//57//

WOLFGANG SÄMMER


»Allerdings bin ich ein großer Verehrer Ihrer Werke«
Karl May im Urteil Ludwig Freytags





Sie kennen doch jedenfalls Professor Dr. Ludwig Freytag, so Karl May in einem offenen Brief an den Redakteur eines Dresdener Blattes, den erfahrenen und hochverdienten Literaturkenner, Kritiker und Redakteur des »Pädagogischen Archives«? Dieser Herr schrieb kürzlich nach einer wohlwollenden Kritik über mich: »Die plötzliche Feindschaft gegen den Dichter ist derart, daß man ihre Ursachen heutzutage nicht klarlegen darf, ohne sich Prozessen auszusetzen.«1 Karl May hatte tatsächlich allen Grund, Ludwig Freytag in diesen Tönen zu loben. Denn Freytag verfolgte die Entwicklung, die der Schriftsteller nahm, von Anfang an sehr genau und vor allem: sehr wohlwollend. Er rezensierte bis auf den Band XXIII ›Auf fremden Pfaden‹ sämtliche Bücher, die Karl May seit 1892 im Fehsenfeld Verlag herausbrachte. Wer war dieser Professor Freytag, der Mays schriftstellerischen Werdegang von Anfang an mit solch großer Sympathie verfolgte? Ein ›Nachruf für den verstorbenen Prof. Dr. Freytag‹, den Geheimrat Dr. Wingerath im Mai 1917 in der ›Zeitschrift für die Reform der höheren Schulen‹ veröffentlichte, gibt uns Antwort auf diese Frage; er sei deshalb in aller Ausführlichkeit zitiert:


Am 17. Dezember 1916 entschlief nach längerem Siechtum der zu Berlin-Lichterfelde im Ruhestande lebende frühere Oberlehrer Professor Dr. Ludwig Freytag, welcher als eifriger Mitarbeiter an dieser Zeitschrift den meisten Lesern derselben gewiß nicht unbekannt geblieben ist. Geboren am 3. Mai 1842 in der ›Freien und Hanse-Stadt‹ Bremen und vorgebildet in mehreren Privatschulen und dem humanistischen Gymnasium daselbst bis zum Herbste 1863, studierte er alte und neuere Sprachen und Germanistik, Geschichte und Geographie auf den Universitäten Halle, Berlin und Marburg, an welch letzterer er als Abiturient von Halle die Staatsprüfung und das Doktorexamen ablegte. Nach kürzerer Beschäftigung an einer höheren Privatanstalt in Hamburg und an der Friedrich-Werderschen Oberrealschule in Berlin, war er, zum Oberlehrer ernannt, von 1871-1878 an der damaligen Königlichen Realschule, dem jetzigen Kaiser-Wilhelms-Realgymnasium, daselbst tätig, um nach zweijähriger Wirksamkeit an der Hauptkadettenanstalt in Lichterfelde im Jahre 1880 an das Friedrich-Realgymnasium in Berlin überzugehen, wo er dann im Herbste 1907 seine Tätigkeit einstellte, um in Berlin-Lichterfelde seinen Lebensabend zu genießen.

Durch vielseitiges und gründliches Wissen ausgezeichnet und allem engherzigen und kleingeistigen Wesen abgeneigt, war Freytag verbürgten Mitteilungen zufolge ebenso erfolgreich als Lehrer wie als Erzieher: er wußte während des Unterrichts



//58//

die Schüler dauernd zu fesseln, und manche haben auch noch in späterer Zeit ihm eine gewisse Anhänglichkeit bewahrt, indem sie ihm zum Geburtstage oder beim Jahreswechsel dankbare Grüße zusandten. Neben seiner praktischen Tätigkeit in der Schule entfaltete Freytag auch eine fast üppige literarische Fruchtbarkeit auf den verschiedenartigsten Gebieten. Von Arndts ›Märchen und Jugenderinnerungen‹ besorgte er eine größere Ausgabe und eine kleinere Auswahl, von Noesselts wie von Schoenes griechischen, römischen und deutschen Mythen und Sagen mehrere Neubearbeitungen. Auch lieferte er manche Übersetzungen aus fremden Sprachen, z. B. von Racine (Athalie), Byron (Manfred), Marryatt (Masterman Ready), Scott (Lady of the Lake) und Tegner (Frithjofs-Saga), sowie eine neue Übertragung des Nibelungen- und des Gudrunliedes. »Schon zu einer Zeit königlich-preußisch gesinnt, als manche Preußen es nicht waren«, wie es in seinen interessanten ›Erinnerungen aus dem Bremer Schulleben‹ heißt, veröffentlichte er ferner eine kleine Sammlung ›Politische Gedichte‹ (1866) und einige Jahre später ›Kampf und Sieg. Kriegslieder‹ (1870), wie ihn denn die Muse weiterhin auch noch zu einem dramatischen Gedichte (Jephtha) und zu einer romantischen Dichtung (Graf Tankred) begeistert hat. Als Redakteur endlich ist Freytag in pädagogischen Kreisen wohl am bekanntesten geworden. Das ›Zentral-Organ für die Interessen des Realschulwesens‹, von Professor Dr. Max Strack im Jahre 1873 begründet, wurde zunächst von Dr. L. Freytag in Verbindung mit Dr. H. Böttger und später von ersterem allein fortgesetzt, in gleicher Weise wie auch (von 1903-1907) das alte, von Langbein-Krumme begründete ›Pädagogische Archiv‹, nachdem jenes mit diesem verschmolzen worden war. In beide wie in noch einige andere Zeitschriften lieferte Freytag persönlich neben zahlreichen Berichten über mannigfaltige Neuerscheinungen auch größere Aufsätze verschiedener Art, wie u. a.: ›Zur Mythologie der nordamerikanischen Indianer‹ (1887), die schon erwähnten ›Erinnerungen‹ (1893) und ›Das Pferd im germanischen Volksglauben‹ (1900).

Aber auch noch im Ruhestande war Freytag im Dienste der Schule unablässig tätig, insofern er von da an bis zum Jahre 1914, und zwar gerade in unserer Zeitschrift, alljährlich mehrere Male besonders über neuerschienene Jugendbücher Bericht erstattete, wozu gerade er, als ein wohl belesener und fein abwägender Kenner dieser Literatur, wie kaum ein anderer befugt war. Und von dieser schriftstellerischen Arbeit zum Besten der heranwachsenden Jugend ruhte er erst aus, als er infolge seines schweren Leidens die Feder nicht mehr zu führen vermochte. Da nahm auch der briefliche Verkehr ein Ende, der weit über 30 Jahre hinaus zwischen ihm und mir bestanden und mir den Professor Freytag als einen die gleiche Weltanschauung und Lebensauffassung teilenden Menschen und als einen treuen und zuverlässigen Freund erwiesen hatte.

Ehre seinem Andenken und Friede seiner Asche!2


Das erwähnte ›Central-Organ‹, genauer: ›Central-Organ für die Interessen des Realschulwesens‹, für das er von 1883 bis 1896 tätig war, sowie das ›Pädagogische Archiv‹, ein Blatt, das eine Monatsschrift sein wollte »für wissenschaftliche, pädagogische und schulorganisatorische Abhandlungen und Erörterung aller Fragen, welche irgend eine Schulart, auch die Hochschule berühren«,3 waren dann auch die Blätter, in denen Freytag seine Karl-May-Rezensionen veröffentlichte. Freytag belieferte daneben aber



//59//

** PLEASE DESCRIBE THIS IMAGE **


Ludwig Freytag (1842-1916)

Foto, das er Karl May für sein Leseralbum gesandt hat;

Beschriftung von Karl Mays Hand.

Die Widmung Freytags lautet:

Herrn Dr Karl May als Zeichen freundschaftlicher Gesinnung

(Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Karl-May-Museums Radebeul. Die erste Veröffentlichung des Fotos erfolgte in: Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Briefe. 6. Bd. Leseralbum 1. Teil. Hrsg. von Hermann Wiedenroth/Hans Wollschläger unter Mitarbeit von Volker Griese/Hans Grunert. Bargfeld 1997, S. 209)





//60//

auch »noch einige andere Zeitschriften«, wie Wingerath weiß. Etwa jene, die sich ›Ur-Quell‹ nannte. 1890 erschien in dieser von Friedrich Salomo Krauss4 geleiteten ›Monatsschrift für Volkskunde‹ sein Beitrag ›Riesen u. Menschenopfer in unsern Sagen u. Märchen‹, 1892 ›Tiere im Glauben der Aelpler‹.

Theodor Fontane zählte, so seinem Verleger Hertz gegenüber, den Rezensenten Ludwig Freytag zu den »mir ganz besonders gewogenen und schreibezuverlässigen Herren«.5 Unter anderem hat Freytag Fontanes ›Fünf Schlösser‹ im ›Central-Organ‹ (Dezember 1888) besprochen. Doch man arbeitete sich gegenseitig zu. Das in Wingeraths Nachruf erwähnte Werk ›Die Frithjofsage‹ von dem schwedischen Dichter Esaias Tegnér, deutsch von Ludwig Freytag, hat Fontane in der ›Vossischen Zeitung‹ rezensiert.6

Auf den Namen Karl May stieß Freytag im Jahre 1887. Damals las er im ersten Jahrgang des ›Guten Kameraden‹ die Erzählung ›Der Sohn des Bärenjägers‹. »Mir fiel die Erzählung sofort auf, und nicht bloß mir und den jugendlichen Lesern der von mir verwalteten Schülerbibliothek, sondern vielen erwachsenen und durchweg hochgebildeten Lesern reiferen und reifsten Alters.«7 Freytag blieb in der Folge ein begeisterter Anhänger Karl Mays. »Immer wieder muß man das ungewöhnliche Erzählertalent, die hochsinnige Tendenz und die scharfe Charakteristik selbst der Nebenpersonen bewundern; so ist es auch zu begreifen, daß man der abenteuerlichen, aber stets naturwahr und mit genauester Orts- und Sachkenntnis geschilderten Erlebnisse niemals müde werden kann.«8 Die genaue Orts- und Sachkenntnis holte sich Karl May - wie wir heute wissen - aus geographischen Fachzeitschriften, aus Konversationslexika, aus Wörterbüchern oder aus den Werken zeitgenössischer Unterhaltungsschriftsteller (etwa Gerstäcker, Hackländer und Möllhausen). Er ließ sich aber auch von den Klassikern inspirieren. So konnten beispielsweise Einflüsse Herders und Lessings auf sein Werk nachgewiesen werden. Kurzum: Karl May »war, wie alle großen Schreiber, lebenslang auch ein großer Leser«.9 Das erkannte Ludwig Freytag sehr früh. Bereits 1896 schrieb er: »Ich kann mich einer umfangreichen Belesenheit rühmen, aber ich kenne keinen Erzähler, der es in dieser Beziehung mit Karl May aufzunehmen vermöchte.«10 Ob Karl May Selbsterlebtes oder ›lediglich‹ Erdichtetes zu Papier brachte, darüber machte sich auch Ludwig Freytag Gedanken. Sein Resultat: »Früher glaubte ich, er böte in der Hauptsache Werke freier Phantasie; jetzt weiß ich, daß die ›Wahrheit‹ die ›Dichtung‹ überwiegt.«11 Möglicherweise war der briefliche Kontakt zu Karl May für Freytags Meinungswandel verantwortlich.

Es gab nämlich in der Tat einen lebhaften Briefwechsel zwischen beiden; er ist in diesem Jahrbuch wiedergegeben. Wann genau er einsetzte, darüber konnten bisher nur Vermutungen angestellt werden; »ca. 1892«12 heißt es bei Griese. Die erhalten gebliebenen Briefe und Karten Freytags an May erlauben aber eine wesentlich genauere Datierung. Demnach sandte Freytag seinen ersten Brief an May am 28.1.1897. May hatte ihm zuvor eine nicht näher



//61//

benannte Zeitschrift zugeschickt; möglicherweise auch den Ende 1896 erschienenen Band ›Old Surehand III‹. Dass dieser Band nun endlich erscheinen möge, hatte Freytag nämlich in einer Besprechung des ›Mahdi III‹ vom Oktober 1896 noch vehement gefordert. Es war Freytags letzte May-Rezension im ›Central-Organ‹. Vielleicht hatte May das mitbekommen und bei Freytag angefragt, ob er nicht weiterhin seine Werke rezensieren wolle, und den neuesten Band ›Old Surehand III‹ gleich beigelegt. Dass es so gewesen sein könnte, dafür sprechen auch folgende Überlegungen: Freytag schreibt von »dem schlechten Bilde im 3ten Bande«, womit er sich wohl auf Mays Bildnis im dritten Band der ›Gesammelten Reiseromane‹ ›Von Bagdad nach Stambul‹ bezieht; von dem konnte man nämlich tatsächlich auf einen »höchstens 30jährig(en)«13 schließen. Nachdem er ›Old Surehand III‹ in Händen hielt, einen Band, der mit einem weiteren Bildnis Mays ausgestattet war, erblickte Freytag aber einen wesentlich älteren Mann, so dass er erstaunt ausrufen konnte: »Und nun sind Sie fast genau von meinem Alter!«14

Freytag war nicht nur im gleichen Alter wie May, er war Protestant wie May, fühlte sich aber wie dieser mehr zum Katholizismus hingezogen, er hatte den gleichen Beruf gewählt wie May. Vor allem aber war der literarisch ambitionierte Ludwig Freytag von den Schriften Karl Mays gefesselt. Da musste doch, so sollte man meinen, der Wunsch nach einer persönlichen Begegnung laut geworden sein. Eine Einladung Freytags wurde denn auch für Dienstag, den 15. November 1904, ausgesprochen. Allerdings konnte May ihr, aus welchen Gründen auch immer, nicht Folge leisten. Und es ist erstaunlich, dass Freytags Wunsch, »doch einmal zusammen(zu)kommen«,15 auch in der Folgezeit nicht erfüllt wurde. Nichts im Briefwechsel deutet darauf hin, dass es jemals zu einer persönlichen Zusammenkunft zwischen beiden gekommen wäre. Die Korrespondenz freilich wurde fortgeführt und riss, selbst nach Freytags Ausscheiden als Herausgeber des ›Pädagogischen Archives‹, nicht ab. So schrieb May etwa am 11.12.1908 an Freytag: Meine Vorstudien zu ›Winnetou‹ Bd. IV wurden drüben vollendet. Auch sein Testament habe ich. Nun können die Überraschungen beginnen.16

Dass Karl May mit seinem Alterswerk, zu dem ja auch ›Winnetou IV‹ zählt, eine andere literarische Darstellungsform gefunden hatte, ist natürlich auch Freytag nicht verborgen geblieben. So bemerkte er anlässlich seiner Buchbesprechung von ›Im Reiche des silbernen Löwen IV‹, »daß das ungewöhnliche Erzählertalent des Dichters keine Abnahme zeigt, wenn auch die Eigenart seiner geist- und gemütvollen Reflexion in seinen beiden letzten Werken weit schärfer in den Vordergrund tritt als bei seinen früheren«.17 Freytag rezensierte sämtliche Titel, die zu Karl Mays Alterswerk gerechnet werden: den Gedichtband ›Himmelsgedanken‹, ›Im Reiche des silbernen Löwen‹ III und IV, ›Und Friede auf Erden!‹ und schließlich das Drama ›Babel und Bibel‹. Er hätte sicherlich auch den bedeutendsten Roman Karl Mays, ›Ardistan und Dschinnistan‹, oder eben auch den von May selbst angesprochenen Band ›Winnetou IV‹ noch im ›Pädagogischen Ar-



//62//

chiv‹ besprochen. Doch dazu kam es nicht mehr, da Freytag - wie bereits erwähnt - 1907 seine Tätigkeit als Herausgeber des ›Pädagogischen Archivs‹ einstellte. Karl May war damit in diesem Blatt kein Thema mehr.

Nachdem ihm das ›Pädagogische Archiv‹ nicht mehr als Publikationsorgan zur Verfügung stand, musste Freytag nach anderen Zeitschriften Ausschau halten, um seine Arbeiten veröffentlichen zu können. Dass es gar nicht so leicht war, eine passende zu finden, zeigt sein Brief an May vom 20.3.1908:


Lieber Herr Doktor, ich möchte so gerne einen kleinen Artikel über Sie und für Sie schreiben, und ich frage deshalb geradezu bei Ihnen an, ob Sie eine Ihnen nahestehende Zeitung oder Zeitschrift wissen, die ihn aufnehmen würde. Ich habe mich an den »Tag« gewendet und keine Antwort erhalten; die »Konservative Monatsschrift«, die mir bei meiner hochkonservativen Gesinnung doch die nächste war, hat abgelehnt, und zwar mit der famosen Begründung, eine Erörterung über Sie habe keinen Zweck, w e i l die Urteile über Sie so verschieden wären.18


Schließlich gelang es Freytag jedoch, in der ›Zeitschrift für die Reform der höheren Schulen‹ (Nr. 4/1908 und Nr. 4/1909) zwei kleinere Besprechungen über May unterzubringen. »Da die Zeitschrift«, wie er May am 4.1.1909 mitteilte, »nur in 4 Jahresheften erscheint, so konnten mir nur wenige Zeilen bewilligt werden«.19 Raum, um sich mit Mays Alterswerken wie ›Ardistan und Dschinnistan‹ oder ›Winnetou IV‹ zu befassen, stand ihm in dieser Zeitschrift somit nicht zur Verfügung. Auch war sie, wie er selbst schrieb, »nicht der Ort, auf die ›Mayfrage‹ näher einzugehen«.20

Die wurde in anderen Blättern umso ergiebiger erörtert. Besonders laut rauschte es im Blätterwald 1910, nachdem Karl May den Charlottenburger Prozess verlor, in dem es darum ging, ob man ihn ungestraft einen »geborenen Verbrecher« nennen dürfe. Karl May wurde nun von allen Seiten angefallen; nur wenige setzten sich noch für ihn ein. Einer dieser raren Fürsprecher war Rudolf Kurtz, der sich als Schriftsteller und Essayist einen Namen gemacht hatte. In dem Berliner Avantgardeblatt ›Der Sturm‹ veröffentlichte Kurtz 1910 einen ›Offenen Brief an Karl May‹, in dem er sich für den verfolgten Schriftsteller einsetzte und eine kleine Anekdote zum Besten gab: »Mein Lehrer war jener gute Professor Freytag, Ihr begeisterter Lobredner, und als er einst eine Karte, die er aus Ceylon von Ihnen erhalten hatte, für das beste Extemporale versprach, habe ich mich mitten im Semester zu einer mehrstündigen häuslichen Vorbereitung hinreißen lassen. Schließlich habe ich sie doch nicht bekommen - nur von weitem neidisch bewundert.«21

Freytag war also ein geschickter Pädagoge, einer auch, der die Sprache seiner Schüler sprach. Als solcher vertrat er die moderne Ansicht, »daß der Zweck der Jugendlitteratur Belehrung, Veredlung und Unterhaltung sei; höchstens wird es Pedanten geben, die der Jugend das Recht auf Unterhaltung grundsätzlich abstreiten«.22 Genau dieses Recht wollten übereifrige (soll man sagen: verknöcherte) Pädagogen der Jugend jedoch absprechen.



//63//

Sie gründeten um die Jahrhundertwende überall in Deutschland Jugendschriften-Kommissionen, die es sich zum Ziel setzten, gegen das vermeintliche ›Elend unserer Jugendlitteratur‹23 anzukämpfen, und die sich in ihrem Übereifer sogar auf den radikalen Standpunkt stellten, »daß eigentlich die ganze bisher vorhandene Jugendliteratur zu verwerfen sei«24 - und somit natürlich auch die Schriften Mays. Professor Freytag (der als Pädagoge immerhin einen Ruf zu verlieren hatte) stellte sich dieser neuen Bewegung mutig in den Weg, indem er die Bücher von Gustav Nieritz, Franz Hoffmann, Karl Tanera, Johanna Spyri oder eben auch Karl May verteidigte. »Die von geistlosen Pedanten«, so Freytag,


grundsätzlich und unterschiedslos verdammten »Indianergeschichten« erleben durch Karl May einen Triumph, der nie verblassen wird. Dieser dauernde Triumph, der dem Dichter einen bleibenden Platz unter den Ersten aller Zeiten und Nationen anweisen wird (ich schreibe dies abnorme Lob mit gutem Bedacht und aus voller Überzeugung), ist nicht bloß durch das ungewöhnliche Erzählertalent und die nie versiegende Phantasie des Autors zu erklären, sondern namentlich auch aus dem wunderbaren sittlichen Einflusse, den er durch seine Helden ausübt. (...) Seine lange Krankheit scheint der Dichter völlig überwunden zu haben: Gott sei Dank dafür, denn schon um unserer Jugend willen ist ihm ein langes Leben und eine weitere reiche Wirksamkeit zu erhoffen.25


Wie wohltuend heben sich diese weisen Worte vom Gezänk des Lehrers Georg Ruseler ab, der in Richtung Karl May schrieb: »Ich will keinem Menschen Böses wünschen; aber ich gönne ihm nicht weitere 10 Jahre seines arbeitsreichen Lebens; denn ich vermute, daß er dann noch 25-30 Romane schreiben würde, wie in der Zeit von 1890 an.«26

Freytag erkannte durchaus die eigentliche Triebkraft, die viele übelwollende Kritiker Karl Mays auf den Plan rief. Als er in einem seiner Artikel auf Ernst Webers ›Kritische Plauderei‹ zu sprechen kam, in der dieser sich über Mays Einnahmen ausließ, entgegnete der tolerant eingestellte Freytag:


Einen wenig erfreulichen Eindruck macht es übrigens, daß Herr E. W. zweimal auf den pekuniären Gewinn hinweist, den Karl May aus seinen Werken gezogen habe. Ob May ›ein Krösus‹ geworden ist oder nicht, kann Herrn E. W. und mir in gleicher Weise gleichgiltig sein. Daß May ›schreibt‹, um aus seinen Werken auch materiellen Gewinn zu ziehen, ist doch selbstverständlich; was sollen also solche übel angebrachten Hinweise? In welche ›sittliche Entrüstung‹ würde Herr E. W. geraten, wenn man seinen Anwürfen gegen May die Mißgunst als Beweggrund unterschieben wollte? Nun, also!27


Noch so manches Zitat aus Freytags Rezensionen verdient es, herausgehoben zu werden. Etwa dies, da es sehr schön seine Einstellung zu der Frage zeigt, ob und in welchem Maße die Werke von Schriftstellern bearbeitet werden dürfen: »Wer ein hervorragendes Werk, dessen Benutzung und Verwertung durch die Jugend nur durch gewisse (z. B. in erotischer Beziehung



//64//

anstößige) Stellen gehindert wird, durch Milderung dieser Stellen für die jungen Leser ermöglichen will, hat unbedingt recht, wenn er da oder dort schonend die Hand anlegt; es ist aber eine grobe Taktlosigkeit, wenn ein täppischer Schulmeister sich an Hebel, Andersen oder Grimm [man ist versucht hinzuzufügen: oder Karl May; W. S.] vergreift.«28 Anstößige Stellen: es fällt auf, dass Freytag in keiner seiner Kritiken auf die seit 1901 von Adalbert Fischer neu herausgegebenen Kolportageromane Karl Mays einging. Dennoch dürfte er den Streit um diese Bücher wohl gekannt haben; wahrscheinlich hatte Karl May selbst ihm darüber berichtet. »Vor einigen Jahren schrieb mir May«, so jedenfalls heißt es in einem Artikel Freytags,


es fände eine weitausgreifende Hetze gegen ihn statt; trotz meiner Sympathie für ihn hielt ich das für den Ausfluß überempfindlicher Autoreneitelkeit, die erfahrungsgemäß gerade bei plötzlich zum Ruhm Emporgehobenen oft fast krankhaft aufzutreten pflegt. Aber ich wurde doch stutzig, als ich alle Augenblicke von Schülern und Freunden über May befragt wurde. Alle möglichen bösen Gerüchte gingen über ihn: die häufigsten Anspielungen erfolgten inbezug auf die angebliche Tatsache, May befände sich fast immer im Irrenhause und habe seine Reisen in Wirklichkeit nie gemacht. Aus bester eigener Kenntnis konnte ich die Fragesteller stets versichern, daß das eine wie das andere eine Lüge sei, und zwar eine Lüge von verblüffender Dreistigkeit.29


Im Anschluss an den verlorenen Charlottenburger Prozess verbreiteten die Zeitungen in besonderem Maße Lügen »von verblüffender Dreistigkeit« über Karl May. Ludwig Freytag hat dazu nie öffentlich Stellung bezogen, aber nicht, weil die Hetzkampagne gegen Karl May ihn eingeschüchtert hätte, sondern weil die Zeitungen seine Artikel nicht drucken wollten. Er hielt also auch nach dem »schwärzeste(n) Tag in Mays Alter«30 zu dem Radebeuler Schriftsteller, als dessen »alten litterarischen Verehrer«31 er sich bezeichnete. Er gehörte zu den wenigen vornehmen Kritikern, die Karl Mays Straftaten nicht zum Gegenstand ihrer Erörterungen über den Schriftsteller machten und die sich durch das Bekanntwerden dieser Straftaten auch nicht in ihrer Meinung über ihn beeinflussen ließen. Viele vermeintliche Freunde mögen nach dem Urteilsspruch im Charlottenburger Prozess von Karl May abgefallen sein, Ludwig Freytag nicht. Er hielt zu Karl May, indem er beteuerte: »Daß Sie in Ihrer Jugend etwas pueriert haben, wird ja wohl richtig sein, ist aber durch ein langes tadelloses Leben längst wieder gut gemacht, ändert also an meiner Meinung über Sie nichts.«32 Ähnlich klang auch die Stimme seines Schülers Rudolf Kurtz. Der schrieb am 12.5.1910 in dem - schon erwähnten - ›Offenen Brief an Karl May‹:


Sehr geehrter Herr! Gestatten Sie mir, dessen Namen Sie zum ersten Mal hören, diese Zeilen öffentlich an Sie zu richten. Aber ich mag nicht schweigen, wenn eine Kohorte grinsender Kulturträger ihre persönliche Reinlichkeit dadurch zu dokumentieren sucht, daß sie ein mühevoll erjagtes Opfer mit seiner Vergangenheit



//65//

stückweise abschlachtet. Ich mag aus meiner Jugend die Helle nicht fortwünschen, die edele Aufregung von großen und guten Menschen, die Sie in sie hineingetragen haben. (...) Und nun stellt man fest, daß Ihre Vergangenheit eine dunkel bewegte war. Mit sittlichem Pathos verkündet man, daß Sie einige Jahre vom deutschen Reich in wenig angenehmer Weise in Anspruch genommen worden sind. (Verzeihen Sie den Hinweis, zu dem mich nur die Absicht des Folgenden zwingen konnte.) Und welche Konsequenzen zieht man daraus? Gestatten Sie mir, Ihnen meine Bewunderung auszudrücken, daß so viele schwere Jahre nicht die Kraft geraubt haben, solche Bücher zu schreiben, daß literarischer Frondienst schmählichster Art Sie nicht zu dem gemacht haben [!], was aus jedem Anderen - wenn er es überstanden hätte - einen verbitterten, haßerfüllten, von Rachebedürfnis zerwühlten Menschen gemacht hätte! Ich begreife die ungeheure Festigkeit eines Individuums kaum, das nach schrecklichen Martern lichte, von keinem bitteren Wort entstellte Bücher schreiben konnte.33


Toleranz und Verständnis spürt man aus diesen Sätzen heraus. Es spricht für den Lehrer Ludwig Freytag, einen Menschen herangebildet zu haben, der fähig ist, solcherlei niederzuschreiben.

Einzelne Artikel aus dem ›Central-Organ‹ oder auch aus dem ›Pädagogischen Archiv‹ wurden bereits zu Karl Mays Lebzeiten wiederveröffentlicht. So nahm Karl May selbst in den Anhang zu seiner Broschüre ›Der dankbare Leser‹34 Freytags Rezension vom März 1893 aus dem ›Central-Organ‹ auf; die war übrigens so positiv ausgefallen, dass sie bereits um die Mitte der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts in einem vom Fehsenfeld-Verlag vertriebenen Werbeprospekt zu finden war. Reklame konnte Karl May auch mit der Besprechung machen, die Freytag zu dem Gedichtband ›Himmelsgedanken‹ (›Pädagogisches Archiv‹, Juli-/Augustheft 1901) verfasst hatte. Deshalb fand auch sie Aufnahme im ›Dankbaren Leser‹.35

Andere Artikel aus dem ›Pädagogischen Archiv‹ wie etwa Freytags ›Babel und Bibel‹-Rezension hat Bernhard Kosciuszko in seinem Materialienband ›Im Zentrum der May-Hetze. Die ›Kölnische Volkszeitung‹‹36 wiederveröffentlicht. Auch Siegfried Augustin bringt in seiner Sammlung ›Für und wider Karl May‹ einen Artikel Freytags aus dem ›Pädagogischen Archiv‹, und zwar seine Besprechung von Direktor Ellendts ›Katalog für die Schülerbibliotheken höherer Lehranstalten‹.37 An die systematische Auswertung des ›Pädagogischen Archives‹ oder des ›Central-Organs‹ hat sich bis jetzt jedoch noch keiner herangemacht. Ziel vorliegender Arbeit ist es, diese Lücke zu schließen.

Dass wir nicht nur die Rezensionen Freytags bringen können, sondern auch einen großen Teil des Briefwechsels zwischen Freytag und May, ist dem glücklichen Umstand zu verdanken, dass die Briefe im Archiv des Karl-May-Verlages die Zeiten überdauert haben. Für die Bereitstellung des Materials und für die Erlaubnis zum Abdruck der Briefe sei Herrn Lothar Schmid deshalb ausdrücklich gedankt.



//66//
1 Beobachter und Dresdner Justiz-Zeitung, 3. Jg., Nr. 14 (5.4.1905), S. 8 u. 10 - die von May zitierten Sätze stammen aus der Rezension, die Freytag im Novemberheft 1904 des ›Pädagogischen Archivs‹ veröffentlicht hatte (siehe unseren Anhang, der die Freytag'schen Rezensionen wiedergibt). Gegenstand der Besprechung war Max Dittrichs Broschüre ›Karl May und seine Schriften‹. »Wäre ich der Verfasser dieser Schrift«, so Freytag am Schluss seiner Ausführungen, »so hätte ich einiges anders gesagt und wäre ich auf manches schärfer eingegangen. Aber auch so, wie sie ist, verdient sie die Beachtung aller wohlgesinnten deutschen Leser.« - Der Gedanke, eine größere Arbeit über May zu verfassen, schien Freytag also nicht fremd zu sein.
2 Geheimrat Dr. Wingerath: Nachruf für den verstorbenen Prof. Dr. Freytag. In: Zeitschrift für die Reform der höheren Schulen. Leipzig und Berlin, 29. Jg., Nr. 1/2 (Mai 1917), S. 26
3 E. Dahn: An unsere Leser. In: Pädagogisches Archiv, Dezember 1895
4 Ludwig Freytag und der bedeutende Volkskundler Friedrich Salomo Krauss kannten sich also. So verwundert es auch nicht, dass etliche Werke von Krauss im ›Pädagogischen Archiv‹ besprochen wurden, 1903 beispielsweise sein Buch ›Streifzüge im Reiche der Frauenschönheit‹. »Dr. Friedrich Krauß«, so Freytag, »hat als Folklorist im allgemeinen und Slawist im besonderen einen wohlbegründeten Ruf; also kann der Leser des merkwürdigen Werkes dem gelehrten und nebenbei geistreichen Autor ihm aufs Wort glauben, wenn er versichert, daß ihm nichts ferner gelegen habe als sexuelle Lüsternheit zu erwecken, und ich bin überzeugt, daß der geistvolle Text und auch die zahlreichen Illustrationen in einem gesunden Manne wohl künstlerisches Wohlgefallen oder Mißfallen, aber keine unreinen Neigungen erwecken werden«. (Pädagogisches Archiv, Oktober 1903) - May und Krauss kannten sich ebenfalls. Das geht u. a. aus einem Tagebucheintrag Klara Mays vom 1. April 1908 hervor; er lautet: »Dann kam Dr. Krauß, von Geheimrat Näcke liebe Grüße bringend. Er nennt Karl einen Segen für die Menschheit, er sei kostbarer als hundert Gelehrte zusammen. Die Wissenschaft verkümmere die Seele. Unser May bringt aber Mai hinein.« (Zit. nach einer redaktionellen Notiz in: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG) 82/1989, S. 2)
5 Brief an Wilhelm Hertz vom 26. Oktober 1888. In: Theodor Fontane: Werke, Schriften und Briefe. Abt. IV: Briefe. 3. Bd. München 1980, S. 651
6 Vossische Zeitung, 9.2.1883; wieder in: Theodor Fontane: Literarische Essays und Studien. Zweiter Teil. (Sämtliche Werke. Bd. XXI/2.) München 1974, S. 211f.
7 L. Freytag: Zur Jugendschriftenfrage. In: Pädagogisches Archiv, März 1903
8 L. Freytag: May, Karl, Gesammelte Reiseerzählungen. Band XXII. Satan und Ischariot, Band III. In: Pädagogisches Archiv, November 1897
9 Hans Wollschläger: Karl May als Leser. In: Karl Mays Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Supplemente Bd. 2: Katalog der Bibliothek. Hrsg. von Hermann Wiedenroth/Hans Wollschläger. Bargfeld 1995, S. 126
10 L. Freytag: May, Karl, Im Lande des Mahdi. Band II. In: Central-Organ für die Interessen des Realschulwesens, Juni 1896
11 L. Freytag: May, Karl, Reiseerlebnisse. Band 25-27. In: Pädagogisches Archiv, Juli 1899. Freytag leitet seinen Artikel mit einer fast schon nicht mehr zu überbietenden Lobeshymne ein: »Daß Dr. Karl May ein Schriftsteller von Gottes Gnaden ist, wie er höchstens alle hundert Jahre einmal erscheint, leugnet jetzt wohl niemand mehr (...).« Freytags Lob war so laut, dass es sogar von der Tagespresse gehört wurde. Das ›Fränkische Volksblatt‹ etwa druckte es in seiner Ausgabe vom 12. Oktober 1899 leicht gekürzt nach. Man wolle es »gegenüber jenen gewissenhaften Pädagogen, welche sogar vor der Lektüre Mays warnen zu müssen glauben«, ins Feld führen.
12 Volker Griese: »Eine Zwangsjacke«. Karl May und die Rechtschreibreform 1901. In: M-KMG 115/1998, S. 30 - Griese bringt in seinem Aufsatz eine Karte Mays an



//67//
Freytag, deren Inhalt sich auf die am 1.1.1903 in Kraft getretene Rechtschreibreform bezieht und die »postalisch nicht gelaufen« (ebd.) ist.
13 Brief Freytags an May vom 28.1.1897
14 Ebd.
15 Brief Freytags an May vom 15.11.1904
16 Karte Mays an Freytag vom 11.12.1908
17 L. Freytag: May, Karl. Im Reiche des silbernen Löwen. Band IV. In: Pädagogisches Archiv, Dezember 1903
18 Brief Freytags an May vom 20.3.1908
19 Brief Freytags an May vom 4.1.1909
20 L. Freytag: »Von den Reiseromanen von Karl May erscheint jetzt eine vorzüglich illustrierte Ausgabe (...)« In: Zeitschrift für die Reform der höheren Schulen. 20. Jg., Nr. 4, 30.11.1908, S. 80
21 Rudolf Kurtz: Offener Brief an Karl May. In: Der Sturm, 12.5.1910; wieder in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft 1971. Hamburg 1971, S. 230-233 (230)
22 L. Freytag: Wolgast, Heinrich: Das Elend unserer Jugendlitteratur. In: Pädagogisches Archiv, November 1900
23 So der Titel des Buches von Heinrich Wolgast: Das Elend unserer Jugendlitteratur. Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend. Hamburg/Leipzig 21899
24 Wie Anm. 7
25 L. Freytag: May, Karl, Gesammelte Reiseerzählungen. Band 19: Old Surehand III. Band 20: Satan und Ischariot I. In: Pädagogisches Archiv, März 1897
26 Georg Ruseler: Karl May, eine Gefahr für unsere Jugend. In: Nachrichten für Stadt und Land [Oldenburg] vom 18.5.1901; Faksimile in: Wolfgang Sämmer/Volker Griese: Der Fall Ruseler. Ein Kapitel aus dem Leben Karl Mays. Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr. 107/1996, S. 19
27 Wie Anm. 7
28 Wie Anm. 22
29 Wie Anm. 7 - »May befände sich fast immer im Irrenhause«, das war in der Tat ein böses Gerücht. Es hielt sich allerdings - wie das Gerüchte nun einmal an sich haben - hartnäckig. So berichtete 1903 die Zeitschrift ›Stern der Jugend‹ in ihrer Dezemberausgabe: »Dem bekannten Schriftsteller Karl May wurde vor ein paar Jahren öffentlich nachgewiesen: 1. Daß seine vorgeblich selbsterlebten Taten und Abenteuer pure Erfindung seien. 2. Daß er nicht, wie man vielfach glaubte, Katholik, sondern Protestant sei. 3. Daß er nicht bloß Beiträge in katholische Zeitschriften liefere und selbständige Reiseromane herausgebe, sondern auch unsittliche Schriften verfaßt und unter anderm Namen veröffentlicht habe. Auf die gegen ihn öffentlich erhobenen Angriffe hin zeigten sich bei ihm Irrsinnserscheinungen - ob wirkliche oder nur verstellte ist nicht näher bekannt geworden - und wurde er daraufhin tatsächlich in eine Irrenanstalt verbracht. Ob er sich jetzt noch dort befindet, vermögen wir nicht anzugeben.«
30 Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 170
31 Brief Freytags an May vom 15.11.1910
32 Ebd.
33 Kurtz, wie Anm. 21, S. 230f.
34 Siehe »Karl May als Erzieher« und »Die Wahrheit über Karl May« oder Die Gegner Karl Mays in ihrem eigenen Lichte - von einem dankbaren May-Leser. Freiburg i. Br. 1902, S. 150f.; Reprint: Karl May: Der dankbare Leser. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 1. Ubstadt 1982.
35 Ebd., S. 162
36 Siehe Bernhard Kosciuszko: Im Zentrum der May-Hetze. Die Kölnische Volkszeitung. Materialien zur Karl-May-Forschung Band 10. Ubstadt 1985, S. 149f.
37 Siegfried Augustin: Für und wider Karl May. Aus des Dichters schwersten Jahren. Materialien zur Karl-May-Forschung Bd. 16. Ubstadt 1995, S. 273-276



//68//

A n h a n g :

R e z e n s i o n e n L u d w i g F r e y t a g s

z u K a r l M a y u n d z u r › J u g e n d s c h r i f t e n f r a g e ‹

a u s d e n J a h r e n 1 8 9 3 - 1 9 0 7


Die Texte sind unverändert wiedergegeben; lediglich offensichtliche Druckfehler (Buchstabenverwechslungen) sind korrigiert. In einigen Fällen sind Worterklärungen u. ä. in eckigen Klammern beigegeben. Der anonyme Artikel vom April 1905 ist zur Abrundung eingefügt.



Central-Organ für die Interessen des Realschulwesens, Januar 1893, S. 48:


M a y , Karl, a) Durch Wüste und Harem. 2. Aufl. 634 S. b) Durchs wilde Kurdistan. 638 S. c) Von Bagdad nach Stambul. Mit dem Porträt des Verf. 644 S. Freiburg i. Br., 1892. Friedrich Ernst Fehsenfeld.


Dr. Karl May hat schon in der Jugendzeitschrift »Der gute Kamerad« eine Reihe von Erzählungen veröffentlicht, von denen eine in der afrikanischen Wüste, die andere in China, die übrigen in Amerika spielen, und hat sich durch sein ungewöhnliches Erzählertalent, seine guten Kenntnisse und die Vorsicht, mit welcher er seine Phantasie spielen läßt, bereits einen hervorragenden Namen gemacht. Die hier vorliegenden drei ersten Bände eines groß angelegten Reiseromans setze ich mit gutem Bedacht unter die Rubrik der Jugendschriften, um dadurch anzudeuten, daß das Werk auch für die Jugend in hohem Grade empfehlenswert ist. Ich habe diese 3 Bände (denen noch 2 abschließende folgen werden) mit großem Interesse und lebhaftem Vergnügen gelesen. Der Verfasser, der augenscheinlich gründliche Vorstudien gemacht hat, führt seinen Helden von Algerien und Tripolitanien nach Ägypten, von da nach Arabien, nach Mesopotamien, durch Kurdistan nach Damaskus und über Beirut nach Konstantinopel und Adrianopel, wo der dritte Band vorläufig abschließt. Die Überlegenheit des christlichen Helden über die meist muhammedanische Umgebung ist augenscheinlich wohlbegründet, und ebenso begründet ist es, daß der Freund und Diener des Helden diesen anfangs zum Islam bekehren will, aber unvermerkt selber sich dem Christentum nähert. Die Schilderung der Lande und Leute ist eine gediegene und höchst objektive; daß die Vertreter des Islam zum guten Teile besser sind als die Griechen und Armenier, ist bekanntermaßen völlig berechtigt, ebenso die Schilderung der türkischen Mißwirtschaft. Erfreulich ist es, daß sich neben den ernsten Zügen auch der Humor bemerklich macht; der Verfasser erweist sich als einen ebenso entschiedenen wie liebenswürdigen Christen, dem das »Homo sum« in Fleisch und Blut übergegangen ist. An dem glücklichen Erfolge des prächtigen Werkes ist nicht zu zweifeln.



//69//

Für die neue Auflage möchte ich ein paar Kleinigkeiten anmerken. Daß I 432 der ägyptische König Hophra zu einer Königin gemacht ist, beruht wohl nur auf einem Druckfehler. Die vorkommenden englischen Redensarten sind mitunter anfechtbar (z. B. III 12 My sky). III 299 ist Accablement ein unnützes Fremdwort; III 302 steht der Fehler »gelangte an«. Das berühmte »Gaudeamus igitur« ist nicht von Viktor Scheffel (III, 319), sondern schon im vorigen Jahrhundert als altes Lied bekannt. III 350 steht der (volksetymologische) Fehler »wider den Stachel lecken«. Allerdings kommt diese Orthographie (got. laikan, mhd. leichen) auch schon im Mhd. vor. - Daß die Ausstattung eine sehr gute ist, mag noch besonders hervorgehoben werden.

Berlin. L. Freytag.



Central-Organ, März 1893, S. 189f.:


May, Karl, d) In den Schluchten des Balkan. 607 S. e) Durch das Land der Skipetaren. 597 S. f) Der Schut. 645 S. Freiburg i. Br. 1893, Friedrich Ernst Fehsenfeld.


In den ersten 3 Bänden »Durch Wüste und Harem«, »Durchs wilde Kurdistan« und »Von Bagdad nach Stambul« (C.-O. h. a. [huius anni: dieses Jahres] S. 48) hatte der hochbegabte Verfasser uns den Helden seiner »Reiseerlebnisse« mit den Seinen so lieb und wert gemacht, daß unzweifelhaft jeder Leser, gleichviel welches Alters und Geschlechtes (und das will etwas heißen) dem in den drei neuen Bänden abschließenden Verlaufe der neuen Odyssee mit begieriger Spannung entgegengesehen haben wird. Wie vorauszusetzen war, ist dieselbe in reichstem Maße befriedigt worden. Von Adrianopel führt die Reise, welche die Verfolgung kühner Verbrecher zum Zwecke hat, nach dem Balkan und durch seine und des Schar-Dagh Wildnisse in unaufhörlichen Abenteuern nach Skutari und ans Meer; in einem Anhange sieht der Held noch einmal Damaskus, Mesopotamien und das Kurdenland wieder, und das schöne Werk endet in einem gemütvollen, wehmütigen Abschiedsklang. Das Schönste an dem herrlichen Werke ist wiederum außer der konsequenten Charakteristik und dem tiefen sittlichen Gehalte der Umstand, daß es sich mit der reichen Phantasie des berühmten Erzählers verhält wie mit dem edlen Hengste, den sein Held reitet: beide sind feurig und temperamentvoll, wissen aber dem Zügel des überlegenen Verstandes zu gehorchen. Es zeigt sich aufs neue, daß d. V. ganz bedeutende Studien für sein Werk gemacht haben muß; darum bewährt [recte: berührt (?)] denn auch die ruhige Objektivität seiner Urteile über Land und Leute sehr angenehm. Wenn er auch hier seiner Antipathie gegen die Armenier Raum gibt und überhaupt zu den das Türkenreich bevölkernden Auchchristen nicht selten ein Fragezeichen setzt, so ist er lediglich in seinem guten Rechte. Auch diese drei Bände habe ich mit herzlichem Vergnügen wiederholt gelesen und teile mit den Le-



//70//

sern den Wunsch dem Verfasser auf ähnlichen Fahrten noch recht oft zu begegnen. Das hier abgeschlossen vorliegende Werk sei aufs herzlichste empfohlen, namentlich auch zur Anschaffung für Schülerbibliotheken.

Bei meiner Vorliebe für sein schönes Werk wird mir der Herr Verfasser gewiß ein paar Kleinigkeiten nicht übel deuten. Zunächst wäre sehr wünschenswert, wenn eine neue Auflage, die gewiß rasch kommen wird, eine Reisekarte brächte; sie wird schwer vermißt, namentlich von der Jugend, die über keine größere Kartenwerke verfügt; natürlich wird keine Karte verlangt, wie sie sich in einem Bädeker findet, sondern nur eine ganz allgemeine. Band IV S. 21 findet sich der Gallicismus »Ich ließ i h m (ihn) nicht merken.« IV 221 ist »Katholik« stark flektiert. IV 407 steht der Gallicismus »Wer ist boshaft gewesen e i n e m (einen) Vater g l a u b e n z u m a c h e n .« V 185 ist »Christ« stark flektiert; V 341 »von welcher ich d e m (den) Sch. nichts wissen lassen wollte.« Das Wort F e i m (Heuschober) V 418 ff ist provinziell. V 472 und 473 finden sich zwei bedenkliche Neologismen »draschte« (drasch) und »auswuchteten« (mit Wucht heraussprengten). Das böse »gefolgt von« V 472, VI 79, 92 ist leider, wie es scheint, unsterblich wie der letzte Kopf der lernäischen Schlange; ebenso steht es mit »Gefahr laufen« V 545 etc. »Ein federnder Gedanke« VI 309 dürfte auch ein Neologismus sein, aber ein glücklicher, der wohl weiterleben wird; auch »niederbrach« (= zusammenbrach), VI 336 läßt sich hören. Der Engländer David Lindsay, der eine nicht unwichtige Rolle spielt, ist ein Lord, kann also auch im Scherze nicht einmal Sir, geschweige Master oder Mr. D. L. angeredet werden (VI 539 etc.). VI 540 heißt es h a v e c a r e ohne jeden Artikel oder andern Zusatz. Endlich steht VI 544 »Circesium o d e r Karkemisch«; das ist eine veraltete Anschauung, denn die beiden Orte sind nicht identisch. Diese winzigen Desiderien lassen sich ohne die geringste Schwierigkeit beseitigen. Glückauf für die weiteren Fahrten und Abenteuer des neuesten und edelsten Odysseus! (Zu meiner Besprechung der 3 ersten Bände habe ich noch eine Kleinigkeit beizufügen. I 431 f heißt es: »Dort haben die Krieger des Nabopolassar auf den Knieen gelegen, als am 5. Mai im 5. Jahre jenes Herrschers eine Mondfinsternis der totalen Sonnenfinsternis folgte, welche die Schlacht von Halys so schrecklich machte«. An der Unverständlichkeit des Satzes ist wohl ein Druckfehler schuld. Die Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585 machte der Schlacht zwischen Kyaxares von Medien und Alyattes von Lydien ein Ende; Nebukadnezar und der Syennesis von Kilikien vermittelten den Frieden, der den Halys (Kisil Irmak) als Grenzfluß zwischen dem medischen und dem lydischen Reiche festsetzte.)

Berlin. L. Freytag.


Central-Organ, August 1893, S. 518:


F e r r y , Gabriel, Der Waldläufer. Für die Jugend bearbeitet von Karl May. Dritte Auflage. Stuttgart und Reutlingen. Robert Bardtenschlager. 208 Seiten.



//71//

Manche Bearbeitungen dieses Buches kenne ich seit meiner Jugendzeit, aber diese neueste aus der bewährten Feder des hochbegabten Dr. Karl May ist nach meiner Meinung die für die Jugend geeignetste; der Bearbeiter hat es verstanden das Original in gedrängter Fassung (gegen den Schluß vielleicht ein wenig zu gedrängt) in eine vorzügliche und für die Lektüre der Jugend besonders empfehlenswerte Form umzugießen. Die Ausstattung des Buches ist eine gute, und auch die Buntbilder sind zu loben. Für die nächste Auflage möchte ich ein paar Kleinigkeiten zur Berücksichtigung anheim geben. Das unausrottbare »gefolgt von« findet sich wiederholt, z. B. S. 208. Die falsche Form »stak« findet sich wiederholt, z. B. S. 78, auf S. 190 sogar »stack« geschrieben. S. 69 treffen wir den häßlichen Gallicismus »ihnen glauben machen«; S. 150 »über einem Granden zu Gericht sitzen« ist wohl Druckfehler. Dgl. Seite 188 »des Löwens« und S. 195 die falsche Pluralform »Schimmels«.

Berlin. L. Freytag.


Central-Organ, Oktober 1893, S. 649f.:


M a y , Karl: Winnetou, der rote Gentleman. Band I und II. Freiburg i. Br. 1893. Friedrich Ernst Fehsenfeld. 1260 S.


Die ersten 6 Bände von Dr. Karl Mays »Gesammelten Reiseromanen« habe ich S. 48 und 189 h. a. mit der herzlichen Anerkennung besprochen, die ihnen gebührt, und es freut mich dieselbe auch für sein neuestes Werk klipp und klar aussprechen zu können. Die Haupthelden des »Winnetou«, dessen dritter und letzter Band noch rechtzeitig vor den Weihnachten erscheinen wird, sind in den Erzählungen, die der bekannte Freund der Jugend im »Guten Kameraden« veröffentlicht hat, teilweise schon aufgetreten; mit den obenerwähnten 6 Bänden steht der »Winnetou« insofern in Verbindung, als der bedeutsamste Held in beiden Werken einundderselbe ist. Wir wünschen der deutschen Jugend zu dem neuen Werke von Herzen Glück, nicht minder aber auch dem reiferen Alter, welches den ebenso lebenswahr wie fesselnd erzählten Erlebnissen mit Freude und sittlichem Nutzen folgen wird. Daß der Held durch Thaten, nicht durch Worte predigt, ist ein Hauptvorzug des liebenswürdigen Buches, welches sich von moralisierender Redseligkeit gänzlich ferne hält.

Ein paar kleinliche Monita beziehen sich nirgends auf den Inhalt sondern lediglich auf äußerliche Form, und zwar habe ich (außer mehrfachen Druckfehlern) in Band II nur S. 63 den Gallicismus »daß sie i h m fühlen ließen« gefunden. Band I findet sich S. 26 »verkommen« statt »auskommen«, S. 29 etc das schlechte Präteritum »stak«, S. 58 der falsche Umlaut »frägt«, S. 157 der Provinzialismus »aufhalten« für »aufhören«, S. 325 etc der Gallicismus »gefolgt von«, S. 588 der Provinzialismus »alle« statt »zu-



//72//

ende«. Solche Kleinigkeiten lassen sich ohne die geringste Mühe ausscheiden und beeinträchtigen den dauernden Wert des prächtigen Buches nicht im geringsten.

Berlin. L. Freytag.


Central-Organ, Januar 1894, S. 40f.:


1) M a y , Karl, Winnetou, der rote Gentleman. Band III. Freiburg i. Br. 1894. Friedrich Ernst Fehsenfeld. 631 S.
2) Orangen und Datteln, Reisefrüchte aus dem Oriente. 665 S. Ebendaselbst.


Der »Winnetou« hat einen würdigen und, wie es bei May immer so ist, einen tief ernsten Schluß erhalten; dieser 9. Band seiner »Gesammelten Reiseromane« schließt sich den ältern ehrenvoll an (über »Winnetou« I und II vgl. C. O. a. pr. [anni praeteriti: vergangenen Jahres] S. 649 f.). In einem Nachworte erwähnt der liebenswürdige Verfasser, daß man ihn deshalb getadelt habe, weil die Religion zu oft betont worden sei. Ich habe nie gefunden, daß das irgendwie auffallend geschehen sei; daß er die Kühnheit hat, seinen Haupthelden sich wie einen Christen benehmen zu lassen, dürfte doch verzeihlich sein. Ich wenigstens wünsche ihm Glück zu dieser »Kühnheit.«

Ein paar winzige Formfehler sind sehr leicht zu bessern. S. 94 findet sich der niederdeutsche Provinzialismus a u f h a l t e n (= aufhören); S. 144 muß es heißen »dichtem, dunklem« (statt »dunklen«); S. 169 findet sich der Gallicismus » d e n Indianern etwas .... wissen zu lassen«; S. 321 heißt es besser »er hat eine Wunde über s e i n e r r e c h t e n Wange« (nicht »seine rechte«.) Ein paarmal findet sich B u s h h e a d e r s (= Buschklepper); ist das vielleicht verdruckt statt »Buschrangers« o. dgl.?

Die »Orangen und Datteln« verhalten sich zu den früheren 9 Bänden der »Reiseromane« wirklich ebenso, wie der Nachtisch zu einer reichbesetzten Tafel; der Verfasser hat diese kurzen oder kürzeren Erzählungen offenbar gelegentlich hingeworfen und hat öfters an die älteren Erzählungen angeknüpft, wobei ihm dann freilich Wiederholungen gewisser Erklärungen und Widersprüche gegen das Frühere hie und da mitunterlaufen. Vgl. S. 218/240. Das ist indessen kaum redenswert; ein anderes ist es, daß der Wert der 8 Erzählungen (Die Gum; Christus oder Muhammed; Der Krumir; Eine Ghasuah; Himmelslicht; Christi Blut und Gerechtigkeit; Mater dolorosa; Der Verfluchte) naturgemäß ungleich ist und daß das religiöse Element in einigen der kleineren Erzählungen h i e r wirklich hervortritt und bei den Nichtchristen und Auchchristen (bei mir n i c h t ) wohl Widerspruch hervorrufen wird. Die beiden größten Erzählungen (1 und 3) sind übrigens den älteren völlig ebenbürtig.

An kleinen formellen Anständen hätte ich etwa folgendes anzudeuten. » U n g e f ä h r « (S. 6) ist nicht als Adjektiv zu behandeln; das Präteritum



//73//

» s t a k « (S. 8 und sonst) ist tadelnswert; und vollends das unausrottbare » g e f o l g t v o n « (S. 38 und sonst)! S e i t darf nicht den Genetiv regieren (S. 95). S. 177 »Das Lot ergab n e u n z i g Faden« ist wohl ein Druckfehler. S. 196 ist der Gallicismus »ich wollte m e i n e m Gebieter diese Erzählungen kennen lehren« zu rügen. »Eine Lanze, an w e l c h e r das Leibpferd gebunden war« (S. 231), ist natürlich Druckfehler. S. 339 muß es nicht »aufs G e r a d e w o h l « sondern »aufs G e r a t e w o h l « heißen. S. 348 »Ich hielt es für a n g e z e i g t «: Zeitungs- und Bureaukraten-Deutsch! S. 431 findet sich wieder als Druckfehler » g e g e n « mit dem Dativ. S. 632 muß es heißen »von d i e s e m m e i n e m (nicht m e i n e n ) Begleiter«. Nebenbei zu bemerken wäre, daß das »brandenburger Deutsch«, welches d. V. dem Krüger Bei in den Mund legt, ganz unmöglich ist.

Den noch inaussicht gestellten Bänden, die über Ozeanien, Südafrika, Indien etc handeln sollen, sehen wir mit herzlichem Interesse entgegen.

Berlin. L. Freytag.


Central-Organ, Juni 1894, S. 394-395:


M a y , Karl, Am stillen Ocean. Reiseerlebnisse. Freiburg i. Br., 1894. Friedrich Ernst Fehsenfeld. 607 Seiten.


Wie große Stücke ich auf Dr. Karl M a y s Jugendschriften halte, habe ich in den Rezensionen der ersten zehn Bände seiner Reiseromane bereits ausgesprochen (C.-O. 1893 S. 48 f, 189 f, 649 f und 1894 S. 40 f). In den fünf Abenteuern des jetzt vorliegenden eilften Bandes (»Der Ehri«, »Der Kiang-Iu«, »Der Brodnik«, »Der Girl-Robber« und »An der Tigerbrücke«) führt er durch die polynesische und südasiatische Inselflur bis nach China und in die Mongolei hinauf, und hier wie immer erzählt er nicht bloß ungemein kräftig, lebensvoll und spannend, sondern es sind auch durchweg die Schilderungen der landschaftlichen Szenerieen wie der Lande und Leute so wahr, daß er offenbar die sorgfältigsten und eingehendsten Studien gemacht haben muß: mitunter lebt man geradezu in der Täuschung, er müsse das, was er schildert und erzählt, auch wirklich selber gesehen, ja erlebt haben. Einen schöneren Triumph kann kein Erzähler zu feiern begehren. Daß ernste, christliche Gesinnung auch d i e s Buch erfüllt, war mir besonders angenehm, und zwar um so mehr, als sie nirgends aufdringlich oder sonst lästig wird. Hoffentlich erleben wir bald eine Fortsetzung!

Wie immer, wird mir der Herr Verfasser auch diesmal ein paar kleine Schulmeistereien nicht übel nehmen. Die niederdeutsche Form s t a k S. 4 etc sollte am liebsten vermieden werden, wenn sich auch die Formen »stechen« und »stecken« schon seit Jahrhunderten verwechselt finden. S. 31 ist noch von Quadratmeilen die Rede; da die Jugend dieselben nicht mehr kennt, so müßten doch wohl die leidigen Kilometer eintreten. S. 357 findet



//74//

sich der Gallicismus seiner Mutter nichts wissen zu lassen. S. 372 ist impassable (= unempfindlich) ein bedenklicher Neologismus. S. 386 Dreimaster mit hoher, altmodischer Gallione verstehe ich nicht. Galionen waren bei den Spaniern und Portugiesen früher schwere dreimastige Kriegs- oder bewaffnete Kauffahrteischiffe, und d a s Galion ist, denk' ich, das Schiffsbild am Stern oder am Spiegel. Das böse g e f o l g t v o n findet sich S. 435 etc. Das ist aber auch alles, und das ist wenig genug!

Berlin. L. Freytag.

Central-Organ, Juli 1894, S. 416:


M a y , Karl, Gesammelte Reiseromane. Band XII: Am Rio de la Plata. Freiburg i. Br., 1894. Friedrich Ernst Fehsenfeld. 676 Seiten.


Der beliebte Erzähler führt uns hier nach Süd-Amerika, wo zur Freude und zum Nutzen der Yankees und zum Entzücken der europäischen Republikaner seit einigen Jahren die letzte Monarchie gefallen ist und alljährlich eine Revolution vorschriftsmäßig die andere ablöst. Es zeigt sich wiederum, daß der Verfasser seinen Gegenstand unbedingt beherrscht, und so führt er den jungen und alten Lesern ein ebenso farbenprächtiges wie lebenswahres Gemälde vor. Sein neuestes Werk ist mit dem hier vorliegenden Bande noch nicht abgeschlossen. Der nächste Band wird lauten »In den Cordilleren«.

An Äußerlichkeiten ist fast nichts zu monieren. Eine falsche Pluralform »Die Rangens« findet sich S. 55; die falsche Form »bratet« (st. brät) S. 166; der Gallicismus »ahnen lassen« c. Dat. [mit Dativ] S. 289; S. 361 »brauchen« c. Inf. [mit Infinitiv] ohne »zu«; S. 658 »einer Person etwas hören lassen«. Das ist wenig genug!

Berlin. L. Freytag.


Central-Organ, November 1894, S. 697:


M a y , Karl, Gesammelte Reiseromane. Band XIII: In den Cordilleren. Freiburg i. Br., 1894. Friedrich Ernst Fehsenfeld. 584 Seiten.


Dieser neueste Band schließt die Erzählung ab, die im zwölften begonnen wurde (C.-O. h. a. S. 416). Aufs neue muß man die Gewandtheit, die Beherrschung des Stoffs und das ungewöhnliche Erzählertalent des bei der Jugend wie bei gereiften Lesern gleichmäßig beliebten Verfassers bewundern; die Geschichte liest sich täuschend ähnlich so, als würde wirklich Erlebtes berichtet. Hoffentlich hat Dr. Karl May mit diesem seinem neuesten Bande noch nicht Abschied von seinen Lesern und Verehrern nehmen wollen!



//75//

Die paar kleinen formellen Ausstellungen, die ich zu machen habe, sind folgende: »Versiechen« (statt »versiegen«) ist eine ungewöhnliche Orthographie (S. 180); S. 187 findet sich die niederdeutsche Form »frug«; S. 197 und 250 das Bureaukratendeutsch »Rechnung tragen«; S. 258 der Gallicismus »er ließ es d e n Leuten wissen«; S. 265 und 298 der Gallicismus »Gefahr laufen«; dgl. S. 367 »gefolgt von«; S. 416 die schlechte Form »bewahrheiten« (besser »bewähren«); Seite 419 f wird »lehren« mit »lernen« verwechselt; dagegen hat der Austriacismus »sich auskennen« S. 428 bei uns immer mehr das Bürgerrecht gewonnen und ist als berechtigt anzuerkennen.

Berlin. L. Freytag.


Central-Organ, März 1895, S. 156:


M a y , Karl, Gesammelte Reiseromane. Band XIV: Old Surehand, Band 1. Freiburg i. Br., 1895. Friedrich Ernst Fehsenfeld. 644 Seiten.


Karl May ist zu bewundern: seine poetische Phantasie versagt ihm nie und nirgends, und selbst dem kundigsten Thebaner ist es beim Lesen der »Reiseromane« so zu mute, als läse er wirklich Selbsterlebtes. Hier führt uns der begabte Autor wieder in den Süden der Vereinigten Staaten, und seine Lieblingshelden treten wieder in die erste Reihe, der prächtige Old Shatterhand und der herrliche Winnetou, »der rote Gentleman«. Was uns den Dichter hier wieder besonders liebenswert und für die Lektüre der Jungen wie der Alten im hervorragendsten Maße empfehlenswert macht, ist der echt ritterliche und echt christliche Geist: Ritterlichkeit ohne Aufschneiderei und christliche, hochherzige Gesinnung ohne Predigerton. Speziell unserer reiferen Jugend kann eine bessere, edlere Lektüre nicht empfohlen werden.

Nur unbedeutende formelle Kleinigkeiten sind zu monieren. S. 184 Druckfehler: »Ich ließ i h m gewähren«; S. 191 » d a s (dessen) müssen wir gewärtig sein«; S. 202 Druckfehler »sheeps-head«; S. 383 »außer« als Konjunktion bedenklich; S. 433 der greuliche Gallicismus »Gefahr laufen«; S. 438 der Anglicismus »ausmachen«.

Berlin. L. Freytag.



Central-Organ, Juni 1895, S. 366f.:


M a y , Karl, Gesammelte Reiseromane. Band XV: O l d S u r e h a n d . Bd. 2. Freiburg i. Br. 1895 Friedrich Ernst Fehsenfeld. 648 S.


Der zweite Band ist dem ersten (vergl. C.-O. h. a. S. 156) rasch nachgefolgt und erfüllt mich wie gewiß alle Leser mit Bewunderung für die wunderbare



//76//

Phantasie des Verfassers, die niemals ermüdet und nie ermüdend wirkt, und andrerseits für seine echt christliche Gesinnung, die nicht durch Predigten, sondern durch Thaten wirkt.

Inbezug auf die paar kleinen formalen Ausstellungen, die ich machen möchte, weise ich auf die nicht kleine Zahl allerdings meist geringfügiger und sich meist auf englische Phrasen beziehender Druckfehler hin. Die meisten kleinen Flüchtigkeiten, Provinzialismen, Gallicismen etc kommen immer wieder vor - aber es hilft nichts, ich bin nicht bloß ein Verehrer des hochbegabten Dichters, sondern auch Germanist und mache immer wieder auf dieselben kleinen Fehler aufmerksam. So S. 5 »besser wie« und ebendaselbst gar »als wie mir«, S. 40 »unter das Wasser befestigt«, S. 125 u. s. [und sonst] »stak«, S. 134 u. s. »Boarraum« (l. bar-room, Schenkstube), S. 135 »Der große Geist läßt dir (l. dich) dies Wort sagen«, dgl. »mir (l. mich) verlangt«), S. 139 u. o. »Dik« (l. Dick); S. 153 ist »commodious« ein ganz zweckloses Fremdwort; S. 162 »gefolgt von«; S. 163 »Kampfeswonne, welche das verfeinerte Urteil leugnet, (fehlt »welche« als Nom.) »nichtsdestoweniger aber doch (Pleonasmen kommen oft vor) eine oft bewiesene Wahrheit bleibt«; S. 187 ist »Haggler« (Knicker?) (Verwalter?) selbst mir unverständlich; es kann allerdings sein, daß es im Vulgäramerikanischen eine andere Bedeutung hat, die der Verfasser aber bei seinen Lesern nicht erwarten darf; S. 266 u. s. die Banden (l. Bande, vincula); S. 503 »Unter den Bäumen angekommen wurde .... in die beabsichtigte Richtung eingelenkt«; S. 528 »Rechnung tragen«; S. 534 u. s. »frug«.

Berlin. L. Freytag.


Central-Organ, März 1896, S. 176:


M a y , Karl, Gesammelte Reiseromane. Band XVI: Im Lande des Mahdi. Teil I. Freiburg i. Br. 1896, Fr. E. Fehsenfeld. 639 S.


Wegen langer Erkrankung des liebenswürdigen Verfassers wird der dritte Teil des »Old Surehand« leider erst im Juni erscheinen, der zweite Teil des »Mahdi« noch vorher. Karl May bewährt seine Meisterschaft im Erzählen hier aufs neue, indem er uns in ein ebenso schwieriges wie interessantes Gebiet führt und uns, wie immer, vom Anfange bis zum Ende in einer angenehmen Spannung zu erhalten weiß. Die Schilderung, die er aufgrund hoher Begabung, unerschöpflicher Phantasie und vorzüglicher Studien immer wieder bietet, ist eine so auffallend lebenswahre und lebensvolle, daß selbst gelehrte Kenner der von ihm geschilderten Lande und Leute oft mit mir darüber disputiert haben, ob der Verfasser nicht doch wirklich Selbsterlebtes schildere. Das ist ein Triumph, wie er beneidenswerter nicht gedacht werden kann. Die tief sittliche, echt christliche Gesinnung des Dichters habe ich schon oft hervorgehoben; sie tritt mit einer solchen Milde hervor, daß



//77//

sie auch von solchen Lesern anerkannt wird, die mit dem Christentum innerlich längst fertig geworden sind. Hoffentlich ist es ihm vergönnt, den alten wie jungen Leser noch oft mit gleich wertvollen Büchern zu beschenken.

Berlin. L. Freytag.


Central-Organ, Juni 1896, S. 377:


M a y , Karl, Im Lande des Mahdi. Band II. Freiburg i. Br. 1896, Friedrich Ernst Fehsenfeld. 587 S.


Es ist dem berühmten Autor (und zwar zur Freude seiner alten und jungen Leser) schon öfters widerfahren, daß er einem Werke einen größeren Umfang gegeben hat, als er ursprünglich beabsichtigte. Das ist hier wiederum der Fall, und wir können beim Lesen dieses neuesten Bandes nur immer wieder den wunderbaren Instinkt bewundern, mit dem der Verfasser allenthalben, gleichviel in welchem Erdteile seine »Reiseerlebnisse« spielen, den richtigen Lokalton unmittelbar zu treffen weiß. Ich kann mich einer umfangreichen Belesenheit rühmen, aber ich kenne keinen Erzähler, der es in dieser Beziehung mit Karl May aufzunehmen vermöchte. Seine übrigen Vorzüge habe ich in früheren Besprechungen schon so oft hervorgehoben, daß es hier unnötig erscheint. Hoffentlich erscheint der so oft aufgeschobene Schlußband des »Old Surehand« nun wirklich in diesem Sommer!

Berlin. L. Freytag.


Central-Organ, Oktober 1896, S. 594:


M a y , Karl, Im Lande des Mahdi. Band III. Freiburg i. Br. 1896, Friedrich Ernst Fehsenfeld. 572 S.


Dr. Karl May hat den neuesten Teil seiner Reiseerlebnisse »Im Lande des Mahdi« jetzt vollendet, und ich bin überzeugt, daß selbst die steifsten Pedanten und grundsätzlichen Feinde der Jugendlitteratur ihm ihre Anerkennung nicht versagen werden; es ist bewundernswürdig, wie er es verstanden hat, das Resultat seiner Forschungen in ein echtes, reales Gewand zu kleiden. Das Interesse der jungen wie der alten Leser ist hier um so größer, als das Land des falschen Propheten, gegen den jetzt von drei Seiten vorgegangen wird, heutzutage das allgemeinste Interesse gewonnen hat. Immer wieder fragt sich selbst der Kundige: Ist es möglich, daß der ebenso geistvolle und berufene wie liebenswerte Verfasser sein Objekt nur durch Hörensagen und Studien kennt? Man sollte es kaum für möglich halten; die Schilderung ist zu wahr und zu lebensvoll.



//78//

Wer die Schattenseiten des Schriftstellerlebens kennen und fürchten lernen will, lese das Nachwort, in welchem der Verfasser seine zudringlichen Freunde und Verehrer um Schonung und Gnade bittet. Der Haß der Feinde ist unangenehm, aber die zudringliche Liebe der Verehrer ist unerträglich!

Der nächste Band ist hoffentlich der Schlußband des »Old Surehand«! Es wird Zeit!

Berlin. L. Freytag.


Pädagogisches Archiv, März 1897, S. 193:


5. M a y , K a r l , Gesammelte Reiseerzählungen. Band 19: Old Surehand III. Band 20: Satan und Ischariot I. Freiburg i. Br. 1897, Friedrich Ernst Fehsenfeld. 567 resp. 551 S.


Es giebt manche Jugendschriftsteller, deren Werke für das reifere Alter angenehm und zugleich mit Nutzen zu lesen sind; ich z. B. stehe dem Greisenalter näher als der Jugend und lese doch die Werke von Nieritz, Johanna Spyri, Sonnenburg und vielen anderen, ebenso den »Guten Kameraden« und andere Jugendschriften, vor allen aber den guten alten Cooper mit derselben Freude, wie es die leseeifrige und abenteuerfrohe Jugend thut. Dr. Karl M a y nimmt eine ungewöhnliche Stellung ein; er ist ein Erzähler und Schilderer von so seltenem Talente, daß selbst naturwissenschaftliche Kollegen und Freunde als grundsätzliche Skeptiker der Meinung waren, er m ü s s e durchaus wenigstens zum guten Teil die Gegenden gesehen und die Abenteuer erlebt haben, in denen sein Hauptfeld auftritt; so naturwahr weiß er zu schildern! Die von geistlosen Pedanten grundsätzlich und unterschiedslos verdammten »Indianergeschichten« erleben durch Karl May einen Triumph, der nie verblassen wird. Dieser dauernde Triumph, der dem Dichter einen bleibenden Platz unter den Ersten aller Zeiten und Nationen anweisen wird (ich schreibe dies abnorme Lob mit gutem Bedacht und aus voller Überzeugung), ist nicht bloß durch das ungewöhnliche Erzählertalent und die nie versiegende Phantasie des Autors zu erklären, sondern namentlich auch aus dem wunderbaren sittlichen Einflusse, den er durch seinen Helden ausübt. In ihm hat das Christentum einen idealen Vertreter: er übt das Gebot der Feindesliebe bis an die Grenzen des Möglichen aus, und es ist nicht zu verwundern, wenn selbst erwachsene Leser ihm geschrieben haben: »Ich habe durch das Lesen Ihrer Bücher die Kraft gewonnen, ein besserer Mensch zu werden!« D a s ist ein Erfolg, um den Dr. Karl M a y zu beneiden ist.

Im alten »Centralorgan« habe ich seine Werke einzeln aufs herzlichste empfohlen; hier genüge die Versicherung, daß die beiden neuesten Bände nichts von abnehmender Kraft verspüren lassen. Seine lange Krankheit scheint der Dichter völlig überwunden zu haben: Gott sei Dank dafür, denn



//79//

schon um unserer Jugend willen ist ihm ein langes Leben und eine weitere reiche Wirksamkeit zu erhoffen.

Berlin. L. Freytag.


Pädagogisches Archiv, November 1897, S. 866:


41. M a y , K a r l , Gesammelte Reiseerzählungen. Band XXI: S a t a n u n d I s c h a r i o t , Band II. Freiburg i. Br. 1897, Fr. E. Fehsenfeld. 540 S.


Der hochbegabte Autor führt uns in diesem zweiten Bande des »Satan und Ischariot« durch Nordmejiko und von da ab über Deutschland durch Afrika in immer wechselnden Scenerieen; die Charakteristik ist vorzüglich und die Schilderungen glänzend wie immer. Das Werk wird sich offenbar den früheren würdig anreihen; hoffentlich beschert uns der Verfasser als beste Lektüre für jung und alt noch viele desselben Wertes.

Berlin. L. Freytag.


42. M a y , K a r l , Gesammelte Reiseerzählungen. Band XXII. Satan und Ischariot, Band III. Freiburg i. Br. 1897, Friedrich Ernst Fehsenfeld. 616 S. 3 Mk.


Die drei Bände des »Satan und Ischariot« sind prompt hintereinander erschienen und werden bei den jungen wie bei den alten Lesern aufs neue wohlverdienten Beifall finden. Immer wieder muß man das ungewöhnliche Erzählertalent, die hochsinnige Tendenz und die scharfe Charakteristik selbst der Nebenpersonen bewundern; so ist es auch zu begreifen, daß man der abenteuerlichen, aber stets naturwahr und mit genauester Orts- und Sachkenntnis geschilderten Erlebnisse niemals müde werden kann. Hoffentlich beschert uns der Verfasser bald wieder neues und gleichwertiges!

Berlin. L. Freytag.


Pädagogisches Archiv, Juni 1898, S. 474:


9. M a y , K a r l , »Weihnacht!« Reiseerzählung. Freiburg i. Br. 1897. Friedrich Ernst Fehsenfeld. 623 S.


Dr. Karl May, der christliche Odysseus im besten und höchsten Wortsinne, bietet uns hier wiederum ein neues Bild seiner anscheinend aus Wahrheit und Dichtung gemischten Reiseerlebnisse: die handelnden Personen erscheinen zuerst in den Tagen seiner Gymnasialzeit im sächsisch-böhmischen Grenzgebiete, und dann versetzt er uns wieder in den »Wild West«,



//80//

um mit ernster, versöhnender Weihnachtsstimmung abzuschließen. Es ist wieder ein wundervolles Buch, das die schon so große Zahl seiner Freunde unter alt und jung noch vermehren wird. Ausstellungen habe ich nur eine: das Englisch, das er hie und da sprechen läßt, bedarf einer Revision, wenigstens stellenweise, wenn ich mir auch nicht verhehle, daß der amerikanische Mischjargon oft schwer zu kontrollieren ist.

Berlin. L. Freytag.


Pädagogisches Archiv, Juli 1899, S. 441:


105. M a y , K a r l , Reiseerlebnisse. Band 25-27. Freiburg i. Br. Fr. E. Fehsenfeld. 594, 624, 628 S. Je 3 Mk.


Daß Dr. Karl May ein Schriftsteller von Gottes Gnaden ist, wie er höchstens alle hundert Jahre einmal erscheint, leugnet jetzt wohl niemand mehr; es ist ein wunderbarer Mensch, der seinen Helden ein echtes Christentum durch die T h a t predigen läßt und in seinen Werken die eigenen, reichen Reiseerlebnisse in geradezu genialer Weise verwertet. Früher glaubte ich, er böte in der Hauptsache Werke freier Phantasie; jetzt weiß ich, daß die »Wahrheit« die »Dichtung« überwiegt. Wären Mays Werke in den Händen der Jungen wie der Alten, so könnten sie in Bezug auf die sittliche Erhebung der Gegenwart geradezu Wunder thun.

Der Jubiläumsband 25 » A m J e n s e i t s « führt uns in die Gegend von Mekka; 26 und 27 » I m R e i c h e d e s s i l b e r n e n L ö w e n « nach Nordamerika und ins babylonische Land. Man kann sagen, daß der Wert der prachtvollen Schriften mit jedem Bande zunimmt.

Berlin. L. Freytag.


Pädagogisches Archiv, Juli 1900, S. 442:


91. M a y , K a r l , Der schwarze Mustang. 7. Auflage, illustriert. 344 S. Gebunden 7 Mk. Stuttgart, Berlin, Leipzig, Union Deutsche Verlagsgesellschaft.


Das vorliegende Werk hat die bekannte, in demselben Verlage erscheinende Jugendschrift »Der gute Kamerad« im elften Jahrgange zuerst veröffentlicht; das ist erst wenige Jahre her, und der Abdruck erscheint nun schon in siebenter Auflage. Das ist kein Wunder; jeder, der einigermaßen die Jugendlitteratur beherrscht, wird gestehen müssen, daß Karl May der erste Jugendschriftsteller unserer Zeit ist, und daß sich die Jugend (und auch das unverbildete Alter) ihren Liebling nie nehmen lassen wird; ein unglaublich roher Angriff, den irgend ein Sozialdemokrat vor kurzem in einer mehr als genügend bekannten Frankfurter Zeitung auf ihn machte, hat seinen



//81//

Zweck, wie vorauszusehen war, völlig verfehlt. Das hier in elegantem und reich illustriertem Abdrucke vorliegende Werk versetzt den Leser wieder in den »wilden Westen« Amerikas, aus dem der begnadete Autor jetzt wieder gewiß viele neue Stoffe mit heimbringen wird. Er ist aufs neue dahin unterwegs; Glück auf!

Berlin. L. Freytag.


Pädagogisches Archiv, November 1900, S. 667-671:


2. Wolgast, Heinrich: Das Elend unserer Jugendlitteratur.

Ein Beitrag zur künstlerischen Erziehung der Jugend. 2. Auflage. Hamburg 1899, Selbstverlag. In Kommission bei L. Fernau, Leipzig. 219. S. 2 Mk.


Als ich den Titel las, war mir zu Mute wie Einem, der sich nach seiner Meinung stets bei leidlicher Gesundheit befand und nun vom Arzte hören muß, daß er schleunigst sein Testament zu machen hat. Zeitlebens hatte ich mich für die Jugendlektüre lebhaft interessiert, und seit mindestens 20 Jahren bin ich praktisch mit ihr beschäftigt; aber noch nie hatte ich gemerkt, daß unsere Jugendlitteratur sozusagen in den letzten Zügen liegt. Nun aber ernsthaft gesprochen: der Verfasser dieser Broschüre beweist wieder einmal, daß man durch Generalisieren und Übertreiben auch die beste Sache schädigen kann.

In seinen viel zu langen einleitenden Kapiteln (»Der Umschwung in der öffentlichen Erziehung und die Jugendlektüre«, »Der Leseunterricht und die freie Lektüre«, »Die Aufgabe der poetischen Jugendlektüre« und »Die intellektuellen und moralischen Wirkungen der Jugendlektüre«) bringt der Verfasser viel Wahres, aber von niemand Bestrittenes; so heißt es »Erwachsene sollten eine Jugendschrift mit demselben, ja mit noch größerem Interesse lesen können als Kinder«, und »Die Jugendschrift in dichterischer Form muß ein Kunstwerk sein«. Sehr richtig; nur verlangt der Verfasser hier und anderswo, daß das Wort »Kunstwerk« im allerhöchsten Sinne durchzuführen sei, und das ist einfach ausgeschlossen. Schlimm aber ist es, wenn er betont, daß »der größte Teil der spezifischen Jugendlitteratur aus Tendenzschriften besteht«, und j e d e Tendenz verwirft. Er mag sagen, was er will - immer wird doch die banale Wahrheit Geltung behalten, daß der Zweck der Jugendlitteratur B e l e h r u n g , V e r e d l u n g und U n t e r h a l t u n g sei; höchstens wird es Pedanten geben, die der Jugend das Recht auf Unterhaltung grundsätzlich abstreiten. Liest der Erwachsene denn nicht zu demselben Zwecke? Höchstens giebt es für ihn (allerdings auch für die Jugend) auch solche Dinge, die man lesen m u ß , selbst wenn man nicht will.

Auf die U n t e r h a l t u n g s l e k t ü r e hat die Jugend jetzt ein noch viel größeres Anrecht als früher. Denn ein neues Fach nach dem andern pocht gebieterisch an und fordert ungestüm Einlaß, und seine Vertreter wissen nur zu gut, daß sie doch endlich ans Ziel kommen, wenn sie unablässig



//82//

schreien und agitieren. Aber um so dringender ist es notwendig, daß auch die P h a n t a s i e zu ihrem Recht kommt; nicht bloß Sage und Märchen, sondern auch die reine Unterhaltungsschrift hat ihre Berechtigung, denn der überbürdete und überarbeitete Geist bedarf einer Abspannung durch leichte, angenehme Lektüre.

Und nun der Begriff T e n d e n z ! Die Jugend kann und darf noch nicht ihren Lebensweg frei wählen, sondern sie bedarf der verständigen, liebevollen Zucht und Leitung; für ihre Lektüre gilt ganz dasselbe. Und was ist da natürlicher und selbstverständlicher, als daß berufene Schriftsteller ihr, der Jugend, erstrebenswerte Ideale vor Augen halten und ihr Widerwillen gegen das Böse einzuflößen suchen? Es kommt nur d a r a u f an, daß sich das belehrende Element nicht in lästiger und anstößiger Weise breit mache, und daß man von der Jugend alles fernhalte, was die unedlen Seiten des Menschencharakters und religiösen, konfessionellen und politischen H a ß erregen und schüren könnte.

In seinem fünften Kapitel »Die Grundsätze der bisherigen Jugendschriften-Kritik« giebt der Verfasser einen ganz interessanten Überblick über den Standpunkt, den namhafte Pädagogen, Geistliche und Schriftsteller hier eingenommen haben; auf diesem speziellen Felde ist er viel besser zu Hause als ich. In bezug auf das sechste Kapitel »Zur Charakteristik der gangbaren Jugendlektüre« billige ich namentlich das, was er über »Bearbeitungen« berühmter Autoren sagt und beklagt. Wer ein hervorragendes Werk, dessen Benutzung und Verwertung durch die Jugend nur durch gewisse (z. B. in erotischer Beziehung anstößige) Stellen gehindert wird, durch Milderung dieser Stellen für die jungen Leser ermöglichen will*) [Fußnote: *) Das gilt z. B. von E. M. Arndts herrlichen »Märchen und Jugenderinnerungen.«], hat unbedingt recht, wenn er da oder dort schonend die Hand anlegt; es ist aber eine grobe Taktlosigkeit, wenn ein täppischer Schulmeister sich an Hebel, Andersen oder Grimm vergreift.

Die »orthodoxen Theologen aus vor- und nachmärzlicher Zeit als Jugendschriftsteller« sind dem in jeder Beziehung radikalen Verfasser ganz besonders verhaßt, und er übergießt hier den Katholiken Christoph von S c h m i d und den Protestanten W. O. von H o r n aus derselben Schale des Zorns. Allerdings leidet namentlich Chr. v. Schmid oft an großer Breite und (was der Verfasser nicht einmal hervorhebt) unleidlicher Häufung »schmückender Beiwörter«; hier könnte und müßte vieles gestrichen werden. Im großen und ganzen aber sind doch seine Erzählungen (die nur teilweise im Mittelalter spielen) eine gesunde Nahrung für die Jugend; von konfessioneller Polemik ist bei ihm auch nicht im mindesten die Rede. Aber diese Schriftsteller sind »fromm«, und das ist doch eigentlich der Grund, weshalb der Verfasser und die radikalen Elementarlehrer von ihnen nichts wissen wollen.

Noch viel schlimmer geht der Verfasser mit Gustav N i e r i t z und Franz H o f f m a n n ins Gericht, und hier und an anderen Orten kann ich ihm einen ernsten Vorwurf nicht ersparen: er schiebt denjenigen Schriftstellern, die er nicht



//83//

leiden mag, unter, daß sie ihren Standpunkt nur aus S p e k u l a t i o n vertreten. Bildet er sich im Ernst ein, daß Schriftsteller, die dem Lehrer- oder überhaupt dem Beamtenstande angehören, bei ihren vorgesetzten Behörden Förderung oder Begünstigung erfahren, wenn sie politisch oder religiös konservativ sind? In Preußen wenigstens geschieht es ganz gewiß nicht; das weiß niemand besser als ich. Jedenfalls hat aber der Konservative ebensogut wie der Liberale oder Radikale das Recht, daß man ihm eine ehrliche Überzeugung zutraue.

Ganz gewiß haben Nieritz und Hoffmann manche mittelmäßige Sachen geschrieben, und bei dem Letzteren ist oft genug der krankhafte Biedermannston und die schablonenmäßig durchgeführte Tendenz »Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch« geradezu anstößig. Manche ihrer Jugendschriften sind aber auch von bleibendem Werte, und daran wird auch der Verfasser nichts ändern. In seiner verbitterten Stimmung gefällt er sich darin, das eine oder andere Werk kritisch zu zerpflücken; wäre es nicht besser, er fragte (wie ich es als Rezensent grundsätzlich thue) zuerst: Was ist Gutes an dem Werke? Und dann erst: Was hätte der Schriftsteller besser machen können? Unter den »patriotischen Jugendschriften aus dem neuen Deutschen Reiche« gefallen dem Verfasser die Werke von Ferdinand S c h m i d t gar nicht. Ich muß ihm diesmal beipflichten; F. Schmidt ist wirklich ein dürftiger Vielschreiber, bei dem die unangenehm aufgetragene politische und konfessionelle Tendenz über seinen Mangel an poetischer Phantasie niemand täuschen kann. Seltsam genug: das Beste, was er geschrieben hat, seine Erzählung »Die goldene Insel der Internationalen« ist meines Wissens noch nie offiziell empfohlen worden. Ich würde sie unbedenklich in die Schullese-Bücher aufnehmen.

Von Oskar H ö c k e r (deren es übrigens zwei giebt) scheint der Verfasser durchaus nicht alles zu kennen; mit dem »Verreißen« zweier Bücher ist noch lange kein Urteil gegeben. Viel eher stimme ich ihm bei, wenn er über den dichterischen Wert der Sammlung von B a c h m a n n und S t e p h a n nicht hoch denkt. Nicht jeder, der eine fremde Sprache beherrscht, ist auch ein guter Übersetzer, und der ehrenwerte Stand der Volksschullehrer ist nicht eben reich an Dichtern.

Auf diese Weise behandelt der Verfasser noch eine geringe Anzahl von Schriftstellern, von denen mir H e y e r unbekannt ist; seltsamerweise geht er über die »Indianergeschichten in vornehmem Gewande« verhältnismäßig kurz hinweg. Aber es ist bemerkenswert, daß er sich wie bei T a n e r a so auch bei Hans von Z o b e l t i t z auf die (selbstverständlich höchst ungünstige) Besprechung je eines Buches beschränkt. Hat er denn von beiden nicht mehr gelesen? Jedenfalls schießt er mit seinem Endurteil »Die Indianergeschichten in vornehmem Gewande halte ich für erheblich schädlicher als die 25-Pfennig-Hefte« enorm übers Ziel hinaus.

Das Kapitel über die »Jugendschriftstellerinnen« ist auch ziemlich kurz. Bei der Abneigung des Verfassers gegen alles Romantische und Abenteu-



//84//

erliche (das aber doch nun einmal der Jugend ans Herz gewachsen ist) ist es begreiflich, daß er über die W ö r i s h ö f f e r äußerst feindselig aburteilt; aber auch sie hat »trotz alledem« vorzügliche Bücher geschrieben. Wunderbar ist es, daß sein Urteil über Johanna S p y r i verhältnismäßig milde ausfällt; ja, wenn sie nur nicht auch »fromm« wäre!

In seinem Schlußkapitel »Litterarisch wertvolle Lektüre für die Jugend«, dessen ganz unmöglicher Eingang lautet »Die spezifische dichterische Jugendschrift können wir aus Gründen der Kunst sowohl wie aus Gründen der Pädagogik nicht anerkennen«, giebt der Verfasser an, welche klassischen Werke er als Jugendlektüre gelten lassen will; ihre Z a h l schon ist so gering, daß sich damit die Sache zum voraus erledigt.

Sind nun die Schriftsteller, die der Verfasser in fast durchweg ablehnendem Sinne besprochen hat, und die von ihm besprochenen oder wenigstens erwähnten Werke das ganze Material, auf das er sein schroffes Urteil gründet? Wenn n e i n , so hätte er sie unbedingt wenigstens namhaft machen müssen; wenn j a , so muß ihm das Recht zu der apodiktischen Sicherheit seiner Richtersprüche kurzweg bestritten werden. Ich kenne mindestens das Zwanzigfache von dem, was er beibringt, aus eigener Lektüre; nie aber würde ich es wagen, so in einer Person als Ankläger und Richter aufzutreten. Wem erweist der Verfasser einen Dienst mit seiner Schroffheit? An seinem guten und edlen Willen zweifle ich keinen Augenblick; aber er hat gleich beim Beginn die triviale Wahrheit vergessen, daß, wer zuviel beweisen will, nichts beweist.

Noch eine Bemerkung zum Schlusse: es ist wirklich zu beklagen, daß die meisten Jugendschriften elend illustriert sind. Hätte der Verfasser das »Elend unserer Jugendschriften« h i e r a u f bezogen und beschränkt, dann hätte ich ihm unbedingt beistimmen müssen. Manche Verleger (wie z. B. Hirt in Leipzig und Velhagen & Klasing in Bielefeld) verdienen einen solchen Tadel allerdings nicht.

Berlin. L. Freytag.

Der Herausgeber erklärt sich mit den hier ausgesprochenen Ansichten vollkommen einverstanden und verweist auf seine Bemerkung zu dem Aufsatze: »Unsere Jugendlitteratur« Päd. Arch. 1897. S. 717ff.



Pädagogisches Archiv, Juli/August 1901, S. 568f.:


101. M a y , K a r l , Himmelsgedanken. Gedichte. Freiburg i. Br., 1901. Friedrich Ernst Fehsenfeld.


Wie jeder weiß und jeder vorurteilsfreie Mensch auch stets freudig anerkannt hat, ist Karl May ein Romanzier ersten Ranges, dem jung und alt mit gleicher Herzlichkeit zugethan sind und der seine Bedeutung behalten



//85//

wird, wenn man über die »Modernen« und »Naturalisten« längst zur Tagesordnung übergegangen ist; der seitens der verschämten oder nicht verschämten »Genossen« gegen ihn mit allen Mitteln der Verleumdung geführte Krieg hat ja auch seinen Grund nur in der Thatsache, daß Karl May sein Christentum nicht verleugnet, sondern es weniger im Worte als durch die T h a t predigt. Daß er nebenbei auch ein hervorragender Musiker ist, kann man nur dankbar anerkennen; durch das n e u e Werk beweist er (was er in seinen »Reiseerlebnissen« übrigens schon wiederholt bewiesen hat), daß er auch ein hervorragender L y r i k e r ist. Seine » H i m m e l s g e d a n k e n « werden schon deshalb dankbar aufgenommen werden, weil Karl May der anerkannte Dichter ist, auch von denen, die sonst der Lyrik grundsätzlich aus dem Wege gehen. Aber sie sind auch von hohem, bleibendem Werte. Ihre Tendenz verrät schon der Titel. Das Buch enthält (seltsamerweise auf ebensovielen Seiten, als das Jahr Tage zählt) eine große Zahl lyrischer Gedichte, deren jedem ein echter, origineller Weisheitsspruch vorangeht; jedes Gedicht ist sozusagen eine Hand, die den Leser seinem ewigen Ziele entgegenführen will, und jedes Gedicht redet eine ernste, aber auch ermutigende Sprache und hält sich völlig frei von theologischem Gezänke und jenem nur allzubekannten fromm sein sollenden Tone, der gutes meint und doch schadet, statt zu nützen. Der Dichter vermeidet auch (und wahrlich mit gutem Recht) jede konfessionelle Tendenz; er hat für a l l e Menschen geschrieben, die dessen bewußt sind, daß es ein ewiges Leben giebt, ernst und mild, sanft und erschütternd zugleich; und jeder, der überhaupt noch dem Gedanken an Gott und Ewigkeit zugänglich ist, wird das edel ausgestattete Buch nicht etwa auf den Salontisch legen, sondern es als einen Hausschatz sorgsam hegen und - seinen Freunden in die Hand geben.

Berlin. L. Freytag.


Pädagogisches Archiv, März 1903, S. 198-206:


4. Zur Jugendschriftenfrage.


Dem Herausgeber ist eine Schrift zugegangen » Z u r J u g e n d s c h r i f t e n f r a g e . Eine Sammlung von Aufsätzen und Kritiken. Mit dem Anhang: Empfehlenswerte Bücher für die Jugend mit charakterisierenden Anmerkungen. Herausgegeben von den Vereinigten Deutschen Prüfungs-Ausschüssen für Jugendschriften.« Leipzig, 1903, Verlag von Ernst Wunderlich.

Der Titel ist etwas weitschweifig, aber das ist Nebensache; es kommt darauf an, ob der Inhalt bleibenden Wert hat.

Das Werk ist sozusagen das Organ der (Volksschul-) Lehrerausschüsse, die seit reichlich zehn Jahren an der Arbeit sind, um dem »Elend unserer Jugendliteratur« ein Ende zu machen und der Jugend statt der alten Spreu goldenen Weizen zu bieten. Daß gerade die Volksschullehrer ein Recht darauf



//86//

haben, in dieser wichtigen Angelegenheit ein gewichtiges Wort mitzusprechen, versteht sich von selbst; sie sind auch in dieser Beziehung den wissenschaftlichen Lehrern durchaus gleichberechtigt, und wenn das stolze Gefühl, einmal als R i c h t e r auf der Sella curulis sitzen zu dürfen, mitunter zu Überschwänglichkeiten verleitet, so ist das leicht zu verzeihen.

Aber die Herren haben einen Fehler begangen: sie haben sich von vornherein auf den radikalen Standpunkt gestellt, daß eigentlich die ganze bisher vorhandene Jugendliteratur zu verwerfen sei. Von diesem Standpunkt herab hat Herr W o l g a s t , dessen Broschüre ich vor etwa 2 Jahren im P. A. eingehend besprach und der jetzt an der Spitze des ganzen Unternehmens steht, sich mit einer Schroffheit und Unbedingtheit über die Jugendliteratur ausgesprochen, die den Widerspruch lebhaft herausfordern mußte, und es ist sehr zu bedauern, daß gerade er als erster Vorsitzender eines Gerichtshofes dasteht, der seine Urteilssprüche mit reichlich viel Selbstzufriedenheit und apodiktischer Unfehlbarkeit verkünden zu wollen scheint. Solche Maßlosigkeiten finden ja in politischen Partei- und konfessionellen Hetzversammlungen ein dankbares Publikum; h i e r sind sie nicht am Platze, denn die Leute, die sie aussprechen, wissen und m ü s s e n wissen, daß sie nicht zu einer ungebildeten Menge reden.

Das hier vorliegende Heft enthält im I. Abschnitt 5 Aufsätze, von denen der 2. (von E. L i n d e in Gotha) »Wie führt man die Jugend vom stofflichen zum künstlerischen Genießen?« nach meiner Meinung der beste ist. Er weist auf mehrfache Mängel in der Benutzung der Schülerbibliotheken durch die Schüler hin, obwohl auch er nicht in der Lage ist, den Mängeln abzuhelfen. Als ich Knabe war, las ich Gedichte mit Vorliebe; ja, in unserm literarischen kleinen Gymnasiastenverein traten wir mit Vorliebe, teils produzierend teils reproduzierend, selber als angehende Dichter auf. Aber es ist eine bedauerliche Tatsache, daß die moderne Jugend der Poesie (nicht bloß der Lyrik) fast durchweg apathisch gegenübersteht; es ist bezeichnend, daß fast kein Obersekundaner seine Nibelungen behält, sondern sie aufs schleunigste verkauft, sodaß in mehreren Jahren kaum e i n neues Exemplar gekauft wird. Ein zweiter, schlimmerer Übelstand ist der, daß die ungeheuere Mehrzahl der Schüler nur s t o f f l i c h e Unterhaltung sucht, daher über alle Schilderungen von Landschaften, Landen und Leuten hastig hinwegsieht und f a s t n i e e i n e i n m a l » v e r s c h l u n g e n e s « B u c h z u m z w e i t e n m a l e l i e s t . Dieser letztere Übelstand, auf den auch Herr L. hinweist, ist vielleicht der schlimmste von allen, denn er verrät bei den jugendlichen Lesern eine ernsthafte Krankheit des Geistes und noch mehr des Gemütes. Aber das ist ein Grundübel unserer von Genuß zu Genuß jagenden Zeit, an dessen Vorhandensein die alten Jugendschriftsteller ebenso unschuldig sind als die neueren. Wenn die Eltern ihre Kinder mit vorzeitigen häuslichen Vergnügungen krankfüttern und die Schule immer neue Unterrichtsgegenstände einführt, so wird das arme junge Gehirn vorderzeit gelähmt, und es ist nur natürlich, daß die Jugend nach stofflich an- und auf-



//87//

regender Lektüre greift, aber auch rasch ermüdet und nur sehr selten einem Lieblingsschriftsteller treu bleibt.

Von dieser leidigen Regel ist e i n Schriftsteller ausgenommen, und das ist K a r l M a y , über den im 4. Aufsatze ein Herr E. W e b e r - München mit unfehlbarer Majestät den Stab bricht; er widmet ihm in seiner »kritischen Plauderei« volle 1 1/2 Druckbogen.

Die erste von Karl May verfaßte Erzählung »Der Sohn des Bärenjägers«, die ich zu lesen bekam und die nach meiner Meinung seinen Ruhm begründet hat, erschien im ersten Jahrgange der bestens bekannten Jugendzeitschrift »Der gute Kamerad« 1887. Mir fiel die Erzählung sofort auf, und nicht bloß mir und den jugendlichen Lesern der von mir verwalteten Schülerbibliothek, sondern vielen erwachsenen und durchweg hochgebildeten Lesern reiferen und reifsten Alters. Es war eine echte Indiandergeschichte, und ihr Held »Old Shatterhand«, den man hernach im »Winnetou« als den Verfasser selber kennen lernte, vertrat allerdings eine »Tendenz«, wie sie die Entdecker unserer »verelendeten Jugendliteratur« grundsätzlich verwerfen; aber es war eine doppelte, herrliche Tendenz: die volle Menschenliebe ohne Unterschied der Nation und Religion und zweitens die bis zur äußersten Konsequenz durchgeführte echt christliche F e i n d e s l i e b e . Und diese Tendenz hat Karl May in allen seinen Reiseerzählungen oder Reiseromanen grundsätzlich bewahrt. Wie oft habe ich mit Freunden, Bekannten (auch Schülern) darüber lebhaft disputiert, ob er, der Held, nicht mit seiner Feindesliebe selbst bis über das äußerste Maß hinausgegangen sei! Niemand, auch der freidenkende Naturforscher oder Arzt oder Mathematiker nicht, stieß sich daran, daß man in dem Verfasser einen Katholiken erkannte, allerdings einen zwar gläubigen, aber nicht im geringsten intoleranten. Allerdings hat Karl May, ohne es zu wissen, seiner von ihm so edel vertretenen Kirche insofern einen großen Dienst erwiesen, als er manchem fanatisch erzogenen Protestanten praktisch dartat, daß man ein Katholik und doch ein edler Mensch sein kann. Über diese Tatsache kann sich ein vernünftiger Mensch nur freuen.

Von Karl May kann man beinahe dasselbe sagen wie von Lord Byron: sie wurden übernacht berühmt. Aber beide haben auch an dieser schnellen Berühmtheit schwer und bitter tragen müssen. Bei Byron kann man das begreifen, denn er war in jeder Beziehung ein animal disputax und m u ß t e sich Feindschaften zuziehen; weshalb Karl May jetzt einerseits der beliebteste, andererseits der bestgehaßte Schriftsteller ist, kann man inbezug auf das letztere nicht begreifen. Hat er auf moderne Art, die Ellenbogen ausstoßend, andere Leute brutal beiseite gestoßen? Hat er irgendwen geschädigt, oder hat er jemand betrogen oder mit jemand Streit gesucht? Nichts von dem allen: er muß einfach dafür büßen, daß er zu schnell ein berühmter Mann geworden ist.

Vor einigen Jahren schrieb mir May, es fände eine weitausgreifende Hetze gegen ihn statt; trotz meiner Sympathie für ihn hielt ich das für den Aus-



//88//

fluß überempfindlicher Autoreneitelkeit, die erfahrungsmäßig gerade bei plötzlich zum Ruhm Emporgehobenen oft fast krankhaft aufzutreten pflegt. Aber ich wurde doch stutzig, als ich alle Augenblicke von Schülern und Freunden über May befragt wurde. Alle möglichen bösen Gerüchte gingen über ihn: die häufigsten Anspielungen erfolgten inbezug auf die angebliche Tatsache, May befände sich fast immer im Irrenhause und habe seine Reisen in Wirklichkeit nie gemacht. Aus bester eigener Kenntnis konnte ich die Fragesteller stets versichern, daß das eine wie das andere eine Lüge sei, und zwar eine Lüge von verblüffender Dreistigkeit.

Seit zwei Jahren findet gegen May von den verschiedensten Seiten her, die vielleicht mit einander in Verbindung stehen, ein völliges Kesseltreiben statt. Die Mitwirker sind (von den Umsturzmännern abgesehen) einerseits solche, die auf dem äußersten Flügel des Radikalismus stehen, und andererseits diejenigen, denen die Störung des konfessionellen Friedens eine Lebensaufgabe ist. Man wird es begreifen und billigen, daß ich mich hierüber nicht weiter äußere; aber ich betone es nochmals: May ist eine so i r e n i s c h e Natur, daß die Anwürfe gegen ihn für mich schlechterdings unverständlich sind. Allerdings ist es wahr, daß er in seinen Werken durch die bloße Tatsache seiner Angehörigkeit zur katholischen Kirche der letzteren, ohne ein Bewußtsein davon zu haben, einen großen Dienst erwiesen hat. Wie oft habe ich von Schülern und Erwachsenen gehört: »O, May ist Katholik?! Wie kann jemand, der, so wie er die L i e b e predigt, ein Katholik sein?« Daß jeder gläubige Katholik ein Verbrecher ist, wird ja von bekannter Seite her Tag für Tag urbi et orbi gepredigt.

Um so unbegreiflicher ist es, daß seit reichlich einem Jahre auch von katholischer Seite aus der Feldzug gegen May aufs lebhafteste geführt wird; die ß??? a?a??? [##Tüchtigen im Rufen (Zitat aus Homers Ilias)] in diesem höchst bedauerlichen Kampfe befinden sich in Köln, und der Grund, der ursächliche Grund, s c h e i n t ein ganz gewöhnlicher Honorarstreit zu sein. Eine wenig geschickte Broschüre, die von einem wohlmeinenden, aber unvorsichtigen Mayverehrer herrührt, hat die Sache noch verschlimmert; jedenfalls ist die ganze unerquickliche Geschichte schon aus dem Grunde lebhaft zu bedauern, weil der tertius gaudens doch recht bedenklicher Natur ist.

Was man May vorwirft, ist eigentlich dies: er schreibt zu abenteuerlich und reizt unreife Leser dazu an, durchzubrennen und Abenteuer im »Wild West« aufzusuchen. Ja, da ist es mir einmal beinahe ähnlich ergangen. Zwei Quintaner, denen ich Geographiestunden gab, brannten nach der Schweiz durch, wurden natürlich abgefaßt und zu den väterlichen Penaten zurückgeführt; da zeigte es sich, daß i c h eigentlich der Schuldige war, denn die Sünder bekannten: »Professor Freytag hat uns so genau erzählt, wie man in die Schweiz kommen könne und wie schön es da sei, daß wir gerne hinwollten.« Und weiter befragt, wie sie sich dort ernähren wollten, gaben sie zur Antwort: »Wir wollten Frühstück austragen«; sie fügten allerdings ehrlich hinzu, daß ich ihnen namentlich das letztere n i c h t angeraten hätte. Selbst



//89//

dem unliebenswürdigsten Bureaukraten würde es doch nicht einfallen, deshalb den Lehrern die Nichterwähnung der Schweiz usw. usw. anbefehlen zu wollen; ebensowenig kann Karl May dafür, wenn schlechtbeaufsichtigte Schüler durch die Lektüre seiner Bücher auf den Gedanken kommen, nach dem wilden Westen oder den böhmischen Wäldern durchzubrennen.

Und nun zu Herrn Ernst W e b e r , den eine einzige Begegnung mit Karl May in München aus einem Bewunderer zu einem grimmigsten Feinde gemacht hat. Er erzählt, wie er im Hotel Trefler den von einer großen Schar junger und erwachsener Verehrer umdrängten Dichter kennen lernt, wie er ihn an dem Tage auch abends »beim Biere« sieht und hört und - gründlich enttäuscht ist. Herr Ernst Weber muß noch sehr jung sein und noch nie ein Bild von Karl May gesehen haben; ich will das zu seiner Entschuldigung annehmen, denn sonst wäre die von ihm ganz bestimmt betonte Tatsache unbegreiflich, daß er, »immer noch ein Bewunderer« Mays bis dahin, von dem Tage ab nicht Worte genug finden kann, um seinen Abscheu gegen ihn auszudrücken. Einen so unvermittelten Sprung von Liebe zu Haß pflegt man sonst reifen Männern nicht zuzutrauen. Die persönliche Enttäuschung an sich ist ja begreiflich; es ist etwas Gewöhnliches, daß derjenige, der den von ihm bis dahin geradezu angebeteten Dichter oder Künstler zum erstenmal persönlich kennen lernt, aus allen Himmeln stürzt; sein Ideal stimmt eben nicht zur Wirklichkeit. Hier hätte sich Herr E. W., der doch ganz gewiß manches über May gehört hatte, sagen müssen, daß ein nervös abgehetzter Dichter, der zahllosen Bewunderern vom ABCSchützen bis zum hohen Beamten Liebenswürdigkeiten sagen muß, da nicht sein echtes Bild gibt; denkt er nicht daran, wie Schiller und Goethe sich bei ihrem ersten Zusammentreffen abstießen? Ob Karl May nicht besser täte, solchen Massenhuldigungen grundsätzlich aus dem Wege zu gehen, ist eine andere Frage; daß er nicht die Energie hat, es zu tun, bedaure ich um seinetwillen.

Ist aber Herr E. W. n i c h t ein junger Mensch, der heute den Götzen zerschlägt, den er gestern angebetet hat, so muß die Art seiner Darstellung füglich in Erstaunen setzen. Was soll man sagen, wenn er selber erzählt: »Ich aber ging, ärgerlich über den Mann, den ich nun endlich persönlich kennen gelernt hatte, und noch ärgerlicher über mich selbst, den die Mayschen Schriften so lange fesseln konnten. Und ich begann ernstlicher über den S c h r i f t s t e l l e r nachzudenken, nachdem ich von dem M e n s c h e n , den ich so lange bewundert hatte, so bitter enttäuscht gehen mußte.« Und Herr E. W. hat die unglaubliche Naivetät, das seinen Lesern ganz offen zu erzählen und ihnen zuzumuten, daß sie seinen weiteren Ausführungen glauben sollen. Er erzählt weiter, wie er nun den »Old Surehand« und »Satan und Ischariot« wieder liest. »Aber sonderbar, die alte Begeisterung, die atemlose Spannung wollte nimmer kommen. War ich plötzlich ein alter Mann geworden? Kaum ...... Mein literarischer Geschmack war ein anderer geworden.« Und nun legt er los - es ist dieselbe Melodie, die jetzt von allen Seiten gespielt wird, bald feiner bald gröber; aber wenn es einerseits heißt,



//90//

daß May auch »von ernst zu nehmenden Männern« gelesen wird, so heißt es hernach mit dem Pathos, das durch seine Übertreibung zum Lächeln bringen muß: »Die Reiseromane Karl Mays sind keine wahren Dichtungen .... sie befriedigen nur in roher Weise die ungesunde und ungeordnete Stoffgier jugendlicher Leser .... vergiften den literarisch-ästhetischen Geschmack .... ertöten die Fähigkeit, mit Ruhe und Sammlung an ein dichterisches Kunstwerk heranzugehen .... verhindern also jeden reinen Kunstgenuß .... aus allen diesen Gründen wirken Karl Mays Schriften auch direkt unmoralisch und unsittlich, denn sie trüben im unverdorbenen Kinde das Gefühl für Wahrhaftigkeit etc. etc.« Einen wenig erfreulichen Eindruck macht es übrigens, daß Herr E. W. zweimal auf den pekuniären Gewinn hinweist, den Karl May aus seinen Werken gezogen habe. Ob May »ein Krösus« geworden ist oder nicht, kann Herrn E. W. und mir in gleicher Weise gleichgiltig sein. Daß May »schreibt«, um aus seinen Werken auch materiellen Gewinn zu ziehen, ist doch selbstverständlich; was sollen also solche übel angebrachten Hinweise? In welche »sittliche Entrüstung« würde Herr E. W. geraten, wenn man seinen Anwürfen gegen May die Mißgunst als Beweggrund unterschieben wollte? Nun, also!

Die plötzliche Feindschaft der Volksschullehrervereine gegen Karl May ist höchst gefährlich, denn »sie machen einen furchtbaren Haufen aus«, und ihr Korpsgeist ist allgemein rühmlichst bekannt. Herr Wolgast hatte in seiner früher erwähnten Schrift das rechte Wort über Karl May noch nicht gefunden; aber jetzt ist der Dichter auf den Index gesetzt, und das Verdammungsurteil hallt von allen Seiten wieder, und Herr Ernst Weber hat die Melodie angegeben, die ganz bestimmt in allen den »Jugendschriften-Ausschüssen« zugänglichen Zeitungen angestimmt wird. So verkündigt der »Braunschweiger Jugendschriften-Ausschuß« urbi et orbi: »Hinweg mit den Machwerken jener Auch-Jugendschriftsteller Christoph S c h m i d , H o f f m a n n , W. O. von H o r n , Karl M a y und Genossen ..... Mögen sie früher ihre Stelle ausgefüllt haben, warum sollen wir unserer Jugend, wenn wir dazu imstande sind - u n d w i r s i n d ' s (!) - nichts besseres bieten?« Bei dieser Gelegenheit möchte ich erwähnen, daß ich den guten alten Christoph v. S c h m i d selber besitze und öfter mit Vergnügen gelesen habe. Es ist wahr, er ist ein bißchen altväterisch im Ausdrucke, und namentlich die unnützen epitheta ornantia liebt er; das sind aber Kleinigkeiten, die keinen vernünftigen Menschen stören können. Immerhin empfehle ich sie dem Verleger L. F i n s t e r l i n - München, der sie in 18 Bändchen (kart. zu je 1 Mk.) herausgegeben hat, zur Beachtung für eine neue, zeitgemäß illustrierte Ausgabe. Es versteht sich von selbst, daß sich unter vielen Früchten auch einmal eine weniger schmackhafte findet; die dramatischen Stücke sind für unseren Geschmack einigermaßen veraltet, aber nicht etwa a n s i c h wertlos. Ich habe sie a l l e öfters gelesen und nehme sie immer wieder von Zeit zu Zeit mit Vergnügen vor, und je häufiger ich sie lese, um so unbegreiflicher sind mir die gegen den alten treuherzigen Erzähler erhobenen



//91//

Vorwürfe. Daß er das mittelalterliche Rittertum (vulgo Junkertum) verherrlicht habe, ist geradezu eine Unwahrheit; nur wenige seiner Erzählungen spielen überhaupt im Mittelalter, und wie d. V. über das ausgeartete Rittertum denkt, erhellt klar genug z. B. aus der kleinen Geschichte »Das alte Raubschloß«. Die Tendenz, Eltern und Kinder wohltätig zu beeinflussen, ist nur in e i n e r Geschichte scharf auf die Spitze getrieben »Der gute Fridolin und der böse Dietrich«, aber auch mit Fug und Recht, denn hier verfolgt d. V. die Resultate einer guten und einer leichtfertigen Erziehung bis in ihre letzten Konsequenzen. Die meisten seiner Erzählungen, deren Helden fast durchweg den sogenannten »kleinen Leuten«, den Handwerkern, Bauern und Arbeitern angehören, sind vorzüglich und ohne jede Erhitzung der jugendlichen Phantasie geschrieben; einige, wie z. B. »Das Blumenkörbchen«, »Heinrich von Eichenfels«, »Rosa von Tannenburg«, »Die Feuersbrunst«, »Ludwig der kleine Auswanderer«, »Die zwei Brüder«, sind kleine Meisterwerke in ihrer Art und müssen dem unverdorbenen Geschmack von jung und alt zusagen. Die Feindseligkeit der radikalen Volksschullehrer gegen Christoph v. Schmid kann ihren Grund unmöglich in dem katholischen Bekenntnis des ehrwürdigen alten Herrn haben, denn er sagt kein Wort, das Protestanten verletzen könnte, ist vielmehr von einer fast kindlichen Milde; auch die Lehrer spielen bei ihm eine in jeder Beziehung würdige Rolle. Seine Tendenz kann man in den Spruch zusammenfassen: »Fürchtet Gott, habt die Brüder lieb, ehret den König.« Wer diese dreifache Tendenz mit feindseligen Augen ansieht, mag über den guten alten bayrischen Volkserzähler die Achseln zucken; wer es mit unserm Volke gut meint und unsere christliche deutsche Jugend vor dem Eindringen des Umsturzgeistes behüten möchte, wird mit mir der Meinung sein, daß es geradezu eine Sünde wäre, den alten Schmid zum alten Eisen zu werfen. Vielleicht rührt das Anathem der Herren Wolgast und Genossen daher, daß bei Schmid der Lehrer, der Clericus minor, als Freund, aber im Sinne der damaligen Zeit auch als Untergebener des Clericus maior, des Pfarrers auftritt; auf d i e s e n Grund stolz zu sein hätten die Herren allerdings keine Veranlassung.

Und wenn wir uns den alten F r a n z H o f f m a n n näher betrachten, so werden wir bei u n b e f a n g e n e m Blicke einen harmlosen, wohltätig wirkenden Erzähler vor uns sehen; wenn man ihn jetzt schlimmer behandelt als einen zerschlagenen alten Topf, so tut es mir geradezu wehe. Ich nehme mir die beiden ersten besten Erzählungen zur Hand: T r e u e K i n d e s l i e b e und D i e m i t T r ä n e n s ä e n , w e r d e n m i t F r e u d e n e r n t e n (Gütersloh, C. B e r t e l s m a n n , Nr. 35 und 36). Die erste schildert die Schicksale einer griechischen Familie auf Kreta, ihre Standhaftigkeit und ihre schließlich auch vom Feinde anerkannte und belohnte Redlichkeit; die zweite müßte gerade einem Volksschullehrer höchst sympathisch sein, denn der Held ist ein wackerer Dorflehrer, und sein Vorgesetzter, der Pastor, spielt durchaus keine erfreuliche Rolle. Was kann ein vernünftiger Mensch gegen solche Erzählungen einzuwenden haben? Ich weiß es wohl: schon in meiner Ju-



//92//

gend waren die »Philosophen« darüber unzufrieden, daß es bei Hoffmann schließlich heißt: »Ende gut, alles gut.« Ist die Jugend dazu da, daß man ihr die »Moderne« mit ihrer abschreckenden Häßlichkeit malt? Daß es nicht immer im Leben so geht, wie es gehen m ü ß t e , und daß der Denar des wohlwollenden Weinbergbesitzers durchaus nicht immer in diesem Leben bezahlt wird, merkt die Jugend schon frühe genug: aber ihre Erholungslektüre soll ihr ein zwar ernstes, aber doch wohltuendes Bild bieten, und das tut Franz H o f f m a n n . Daß er den Biedermannston oft übertreibt und manche seiner Erzählungen minderwertig sind, ist kein Vorwurf; es ist Autoren von unvergleichlich höherem Range nicht anders ergangen.

Es läßt sich nicht leugnen, daß Gustav N i e r i t z höher steht. Wenn es bei Horaz heißt A u t p r o d e s s e v o l u n t a u t d e l e c t a r e p o e t a e [die Dichter wollen entweder nützen oder erfreuen], so legt Hoffmann den Nachdruck auf das d e l e c t a r e , Nieritz auf das p r o d e s s e . Er ist weit davon entfernt, sich mit der angenehm moralisierenden Erzählung zu begnügen; er ist ein Volksschriftsteller von großem, oft scharfem Ernste, und die Antipathie gegen Krieg und Kriegsruhm könnte man seine Spezialität nennen. Nicht bloß den Niedern, sondern auch den Vornehmen gibt er oft bittere, aber heilsame Pillen zu schlucken, und bei seinem festen, echt christlichen Rechtssinn einerseits und seiner großen Kenntnis des niederen, namentlich des sächsischen Volkstums anderseits tut er als Erzähler meist gute, oft glänzende Griffe, sehr selten aber Mißgriffe. Wenn es sich bei ihm um geschichtliche Motive handelt, so irrt er mitunter in Kleinigkeiten, die leicht zu verbessern wären. Ich nehme hier vier seiner Erzählungen zur Hand: D i e H u n n e n s c h l a c h t , P r i n z e s s i n u n d D i e n e r i n , D a s v i e r t e G e b o t und D i e G r o ß m u t t e r (ebenfalls im Verlage von C. B e r t e l s m a n n in Gütersloh). Die erste entwirft ein lebhaftes, ergreifendes Bild aus dem Jahre 933, als der große Sachse Heinrich die Magyaren bei Riade schlug; nicht bloß das christliche Schwert ist siegreich, sondern mehr noch die christliche Liebe. Die zweite spielt zur Zeit und am Hofe Friedrich Wilhelms I; der Konflikt zwischen Kindespflicht und Herrenpflicht kommt zu wirksamem Ausdrucke. In den Erzählungen 3 und 4 ist Nieritz in seinem Elemente: das armselige Volksleben im Erzgebirge mit seinen Gefahren und Versuchungen, vielen Leiden und geringen Freuden schildert er mit ergreifender Einfachheit, und man möchte fast sagen, daß ihm die weiblichen Charaktere mit ihrer passiven Kraft noch besser gelingen als die männlichen. In der vierten Erzählung wird die Art und Weise, in welcher sich der harte, starre, hochmütige Sinn der blinden Patrizierin zu dankbarer Weichheit umformt, geradezu ergreifend dargestellt. Was wollen denn die selbsternannten modernen kritischen Oberrichter? Mag meinetwegen die Zeit kommen, in welcher der gutherzige Franz Hoffmann durch größere abgelöst wird (obwohl er niemals Schaden angerichtet, wohl aber manche frohe Stunde bereitet hat): Christoph v. S c h m i d und Gustav N i e r i t z sollen die Herren uns unangetastet lassen!

»Karl May und Genossen« hieß es so eben, und so finden wir denn in der Schrift »Zur Jugendschriftenfrage« eine »Auswahl von Kritiken« über alle



//93//

möglichen Bücher. Die Kritiker sind nirgends genannt; aber es ist bezeichnend, daß zwar als absolut klassisch anerkannte Sachen, wie Gustav Freytags »Journalisten« oder W. Scotts »Quentin Durward« passieren dürfen, daß aber die gegenwärtig beliebtesten Jugendbücher grundsätzlich »verrissen« werden, ganz nach der von Herrn Wolgast angegebenen Melodie. T a n e r a (»Der Freiwillige des Iltis«), H i l t l , (»Der alte Derfflinger und sein Dragoner«), B r a n d s t ä d t e r , (»Hindurch zum Ziel«): das sind drei allgemein anerkannte und mit vollem Recht beliebte Autoren; aber vor dem Tribunal der Herren Wolgast und Weber finden sie keine Gnade. Bei der Beurteilung des prächtigen Buches von Hiltl ist es bezeichnend, daß die spaßhaft karikierte Darstellung eines aufgeblasenen Volksschullehrers den Zorn des Kritikers ganz besonders in Flammen gesetzt hat. Du lieber Himmel! Wie oft werden nicht bloß in den »Fliegenden Blättern« sondern auch in ernsthaft zu nehmenden Büchern die wissenschaftlichen Lehrer unter Umständen scharf herangenommen, und welchem vernünftigen Menschen fällt es da ein, die Fassung zu verlieren!

Und nun schließlich alles in allem: die wissenschaftlichen Lehrer können sich nur freuen, wenn ihnen die Volksschullehrer zu Nutz und Frommen der Jugendlektüre ihre Hilfe und ihren brüderlichen Rat leihen. Ich meine es ernst: Achtung vor dem redlichen Streben und dem guten, treuen Willen! Aber es ist auch nicht zu leugnen, daß neue Besen oft zu gut und zu scharf kehren und daß es nicht zweckmäßig ist, grundsätzlich zu allem N e i n zu sagen und die Miene anzunehmen, als wären eben nur die »Ausschüsse« der Volksschullehrer die Retter der Jugend aus dem Abgrund eines unsäglichen Elends.

Berlin. L. Freytag.


Pädagogisches Archiv, Juli/August 1903, S. 527:


150. M a y , K a r l . Im Reiche des Silbernen Löwen. Band III. Freiburg i. Br., Friedrich Ernst Fehsenfeld.


Nach einer langen, viel zu langen Pause hat Karl May den jetzt vorliegenden 28. Band seiner »gesammelten Reiseerzählungen« erscheinen lassen; es ist der dritte, aber offenbar nicht der letzte Band seines neuesten Werkes, und jeder seiner Verehrer wird mit uns hoffen, daß Fortsetzung und Schluß jetzt schnell auf einander folgen werden. Eine eingehendere Würdigung des »Silbernen Löwen« behalte ich mir für den Abschluß vor; nur soviel möchte ich hier betonen, daß die seit kurzer Zeit gegen den Dichter von den verschiedensten Seiten betriebene Polemik ihm in den Augen seiner alten Freunde, namentlich der Jugend, absolut nicht geschadet hat.

Daß der vierte, der Schlußband, immer noch auf sich warten läßt, ist nicht bloß im Interesse der Leser zu bedauern; bei dem »Old Surehand« hatte ei-



//94//

ne jahrelange Pause zwischen dem 2. und 3. Bande auch schon unliebsames Aufsehen gemacht. Aus dieser Tatsache mögen jüngere Schriftsteller die Lehre ziehen, erst dann ein Werk in den Druck zu geben, wenn es völlig abgeschlossen vorliegt.

Berlin. L. Freytag.


Pädagogisches Archiv, Oktober 1903, S. 646:


192. M a y , K a r l . Erzgebirgische Dorfgeschichten. Band I. Dresden-Niedersedlitz, Belletristischer Verlag.


Dies neue Werk ist der erste Band von Karl Mays neuaufgelegten Erstlingswerken, die unbegreiflicherweise in Kürschners sonst so sorgfältigem Literaturkalender nicht erwähnt sind; das kann wohl nur einer Vergeßlichkeit des vielgereisten Dichters zur Last gelegt werden. Sind aber die ferneren Bände der »Erstlingswerke« von dem Werte des hier vorliegenden, dann ist es nur zu beklagen, daß Karl May nicht früher zur Wiederherausgabe geschritten ist; daß sie nicht früher berühmt geworden sind, wird niemand wundern, der die oft unbegreiflichen Schicksale der Literatur kennt.

Der Dichter bietet hier 6 prachtvolle Erzgebirgsgeschichten: »Sonnenscheinchen«, »Des Kindes Ruf«, »Der Einsiedel«, »Der Dukatenhof«, »Vergeltung« und »Das Geldmännle«, welches der Autor mit gutem Recht besonders hochhält; Mays tiefsinniger Ernst, sein warmes Naturgefühl und seine liebevolle Kraft in der Durchführung der Charaktere feiern hier einen Triumph, der nach meiner festen Überzeugung ein dauernder sein wird. Das gut ausgestattete Buch ist eine ebenso vornehme wie anmutende Lektüre für alle Stände ohne Unterschied des Geschlechtes, des Alters und der Konfession. Hoffentlich hat dies Werk mehr Glück als der »Silberne Löwe«, der jetzt endlich fertig werden wird!

Berlin. L. Freytag.


Pädagogisches Archiv, Dezember 1903, S. 787:


260. M a y , K a r l . Im Reiche des silbernen Löwen. Band IV. Freiburg i. Br., Fr. E. Fehsenfeld. 3 Mk., geb. 4 Mk.


Nach einer fast dreijährigen Pause ist endlich der vierte Band des »Silbernen Löwen«, auf den die alten und jungen Verehrer des Dichters allzulange haben warten müssen, so zeitig erschienen, daß er noch auf den Weihnachtstisch gelegt werden kann. Ich behalte mir vor, auf das g a n z e Werk zurückzukommen; vorläufig will ich nur betonen, daß das ungewöhnliche Erzählertalent des Dichters keine Abnahme zeigt, wenn auch die Eigenart



//95//

seiner geist- und gemütvollen Reflexion in seinen beiden letzten Werken weit schärfer in den Vordergrund tritt als bei seinen früheren.

Berlin. L. Freytag.



Pädagogisches Archiv, November 1904, S. 682:


183. M a y , K a r l . Und Friede auf Erden! Freiburg i. Br., Fr. Ernst Fehsenfeld.


Wer in u n s e r e r Zeit so viele Feinde hat, wie Karl May, muß ein sehr guter Mensch sein. Das klingt paradox, ist es aber keineswegs, denn das feierliche Wort der Liebe und der echten Duldsamkeit, auch gegen Nichtchristen und Heiden, auch gegen Nationen, die wirklich oder angeblich tief unter uns stehen, muß nicht bloß den Umstürzern und ihren Mitläufern aus dem Wolgastschen und dem »modernen« Heere, sondern auch denen, die sich die nationale und konfessionelle Verhetzung zur Lebensaufgabe gemacht haben, grell in die Ohren klingen. Dieser 30. Band seiner Reiseromane erschien in einer bekannten Zeitschrift vor etwa 4 Jahren als unfertiger Torso und liegt jetzt als fertiges Kunstwerk vor, welches a u c h und n a m e n t l i c h unserer reiferen Jugend unbedingt in die Hand gegeben werden sollte: er bildet ein ernsthaftes Gegengewicht gegen alles N i e d r i g e .

Daß einem vielgereisten Autor einzelne Seltsamkeiten im Ausdruck und auch einzelne stilistische Eigentümlichkeiten mit unterlaufen, hat nichts zu bedeuten. Seltsam ist z. B. die Verbindung von »und aber« und »wegen« c. Dat. [mit dem Dativ]; ebenso die mißverständliche Hinweisung darauf, daß zwei Engländer sich nicht mit »Thou« anreden. Der verehrte Autor weiß ja so gut wie ich, daß das (abgesehen von der Quäkersekte) im modernen Umgangsenglisch überhaupt unmöglich ist. Solche kleine Unebenheiten sind aber nichts anderes als »mouches« [kleine Flecken] in einem edlen Gesichte.

Eins ist wohl freilich sicher: dieses neue Buch wird dem Dichter wieder neue Angriffe zuziehn. Sie werden ihn kalt lassen.

Berlin. L. Freytag.


184. D i t t r i c h , M a x . Karl May und seine Schriften. Eine literarisch-psychologische Studie für Mayfreunde und Mayfeinde. Mit 2 Lichtdruckbildern. Dresden, 1904. C. Weiske (Gg. Schmidt).


Vor einigen Jahren erschien eine gutgemeinte, aber zum Teil verfehlte Schutzschrift für Karl May, der es ebenso ging, wie bei gewissen Beleidigungsprozessen: der Verfasser »fiel herein«, weil er nicht a l l e s beweisen konnte. Dittrich wird nicht angegriffen werden können, denn er gibt sich



//96//

keine »juristischen« Blößen. D e s h a l b schon dürfte seine frisch und kräftig durchgeführte Apologie Erfolg haben in ihrem ganz natürlichen Gedankengang: May und ich; Mays Weg: Woher? Wohin? Mays Werke und Wirken; Die Maygemeinde; Mays Verfehlungen und seine Widersacher; Schlußwort.

Für jeden unbefangenen Deutschen hätte es dieser Schrift nicht bedurft; die Feinde Mays zu bekehren wird sie nicht imstande sein, denn eben die p l ö t z l i c h e Feindschaft gegen den Dichter ist derart, daß man ihre Ursachen heutzutage nicht klarlegen d a r f , ohne sich Prozessen auszusetzen. Aus dieser gebotenen Vorsicht erklären sich auch einige L ü c k e n in der Beweisführung, die objektiv zu bedauern, aber subjektiv leicht zu erklären sind. Das Fazit ist jedenfalls: Karl Mays Ruhm wird immer noch steigen, wenn seine Feinde längst vergessen sind, und vor allem die deutsche Jugend wird sich ihren Liebling n i e nehmen lassen.

Wäre ich der Verfasser dieser Schrift, so hätte ich einiges anders gesagt und wäre ich auf manches schärfer eingegangen. Aber auch so, wie sie ist, verdient sie die Beachtung aller wohlgesinnten deutschen Leser.

Berlin. L. Freytag.


Pädagogisches Archiv, April 1905, S. 253:


7.

Was im Volke gelesen wird. Über die relative Beliebtheit der noch heute gelesenen Autoren belletristischer Werke seitens eines größeren Lesepublikums unterrichtet eine Zusammenstellung im 8. Jahresbericht der Bibliothek der Pestalozzi-Gesellschaft in Zürich, der eine Ausgabe von rund 83 000 Bänden vorwiegend belletristischen Inhalts konstatiert. Die Reihenfolge der gelesensten Autoren nach ihrer Beliebtheit ist die folgende: Spyri, Gerstäcker, Verne, Heimburg, Ganghofer, G. Freytag, Rosegger, Ohnet, Ebers, Marlitt, Auerbach, Dumas, Stein, Werner, Spielhagen, G. Keller, K. May, K. F. Meyer, Cooper, Hackländer, Joachim, Ebner-Eschenbach, Gotthelf, Marryat, Twain, Fontane, Bonnet, Georgy, Fr. Hoffmann, Sienkiewicz, Daudet, Zahn, Wildermuth, Scott, V. Hugo, G. Sand, Boy-Ed, Heer, Hübener, Byr, Polenz, Rothenburg, Eschstruth, Böhlau, Wachenhusen, Jansen, Greville, Wilbrandt, Anzengruber, Eckstein, Schücking, Glaubrecht, Lewald, Dahn, Zschokke, Malot, Hauff.

(Ev. Volksschule Nr. 14.)



Pädagogisches Archiv, Juli/August 1905, S. 484-487:


293. E l l e n d t , G., Prof. Dr., Direktor des Königl. Friedrichs-Kollegium in Königsberg i. Pr. Katalog für die Schülerbibliotheken höherer Lehranstal-



//97//

ten, nach Stufen und nach Wissenschaften geordnet. 4. neu bearbeitete und sehr vermehrte Auflage. Halle, 1905, Waisenhaus.


Ein Katalog dieser Art kann viel Gutes stiften, denn es gibt sehr viele, sonst höchst gediegene Kollegen, denen die Jugendliteratur wenig vertraut ist und die doch in die Lage kommen, für eigene oder fremde Kinder solche Bücher anzuschaffen oder gar die Verwaltung einer Schülerbibliothek zu übernehmen. Wer aber einen solchen Katalog herausgibt, übernimmt eine große Verantwortlichkeit, denn er soll für das, was er empfiehlt oder verwirft, mit seinem guten Namen einstehen, und er wird da nicht selten in eine schwierige Lage kommen. Ich entsinne mich, einmal ein Buch zur Besprechung erhalten zu haben, das mir absolut mißfiel; aber aus Furcht, dem mir direkt unsympathischen Verfasser unrecht zu tun, schrieb ich drei oder vier Rezensionen hintereinander und verwarf sie endlich alle, um anderen Berufenen das Urteil zu überlassen. Man mag dies Verfahren als pedantisch mißbilligen; ich halte es heute noch für die Pflicht eines vornehmen Menschen.

Herr Direktor E l l e n d t sieht die Jugendliteratur ungefähr ebenso schwarz an wie die Herren W o l g a s t und Konsorten; merkwürdig, wie sich die Extreme berühren! Nun, jedenfalls kann man erwarten, daß ein Mann der Wissenschaft, dem es sein Amt vergönnt, seine ganze Muße der Jugendliteratur zu widmen (schriftstellerisch ist er wenigstens nach Ausweis des K ü r s c h n e r schen Literaturkalenders von 1902 nicht aufgetreten), es mit diesem E h r e n a m t , vor dem ich mich kreuzen und segnen würde, sehr schwer, sehr ernst, sehr objektiv nimmt. Und v e r a n t w o r t l i c h ist Herr Direktor E l l e n d t für seinen Katalog unbedingt, denn er sagt (Vorwort S. VIII) ausdrücklich, und zwar mit gesperrter Schrift, daß seine Zusammenstellungen d u r c h w e g a u f e i g e n e r L e k t ü r e b e r u h e n . Allen Respekt! Ich hatte mir eingebildet, mich auch zu den berufenen Kennern zählen zu dürfen; aber vor dieser Riesenbelesenheit muß ich schweigend zurücktreten.

Über die E i n r i c h t u n g einer Schülerbibliothek wird im Septemberhefte gesprochen, und da bescheide ich mich; ich will nur kurz erwähnen, daß ich eine Gesamtbibliothek den Klassenbibliotheken nach mehr als 20jähriger Erfahrung vorziehe.

Schon beim Lesen der Vorrede berührte es mich seltsam, daß der Verfasser in die von den Wolgastianern mit lautem Lärm angestimmte Jeremiade über die Minderwertigkeit der Jugendliteratur einstimmt, und es fiel mir auf, daß er (S. VI) es entsetzlich findet, wenn ein Quartaner (?) seinen Eltern und Geschwistern E b e r s ' » U a r d a « vorliest (?) Ein Quartaner liest so etwas vor? Respekt vor einem so seßhaften Quartaner! Aber ich hatte immer gemeint, an E b e r s ' Romanen (wie man immer über sie denken mag) sei die K e u s c h h e i t jedenfalls anzuerkennen.

Daß der Verfasser die Literatur ü b e r die Literatur beherrscht, erkenne ich willig an; allerdings bestärkt mich diese Übersicht aufs neue in der



//98//

Überzeugung, daß ich ein Ansuchen, so etwa »Tausend empfehlenswerte Bücher« aufzustellen, unbedingt von mir weisen würde. Denn zweifellos ist vielen unseres Standes ein pedantischer Zug eigen, der uns nicht eben liebenswürdig macht. Ich weiß noch wie heute, daß mir vor vielen Jahren ein Vorgesetzter die Aufnahme von Märchenbüchern in die Schülerbibliothek zum Vorwurf machte. »Das ist wertlose Unterhaltungslektüre! Die Jugend soll l e r n e n , nichts als l e r n e n ! «

Den Schluß der Vorrede bildet ein richtiger »Index librorum prohibitorum« oder »Verzeichnis von ›Jugendschriften‹, welche für die Schülerbibliotheken nicht geeignet sind«. Es unterliegt nun keinem Zweifel, daß es zwar nicht s c h ö n , aber m e n s c h l i c h ist, wenn man denkt: »Dies und das gefällt mir nicht, also taugt es nicht.« Aber bitte, privatim! Wer das nicht bloß öffentlich ausspricht, sondern sogar drucken läßt, hat meines Erachtens die selbstverständliche Pflicht, sein Verdammungsurteil auch zu b e g r ü n d e n . Das bloße persönliche Gefallen reicht hier nicht aus, und mich dünkt, es ist gerade hier die einfache P f l i c h t , festzustellen: Was ist an dem Verfasser bzw. an dem Buche gut, was ist schlecht, und welches Urteil überwiegt? Herr Direktor E l l e n d t hat sich leider die Sache recht leicht gemacht; in den meisten Fällen denkt man an das Wort: Roma locuta, causa finita est [Rom, d. h. die höchste Instanz, hat gesprochen, der Prozess ist beendet].

Selbstverständlich wird Herr Direktor E l l e n d t darauf hinweisen, daß sein Urteil auf Überzeugung beruht. Ohne Zweifel! Aber er durfte nicht vergessen, daß die Männer, für die doch sein Buch in erster Linie geschrieben ist, nämlich für K o l l e g e n (an einen Absatz im Laienpublikum kann er schwerlich gedacht haben), doch wohl eine B e g r ü n d u n g fordern können. Wäre er auch eine allgemein anerkannte Autorität, so dürfte er sich von dieser Pflicht nicht entbinden.

Unmöglich kann ich auf jedes einzelne Buch eingehen, habe auch keinen Raum und keine Veranlassung dazu; ich greife nur das w i c h t i g s t e heraus, und selbstverständlich nur dann, wenn ich ihm auf Schritt und Tritt folgen kann. Da muß ich ihm in e i n e m Falle prinzipiell recht geben: es handelt sich um »Erzählungen für Christenkinder« oder dergleichen. Es herrscht in diesen oft sektiererisch angehauchten Schriften (leider meist in protestantischen, was ich als Protestant mit Bedauern zugeben muß) ein so süßlich frömmelnder Ton, daß er abstoßend wirken muß. Aber Ausnahmen gibt es auch hier; auch hier gibt es gesunde Kost, und man darf nicht über a l l e Schriften von B a r t h , G l a u b r e c h t usw. ausnahmslos den Stab brechen. Seltsamerweise empfiehlt der Verfasser e i n s der bei S t e i n k o p f veröffentlichten Büchlein, das durchaus den oben gemißbilligten Charakter trägt; unvergleichlich wertvollere hat er übergangen.

Das Urteil über B r a n d s t ä d t e r s Schriften hat auf mich wie ein Keulenschlag gewirkt. Das »Hindurch zum Ziel« kenne ich nicht; alle anderen aber habe ich m i t g r o ß e r F r e u d e gelesen, alle Schüler schwärmen für sie, und ebenso die Erwachsenen, denen ich sie zu lesen gab: durchweg hochgebil-



//99//

dete, großenteils sogar gelehrte Männer und gebildete Frauen; es ist eine stattliche Reihe! Was der Verfasser (der ausnahmsweise 12 Zeilen für B r a n d s t ä d t e r verwendet) einwirft, ist leider geradezu oberflächlich; ich will sie hersetzen: »-B r a n d s t ä d t e r s »Jugendromane« (wo nennt denn B r a n d s t ä d t e r seine Erzählungen so?) leiden an vielen Mängeln, die nicht nur dem altern (!), sondern auch dem jungen Leser auffallen müssen (!). Dazu gehört vor allem die Einführung unwahr geschilderter Persönlichkeiten, die überdies, zwar anders benannt aber von großer Familienähnlichkeit (?), in verschiedenen Büchern vorkommen. Menschen wie »Herr Wolfgang Müller«, der »Schuster Laudabo«, »Herr Theobold Jodlinger«, »Schmörgel« u. a. sind in Wirklichkeit unmöglich (so?), bilden auch nicht einmal, wie beabsichtigt (?), komische, sondern nur alberne Figuren. Nicht geschmackvoll ist die Anlehnung einzelner Personennamen an die Namen mancher, in unserer Provinz wenigstens, bekannter Männer (aha !), die Nennung oder greifbare Bezeichnung höherer Lehranstalten der Provinzialhauptstadt (?); die Schilderung von Schulkonferenzen mit undenkbaren Personen (?), Unterhaltungen und Verhandlungen.«

Es sieht ganz so aus, als ob gegen B r a n d s t ä d t e r eine ganz s p e z i f i s c h e , p r i v a t e Antipathie vorherrschte; denn der erste Grund ist absolut hinfällig. Um eines s o l c h e n Vorurteiles willen einen unserer ersten Jugendschriftsteller in Bausch und Bogen verdammen und jeden, der nicht mittun will, indirekt für einen Dummkopf erklären, ist ein starkes Stück.

Nur für sehr wenige Schriftsteller verschwendet der Verfasser einige Zeilen; für die meisten genügt die Anführung des bloßen Titels. Wenn Bücher ohne j e d e Begründung verurteilt werden wie die Bearbeitungen der erstklassigen englischen Autoren, wie die beiden prächtigen Bücher von F l o d a t t o (Durch Dahome, Alpenzauber), die Bücher von O s k a r H ö c k e r , die Kindergeschichten von H o u w a l d , die von B a c h e m - Köln veröffentlichten Jugendschriften - da hört der Spaß auf! Ohne weiteres werden die mit vollem Recht gefeiertsten Jugendschriftsteller zum Orkus hinabbefördert, ohne jede Begründung! Man kann sich trotz des von Herrn Direktor E l l e n d t ausgesprochenen Anathems ruhig darauf verlassen, daß die bei Hirt, Meidinger, Bachem, Trewendt, Abel & Müller, Roth veröffentlichten Jugendschriften das Anathem n i c h t verdienen; die überwiegende Mehrzahl ist im Gegenteil des besten Lobes würdig. Und wenn z. B. der Verfasser ein Buch verwirft wie die Bearbeitung von C o o p e r s »Die beiden Seelöwen«, so hört für mich überhaupt jedes Verständnis auf. Nur die konfessionell scharf gefärbten Bücher gehen auch mir gegen den Strich; aber sie kommen bei den oben erwähnten Verlegern fast gar nicht vor, und die von Bachem veröffentlichten können unbesorgt auch von Protestanten gelesen werden.

Es werden weiterhin, ohne daß ein Wort beigefügt würde, verworfen: die drei Bücher von S o n n e n b u r g (Meidinger), sämtliche Schriften von T a n e r a (!) (meist bei Hirt), der gute alte C h r . v . S c h m i d , N i e m a n n ,



//100//

Z o b e l t i t z usw. usw. Nur auf einige wenige Schriftsteller verwendet der Verfasser einige Zeilen: auf N i e r i t z eine halbe Seite, auf F r a n z H o f f m a n n unerhörterweise 2 Seiten !! Über F r a n z H o f f m a n n und den entschieden höher stehenden N i e r i t z will ich mich nicht näher auslassen, weil ich es schon vor 2 Jahren getan habe; ein allgemein verwerfendes Urteil kann auf k e i n e n Fall verantwortet werden. Ich habe mich eben erst wieder davon überzeugt, daß namentlich N i e r i t z wahre Meisterwerke der Erzählungskunst geliefert hat. Natürlich gibt es bei b e i d e n auch minderwertiges; dann soll man aber mit G e w i s s e n h a f t i g k e i t sichten und scheiden! Über solche Pedanterie ist der Verfasser aber durchaus erhaben. Mit K a r l M a y wird er auf 8 Zeilen fertig; auch sie mögen hier stehen: »Es gibt schon seit 1899 eine May-Frage, die ich hier nicht des weiteren aufrollen will. Der Verleger ließ dann im Jahre 1902 eine Broschüre von 159 Seiten zum Preise von 10 Pfennig erscheinen unter dem Titel »Karl May als Erzieher« und »Die Wahrheit über Karl May« oder »Die Gegner Karl Mays in ihrem eigenen Lichte«. Von einem dankbaren May-Leser.« Die »Kölnische Volksztg.« veröffentlichte dazu in der Beilage zur 3. Abendausgabe des 24. Januar 1902 einen Kommentar! Für Schülerbibliotheken sind M a y s »Predigten an die Völker« (wie er seine Schriften selbst nennt) mit ihrem »m e i s t Selbstgesehenen und Selbsterlebten« - » G i f t «. Etwas n o c h Stärkeres zu leisten ist nicht möglich; es grenzt unmittelbar an Injurie. Und diese Grobheit, ohne auch nur ein Wort der Begründung! Wenn die Schriften eines so hochsinnigen Schriftstellers G i f t sind, was sind dann d i e Leute, die sie empfehlen? Natürlich Giftmischer! Wenn ich w e i ß , daß ein Schriftsteller der Liebling der weitesten Kreise ist, vom Arbeiter bis zum Gelehrten, vom einfachen Mädchen bis zur hohen Dame, dann m u ß doch wohl an dem besagten Schriftsteller »etwas dran sein«, auch wenn ich persönlich ihn nicht leiden mag, und ich überlege mirs denn doch doppelt und dreifach, ehe ich ihm die ärgste Beschimpfung ins Gesicht schleudere, die es für einen anständigen Autor gibt! Meinen Sie nicht auch, Herr Direktor E l l e n d t ?

Eine Reihe vortrefflicher Bücher ist dem Index entgangen, weil der Herr Direktor sie nicht zu kennen scheint. Um so besser; ich werde mich hüten, sie hier aufzuzählen, aus naheliegenden Gründen.

Es folgt nun das »nach Stufen geordnete Verzeichnis« derjenigen Bücher, die der Verfasser e r l a u b t bzw. empfiehlt. Zu meiner Befriedigung gestehe ich, daß ich fast durchweg einverstanden bin. Nur in Einzelheiten weiche ich von ihm ab. Die Sachen des Vielschreibers F e r d i n a n d S c h m i d t würde ich weglassen, denn er ist meist trocken und rein lehrhaft, nebenbei auch oft stark tendenziös; das b e s t e aber hat der Verfasser ausgelassen [:] »Die goldene Insel der Internationalen«. Aber die Zahl der U n t e r h a l t u n g s b ü c h e r ist über alle Maßen gering, und ich zweifle nicht daran, daß die Schüler der so eingerichteten Bibliothek bald ganz den Rücken wenden, falls kein energischer Druck auf sie ausgeübt wird. Daß er A m y n t o r s »Gerke Suteminne« empfiehlt, wundert mich; daß er J o h a n n a S p y r i und



//101//

A d a l b e r t S t i f t e r duldet, hat mich gefreut, aber auch gewundert. Von E b e r s leidet er nur Homo Sum, von F. D a h n nur »Deutsche Treue«. Die Märchen von E. M. A r n d t scheint er nicht zu kennen. Daß er aber von den Übersetzungen der mittelhochdeutschen Epen und Lyriker und der Edda (!) keine anderen kennt als die von S i m r o c k , sollte man kaum für möglich halten. Die Übersetzungskunst eines ganzen Menschenalters scheint für Herrn Direktor E l l e n d t nicht vorhanden zu sein. S i m r o c k steht überhaupt bei ihm in Gunst, ja, er ist ihm der Übersetzer ???' ?????? [schlechthin]; mit ihm scheint er die Übersetzungskunst abzuschließen. Selbst von T e g n é r s Frithjofssage existiert für ihn keine andere »Nachdichtung« als die völlig verunglückte von S i m r o c k , dessen hohe Verdienste um die Folklore wahrlich nicht dadurch beeinträchtigt werden, daß er ein mittelmäßiger Poet war. Aus dieser seltsamen Vorliebe für das Veraltete ist auch wohl die Tatsache zu erklären, daß Herr Direktor E l l e n d t die V o s s ische »Luise« unter die den Schülern zu empfehlenden Bücher aufgenommen hat.

Wäre der Verfasser nicht zwei Jahre älter als ich, so würde ich ihm dringend raten, bei einer neuen Auflage seines Buches jüngere Kräfte zum Beistand heranzuziehen. Aber dieser Rat dürfte in den Wind gesprochen sein; wer sich mit 65 Jahren in eine solche, sagen wir B e f a n g e n h e i t eingemauert hat, wird auch wohl so bleiben. So kann ich jedem Leser nur den Rat geben, das Buch mit Interesse, aber auch mit großer Vorsicht zu benutzen.

Berlin. L. Freytag.



Pädagogisches Archiv, Februar 1906, S. 96:


40. S c h n e i d e r , S. Titelzeichnungen zu den Werken von Karl May. Mit einführendem Text von Prof. Dr. J. W e r n e r . Freiburg i. Br. Friedrich Ernst Fehsenfeld.


Es ist bekannt, daß K a r l M a y nicht bloß ein ungewöhnlicher Erzähler ist, sondern auch religiös-erzieherische Zwecke verfolgt: in seinen sämtlichen Reiseromanen spiegelt sich der Kampf des guten gegen das böse Prinzip und der endliche Sieg des ersteren. Dieser Kampf wird in 25 künstlerisch vollendeten Bildern symbolisch dargestellt; hat man sich hineingelebt, so lernt man die Tiefe dieser Symbolik würdigen.

Der Kampf um K a r l M a y für und wider geht seinen Gang weiter, und ein Ende ist noch nicht abzusehen; es gibt in der Literaturgeschichte nicht leicht einen ähnlichen Fall, den der Psychologe »interessant« nennen würde. Zu meinem großen Bedauern nennt auch die »Evangelische Volksschule« einen der edelsten Dichter ohne jede Begründung einen Schädling; der Verfasser des Aufsatzes hat hinter Herrn W o l g a s t nicht zurückstehen wollen. Und worauf beruft er sich? Darauf, daß K a r l M a y Katholik sei! Er weiß also nicht oder gibt vor, nicht zu wissen, daß M a y von den sogenann-



//102//

ten »Ultramontanen« seit Jahren in Bann und Acht getan ist. Ein solches Vorgehen kann nur durch völlige Unwissenheit entschuldigt werden; der Dichter wird keinen Schaden davon haben. Im Gegenteil.

Berlin. L. Freytag.



Pädagogisches Archiv, Februar 1907, S. 91:


47. M a y , K a r l . Babel und Bibel. Arabische Fantasia in zwei Akten. Freiburg i. Br. 1906. Fr. E. Fehsenfeld.


Vom Erscheinen seines ersten Reiseromans an (vor etwa 18 Jahren) habe ich K a r l M a y s Werke mit nie abnehmendem sympathischem Interesse gelesen und empfohlen; viele meiner Bekannten und Freunde, ausnahmslos hochgebildet, von verschiedenster Lebensstellung und Lebensanschauung, beiderlei Geschlechts, jung und alt, haben mir und meinem günstigen Urteile beigestimmt und nur in bezug auf die letzten Bände gemeint, ein leises Ermatten seiner schöpferischen Kraft sei zu bemerken - was nicht verwunderlich wäre, denn der berühmte Romancier steht nun auch schon in der Mitte der sechziger Jahre.

Die wachsende Feindschaft gegen den Dichter habe ich mit Erstaunen beobachtet. Bei den halb oder ganz im sozialistischen Lager stehenden Wolgastianern ist der Haß begreiflich; wenn die »positiven« Volksschullehrer ihnen nachbeten, so ist das nur aus einem sehr übel angebrachten Solidaritätsgefühl zu erklären, aber nicht zu entschuldigen. Warum Direktor E l l e n d t in seinem leider für viele gymnasiale Bibliothekare maßgebenden Katalog zu demselben Resultate kommt, weiß er wohl selber nicht (vgl. meine Rezension im »Pädag. Archiv« 1905, S. 484ff.); der Feldzug eines Teiles der katholischen Presse gegen M a y scheint rein persönlicher Natur zu sein. Aber viele Hunde sind auch des Edelhirsches Tod!

So oft ich einen M a y gegner nach dem Grunde seiner Gegnerschaft fragte, hörte ich: »Ja, er verdirbt die Phantasie der Jugend durch seine abenteuerlichen Indianergeschichten«; das war a l l e s , was ich zu hören bekam. Von dem wohltätigen Einfluß seiner Werke, die sozusagen eine personifizierte, echt religiöse, aber nicht konfessionelle S i t t e n p r e d i g t sind, war gar nie die Rede. Ganz abgesehen davon, daß M a y s Reiseromane gar nicht für die Jugend speziell geschrieben sind, wenn sie auch, und zwar mit gutem Recht, bei der unverdorbenen Jugend ebendenselben Anklang gefunden haben wie bei d e m Alter, das noch nicht in Pedanterie erstarrt oder aber - modern-sozialistisch geworden ist.

Nun hat K a r l M a y einen unerwarteten Schritt getan: er ist in einem Alter, in dem selbst bei den gefeiertsten Dichtern denn doch nachgerade der poetische Stahl stumpf zu werden beginnt, unter die Dramatiker gegangen. Er behauptet, seine bisherigen Werke seien alle nur Vorstudien gewesen, und seine eigentliche Laufbahn solle jetzt erst beginnen. Ich will herzlich und freund-



//103//

schaftlich hoffen, daß sich seine Wünsche und Erwartungen erfüllen mögen.

Sein erstes Drama hat mit der berühmten oder berüchtigten »Babel-Bibel-Frage« nichts zu tun; vielleicht hätte sich mit Rücksicht auf den zu nahe liegenden Irrtum des Publikums ein anderer Titel empfohlen. Die Tendenz ist die Entwickelung und Veredelung des Gewaltmenschen zum Edelmenschen; die sinnliche Liebe scheidet völlig aus, und in die Reihe der um den Babylonischen Turm gruppierten handelnden Personen treten personifizierte allegorische Gestalten, so daß das Ganze den Eindruck eines weihevollen, an Gedankentiefe nicht leicht zu übertreffenden Mysteriums macht, obwohl es der Dichter bis ins kleinste Detail für eine theatralische Aufführung vorbereitet und eingerichtet hat. Daß es dazu kommen möge, wollen wir mit ihm von Herzen wünschen.

Berlin. L. Freytag.



Zeitschrift für die Reform der höheren Schulen. 20. Jg., Nr. 4.

30. November 1908, S. 80:


Von den R e i s e r o m a n e n von Karl M a y erscheint jetzt eine vorzüglich illustrierte Ausgabe (Fehsenfeld, Freiburg i. Br.); 6 Bände sind bisher erschienen. Ebendaselbst sind auch seine »Erzgebirgischen Dorfgeschichten« in neuer Auflage herausgekommen. Es ist hier nicht der Ort, auf die »Mayfrage« näher einzugehen; es geschieht vielleicht später. Nur soviel sei hier gesagt: die deutsche Leserwelt, insbesondere die deutsche Jugend, soll sich durch Pedanten und Wolgastianer den May nicht verekeln lassen. In seinen Reiseromanen, in denen das erotische Motiv fehlt, herrscht eine ganz bestimmte Tendenz: der Kampf des guten Prinzips gegen das böse, des Lichts gegen die Finsternis. Und daran kann kein vernünftiger Mensch etwas aussetzen. Daß May »katholisierende Tendenzen« verfolge, ist eine von seinen Feinden ausgesprengte bewußte L ü g e .

[Ludwig Freytag]



Zeitschrift für die Reform der höheren Schulen. 21. Jg., Nr. 4.

11. Dezember 1909, S. 67:


Von Karl M a y 's Reiseromanen sind die Bände 7 - 9 der neuen Illustrationsausgabe erschienen: »W i n n e t o u , der rote Gentleman«. Das sind die drei Bände, die zum Zorn aller Pedanten das Interesse der deutschen Jugend, aber nicht bloß d i e s e r , an der »roten Frage« neu belebt haben; denn in Winnetou hat der Dichter eine Prachtgestalt geschaffen, die aber nicht etwa in den Wolken schwebt, sondern sich ganz naturgemäß menschlich entwickelt (Freiburg i. Br., Fehsenfeld).

[Ludwig Freytag]



//104//

[leere Seite]





Inhaltsverzeichnis
Alle Jahrbücher
Titelseite KMG

Impressum Datenschutz