ali-Ilahi's ängstigten.12 Sekte (...), deren Stifter (...) Hadschi Ali-Mohammed aus Schiras (›Brockhaus‹)


(›Meyer‹:) Die Lehre der B[abi] (...) gibt sich als eine Vollendung des Inhalts des Korans (...)
Der Bab steht höher als Mohammed (...)
Als die persische Regierung auf Anstiften der Geistlichkeit gegen die Sektierer vorging,




Ein 15. Aug. 1852 von einigen B[abi] versuchtes Attentat auf den Schah Naßir-ud-din



Obwohl so gewaltsam unterdrückt, besteht die Sekte im geheimen weiter; und es scheint, daß sie in Persien und einem Teil der angrenzenden türkischen Gebiete außerordentlich verbreitet ist.



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Den Satz Über ganz Persien verbreitete sich die Ansicht, daß der Schah gewiß nicht eines natürlichen Todes, sondern von der Hand eines Babi sterben werde konnte Karl May guten Gewissens äußern, denn als er dies schrieb, war, wie bereits erwähnt, der Schah in der Tat von einem Babi-Anhänger ermordet worden - jedenfalls der Tagesmeinung nach, die später allerdings revidiert wurde.13



III


Wieso Karl May für seinen Roman ›Im Reiche des silbernen Löwen‹ ausgerechnet auf die Babiten und die Grundidee einer Geheimgesellschaftsverschwörung wider den Schah kam, dürfte nunmehr naheliegen. Es waren Zeitungsberichte aus Anlass der Ermordung Nasir od-Dins, die ihn dazu brachten. Ob in regionalen oder überregionalen Blättern, überall wurde die Todesmeldung verbreitet. Im ›Radebeuler Wochenblatt‹ beispielsweise stand folgende Notiz, die die wenigen Stichwörter enthält, welche May zur Anregung brauchte und dann auch verwendete:


Auf den Schah von Persien wurde am 1. d. Mts. ein Attentat verübt. Der Schah erhielt eine Schußwunde, welcher er alsbald erlag. Der hinzugezogene deutsche Gesandtschafts-Arzt Dr. Müller konnte nur den Tod feststellen. Das tragische Schicksal des gutmüthigen und mit der europäischen Kultur sympathisirenden Schahs von Persien erweckt lebhaftes Bedauern und Mitgefühl. Wie die in Paris befindliche persische Botschaft mittheilt, gehört der Mörder des Schahs der der Dynastie feindlichen religiösen Sekte der Babis an, welche in der letzten Zeit stark verfolgt wurde. Der Mörder hatte bereits vier Mal einen Mordversuch auf den Schah unternommen. Er wurde verhaftet. Der persische Thronfolger ist europäisch gebildet und ein Freund ausländischer Kultur.14


Bezeichnenderweise bezog sich May gerade im Zusammenhang mit Nasir od-Din auf Zeitungsmeldungen. Im Einleitungsteil des ›Silberlöwen‹ entwickelt sich folgender Dialog, als Old Shatterhand im ›Wilden Westen‹ den Perser Dschafar trifft:


»Ich will dir aber mitteilen, daß ich unter dem Schutze unsers Herrschers stehe. Er ist ein Freund abendländischer Bildung und sendet zuweilen einige seiner jungen Unterthanen nach dem Occidente, um sich dort Kenntnisse zu erwerben.«

»Natürlich sucht er sich da nur begabte Personen aus.«

»Kann Old Shatterhand auch Komplimente machen? Ich fand die Gnade, die Augen des Beherrschers auf mich gerichtet zu sehen, und wurde nach Stambul, Paris und London gesandt. Dort, in England, war ich längere Zeit. Vielleicht hast du gehört, daß der Schah vor kurzer Zeit in London war?«

»Ich habe in Zeitungen darüber gelesen.«

»Bei dieser seiner Anwesenheit in der Hauptstadt Englands erinnerte er sich meiner, und ich bekam den Befehl, vor seinem Angesichte zu erscheinen. Die Folge die-



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ser Audienz war, daß ich die Weisung erhielt, auch die Vereinigten Staaten kennen zu lernen.«15


Nasir od-Din war der erste Schah, der Europa bereiste (1873, 1878, 1889). Das Reisetagebuch, das er während seiner ersten Europa-Durchquerung führte, wurde veröffentlicht (»Ruz-Namé«) und 1874 erstmals ins Deutsche übertragen.16 Durch die ungewohnt schlichte Sprache wirkte es bahnbrechend für die moderne iranische Literatur. Und durch den humoristisch getönten Blick des kulturell Anderen auf die westliche Zivilisation sind die Aufzeichnungen noch heute mit Gewinn zu lesen.

In London hielt sich der Schah während der zweiten Juni-Hälfte 1873 auf. Überliefert ist allerdings im Widerspruch zu Mays Bemerkung über Bildungsaufenthalte junger Perser in Europa, dass Nasir od-Din »[s]elbst der Jugend des Adels« »keinen Erziehungsaufenthalt im Ausland« gestattet habe.17

Ohne näher darauf einzugehen, erwähnt Karl May die schriftstellerische Tätigkeit Nasir od-Dins einmal im vierten Band des ›Silberlöwen‹. Dschafar sagt zu Kara Ben Nemsi: »Du wirst wissen, daß der Schah Bücher schreibt.«18 Die zeitgenössischen Leser, denen ab Oktober 1903 Mays Text als Buch vorlag, konnten übrigens wenig später, am 1. Dezember, in der ›Wissenschaftlichen Beilage‹ der ›Leipziger Zeitung‹ Genaueres über die Dichtkunst des Schahs erfahren.19



*


Wie Karl May ein aktuelles Tagesereignis für sich als anregendes Sujet entdeckte, seine Leser durch Informationsübernahmen aus dem Lexikon bildete und historische mit fiktionaler Wirklichkeit verschmolz -: Hier haben wir's vor Augen.



1 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVI: Im Reiche des silbernen Löwen I. Freiburg 1898, S. 408; Reprint Bamberg 1984
2 Ebd., S. 434f.
3 Vgl. Roland Schmid: Nachwort (zu ›Am Jenseits‹). In: Freiburger Erstausgaben. Bd. XXV. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, S. N37.
4 Karl May schwebte mit großer Wahrscheinlichkeit als Handlungszeit des Orientteils seines ›Silbernen Löwen‹ 1878 vor. Vgl. dazu ebd. Auch Walther Ilmer: Einführung. In: Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen. In: Deutscher Hausschatz. XXIII./XXIV. Jg. (1897/98); Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Hamburg/Regensburg 1981, S. 7f., stellt Textargumente zusammen, die für 1878 als Handlungszeit sprechen. Sein Thema sind jedoch die fiktionalen zeitlichen Inkonsistenzen im ›Silberlöwen‹-Zyklus, mit Blick auf Mays Gesamtwerk. Die von beiden Autoren gemachten Korrelationen zwischen fiktionalen und realen autobiographischen Verhältnissen (Heirat Kara Ben Nemsis mit Emmeh - Heirat Karl Mays mit Emma



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Pollmer) unterstellen eine nicht bewiesene gewollte Übereinstimmung zwischen Fiktion und Realität.
5 Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 5. Auflage. 2. Bd. Leipzig/Wien 1893, S. 289f.; es folgen noch Literaturangaben zum Stichwort. (Mit Dank an Hans Grunert, Karl-May-Museum, Radebeul.) - Die nächste Auflage des Meyer hat in ihrem 2. Band (dort S. 220f.) die Informationen unter dem neuen Stichwort ›Babiten‹ (B a b i s) auf eine Weise überarbeitet und geringfügig aktualisiert, dass einige Wendungen, die May aus seiner Auflage übernommen hat, bereits wieder verschwunden sind.
6 May: Im Reiche des silbernen Löwen I, wie Anm. 1, S. 448f.
7 Brockhaus' Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie. 13. Auflage. 2. Bd. Leipzig 1882, S. 314; es folgen noch Literaturangaben zum Stichwort. (Mit Dank an Hans Grunert, Karl-May-Museum, Radebeul.)
8 Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXIX: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Freiburg 1903, S. 442f.; Reprint Bamberg 1984 - kurze Babi-Erwähnungen noch S. 441 (»allgemeiner Aufstand der Babi (wird) vorbereitet«), 447 (»von welchem diese Babi ihren Namen herleiten«) und 542 (»die jüngeren Babi, die den Kaiser tief unter sich wissen wollen«).
9 Vgl. May: Im Reiche des silbernen Löwen (XXIII. Jg.), wie Anm. 4, S. 393.
10 Vgl. dazu folgende Textpassage aus dem 2. Band des ›Silbernen Löwen‹ (Karl May: Gesammelte Reiseerzählungen Bd. XXVII: Im Reiche des silbernen Löwen II. Freiburg 1898, S. 384f.; Reprint Bamberg 1984): Aus dem Umstande, daß sie [= die Khanum Gul und Dschafar Mirza] sich dem Verbote des Islam entgegen hatten abbilden lassen, war zu schließen, daß sie über der gewöhnlichen muselmännischen Denkweise erhaben standen, was bei dem weitgereisten Dschafar Mirza kein Wunder war; in Beziehung auf die Schahzadeh Khanum aber ergab sich daraus die wahrscheinlich berechtigte Folgerung, daß sie eine jener selbständigen Damen sei, vor denen der Orientale ein Grauen hat. Hat es schon bei uns einen eigenen Beigeschmack, wenn wir von einer »emanzipierten Frau« sprechen, so tritt dieser goût hétérogène im Oriente noch viel mehr hervor. Wer es fertig bringt, alle Traditionen und Rücksichten außer acht zu setzen und die Fesseln des so streng abgeschlossenen dortigen Frauenlebens zu sprengen, der ist gewiß mit einem explosiven Temperamente ausgerüstet oder hat - ich bitte, mich eines Lieblingsausdruckes meines kleinen Halef bedienen zu dürfen - verschiedene Schejatin im Leibe sitzen. Daher der Widerwille des Orientalen, den Frieden seines Harems durch eine solche »Teufelin« in das Gegenteil umwandeln zu lassen.
Daß die Prinzessin Gul hieß, war eigentlich gar nichts Auffälliges, und doch dachte ich sonderbarerweise dabei sogleich an die Gul-i-Schiraz. Vielleicht war das eine Folge des Eindruckes, den das Bild auf mich machte. Die sphinxartigen Züge des Gesichtes paßten ja ungemein zu der Rätselhaftigkeit, welche die geheimnisvolle »Rose von Schiras« für mich hatte.
Zu Mays »Teufelin«/Scheitana-Konzept vgl. auch Karl May: Wege zum Gipfel - Dramatische Bruchstücke. In: Karl May's Gesammelte Werke Bd. 81: Abdahn Effendi. Bamberg/Radebeul 2000, S. 374-376.
11 May: Im Reiche des silbernen Löwen I, wie Anm. 1, S. 584 und May: Im Reiche des silbernen Löwen II., wie Anm. 10, S. 379
12 Karl May: Die »Umm ed Dschamahl«. In: Regensburger Marien-Kalender. XXXIV. Jg. (1899), S. 176; Reprint in: Christus oder Muhammed. Marienkalender-Geschichten von Karl May. Hrsg. von Herbert Meier. Hamburg 1979, S. 121-135
13 Bereits Meyers Großes Konversations-Lexikon. 6. Auflage. 14. Bd. Leipzig/Wien 1906 schränkt unter dem Stichwort ›Nâßir ed Din‹ (S. 437f.) ein: »Mitten in den Vorbereitungen zu seinem fünfzigjährigen Regierungsjubiläum wurde er 1. Mai 1896 in einer Moschee bei Teheran (wohl nicht von einem Babiten; s. d.) erschossen«



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(S. 438). Als Mörder gilt Mirza Riza, der ein Anhänger des liberal-revolutionären Jamaluddin al Afghani gewesen war. (Siehe Hans Leicht: Spielball der Großmächte. In: Ein Harem in Bismarcks Reich. Das ergötzliche Reisetagebuch des Nasreddin Schah. Hrsg. von Hans Leicht. Tübingen/Basel 1969, S. 25.)
14 Radebeuler Wochenblatt vom 6. 5. 1896, S. 2 - ähnlich, wenn auch ohne Babi-Erwähnung, lauten die kürzeren Notizen in den ›Dresdner Nachrichten‹ (2. 5. 1896, S. 1 und 3. 5. 1896, S. 2) und im ›Dresdner Anzeiger‹ (2. 5. 1896, S. 1 und 27). - Im ›Dresdner Anzeiger‹ vom 5. 5. 1896 dann die Meldung von Musaffer od-Dins Inthronisierung als Nachfolger Nasir od-Dins (S. 3). (Hans-Dieter Steinmetz, Dresden, danke ich herzlich für sein freundliches Entgegenkommen, für den fraglichen Zeitraum regionale Blätter durchzusehen.)
15 May: Im Reiche des silbernen Löwen I, wie Anm. 1, S. 139 - weitere Erwähnungen von Zeitungslektüre im ›Silberlöwen‹: May: Im Reiche des silbernen Löwen II, wie Anm. 10, S. 474 und 476
16 Reisetagebuch des Nasreddin-Schah. Leipzig 1874; auch das Tagebuch der zweiten Reise wurde veröffentlicht (1879; im gleichen Jahr ins Englische übersetzt).
17 Leicht, wie Anm. 13, S. 25
18 May: Im Reiche des silbernen Löwen IV, wie Anm. 8, S. 400
19 Nach Meyers Großem Konversations-Lexikon, 6. Auflage, wie Anm. 13, S. 438



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