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Aus Karl Mays literarischem Nachlaß

(Fortsetzung)

Von Studienrat Dr. Max F i n k e 

5.

Im vorigen Jahrbuch habe ich (S. 53 - 88) eine Reihe von Nachlaßschriften Karl Mays, darunter das dramatische Bruchstückchen » A h a s v e r « , veröffentlicht. Es mag jetzt jene dort auf S. 85 erwähnte Mappe mit der Aufschrift » K y r o s «  folgen.

Die Spannbögen der Mayschen Geisteskraft überwölben nicht nur Meere und Erdteile, sondern reichen auch hinein in die Vergangenheit. May hatte eine ausgesprochene Vorliebe für die Geschichte und - wie u. a. seine hübsche Erzählung »Der Kaperkapitän« (aufgenommen im Bd. 38 der »Gesammelten Werke«, S. 489 ff.), mit ihrer Einfühlung in die napoleonische Zeitgeschichte beweist - auch eine entschiedene Begabung, geschichtlichen Stoffen gerecht zu werden. Seine Bücherei enthält zahlreiche geschichtliche Werke. Er war eifrig im Sammeln von Zeitungsausschnitten und Aufsätzen mit Berichten über die Fortschritte der geschichtlichen Forschung. So fand ich einen Bericht über einen Vortrag, den der Universitätsprofessor Dr. Lehmann-Haupt seinerzeit in der deutschen Orientgesellschaft über »Die historische Semiramis und ihre Zeit« gehalten hat.


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Auch in den Reisebeschreibungen Mays stoßen wir auf zahlreiche geschichtliche Hinweise und Rückblicke, die, ohne Anspruch auf besonderen Eigenwert erheben zu können, in einer wohltuenden Art unauffälliger Belehrung sich dem Gang der Handlung eingliedern, ihre Spannung bald mildernd, bald vermehrend.

So schweifen des Dichters Gedanken, als er von jenem Höhenzuge am Zab, einem Nebenflusse des Tigris, in dem unter ihm liegenden Wadi Deradsch die Zelte der Abu Hammed und Dschowari erblickt, in die Zeit, da dort die Scharen von Sardanapal, Kyaxares und Alyattes lagerten: er sieht Nebukadnezar auf seinem Zuge nach Aegypten, um Königin Hophra abzusetzen, wie gerade an jener Stelle seine Pferde aus den Fluten des Tigris getränkt wurden. Er hört den Todesgesang des Nerikolossar und des Nabonnad aus der Vorzeit herüberklingen. Umrauscht von den Wogen eines Freudenfestes der Haddedihn (Bd. 1, S. 459), sieht er vor seinem in die Geschichte rückblickenden geistigen Auge das reichgeschmückte Zelt des Holofernes auftauchen. Das Zwischenstromland, diese Wiege großer geschichtlicher Ereignisse, und die angrenzenden Gebiete standen ihm im Mittelpunkt seiner forschenden Liebhaberarbeit.

In den Jahren 1899/1900 unternahm er nachweislich eine zweijährige Orientreise, die ihn von Bagdad aus in die Gegend der Ruinen von Persepolis führte. Vgl. hierzu Dr. Schmids Ausführungen in Bd. 34 »Ich«, S. 579/80:


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»Von dort am Povarflusse aufwärts wandernd, gelangte er nach mehrstündigem Marsch in die Ebene von Murghab, wo sich vereinzelt einige wenige Ueberreste der uralten persischen Königsstadt Pasargadä erhalten haben. Von den zahlreichen Streitfragen, welche die Gelehrten an diese Ruinen knüpfen, sei hier abgesehen und nur erwähnt, daß sich unter den sechs dort erhaltenen Bauwerken das Grabmal des Großkönigs Kyros befindet. Die alten berühmten Keilschriftreliquien, die an diesen 2300 Jahre alten Bauten angebracht waren, sind im Laufe der Zeit der Zerstörungswut und der Sammelwut zum Opfer gefallen. Die letzte und bekannteste dieser Inschriften, die 1877 von einem englischen Gelehrten geraubt wurde, war das stolze monumentale Herrscherwort: "Ich bin Kyros, der Achämenide!" Trotz ihrer traurigen Verstümmelung machten diese Reste alter Pracht und alter Hoheit einen überwältigenden Eindruck auf Karl May. Gepackt von den Schauern einer längst entschwundenen Zeit, faßte er den Plan, ein Drama zu schreiben über den großen König, der den Besuchern seines Grabes solch stolze Worte entgegenrief!«

Die mit »Kyros, dramatisches Porträt« überschriebenen Blätter enthalten nun leider keinen Anhaltspunkt dafür, in welcher Weise er die Gestalt des großen Babylon-Eroberers, die da in der Ruine Kala-i-Dara unweit der Stadt Darabdjerd vor ihm lebendig wurde, gezeichnet hätte. Was wir in Händen haben, ist nur eine Art Vorspiel zum 1. Akt, in dem die »Ideale« des Steines, der Erde, des Metalls, der Pflanze, des Tieres und der Luft sprechend auftreten. Unter »Idealen« sind Symbole oder, wenn ich der grundlegenden Unterscheidung von Symbol und Allegorie folge (vgl. 3. Jahrbuch, S. 84, Fußnote 19), nur allegorische Gestalten zu verstehen. Eine szenarische Bemerkung, wie die genannten Naturdinge gekennzeichnet werden sollten, fehlt.

Die ästhetische Würdigung der nachstehend zum


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erstenmal abgedruckten 48 fünffüßigen Jamben muß sich mit der Anerkennung einer gewissen sprachlichen Bildkraft bescheiden. Nicht beschönigt werden soll neben mancher Unebenheit die Eintönigkeit des Zeitmaßes, die dadurch hervorgerufen wird, daß alle Zeilenenden bis auf nur zwei mit Satzpausen zusammenfallen. Die von den heutigen Reimschmieden bevorzugte Kunst des Verschweißens von Zeilenende und -anfang mit Hilfe gewählten Satzbaus lag unserm May gar nicht, wie auch aus seiner inhaltlich so hochgesinnten Gedichtsammlung »Himmelsgedanken« (Bd. 49 der Ges. Werke) hervorgeht. Es liegt etwas Altfränkisches in seiner gebundenen Sprache, im nachteiligen wie anderseits aber auch im vorteilhaften Sinne. Am besten mögen die Jamben des vierten Bandes von »Im Reiche des Silbernen Löwen« (Bd. 29) und des Bandes »Und Friede auf Erden« (Bd. 30) ausgefallen sein.

Tier und Pflanze beseelt zu denken, ist im Zeitalter der Francé, Krall und Paula Mökel nicht weiter verwunderlich. Die anschauliche Art indes, wie im Geiste einer mehr als Fechnerschen Naturmystik die unbelebte Natur hier redend eingeführt wird, zeigt die Beseelungsfähigkeit des echten Dichters. Fels, Felskrume (= Erde), Metall, Pflanze, Tier liegen ihm in einer großen Entwicklungslinie, die keine Kluft zwischen der unbelebten und belebten Natur erkennen läßt und die in der Schöpfungskrone, dem Menschen, gipfelt. Was dem Naturforscher das noch zurzeit ungelöste Problem der Urzeugung ist, wird dem Dichter hier zu erlebter Gewißheit.


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Man kann darüber streiten, ob der Gesichtswinkel, unter dem May hier den Perserkönig zu sehen scheint, nämlich daß er als eine Art Erlöser, als Erfüllung elementarer Sehnsucht gekommen sei, geschichtlich begründet ist. Nach der Sage, die Herodot wiedergibt, stand Kyros im Rufe einer so blutdürstigen Grausamkeit, daß Tomyris dem Leichnam des im Kampf mit den skythischen Massageten Gefallenen den Kopf abgeschnitten und in einen Schlauch voll Blut geworfen haben soll, damit er seinen Blutdurst stillen könne. Möglicherweise aber hatte May den Plan, Kyros zunächst als Sehnsuchtserfüller der hoffenden »Ideale« hinzustellen, der nachher um so grausamer die gehegten Erwartungen enttäuschen sollte, und damit eine Tragödie der Enttäuschung verbreitenden Geniemenschen zu schreiben.

Ein auffälliger inhaltlicher Widerspruch besteht darin, daß in den Worten des »Tieres« der Mensch als  s c h o n   v o r h a n d e n e s  und im Schlußtext als erst zu e r w a r t e n d e s  Glied in der Kette der Entwicklung erscheint. Doch darf man den vorliegenden Zeilen keinen höheren Rang als den einer rohen Vorstudie zusprechen. Nachstehend erfolgt ihr Abdruck:

K y r o s 

Dramatisches Porträt

von

K a r l   M a y . 

Erster Akt.

E r s t e r   A u f t r i t t . 

Am Euphrat.

Palmen, Oleander und anderes blühendes Gebüsch. In der Mitte ein kleiner, lichter Tempel der Istar, mit einer


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Mondsichel gespitzt und von einem Löwen und einem Stier flankiert.

Die Ideale des Steines, der Erde, des Eisens, der Pflanze, des Tieres. Außer ihnen die Luft. Das Licht kommt noch hinzu.

D e r   S t e i n : 

Ich bin der Fels. Im steinernen Gefüge
Dehn ich mich aus, soweit die Erde reicht.
Wer auf mich baut, der baut auf keine Lüge;
Ich bleibe starr, selbst wenn der Stahl erweicht.
Was man mir gibt, das geb ich ehrlich wieder,
Nur bleibe ich an meinem Platze stehn,
Und kriecht an mir ein Menschlein auf und nieder,
so mag ers tun und dann ... nach Hause gehen!

D i e   E r d e : 

Auch ich war starr. Nun bin ich Gries und Krume,
Nur innerlich fühl ich mich noch als Stein.
Der niedrige Begriff vom Eigentume,
Teilt mich in Felder und Parzellen ein.
Doch hat der Mensch in seinen Erdentagen
Mich ohne Ruhe um- und umgekarrt,
So bringt man ihn als Dünger mir getragen
Und was mich quälte, wird in mir verscharrt.

D a s   M e t a l l : 

Auf goldnen Stufen stieg ich an die Sonne;
Wie Silber glänzte mir die Erdennacht.
Ein eisern Herz war meine Lust und Wonne
Und ehern, wie mein Helm, stand mir die Macht.
Da kam der Mensch ... das Uebrige ist Schweigen,
Doch wallt in mir des Zornes dunkle Glut,
Und wenn die Stunde schlägt, dann wird sich zeigen,
Was El Madon, der Herr des Schwertes, tut!

D i e   P f l a n z e : 

Gebt mir die Macht, so will ich sie nicht haben;
Nur wachsen will ich, wachsen, auf, ins Licht.
Und würde ich auch bergestief begraben,
Im Lenz käm ich euch wieder zu Gesicht.

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Im greisen Baume, wie im jungen Triebe,
Erklingt euch meine Predigt fort und fort,
Daß ich nicht hassen kann, daß ich nur liebe,
Und das ist auch für heut mein einzig Wort!

D a s   T i e r : 

Ich war äonenlang der Schöpfung Krone;
Jedwede Zelle strebte auf zu mir;
Da kam der Mensch, stieß mich von meinem Throne
Und spezialisierte mich als ... Tier.
Nun jagt und martert er mich allerorten;
Ich weiß auf Erden weder aus noch ein.
Wohlan also: Was ich durch ihn geworden,
Das will ich ihm, nichts anderes, auch sein!

D i e   L u f t : 

Ich kam als Gast aus weiter Himmelsferne
Geheimnisvoll zu euch herabgesandt,
Und was ich tat auf meinem Heimatssterne,
Das tu' ich nun auch hier im Erdenland.
Ich soll ein Segen sein im Wettersturme,
Ein Segen sein im leisen Atemhauch.
Ihr gebt das zu selbst beim geringsten Wurme,
Warum tut ihr es nicht beim Menschen auch?

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Kyros

G e s a m m e l t e s .

Die Ideale haben sich eines aus dem anderen entwickelt, vom Felsen bis zum Tiere. Sie hoffen, daß nun bald der Mensch kommen werde. Sie hoffen, Kyros werde es sein. Luft und Licht sind ihre fremden Freunde.

Der Regen \ Begattung. Erde dehnt sich, wenn der Regen
Die Erde    / sich ganz in sie verkriecht.

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6.

Im vorigen Jahrbuch wurden von mir einige nachgelassene Handschriften Karl Mays veröffent-


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licht, die zu dem Gedankenkreis der 1906 bei F. E. Fehsenfeld in Freiburg i. Br. erschienenen, jetzt leider bis zum Neudruck vergriffenen zweiaktigen »Arabischen Phantasie«: »Babel und Bibel« gehören. Es waren dies ein »dramatisches Vorspiel aus zwei Welten« und wissenschaftliche Notizen zum »Babel und Bibel-Streit«, die als Nr. 1 und 2 meiner bezüglichen Nachlaßschriften-Aufstellung (Jahrbuch 1919, S. 56 - 58) zum erstenmal abgedruckt wurden (S. 58 - 64). Dem vorliegenden Jahrbuch war Nr. 3 jener Aufstellung (S. 58) vorbehalten, die im ganzen 34 Seiten in Maschinenschrift umfaßt und das Schlußdatum: Montag, den 1. 10. 1906 trägt. Ich setze noch einmal die G l i e d e r u n g  dieser Aufzeichnungen hierher:

» B a b e l    u n d    B i b e l « .    S k i z z e .

a) konkrete Tatsachen.

b) Abstraktes, Metaphysisches und Symbolisches.

c) (Ohne Ueberschrift): Ueber Ziel und das innere Wesen von »Babel und Bibel«.

d) Zur Bedeutung der Namen.

e) Innere Handlung: Sonstige Bemerkungen zu »Babel und Bibel«, betreffend Schauplatz, Deutung des Symbolhaften, Szenarisches, Mission des Ganzen.

Wenn wir die Aufzeichnungen (1) selbst auf uns wirken lassen, so finden wir die von Frau Klara May in vorliegendem Jahrbuch geäußerte Meinung bestätigt, daß May von einer beklemmenden Ahnung des kommenden Weltkrieges bewegt und von dem lebhaften Wunsch getrieben worden sein muß, mit der Streitmacht seiner zu hohem Ansehen gelangten


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Schriftstellerfeder der Verhütung des großen Unglücks zu dienen. Heut, mehr als vierzehn Jahre nach dem Abschluß vorliegender Aufzeichnungen, zwingen sie uns besondere Aufmerksamkeit ab. Handelt es sich doch gerade für uns darum, ob sich dem Grauen der Weltkriegsjahre, die, streng genommen, noch währen, eine Dauerform »vernunftgemäßen Völkerfriedens« entbinden wird, oder ob wir, enttäuscht durch den Geist, der an den Verhandlungstischen von Versailles und Spaa saß, die Jahrtausend-Sehnsucht frommer Friedensgemüter wieder einmal, vielleicht gar für immer, verabschieden sollen. Die Kraft gläubigen Hoffens, die sich stützt auf die tatsächliche Wirklichkeit und Wirksamkeit eines den Völkern übergeordneten Menschheits- und Menschtumsbegriffes, hätte auch heut einen Karl May nicht verlassen.

Wie? Menschtum, dieser als Unziel verschriene innere Leuchtturm kriegs-, aber nicht kampfesmüder Weltzweckverbändler, in deren Reihen sich May, vor allem auch als Verfasser des Werkes »Und Friede auf Erden« (Bd. 30) einordnet, dieses angebliche Wolkenkuckucksheim jener »welt- und wirtschaftsfremden« Wanderer? Ferner Morgenröte soll eine tatsächliche äußere Wirklichkeit, nicht nur innere Wirksamkeit entsprechen? Nicht anders. Es gehört ja zu den gesicherten Ergebnissen der heutigen lebenskundlichen Forschung (Biologie), daß wir Erdbewohner den Blättern eines einzigen großen Baumes gleichen. Die Menschheit ist entwicklungsgeschichtlich ein einziger Organismus. Was uns alle verbindet, ist der einzelne immer wieder ver-


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erbliche Anteil, den jeder von uns an dem  m e n s c h l i c h e n   K e i m p l a s m a  besitzt. Diesem sind unbeschränkte Fortdauer und nur von äußeren Einwirkungen begrenztes Breitenwachstum gesichert, während der nicht gattungsgemäße, individuell-körperliche Anteil mit jedem Einzelmenschen vergeht. So erhält der von Schopenhauer so gern zitierte alte Satz der Brahmalehre Tat tvam asi (sanskr. = das bist du) eine tiefe naturwissenschaftliche Begründung und eine Bedeutung, die über den Gedanken von der bloßen Ich-Bedingtheit der Außenwelt weit hinausgeht und eine tiefinnerste wesentliche Gleichheit, nämlich den Keimzusammenhang aller Menschen, aufdeckt. Ob Karl May die - schon von G u s t a v   J ä g e r  in den achtziger Jahren aufgestellte, später von  N u ß b a u m  und vor allem von W e i s m a n n  begründete - Lehre von der sog. »Kontinuität des Keimplasmas« gekannt hat, geht aus seinen Schriften nicht hervor. Sicher ist, daß seinem Innern das geistige Gegenstück, die gedanklich wirksame und nicht minder gefühlsmächtige Entsprechung jeder naturwissenschaftlichen Tatsache, nämlich eben der »Humanitäts«-Begriff unverlierbar eingebettet war und mit treuer Inbrunst in all seinen Werken verteidigt wird. Was ein Jahrzehnt nach ihm, getrieben von den grausigen Gesichten des Krieges, Männer der Wissenschaft als naturwissenschaftliche Grundlage der weltzweckverbändlichen Dauerfriedensrichtung grundsätzlicher und strenger Art (sog. Pazifismus) erweislich machten - so der mißverstandene  N i c o l a ï  in seiner »Biologie des Krieges« (II. Teil, Orell Füßli in Zürich, 1919) -,


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das fühlte Karl May mit unbeirrbarer seelischer Gewißheit. Seine geistige Namenskarte trägt ja wie die papierene seines Chinesen Tsi in »Friede auf Erden« die Losungsworte Schin-Ti-Ho, Humanität, Bruderliebe, Friede. Was unklares Wunschwähnen von Schwärmern schien, das zeigt sich mehr und mehr in der Natur begründet, der »Utopist« wird über Nacht zum nüchternsten »Realpolitiker«, die Welt wird ihres wahren Vorteils inne, und schon regt sich allenthalben die Kraft zu Bund und Ausgleich, das Vermögen zu gegenseitiger Hilfe in der Weltentwicklung, zu weitherzigen Handelsabkommen, zu herzlichen Fürsorge- und Liebeswerken größten Ausmaßes. Die letzten Zuckungen des engstirnigen Ueber-Patriotismus werden die Kraft des völkerverbindenden Zweckverbandgedankens, ihn vorerst noch hemmend, emporspannen bis zum Gelingen.

Wie aus diesen Vorarbeiten (s. S. 57 und 63), hatte »Babel und Bibel« nicht nur die ungewisse Möglichkeit des »vernunftgemäßen Völkerfriedens« zum Gegenstand, sondern weit mehr: die Art und Weise seiner Verwirklichung, gleichsam die »pazifistische« Technik. Wie überall in seinen Werken, so läßt auch hier May den Edelmenschen - vertreten durch den Stamm der Kiram - dieselben äußeren Gewaltmittel des »Anima«-Menschen, wenn auch nicht zur Anwendung bringen, so doch drohend führen. Die innere Umlagerung der An'allah, der Gewaltmenschen, »geschieht auf dem Wege  v o r s i c h t i g e r   H u m a n i t ä t  und i m p o n i e r e n d e r   K r a f t ,  die  j e d e s   U n r e c h t  und  


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j e d e   G r a u s a m k e i t   vermeidet.« Es reicht nicht aus, dem Bibelwort gemäß »ohne Falsch wie die Tauben« zu sein, die Kiram sind auch »klug wie die Schlangen«. Sie verzichten nicht auf die Waffen des Gewaltmenschentums, wissen aber durch die Güte hochgeistiger List das Blutvergießen zu verhüten. Wie May später (S. 80) sagt, ist eine »Summe der Machtentfaltung« dem Geist unentbehrlich, »um den Anima-Geschöpfen zu imponieren«. An eine grundsätzliche freiwillige Trennung von allen Waffen wird keine zurechnungsfähige Völkerfriedenslehre (vgl. A. H. Fried, Schücking, Foerster) im Ernste denken. Solange die Menschheit der Aufbegehrungen des gewaltgeneigten Anima-Menschen sich gewärtig halten muß, ist sie genötigt, waffentragende Wirkteile (Organe) teils zur Abschreckung, teils zur Vollstreckung des strafenden Gesamtwillens auszuscheiden und in Bereitschaft zu halten. Ist doch selbst Mary Baker G. Eddy, die Begründerin einer zweifelsohne so friedensfreundlichen Bewegung wie der Christian Science, die hier übrigens sonst nicht gewertet wird, der Ansicht: »Nationale Mißverständnisse können und sollten durch friedlichen Ausgleich weise und endgültig geschlichtet werden. - Es ist jedoch unzweifelhaft, daß jetzt noch eine Kriegsflotte (!) nötig ist, um den Krieg zu verhindern und den Frieden unter den Nationen zu wahren.« (Der »Herold« der Christian Science, 6. Jahrgang, 1908, S. 125.) Hier scheint allerdings noch jene altrömische Irrlehre zu spuken, daß die Vorbereitung zum Kriege die beste Friedensgewähr sei. (Si vis pacem, para bellum.) Davon ist bei


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May nun keine Rede. Vielmehr ist er von der Notwendigkeit des Abrüstens überzeugt. Doch ist es mit dem »Abrüsten« eben nicht getan. Das »Abrüsten« ist geradeso wie etwa die Enthaltsamkeit von Alkohol etwas Rein-Negatives und bedarf der positiven Ergänzung. Diese besteht in positiver Aufbau- und Zusammenhaltsarbeit. Die »Pazifikation« erfordert »G e i s t , viel G e i s t  und mehr G e i s t , als der besitzt, der da denkt, man brauche einfach bloß abzurüsten, und dann sei alles gut!« (S. 80.)

Der Friede, den er erstrebt, beschränkt sich jedoch nicht auf das politische Gebiet. »Es ist hier jede Art des Friedens gemeint, auch der wissenschaftliche, der kirchliche, der soziale usw., nicht nur der politische.« (S. 62.) Wie Weissagungen klingt es, wenn dann May - also im Jahre 1906! - fortfährt: »All unser Streben nach diesem letzteren wird trotz der Suttner und trotz des russischen Großbeschützers - gemeint ist der frühere Zar Nikolaus - doch nicht zum Ziele führen, wenn wir nicht vorher auch schon den Frieden in all diesen anderen Beziehungen haben.« Uebrigens belehrt schon geringe Vertrautheit mit der bewegungskräftigen, regen Gemüts- und Geistesart Mays, daß unter »Frieden« nichts Starres, Unlebendiges, Spannungs- und Kampfloses zu verstehen ist, sondern vielmehr bewußtes, einigendes In-Führung-Nehmen von Spannungsgegensätzen (2), die sich freilich von obwaltendem Geist auch gedeihlich in Führung nehmen lassen


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müssen, wenn die ganze »Kontrapunktik« der Politik und des Lebens überhaupt gelingen soll. Also H a r m o n i s i e r b a r k e i t  der entgegenstehenden Willenskräfte, nicht ihre todhafte Harmonie.

May ist sich wohl bewußt, daß die politische und kriegerische Gestalt nur e i n e  Form des Gewaltwesens im Menschen, wenn auch die am meisten der Entartung und dem inneren Widerspruch verfallene, ist. Er durchschaut jene den Anspruch unverletzlichen Ansehens erhebenden Masken, hinter denen sich die mannigfaltigen Spielarten wissenschaftlicher, geistlicher und gesetzgeberischer Gewalttätigkeit zu verstecken wissen: »Ein Gewaltmensch ist jeder, der sich auf seinem Sondergebiete so benimmt, als ob er der alleinige und bevorzugte Besitzer des betreffenden Rechtes oder des betreffenden Gutes sei.« (S. 62.) Es liegt May aber fern - und seine mehrfachen Versicherungen verdienen vollen Glauben -, mit diesem allgemeinen Vorwurf an die Adresse der menschlichen Vollkommenheit irgendeine wissenschaftliche, geistliche oder politische Richtung vor anderen belasten zu wollen. Das Bewußtsein der Demut, daß wir des Ruhmes ermangelnde Sünder allzumal sind, war zu tief in ihm begründet. Es sind nichts anderes als Quersummen aus »sämtlichen jetzt vorhandenen Religionen«, aus den gegenwärtigen Rechtszuständen, aus den Formen heutiger Wissenschaft, die er zieht und zu seinen mit solcher Anschaulichkeit gezeichneten Gestalten des I m a m s , des K a d i s  und des Gelehrten B a b e l  verdichtet. Wenn er die An'allah auf dem Trümmerfeld des


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babylonischen Turms, also den Resten eines untergegangenen Weltreiches, wohnen läßt und diesen Turm, in dem - ein Anklang an deutsche wie orientalische Märchenwelt! - der Drache Kital verstaubte Schätze hütet, als einen »unsichtbaren, aber doch gewiß bestehenden Bau« bezeichnet und - nicht eben vorsichtig! - ihn mit dem oft angeführten »Zentrumsturm« der deutschen Katholiken vergleicht, so ist dieser Vergleich nur sprachlich-erklärend zu verstehen, aber keineswegs als Angriff auf jene wertvolle, aus dem Kriegschaos noch wesentlich gestärkt hervorgegangene Ausprägungsform des Christentums, für deren Weihe und Würde, für deren Marien-Verehrung, Sakramentlehre und sonstige Dogmatik Karl May nicht minder tiefes Verständnis und herzliche Hochachtung gezeigt hat wie für die Eigenwerte des Protestantismus, des Islam und des Buddhismus. Dies muß hier betont werden, da der auf den »Zentrumsturm« bezügliche Vergleich (S. 70) leider die Gefahr gröblicher Mißdeutung heraufbeschwören könnte.

Ist nun dem Dichter gelungen, in diesem dramatischen Erstwerk »Babel und Bibel« den unblutigen Geistessieg des Edelmenschen Ben Tesalah über den Gewaltmenschen Abu Kital erlebbar zu machen? Ich verkenne und verteidige nicht die ganz offenbaren Schwächen des Werkes sowohl in verstechnischer, sprachlicher wie dramaturgischer Hinsicht, halte aber daran fest, daß unter Beihilfe einer überlegenen Spielleitung, etwa der eines Max Reinhardt, das Grundthema des Zweiakters zu mächtigem Nacherleben gebracht werden könnte. Starke Gegensätze,


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ein Gegenspiel voller Spannung, eigenartige, geistreiche Einfälle - so der, daß Ben Tesalah sich als Anführer einer Todeskarawane einschmuggelt, ein Mensch blühenden, quellenden Geisteslebens im Bereich grausen Verwesungsduftes! - würden dem Spiel Erfolg sichern. Zum Ueberfluß hat May sich streng an die Weisungen des alten Aristoteles hinsichtlich der Einheit auch des Ortes und der Zeit gehalten, indem er beide Akte vor dem Turm an demselben Nachmittage sich abspielen läßt. Besonders wirksam ließe sich jener eindrucksvolle Auftritt des zweiten Aktes gestalten, wo Ben Tesalah den Abu Kital in die Bannkraft seines Güte und Geist ausstrahlenden Auges faßt, ihn im Umkreis, wie ein Bändiger die Raubbestie, vor sich her treibt und ihn innerlich niederringt. Wie hier, so zeigt sich auch an anderen Stellen, daß May zweifellos eine Ader für Bühnenwirksamkeit gehabt hat. Seine Sprache, die gelegentliche Plattheiten leider nicht scheut, ringt sich, so vor allem in der großartigen Stelle, die das Martyrium des sühnebereiten Menschen in der Geisterschmiede Kulub im Lande Märdistan schildert (wiedergegeben auch im Band 34 »Ich«, S. 272 bis 274), gelegentlich zu einer Bildkraft und Freiheit dichterischer Anschauung durch, die einen Vergleich mit den Sprachmitteln Dantes oder Shakespeares rechtfertigen.

May Lebensthema: die innere Umpolung und Umschichtung des Menschen der Gewalt und Feindschaft in den der Güte und Versöhnlichkeit erfährt in »Babel und Bibel« jedenfalls eine einflußstarke, dramatisch gedrängte Bearbeitung. Belehrt durch


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den Weltkrieg, durch seinen Ausgang nicht minder als durch sein Wesen, das Krankheit und eine Fülle sich erstickender Widersprüche war, vermögen wir Mays edle Absicht empfänglicher auf uns einwirken zu lassen. Gottlob ist jene von mißverstandenem Darwinismus borgende, unwissenschaftliche, rücksichtslose Lehre von der Notwendigkeit und dem Wert des Krieges abgesättigt, ja übersättigt bis zur Empfindung des Ekels und Selbstgrauens. Kampf muß sein, er ist ein Bestandteil jeder Emporentwicklung. Seine Entartungsform, der Krieg, ist dagegen keineswegs eine Naturnotwendigkeit, geschweige ein Hebel der Kulturförderung. Er verschlingt gerade die Tüchtigsten; was er verschont und übrig läßt, sind die zum Lebenskampf weniger Befähigten, sind die Hemmschuhe des Lebensfortschrittes. So wird der Krieg und vor allem der in den heutigen Formen gehäufter maschineller Grausamkeiten geführte, zu einem furchtbaren Mittel der Gegenauslese, zu einer Selbstmordwaffe aller Rassen-, Kultur-, Volkstums- und Menschlichkeitswerte.

Die Auffassung, als sei der rücksichtslose Ich-Trieb, der den Nebenbuhler um Nahrung, um Lebensziele, um einen »Platz an der Sonne« unter die Füße zu treten sucht, eine Ersttatsache, etwas von der Natur allen übrigen Trieben und Empfindungen schlechthin Uebergeordnetes und somit seine stärkste und größte Entwicklungsform, als sei der Krieg unentrinnbares Naturgesetz, hält den heutigen Forschungen der Gesellschaftslehre (Soziologie) und Seelenkunde nicht mehr stand. Es steht vielmehr fest, daß zeitlich der Entwicklung der in-


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dividuellen Triebe die des H o r d e n t r i e b e s , die des sozialen, staatenbauenden Instinktes vorangingen. Der Mensch ist in erster Linie das Zoon politicon des Aristoteles, das mit dem Trieb zu »gegenseitiger Hilfe in der Entwicklung« (Fürst Peter Kropotkin) reich ausgestattete Gesellschaftswesen, wenn nicht gar Gemeinschaftswesen. Wenn die Strebungen des Einzelwesens überhandnehmen, der Egoismus - den Eugen Dühring für eine sekundäre Entartungserscheinung erklärt! -, dann sinkt der kunstvolle Glied- und Wirkbau der Gemeinschaft auf die Stufe bloßer Gesellschaft herab und mit fortschreitender Zersetzung zerbröckelt die Gemeinschaft weiter zur bloßen Masse, die nicht mehr durch Einsichten geleitet, sondern nicht anders als durch Waffenterror in Schach gehalten werden kann.

Mit dieser Auffassung von der waffenfeindlichen Harmonisierbarkeit gegenläufiger Belange (Interessen) und der Notwendigkeit vernunftgemäßen Dauerfriedens außen wie innen wetteifert an Tiefe und Ueberzeugungskraft Mays in den Vorarbeiten zu »Babel und Bibel« (S. 52) und auch sonst klar ausgesprochene weltweise Grundansicht, daß das menschliche Leben unmöglich zur Tragödie bestimmt sein kann. »Babel und Bibel« trägt ja selbst als Vorspruch den Vierzeiler:

Gott schrieb die Schöpfung nicht als Trauerspiel;
Ein tragisch Ende kann es nirgends geben.
Zwar jedes Leben ringt nach einem Ziel,
Doch dieses Ziel liegt stets im nächsten Leben.

Der Fin de siècle-Moral und auch der Weltanschauung unserer Tage, soweit sie nicht an kraftvoll-


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freudigen Emporgestaltungslehren, wie der Rudolf Euckens, Vaihingers, Willy Schlüters - man verzeihe diese Zusammenstellung nicht ganz zusammengehöriger Denker! - sich emporrankt, ist ja der tragische Grundcharakter von Leben und Menschenschicksal ein ausgemachter Glaubenssatz, dessen Verleugnung Mangel an philosophischer Vornehmheit zu verraten scheint. Wie anders May! Er sieht die inneren Entwicklungsbedingungen »unserer strammen, praktischen und willensstarken Zeit« und kann in der Tragödie schlechterdings nicht die höchste und bevorrechtigte Kunstform erblicken.

Er irrt allerdings, wenn er glaubt, daß die Fabel, die er seiner »Phantasie« »Babel und Bibel« zugrundelegt, die Eignung zum Bau einer Tragödie erkennen ließe. Wo bleibt die Charakterentwicklung in Abu Kital? Wird dieser nicht vielmehr von Ben Tesalah magisch innerlich entwaffnet? Wird seine seelische Umschmiedung nicht auf die Zeit nach dem letzten Aktschluß in die Schmiede Kulub verlegt, der Abu Kital eine Wallfahrt gelobt? An welcher Stelle soll die Handlung geeignet sein, Furcht und Mitleid in unsrer Seele zu erregen? Ein Aufatmen, eine Entlastung von dem Alpdruck der Spannung, eine Art innerer Katharsis (Selbstreinigung) erfolgt ja, aber doch fehlen dem Stück, bzw. dem Stoff die Bedingungen einer tragischen Handlung. Es hätte sich kaum etwas anderes als ein phantastisches Schauspiel daraus machen lassen. Die Bezeichnung »Phantasie« zeigt wieder, daß sich May der Eigenart und Grenze seiner Behandlung bewußt war. Ein Drama im strengen Sinne liegt nicht vor, es ragt schon allerlei


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Neuestes-Allerneuestes aus dem Reich heutiger Bühnenkunst hinein; wenn man will, ist es schon als eine Vorstufe des heutigen sog. »Expressionismus« anzusehen.

Es wäre verdienstlich und aufschlußreich, einmal die übrigen Werke Mays daraufhin anzusehen, wo der Dichter die tragische Grundstimmung des Lebens, die wehselige Auffassung von der Ungerechtigkeit des Leidens bekämpft. Ich habe keine Spur von tragischer Blickeinstellung bei ihm gefunden. Das Leid ist ihm überall ein Mittel, ja das vorzüglichste, zu innerer Läuterung und Vergeistigung. (Vgl. vor allem seine ergreifende Selbstbiographie, Bd. 34 »Ich«.) Er ist wesensgleich mit dem größten Vertreter deutscher Mystik, unserm alten Meister E c k h a r t , der tapfer bezeugt: Das Leid ist das schnellste Tier, das uns zur Vollkommenheit trägt. Das Leid, auch das unverschuldete, kann, selbst in ärgster Häufung, einer so lebensgläubigen und den Lebenswert so bedingungslos bejahenden Natur wie der Mays nicht den Lebenssinn verdunkeln, das Lebensziel verrücken, das ihm ist: das Innenreich der Güte und seelischer Schönheit. Wie die Schraubenmutter die Spindel, so umgibt das Leid als festes Widerlager den Mut und Trieb zur Ich-Entwicklung, der sich in seinem entgegenpressenden Windungsgang gleichsam siegreich zur Höhe emporschraubt. Wo bleibt da Raum für eine tragische Weltanschauung, wo das Leid nicht als g e g e b e n , sondern stets als a u f g e g e b e n  erscheint? Finden wir doch auch in Christi Lehre keine Spur tragischer Weltschmerzlichkeit, sondern nur freudiges Fordern von Mithilfe, Verzeihen, Liebe.

Der tragisch gestimmte Mensch findet ein Ventil


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seiner inneren Schmerzspannung: den Humor. Wem das »Tragische als Weltgesetz« erscheint - so dem Schopenhauer-Schüler Julius Bahnsen -, der preist gern und mit Recht den Humor, der die Träne im Auge führt, als Erlöser, als »ästhetische Gestalt des Metaphysischen«. Wenn wir der scharfen Trennung von Humor und Komik eingedenk sind, so werden wir vergebens nach Humor i m  e i g e n t l i c h e n   S i n n e  bei May suchen. Ganz verständlich. Er hat ja eben nicht jene tragische Weltanschauung und Grundstimmung, die nun einmal das Keimbett abgibt, aus dem der Humor etwa eines Cervantes, Shakespeare, Jean Paul, Thackeray, F. Reuter hervorwuchs. Wenn wir den Begriff dagegen, wie üblich, weiterfassen und unter Humor auch den auf Ernst gegründeten Scherz, die heitere Laune verstehen, so war May, wie tausend köstliche und erquickende Stellen seiner Werke ausweisen, ein großer Humorist, der, wie W. Raabe, das Kleinste bedeutend macht und die graueste Alltäglichkeit mit einem versöhnenden goldigen Schimmer überspreitet. Doch ist sein Humor eben im Grunde e d l e   K o m i k , ein Umstand, aus dem kein Recht zur Verkleinerung Mays hergeleitet werden kann. Richtig verstanden, liegt sogar ein hohes Lob darin.  E i n   M a n n ,   d e r   w i e   M a y   t r o t z   s c h w e r e n   L e i d e r l e b e n s   s o   u n b e f a n g e n - n a i v ,   s o   i n   b e s t e m   S i n n e   r e a l i s t i s c h   d i e   W i r k l i c h k e i t   i n   s e i n e n   W e r k e n   g e s c h a u t ,   g e w e r t e t ,   g e s t a l t e t   h a t ,   m u ß   k ö s t l i c h    g e s u n d   u n d   k r a f t v o l l   i n   s e i n e r   S e e l e   g e w e s e n   s e i n . 


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Außer solchen Beiträgen zur Frage der Mayschen Weltanschauung empfangen wir aus vorliegenden Vorarbeiten zu »Babel und Bibel« auch sonst noch manche wertvolle Belehrung über seine Gedankenwelt. Nicht einheitlich sind seine seelenkundlichen Vorstellungen, worauf schon Dr. D r o o p  in seinem Buch »Karl May, Eine Analyse seiner Reiseerzählungen« (jetzt Karl-May-Verlag) aufmerksam macht (so S. 172 ff. und 182 f.). Während noch im »Reich des Silbernen Löwen« (Bd. 3 u. 4, 1902/3 verfaßt) der Geist als etwas der Seele Nachgeordnetes erscheint, wird hier (s. S. 74) dem Begriff des Geistes der höhere Rang zugesprochen. Der Dschamiki Pedehr - in dem May beiläufig seinem Freiburger Verleger Fehsenfeld ein Denkmal gesetzt hat - erklärt den Geist für ein Phantom, das eigentliche Wesen, das »höhere Ich« sei die Seele. (Vgl. Bd. 28, S. 285, 323, 634.) Wenn man May nicht, wie es Droop tut (s. o. S. 179), den Vorwurf einer heillosen Vermengung der Begriffe Seele (3), Geist, Anima, Intelligenz machen will - namentlich auch auf Grund des 30. Bandes (»Und Friede auf Erden«), so bleibt nur übrig, wie es die Buddhisten und Theosophen tun, eine S t u f e n l e i t e r  der Entwicklungsformen anzuerkennen, in der den Begriffen »Seele« und »Geist« ein sehr unterschiedlicher, ja gegensätzlicher, sich ausschließender Sinn, je nach der Entwicklungshöhe, gegeben wird. (Vgl. auch Max Dessoir, »Vom Jenseits der Seele«. Verlag von Enke in Stuttgart, S. 252.) Die Sprache in der Begrenztheit ihrer geschichtlich gewordenen Be-


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ziehungsweisen ist es - wie so oft bei Denkern -, die uns mit ihrer Vieldeutigkeit narrt. Seele und Geist erscheinen oft bei May in sachlicher Gleichsetzung, bald wechseln sie ihre Rangstellung, bald liegen sie im Kampfe miteinander. Hier in den Vorarbeiten zu »Babel und Bibel« klären sich die Anschauungen dahin, daß die Seele als bildendes Prinzip sich den Körper schafft - also »Neo-Vitalismus« -, »um sich durch ihn auf dem Leidenswege nach Kulub in Geist verwandeln lassen zu können.« (S. 65) Der Geist steht also hier über der Seele, so wie im theosophischen Begriffsschema hoch über » P r a n a « , dem Lebensprinzip der vier niederen Stufen, » B u d d h i « , die Geist-Seele und schließlich, als Krönung der ganzen Stufenleiter, » A t m a « , der kosmische Gottgeist thront. Dem Prana entspricht wohl die Anima Mays, das »vegetative« Prinzip (»Threptikon«, »Orektikon«, »Aesthetikon« des Aristoteles), während »Geist« entschieden noch mehr als Intelligenz (»Manas«?), eben »Buddhi« oder gar »Atma« sein muß.

Auch die Gesamtseele der Menschheit, die May fingiert und in Marah Durimeh symbolisch darstellt, macht Wandlungen oder Vervollkommnungsstufen durch; die noch jetzt herrschende wird dereinst durch die B i b e l - S e e l e  (= Bent'ullah) abgelöst werden. Das Christentum besteht noch nicht als Menschheitseinrichtung, ihm, d. h. dem w a h r e n  Christentum, werden »die nächst-zukünftigen Jahrtausende geschenkt«. Aehnlich H. St. Chamberlain, der ja bekennt, wir hätten noch nicht die Schwelle des Christentums überschritten!


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Zweifellos hat sich May nicht ablehnend mit Okkultismus beschäftigt, wenn er ihn auch gelegentlich verspottet. Zu denken gibt auch der Ausdruck »menschheitskindliche Imagination und Inspiration« (S. 66), deren ganze Summe er in dem ehrwürdigen H a k a w a t i verkörpert. Die Zusammenstellung dieser Ausdrücke erinnert an Steiner.

Wie auch sonst an zahlreichen Stellen seiner Werke (so Bd. 28, S. 308) reitet May hier wieder - und zwar in etwas unglücklicher Figur - sein Steckenpferd, indem er gegen die Schul-Psychologie glaubt vom Leder ziehen zu müssen. Er wirft ihr vor (S. 54), sie mache den Geist zum »unglücklichsten Zellengefangenen« im grauen Nervenbrei des Gehirns, versäumt aber über aller Polemik, seine eigene »neue, ursprüngliche, wahre« Psychologie klar auseinanderzusetzen.

Ein feiner Zug besteht darin, daß die dichterische Phantasie, als welche Marah Durimeh schon vor Erwartung heimlich und unerkannt zum H a k a w a t i  kommt, mit der Menschheitsseele wesensgleich, ja eine Person ist. Hier wird, ähnlich wie bei H e r d e r  und S c h i l l e r , der Phantasie ein sehr hoher Wert zugesprochen. In der Tat vermag keine Macht der Seele so wie die Phantasie mit ihrem Vermögen, sich in jede Form des ringenden Lebens hineinzuversetzen, den Menschen innerlich reif zu machen zum grundsätzlichen Verzicht auf das Gewaltwesen der beschränkten Anima. Hätte jemand, der die Unsumme von Weltkriegsqual und -leid hätte dichterisch voraussehen können, den Mut gefunden, den kriegerischen Austrag des Völkerzwistes noch


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im August 1914 zu empfehlen? Kein wahrer Dichter!

Ja, zu einer Art letzter Unableitbarkeit (Absolutum, Prinzip), zu einem Urgrund alles Werdens ist die Phantasie gemacht worden. Der Arzt und Forscher C. L. S c h l e i c h  sieht in ihr eine organ- und körperbauende Macht; aus ihrer Entartung deutet er die Erscheinungen der Hysterie: (Vgl. »Gedankenmacht und Hysterie«, Berlin, Rowohlt 1920).

Auf den Geistesgehalt und die Bedeutung von »Babel und Bibel« genauer einzugehen, wird noch die Neuherausgabe des Werkes selbst Gelegenheit geben. Nur noch dies: Wer die schwere Symbolik des eigenartigen Werkes würdigen will, muß die Fähigkeit haben, noch hinter Puppenspielen - vgl. auch G e r h a r t   H a u p t m a n n s   Jahrhundertfestspiel zum Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig (1913!) - die Hintergründe großen seelischen Geschehens zu schauen. Von May gilt ganz besonders, was  R u d o l f   J h e r i n g   einmal von  B e r n a r d   S h a w   sagt: »Er ist stofflich banal und geistig anspruchsvoll. Er nimmt das äußere Thema niedrig, damit er das innere hoch nehmen kann.« Das Doppelbodige als solches bei May durchschauen können, macht erst den rechten M a y - L e s e r  aus!





[Anmerkungen (Im Original am Ende der jeweiligen Seite.)]

1 Im vorliegenden Jahrbuch abgedruckt auf Seite 41.

2 Wie es so hervorragend klar  W i l l y   S c h l ü t e r  in seinem »Deutschen Tatdenken« (Oskar Laube, Dresden 1919) lehrt.

3 Vgl. auch Bd. 28, S. 459/61, ferner Bd. 34, S. 342.


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