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Zu Mays Lyrik

Von Studienrat Dr. Max Finke

Das Bild Mays muß Tiefe bekommen. Je deutlicher die Schatten darin hervortreten, um so heller die Lichter. Das Urteil muß seine Persönlichkeit gliedernd erfassen.

So ist beispielsweise mein Urteil über die Güte und Höhe der Mayschen  L y r i k  wesentlich ungünstig. Es hat sich bei der Durchsicht seiner Hinterlassenschaft an Versen verschärft. Unter den Nachlaßhandschriften sind neun Zehntel einzuschätzen nur als allgemein und sehr bestimmt gefühlsbetonte Reime, die deutlich zeigen: hier lag Mays Stärke nicht. Alle diese - oft mißlungenen - Verse haben aber gewiß eine erhebliche, persönliche Bedeutung für die Gefühlswelt Mays gehabt. Er kräftigte an ihnen sein rhythmisches Lebensgefühl. Ihr Gefühlsablauf ist matt, ohne Steigerung und Höhepunkte, ohne Leidenschaft und Tiefe des Fühlens, ein sanfter Trank, der einem in goldgeränderten Gläsern der gefühlsreichen, in verschleierten allegorischen Allgemeinvorstellungen schwelgenden Gründerzeit seligen Angedenkens dargereicht wird. Seine Bestandteile bestehen aus kaum mehr als einem Dutzend Begriffsschemen der Kirschblüten- und Goldschnittlyrik, die keine eigentliche Lyrik ist: Sonnenstrahl, Tautropfen,


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du lieber, lieber Morgenwind, Morgenlicht, Glocken, Berg, Tal, funkelnde Nacht, Sterne, Flügel, dazu das gedrechselte Mobiliar einer altfränkischen, schlichten Seelenstube: Schmerz, Freude, Leid, Weh, Hoffnung. Fast keine Spur von Gestaltungskraft. Erzeugnisse der Ermattung.

Das ist das Urteil von außen. Es gibt aber auch ein Urteil von innen her, aus dem Mittelpunkt des Erzeuger-Erlebnisses heraus, das  h i e r  freilich nicht das Erlebnis des Dichters, sondern eines Durchschnittsmenschen ist. Diese sogenannten Gedichte sind Aeußerungen einer Müdigkeit, die auf Zeitspannen wirklich bedeutender schöpferischer Vorgänge in Mays Innern folgten.

Die Verse rollen, nur schwach gebremst von der Hemmung der Rücksicht auf die Endungsreime, zwangsläufig ab. Sie sind erstarrte, kristallartige Gefüge ohne neuschöpferische Eigenschaften. Eine allgemeine, innerer Handlung bare Lebensgefühlstönung untermalt diese - mit Füllseln (45) und Abgebrauchtheiten reich geschmückten, als Poesie unmöglichen - Reimschmiedereien. Sie sind nicht drangvolle Ausdrücke von Erlebnissen, sondern der Ausfluß einer Altersstimmung, die zwar eine große, achtungheischende Beharrungsfähigkeit einer ererbten, sicheren Gleichgewichtslage der Seele zeigt, aber doch gekennzeichnet wird durch den Mangel an Erleben. Hier äußert sich zum mindesten nicht Urerlebnis, sondern über sich selbst verlegenes, schwächliches Bildungserlebnis. Wie ureinfach war die Technik


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dieses Dichters. Vielfach findet sich am Rand eine ganze Auswahl von Reim-Endsilben aufgeschrieben: Flieder, Glieder, wider, wieder, Gefieder usw. Wie aus Brümmers Reimlexikon. Jetzt wurde in die leere, durch das End-Gußstück des Reims beschränkte Zeile das Erleben hineingerückt. Kindlich ist die gefühlsmäßige Auffassung vom Wesen des Verses. »Du lieber Sternenschein.« Das war zum Teil Zeitstil, diese überreiche Verwendung des - nur der deutschen Sprache eigentümlichen - Wortes »lieb«. (Lieber Gott, das liebe Brot, die liebe Not...)

Die gesunkene Schaffenskraft des alternden Karl May zeigt sich auch darin, daß er der Verführung zu trockner Allegorie erliegt. Die Einkleidung seiner Gefühle ist zweckhaft, geklügelt, nicht dichterisch-unbewußt.  E d u a r d   E n g e l , der bedeutende Litarhistoriker, der neuerdings (siehe den Anhang zum 2. Band seiner "Deutschen Literaturgeschichte" 1920) May Gerechtigkeit widerfahren läßt (46), betont aus guten Gründen, daß nur die absichtslosen, aus dem Unbewußtsein entstehenden Literaturwerke dauern werden. Alle Zweckschriften sind zu schnellem Untergang bestimmt. Das Zweckhafte der Mayschen Reime - ihr Zweck ist meist seine Verteidigung - schädigt ihre Wirkung erheblich.

Begreiflich und für gesundes Urteil zeugend finde ich, daß Fehsenfeld - durch mancherlei Enttäuschungen, wenn nicht Fehlschläge gewitzigt - sich


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anfangs sträubte, Mays »Himmelsgedanken« zu verlegen.

Mays Lyrik hat an sich geringen Wert. Ihre Abfassung dagegen, das muß immer betont werden, als Erlebnis, als Vorgang neuer seelischer Einstellung, Klärung und Festigung in Zeiten innerer Wenden und Heilungen hatte für ihn selber einen Wert, der seelenkundlich kaum überschätzt werden kann. Seine Gedichte drücken in häufig gebrauchten Wendungen und Vorstellungen ein allgemeines, hochstrebendes Gefühlsleben aus. Er wühlt, um musikalisch zu reden, in Harmonien, ohne daß sich eine klare Gliederung und Linienführung herausstellt. Seine Lyrik hat keine Melodie. Um große Lyrik zu schaffen, war der überwiegend unterbewußte May in der Tiefe seines Unterbewußtseins, kraft dessen er anderseits der große Erzähler wurde, nicht genügend durchgeschult. Dazu fehlte ihm die stetige innere Selbstbefruchtung und Verjüngung durch das Formerlebnis, das z.B. in Goethe so lebendig war. Von außen betrachtet, kommt deswegen seine Lyrik, von wenigen gut gelungenen volksliedartigen Versen abgesehen, so den Gedichten »Der Schlehdorn steht in Blüten« (Bd. 49, S. 167) und: »Ich bin so müd, so herbstesschwer« (Bd. 49, S. 117), nicht über den Rahmen einer »schablonierten« Goldschnitt- und Kirschblütenlyrik hinaus. Doch was Schablone dünkt, war die Stetigkeit einer inneren Gleichgewichtslage, in die er sich flüchtete, wenn es in ihm gärte und brodelte. So schreibt er (Bd. 34 »Ich«):

Kaum hatte ich mich hingesetzt, um die Disposition zu diesem hochstrebenden Gedicht niederzuschreiben, so trat eine


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seltene Klarheit in mir ein, ich sah das frohe Lächeln der lichten Gestalten, und hundert schöne edle Gedanken eilten herbei, um von mir aufgenommen zu werden.

Was strengem Maßstab wertlos scheint als fertiges Ergebnis, bedeutete in der Schwebe des inneren Vorgangs und im Formvollzug der Gefühlsäußerung nichts weniger als Heilung und innere Rettung. Doch sei immerhin zugegeben, daß May selber völlig fehl ging, wenn er sein Vermögen zur Lyrik häufig als eine besonders schätzenswerte Seite seiner Veranlagung bezeichnete. Er irrte hierin nicht weniger, als - meines Erachtens - in der eignen Beurteilung seines Zweiakters »Babel und Bibel«, den er für sein bedeutendstes Werk erklärte. (Dieses Drama befindet sich gleichfalls in Bd. 49.)

Mays Lyrik beurteile ich schärfer als selbst Ansgar Pöllman O.S.B. in seinen »Rückständigkeiten«. Ravensburg, F. Alber, 1906, S. 148. Er bezeichnet sie als »nett und glatt«, als »fehlerlose Verse« eines Dilettanten. Ich finde sie schon in der Form unvollkommen und inhaltlich kraftlos. Nur im Aufbau, im Aneinanderreihen der zumeist matten Gedanken verrät sich Sinn für Wirkung, aber auch nur äußerer Art. Verdient ihren Namen eine Lyrik, die sich in der Abwandlung immer wieder derselben Gemeinvorstellungen erschöpft? Der Verstand scheint mehr beteiligt als das Gemüt des Verfassers, das hier nicht tiefer erlebt, sondern im Gegenteil kräftiges Erleben verhindert, indem es sich durch die äußere wie innere Eintönigkeit der Verse gleichsam einlullt. Der Zweifel ist berechtigt: »Ob May in ihnen den Ausdruck tiefer künstlerischer und religiöser Stimmung suchte?« Für


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unbegründet aber halte ich Pöllmanns Verdacht, »daß sie (die "Himmelsgedanken" in Band 49) in kritischer Lage etwas beweisen sollten. Aber sie kamen zu spät«. War May so berechnend? Ich halte es für völlig ausgeschlossen.

May erzählt in »Weihnacht« (Bd. 24) sehr launig, wie sein Weihnachtsgedicht »Ich verkünde große Freude« eine allgemeine Dichtwut unter seinen Klassengefährten verursachte. Die Konferenz mußte einschreiten. May gelobte sich, seine Gedichte erst nach seinem Tod herausgeben zu lassen. Diesem Verzichtvorsatz vermochte er nicht treu zu bleiben. Trösten wir uns mit einigen ihm geglückten Versen für die übrigen!  » D i e   B e r g e   v o n   B e f o u r «  (Jahrbuch 1919, S. 384, desgleichen auch im Roman »Zepter und Hammer«) gehören zu den Ausnahmen, die versöhnen können.





[Anmerkungen (Im Original am Ende der jeweiligen Seite.)]

45 »Geh hin und lasse dir verzeihen!«

46  F i n k e s  Ausführungen stammen aus dem Jahr 1922. Engels Beitrag »Spannung« (Jahrbuch 1925) war ihm nicht bekannt. Die Herausgeber


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