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Hermann Wiegmann

Stil und Erzähltechnik in den Orientbänden Karl Mays


Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich auf die Orientbände, prinzipiell gilt aber das, was beim Orientzyklus zu beobachten ist, auch für die anderen Reiseerzählungen Karl Mays. Erst im Spätwerk wird man teils verwandte, teils unterschiedliche erzählerische Mittel bemerken können.

   Im folgenden soll versucht werden, den Charakteristika des Mayschen Erzählens auf die Spur zu kommen, indem

1. Aufbau und Struktur der Handlungen
2. Stil (Satzbau, Wortwahl, Bilder, Dialogführung usw.)
3. Epische Behandlung von Zeit und Raum (Vorausdeutungen, Rückblenden, Szenerie)
4. Erzählperspektive
5. Zwei ausgewählte Sequenzen aus der Schilderung der Haremsentführung in Band l

des näheren untersucht werden.

1. Da die sechs Bände des Orientzyklus zunächst als Fortsetzungsromane in der Wochenzeitschrift 'Deutscher Hausschatz' abgedruckt worden waren, hatte Fehsenfeld beim ersten Buchdruck die ursprüngliche Gliederung geändert, um eine ungefähr gleiche Druckseitenzahl zu erreichen. So umfaßt etwa der umfangreiche Fortsetzungstitel Durch das Land der Skipetaren im 'Hausschatz' sowohl die Kapitel 7-8 des vierten Bandes In den Schluchten des Balkan, den ganzen fünften Band und die Kapitel 1-7 des sechsten Bandes Der Schut bei Fehsenfeld. Das als Anhang im letzten Band bezeichnete Kapitel, welches die Ereignisse um Rihs Tod schildert, ist als Ergänzung für die Buchausgabe verfaßt worden und fehlt im 'Deutschen Hausschatz'.

   Im ersten Band arbeitet May mit einer epischen Schnitt-Technik, die ursprünglich einzelne novellistische Erzählungen aus dem 'Deutschen Hausschatz' (Abu el Nassr, Die Tschikarma usw.) polyperspektivisch zusammenfügt. Freilich verrät bereits der Name 'Barud el Amasat' in der Tschikarma, daß May bei der 'Hausschatz'-Fassung schon an eine mögliche zusammenhängende Fortsetzung gedacht haben muß. Durch Wüste und Harem ist Exposition und allmähliche Entfaltung einer abenteuerlichen



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Utopie der besseren Identität; die epischen Sequenzen mit dem Eingangserlebnis in der Wüste, dem Nil-Abenteuer, dem Piratenüberfall am Roten Meer usw. fügen sich wie selbstverständlich zu einer expositionellen Komposition, die schließlich die Amasat-Handlung, die Abrahim-Handlung, die Abu-Seïf-Handlung und die Haddedihn-Handlung in ein linear vorwärtstreibendes, sich immer mehr entfaltendes Geschehen einmünden läßt, das vom Schluß des Bandes mit dem handlungstreibenden äußeren Thema 'Befreiung Amad et Ghandurs' in die Folgebände überleitet. Die Mossul-Handlung gehört eigentlich schon als Teil der Merd-es-Scheïtan-Handlung in den zweiten Band hinein. Während die Episode um Abu-Seïf abgeschlossen wird, verschwindet Abu el Nassr bis zum letzten Band in den Hintergrund, Abrahim bis zum dritten Band. Es beginnt geradezu kriminalistisch mit der Leiche in der Wüste, dann folgen gesteigerte Exotik im Harem und in Mekka, dazu Piratenüberfall und Beduinenschlacht. Es wechseln einsträngigere Handlungsführungen mit komplexeren: So hat die Abu-Seïf-Handlung viel mehr Ortswechsel als die Abrahim-Handlung, die Handlungsstruktur ist verwickelter. Insgesamt wechseln die Räume extremer Bewährung (Wüste, Steppe, Meer), aber trotz eingehender geographischer und kulturgeschichtlicher Beschreibungen und Erläuterungen an manchen Kapitelanfängen spielt die reale Topographie keine Rolle. Es ist die Schlucht, die Wüste, die zum Raum der Bewährung wird. Die Zeit ist erlebte Zeit als erzählte Zeit, die sich da zwangsläufig der Erzählzeit annähert, wo intensiv erlebt wird bzw. im Dialog. Chronologische Zeitangaben sind relativ vage ("einige Tage später", "einige Wochen darauf").

   Im zweiten Band kann die epische Schnitt-Technik entfallen, Tempo und Sequenzen freilich ändern sich vom ersten Teil des Bandes Durchs wilde Kurdistan zum zweiten. In der ersten Hälfte ist die Handlung auf wenige Orte konzentriert (Zentrum der Dschesidi, Festung Amadijah) mit episch breiter Ausführung der Situation, atmosphärischer Ausmalung des Geschehens und mit der Zeit für kurzweilige Episoden (Mersinah-Passagen etwa). Dann wechseln in der zweiten Hälfte in rascher Folge die Schauplätze: wiederholte Gefangennahmen und Befreiungen, die im ersten Teil fehlen, wechseln mit Hinterhalten, mit unerwarteten, spontanen Geschehnissen; alles wird bedrohlicher, auch undurchsichtiger. Anfang und Ende des Bandes korrespondieren insofern,


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als man die Apotheose Pir Kameks als vorausdeutendes Vorspiel für den Nimbus der Marah Durimeh ansehen kann.

   Die Bedrohlichkeiten, die sich im zweiten Teil des Kurdistan-Bandes in relativ schnellen Sequenzen addieren, setzen sich strukturell im ersten Teil des dritten Bandes Von Bagdad nach Stambul fort als Wirrwarr von Gefangennahme und Entkommen, Verfolgtsein, Verwundung der Gefährten und Tod Mohammed Emins bis hin zu Passivität, Ausgeliefertsein und Elend als Pestkranke. Es ist der zweifellos düsterste und beklemmendste Teil der Orienterzählungen, die Pestszene ist erzählerisch aber auch eine der besten, da sie Apathie, Bedrückung, Teilnahmslosigkeit atmosphärisch treffend und eindringlich wiedergibt. Die kurzen Handlungsszenen sind wie Bilder eines Fieberkranken verdichtet und gestaltet, bei der Szene mit den Räubern von traumhaft-unwirklicher Suggestivität. Der Band verstärkt zudem die Exotik des Geheimnisses: der rätselhafte persische Prinz, das Geschehen am Turm zu Babel, das Belauern in den unterirdischen Gängen von Baalbeck usw. Erst im Schlußteil (Beginn des Letzten Ritts im 'Deutschen Hausschatz') ordnet sich das Geschehen wieder teleologisch, bekommt es Gefälle auf ein klar konturiertes Ziel. Omar und Osko stoßen zu dem Kreis der Verfolger, das Ensemble für die Folgebände ist komplett.

   Im Gegensatz zum dritten Band ist vom vierten Band an eine klar strukturierte Handlungsfolge zu beobachten, die sich von der Jagd nach den Feinden bis nach Albanien im sechsten Band Der Schut her bedingt. Dabei spielt es keine Rolle, ob man sich in Bulgarien oder Albanien befindet. Es ähneln sich die kleinen Orte und Flecken, Schluchthütten und Gasthäuser. Die Personenbesetzung der Verfolger bleibt konstant, dagegen nimmt die Gruppe der Verfolgten und neu auftauchenden Schurken bis zum letzten Band zu. Die Kapitelfolgen verlaufen nun ohne epischen Schnitt, die Überleitungen bringen teils ausführliche und detaillierte Ortsangaben. Die Situationen in den letzten drei Bänden ähneln sich prinzipiell. Zweikämpfe mit immer nennenswerteren Gegnern wechseln ab mit Intermezzi retardierender Art, in epischer Breite und meistens situationskomischer Art wie die Episode im Taubenschlag; immer wieder kommt es auch zu Gerichtsverhandlungen - utopische Varianten leidvoller Lebenserfahrung.

   Der Anhang hat novellistischen Charakter. Der 'Falke' der Novelle ist Rih und dessen restlose Zuneigung zu seinem Herrn, die in dem 'unerhörten Ereignis' gipfelt, daß das todwunde Pferd


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noch einmal aufsteht und sich zu seinem Herrn aufmacht. Vorausdeutend ist der tragische Verlust Rihs in der Eingangsepisode vorgezeichnet, als er von Pferdedieben geraubt wird. Für die äußere Handlung ergibt sich das treibende Motiv, das Grab Mohammed Emins zu besuchen. Doch der weitere Fortgang der Handlung ist nicht in diesem äußeren Anlaß begründet, sondern im Charakter Amad el Ghandurs vorentschieden, dessen Starrsinn und Uneinsichtigkeit für die innere Handlung die Wende bringen - die Peripetie der Novelle. 'Vertrauen' ist das eigentliche Thema der Novelle, und an der utopischen Identität von Kara Ben Nemsi scheiden sich Freund und Feind. Die Novelle hat keinerlei unpassende und verzögernde Nebenhandlungen, keine Szenen, die das Gefälle der Haupthandlung hemmen.

2. Stil ist ein komplexes Phänomen. In der Stiltheorie wird mit der Dichotomie von emotional-affektiven und rationalen Sprachelementen gearbeitet, wird auf die Stimmigkeit von formalen und inhaltlichen Elementen bei der Verwirklichung der Intention geachtet, wird Stil in linguistischen Denkmodellen auch als Abweichung von der Sprachnorm gesehen usw. Buffons berühmt gewordener Satz 'Le style, c'est l'homme meme' trifft sicher den wichtigen Aspekt der Individualität jedes Schreibers, wobei freilich nicht nur auf individuelle Sprachcharakteristika zu achten wäre, sondern auch auf hineinspielende konventionelle, d.h. etwa auf einen prägenden Epochenstil.

   Karl Mays Stil ist m. E. eher rationalistisch bestimmt als affektiv-emotional, eine Einschätzung, die vielleicht verwundern mag, wenn man an die doch zahlreichen Passagen denkt - in den Marienkalendergeschichten beispielsweise, aber auch in den Orientbänden, etwa bei Rihs Tod -, wo zu Herzen gehende Ereignisse geschildert werden. Doch das täuscht, jedenfalls in den Orientbänden. Man denke an die Szene bei der Befreiung Senitzas, wo Kara Ben Nemsi in Todesgefahr schwebt und nur mit letzter Kraft das Gitter zerbrechen kann. Mancher Leser wird von der Realistik und Nüchternheit der Folgepassagen vielleicht überrascht sein. Kein leidenschaftliches Nachempfinden, kein affektives Verdichten (ähnlich übrigens nach Winnetous Tod, wo im Folgekapitel der nüchtern-chronikale Erzählstil unmittelbar einsetzt). Daher halte ich Schulte-Sasses Einschätzung, daß Karl Mays Prosa eine 'antirationalistische' Tendenz zeige1, auch für falsch. Es ist eher frühaufklärerischer Optimismus mit einer Dominanz des


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utopischen Vernunftbegriffs. Die Vernunft der Welt ist die Vernunft eines waltenden und lenkenden Schöpfergottes in Mays Romanen, die Bewältigungsversuche und Überzeugungsstrategien darstellen, eine neue utopische Identität zu gewinnen und die eigene krude Wirklichkeit faktischer Bedingtheiten zu übersteigen. Die Utopie des Abenteuers in den Orientbänden ist immer auch märchenhafte Kommensurabilität der Details, aber keinesfalls antirationalistisch, sondern gerade getragen vom gegen die faktische Wirklichkeit durchgehaltenen Optimismus hinsichtlich der Vernünftigkeit der beschworenen Utopie.

   Dabei fällt auf, daß die Passagen, in denen sich emotionale Betroffenheit und affektives Engagement verraten, nicht vom Bewußtseinsbericht des Ich-Erzählers dominiert sind, sondern von empfindsamer Wahrnehmung, und relativ rasch abgelöst werden von chronikal-narrativen Passagen oder ethisch-wertenden. Seine eigene Verzweiflung, Enttäuschung, Begeisterung teilt der Ich-Erzähler nur ansatzweise und verknappt mit. Man mag das psychoanalytisch aus der Kenntnis der Biographie Mays heraus deuten können - tatsächlich wären hier Analysen berechtigt.

   Was die Stimmigkeit des Sprachstils angeht, so mag Ernst Blochs Kommentierung als "Spät-Coopersche[s] Papierdeutsch"2 Richtiges treffen; die relativ bilderarme, konventionalisierte, syntaktisch überschaubare und außerordentlich verständliche Sprache ist aber immer geeignet, Spannung und Neugier des Lesers vom erzählten Inhalt selber her zu fesseln: Sprache also in rein funktionaler Hinsicht und damit durchaus dem Abenteuerstil des ausgehenden 19. Jahrhunderts verpflichtet. Mays Sprache ist aber in den Orientbänden nie Kitsch, da Kitsch beruhigt und mit der vorhandenen Wirklichkeit versöhnen, dabei eine heile, edle und konstruierte Welt auch eben durch Sprache formulieren will. Man vergleiche den folgenden, von mir erfundenen kitschigen Text mit einem beliebigen Satz bei Karl May: "Fernher rauschte die See in holder Stille, Eva empfand die berückende Liebkosung des Windes, ihre anmutige Gestalt bebte, träumend sank sie in den Lehnstuhl, der noch die holde Berührung des Geliebten atmete." Wenn Ähnliches vorkommt, wie vielleicht ansatzweise im später zitierten May-Text ("Die leisen Lüfte, welche mit dem Schatten der Dämmerung gespielt hatten, waren zur Ruhe gegangen..."), so wirkt es wie pflichtschuldigst zitiert und ist durchweg nur embryonal und vereinzelt intoniert.


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   Der insgesamt beschreibend-schildernde Stil präsentiert sich in einem durchweg parataktischen Satzbau, der die Verständlichkeit vor allem bei szenischen Darstellungen und Erzählberichten erleichtert. Längere Sätze haben häufig kausale, konsekutive und konzessive Anschlüsse in den Nebensätzen; der durchweg klare syntaktische Aufbau in der Folge Subjekt-Prädikat-Objekt begünstigt ebenfalls die Lesbarkeit. Wenn etwa mit adverbialen Bestimmungen eingeleitet wird ("Bei diesen Worten zog er seine Stirn in sechs drohende Falten", I 3), handelt es sich um überschaubare Wendungen, die folgerichtig und einsichtig an den Vordersatz anschließen. Bei unverbundenen Prädikatshäufungen ("zog [...], zupfte [...], zerrte [...], schlenkerte [...] und fuhr", I 3) bleibt die Parallelität der Satzgliederfolge gewahrt. Als wohltuend erscheint der Verzicht auf die stilistisch umständlich und überflüssig wirkenden Satzanschlüsse wie 'dann', 'darauf' usw. Insgesamt erscheint der Satzbau übersichtlich, klar geordnet und entspricht formal der erzählerischen Intention Mays, nichts unerklärt zu lassen, eigene Absichten nicht zu verbergen, mit dem Leser eine verständnisinnige Beziehung aufzubauen.

   Man hat bei einer Analyse des Bandes Winnetou l etwa 3 000 verschiedene Vokabeln notiert, die Wortwahl betreffend sicher kein Befund einer gehobenen Sprache. Unzweifelbar ist auch der Sachverhalt, daß z.B. die Verbauswahl in den Orientbänden ('gehen', 'laufen', 'fassen', 'kommen', 'sehen', 'fragen' usw.) eher allgemein vertraute und häufig verwandte Vokabeln bietet und die Nomina etwa einer Seite aus dem ersten Band ('Zeichen', 'Volk', 'Hemd', 'Kleidung', 'Kampf', Satz', 'Stellung' usw., I 14) kaum abstrahierende Substantive darstellen oder originelle Adjektive aufweisen. Die verständliche Sprache erleichtert andererseits aber die handlungskonzentrierte Aufmerksamkeit des Lesers. Ein Nachsinnen über sprachlich schöpferische Wendungen und Wortkompositionen ist nicht erforderlich. Das gilt auch für die Eigenart Karl Mays, gerne fremdsprachliche Wendungen, vornehmlich in den Dialogen, wiederzugeben, in Türkisch, Arabisch usw., wobei aber auch immer die entsprechende Übersetzung mitgeliefert wird.

   Die Sprache Karl Mays in den Orientbänden (und überhaupt) ist nicht sehr metaphorisch, er gebraucht Bilder aber durchaus, und zwar meist bei philosophisch-populären und kulturdeutenden Erklärungen oder besonders bei physiognomischen Vorstellungen, so etwa im ersten Band bei der Beschreibung Halefs: "Er


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war [...] so hager und dünn, daß man hätte behaupten mögen, er habe ein volles Jahrzehnt zwischen den Löschpapierblättern eines Herbariums in fortwährender Pressung gelegen." (I 1f.) Oder im letzten Kapitel der Schluchten des Balkan: "Die Visage eines tätowirten Südseeinsulaners ist das reine Schönheitsideal dagegen." (IV 526) Am erfinderischsten wird der Stil eigentlich, mit Tendenz zum Bildhaften, wenn humoristische Episoden dargestellt werden, so etwa bei der Begegnung mit der 'Erdbeere' im Balkan-Band. Da fallen Formulierungen auf wie "ventre á terre", "Baker's oven", "mit Gebäck interpunktiert", aber auch Vergleiche wie "Ich war die zornige Erinnye, die rächende Eumenide" (IV 110-112) - nicht immer originell, manchmal preziös, aber dann mit Freude an sprachlichen Wendungen und Aufmerksamkeit für den sprachlichen Ausdruck.

   Der häufige Dialog ist typisch für Karl May - nicht nur in den Orientbänden. Er sorgt für Lebendigkeit in seiner informierenden, klärenden, oft auch entlarvenden Funktion. May nutzt vor allem gern den dramatischen Spannungseffekt, indem er das Zwiegespräch auf eine bestimmte Pointe zulaufen läßt:

"Sihdi!"

"Was?"

"Darf ich dir etwas sagen?"

"Ja."

"Kennst du den Strauß?"

"Ja."

"Weißt du, wie er ist?"

"Nun?"

"Dumm, sehr dumm."

"Weiter!"

"Verzeihe mir, Effendi, aber du kommst mir noch schlimmer vor, als der Strauß."

"Warum?"

"Weil du diese Schurken laufen lassest." (I 28f.)

Wie im Eingangskapitel von Durch Wüste und Harem, und zwar in dem theologischen Gespräch mit Halef, benutzt May mit Vorliebe auch eine Art maieutischen Verfahrens (also des sokratischen Fragens, um den Gesprächspartner von seiner anfänglich apodiktisch behaupteten festen Position abzubringen) für seinen Helden Kara Ben Nemsi, um dessen Überlegenheit zu beweisen, aber auch, um als impliziter Autor seine Stellungnahme zwischen den Zeilen einzubringen, mit der Lust an überzeugender Argumentation, wenn er Halef etwa nachweisen kann, daß er sich unberechtigterweise 'Hadschi' nennt, da er nie in Mekka gewesen


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sei. Aber der Dialog hat bei Karl May in vielen Fällen auch handlungstreibende Funktion. Die gewonnenen Erkenntnisse bereiten die Aktionen vor, Mißverständnisse erhellen sich, Übereinkünfte werden geschlossen, die für den Fortgang der Handlung von Bedeutung sind. Das Ende eines Dialogs leitet insofern häufig zur daraus resultierenden Handlungseröffnung über, ist aber auch nicht selten durch ein neues Ereignis bedingt (Auftritt einer neuen Person, Faktum eines unvorhergesehenen Ereignisses). Relativ oft beschließt der Held mit einem - sprechakttheoretisch gesprochen - sogenannten 'master-speech-act' den Dialog, d.h. daß er die Diskussion abschließt, das weitere kommunikative Verfahren vorgibt und lenkt.

3. Epische Vorausdeutungen werden nur sehr sparsam verwendet, so etwa am Schluß des Wilden Kurdistan mit dem Hinweis auf das Amulett von Marah Durimeh: "Später sollte es mir allerdings sehr nützlich sein [...]; freilich konnte ich nicht erwarten, daß der Inhalt ein so überraschender sei." (II 638) Oder am Schluß des Bandes Von Bagdad nach Stambul: "nun aber ging es anders, nach Westen zu, [...] größeren Anstrengungen und Gefahren entgegen, als wir ahnten." (III 644)

   Rückblenden dagegen ergeben sich öfter, quasi zwangsläufig beim Nachliefern einer der Lebensgeschichten, wenn neue Personen auftreten, so wenn der rätselhafte Albani erscheint, der immer einmal zufällig aufkreuzt und verschwindet, mit letztlich epischer Funktionslosigkeit, oder wenn Hannehs Mutter ihre Geschichte erzählt. Häufiger ist es auch Sir David Lindsay, der seine eigenen Wege gegangen war und seine Erlebnisse nachholt. Rückblenden ergeben sich ebenfalls, wenn der Hauptstrang der Erzählung weiterläuft und eine Nebenhandlung nachgetragen werden muß, so wenn Mohammed Emin sich aus guten Gründen von Kara Ben Nemsi und Halef trennen muß, zwischenzeitlich gefangen wird und am Schluß des ersten Bandes berichtet, wie es zu seiner Gefangennahme kam. Halef muß dem fieberkranken Sihdi ebenfalls retrospektiv Auskunft erteilen usw.

   Das Arrangement der Szenerie ergibt sich vom ersten Band an aus der ständigen Situation des Verfolgerstatus. Entweder gerät man in einen Hinterhalt, aus dem es sich zu befreien gilt, oder man hat eine verdächtige Schluchthütte zu beschleichen, ein unbekanntes Terrain zu erkunden oder zwischenzeitlich - mit epischer Breite ausgeführt - ein Intermezzo zu bestehen. Dabei ist


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durchweg der Ort des Geschehens deutlich konturiert (die Hütte, die Herberge, das Waldstück) und als Ort vermeintlichen Schutzes immer bedroht oder aber Ziel listiger oder gewalttätiger Eroberungen. Die Handlungsorte ähneln sich und sind letztlich austauschbar: der Raum ist Ort utopischer Bewährung.

4. Die Ich-Erzählform ist von unmittelbar-intimerer Art als die Er-Erzählweise. Grundsätzlich bleibt May bei der personalen Ich-Erzählperspektive und vermeidet Auktorialität, die fiktionszerstörend wirken würde. In diesem Zusammenhang ist ein klärendes Wort angebracht zur Begriffsverwendung. Es hat sich eingebürgert, nach der typologischen Differenzierung von Stanzel Ich-Erzählweise, personale und auktoriale Erzählweise zu unterscheiden. Eine saubere Abgrenzung freilich macht erforderlich, daß typologische Charakteristika eindeutig separiert und nicht verschiedenen Erzählweisen zugleich zugewiesen werden. Eben das ist aber bei der Stanzelschen Typologie nicht der Fall. Er versteht nämlich unter Auktorialität zweierlei: epische Allwissenheit einerseits und fiktionszerstörendes Auffälligmachen des Erzählens andererseits. Nun gibt es aber kaum ein anderes Werk der Weltliteratur, das auktorialer im Sinne von Fiktionszerstörung verfährt als Sternes Tristram Shandy, das einen Ich-Erzähler hat.

   Es ist m. E. viel sinnvoller, prinzipiell formal-äußerlich nach Ich- und Er-Erzählform zu unterscheiden, ferner zu trennen zwischen fiktionserhaltendem und fiktionszerstörendem Erzählen und schließlich zwischen epischer Allwissenheit und einer begrenzten Perspektive des Erzählers. Damit vermeidet man unsaubere Vermischungen oder unscharfe Abgrenzungen und kann auch einen allmählichen oder gleitenden Übergang komplizierterer Formen zwischen zwei Extremen deutlicher markieren. Wendet man das auf Karl Mays Erzählperspektive im Orientzyklus an, so haben wir es rein formal mit einer Ich-Erzählung zu tun, in der aus personal begrenzter Perspektive erzählt wird, ohne Vorgabe epischer Allwissenheit, die der märchenhaft-utopischen Fiktion entgegenstehen würde. Dem Gottvertrauen und Scharfsinn des Protagonisten ist es aufgegeben, die Gedanken, Absichten der Anderen zu entschlüsseln. Das führt auch zu nur ganz behutsamem Auffälligmachen des Erzählens an wenigen Stellen, zu einem Verzicht also auf auktoriale Fiktionszerstörung, wie etwa in der einleitenden Erklärung zum Anhang:


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[...] viele Hunderte von Zuschriften aus allen Gegenden des Vater- und auch des Auslandes haben mir bewiesen, welch ein inniges Seelenbündnis sich zwischen meinen Lesern und mir herausgestaltet hat. (VI 536)

Schauen wir uns nun Stil und Erzählweise in einer Szene aus der Haremsentführung etwas näher an.

5. Nach dem Eingangsabenteuer um Abu el Nassr folgt mit dem Haremsabenteuer eine neue Episode und damit verbunden ein epischer Schnitt. Kara Ben Nemsi hat mit bescheidenen medizinischen Kenntnissen einige ärztliche Hilfe leisten können und wird daraufhin von dem wohlhabenden Abrahim-Mamur eingeladen, seine 'Frau' zu behandeln. Das erfordert einen Arztbesuch im Harem! Die verschleierte Frau flüstert ihm einen Hilferuf zu, und Kara Ben Nemsi trifft dann zufällig ihren Verlobten, Isla Ben Maflei, und erfährt, daß die Verschleierte Senitza ist, eine Montenegrinerin, die ein Armenier namens Barud el Amasat fälschlicherweise als Sklavin ausgegeben und verkauft hat. Nun wird die Entführung Senitzas geplant - unser Textausschnitt setzt bei diesem Vorhaben ein. Kara Ben Nemsi, Halef, Isla Ben Maflei nebst zwei Dienern rudern in der Nacht zum Haus des Abrahim-Mamur am Nil:

Es war eine jener Nächte, in denen die Natur in so tiefem Vertrauen ruht, als gebe es auf dem ganzen weiten Erdenrunde kein einziges drohendes Element.

   Die leisen Lüfte, welche mit dem Schatten der Dämmerung gespielt hatten, waren zur Ruhe gegangen; die Sterne des Südens lächelten freundlich aus dem tiefblauen Dunkel des Himmels herab, und die Wasser des ehrwürdigen Stromes fluteten ruhig und lautlos dahin in ihrer breiten Bahn. Diese Ruhe herrschte auch in meinem Innern, obgleich es schwer scheint, dies zu glauben.

   Es war nichts Leichtes, was wir zu vollbringen gedachten, aber man bebt ja vor einem Ereignisse; ist dasselbe jedoch einmal angebahnt oder gar bereits eingetreten, so hat man mit den Chancen abgeschlossen und kann ohne innere Kämpfe handeln. Eine nächtliche Entführung wäre vielleicht gar nicht notwendig gewesen; wir hätten vielmehr Abrahim-Mamur vor Gericht angreifen können. Aber wir wußten ja nicht, wie die Verhältnisse lagen und welche rechtlichen oder unrechtlichen Mittel ihm zu Gebote standen, sein Anrecht auf Senitza geltend zu machen. Nur von ihr erst konnten wir erfahren, was wir wissen mußten, um gegen ihn aufzutreten, und das konnten wir nur dann erfahren, wenn es uns gelang, sie hinter seinem Rücken in unsere Hände zu bekommen.

   Nach einer kleinen Stunde hoben sich die dunklen Umrisse des Gebäudes aus ihrer grauen, steinigen Umgebung hervor. Wir legten eine kurze Strecke unterhalb der Mauer an, und ich stieg zunächst ganz allein aus, um zu rekognoscieren. Ich fand in der ganzen Umgebung des Hauses nicht die geringste Spur von Leben, und auch innerhalb der Mauern schien alles in tiefster Ruhe zu liegen. Am Kanale lag das Boot


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Abrahims mit den Rudern. Ich stieg ein und brachte es neben unsern Kahn.

   "Hier ist das Boot," sagte ich zu den beiden Dienern. "Fahrt es ein wenig abwärts, füllt es mit Steinen und laßt es sinken. Die Ruder aber können wir gebrauchen. Wir nehmen sie in unser Boot herein, welches ihr nachher nicht anhängen laßt, sondern so bereit haltet, daß wir abstoßen können, sobald wir einsteigen. Isla Ben Maflei, folge mir!"

   Ich verließ das Boot, und wir schlichen zum Kanale. Dessen Wasser blickten uns nicht sehr einladend entgegen. Ich warf einen Stein hinein und erkannte dadurch, daß der Kanal nicht tief sei. Isla zog seine Kleider aus und stieg hinein. Das Wasser reichte ihm bis an das Kinn.

   "Wird es gehen?" fragte ich ihn.

   "Mit dem Schwimmen besser als mit dem Gehen. Der Kanal hat so viel Schlamm, daß er mir fast bis an die Kniee reicht."

   "Bist du noch entschlossen?"

   "Ja. Bringe meine Kleider mit zum Thore. Haidi, wohlan!"

   Er hob die Beine empor, stieß die Arme aus und verschwand unter der Maueröffnung, durch welche das Wasser führte.

   Ich verließ die Stelle nicht sofort, sondern ich wartete noch eine Weile, da es ja sehr leicht möglich war, daß etwas Unvorhergesehenes geschehen konnte, was meine Gegenwart wünschenswert erscheinen ließ. Ich hatte das Richtige getroffen, denn eben wollte ich mich wenden, als der Kopf des Schwimmers in der Oeffnung wieder erschien.

   "Du kehrst zurück?"

   "Ja ich konnte nicht weiter."

   "Warum?"

   "Effendi, wir können Senitza nicht befreien!"

   "Weshalb nicht?"

   "Die Mauer ist zu hoch - - -"

   "Es würde auch nichts helfen, wenn sie niedriger wäre, denn das Haus ist fest verschlossen."

   "Und der Kanal auch."

   "Verschlossen?"

   "Ja."

   "Womit?"

   "Mit einem starken Holzgitter."

   "Konntest du es nicht entfernen?"

   "Es widersteht aller meiner Kraft."

   "Wie weit ist der Ort von hier?"

   "Das Gitter muß sich grad bei der Grundmauer des Hauses befinden."

   "Ich werde einmal nachsehen. Ziehe dich an; halte meine Kleider und erwarte mich hier." (I 136-138)

Was in May-Texten oft zu beobachten ist, kann man auch hier registrieren: ein handlungsstarker Höhepunkt wird eingeleitet durch eine idyllische Szene, die der folgenden stark kontrastiert. Eine freundliche Naturatmosphäre und auch eine innere Ruhe bei dem Haupthelden, die May nicht vergißt, seinen Lesern zu erklären. Die Idylle der Nacht gibt den kontrastierenden Hintergrund für das gefährliche Abenteuer. "Es war eine jener Nächte", so kann märchenhaftes Erzählen beginnen. Die Satzstruktur ist parataktisch, durchweg in der Folge Subjekt-Prädikat-Objekt, über-


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sichtlich [übersichtlich]gegliedert und von tatsächlich 'ruhendem' Erzählfluß. May erklärt alles, was zur Frage stehen könnte; so erläutert der Ich-Erzähler zunächst auch die Notwendigkeit der an sich haarsträubenden Begebenheit einer Haremsentführung. Auffällig ist auch die selbstverständliche Autorität, mit welcher Kara Ben Nemsi auftritt, was sich in seinen ersten Anweisungen so liest, wie weiland die achtungsgebietenden Direktiven Jesu bei der Hochzeit von Kana: "Fahrt es ein wenig abwärts, füllt es mit Steinen [...]" erinnert an "Füllt die Krüge mit Wein!" Auch den Begleitern wird alles erklärt, so daß der Leser immer auf dem Stand der aktuellen Information ist, über die der Ich-Held auch verfügt. "Isla Ben Maflei, folge mir!" klingt tatsächlich auch wie der Berufungsauftrag Jesu an die ersten Jünger. Im folgenden Dialog, der wiederum informative Funktion hat, wird die Örtlichkeit markiert und die Schwierigkeit des Unternehmens vorbedeutend umrissen. Auch der eingeschobene Erzählbericht über Kara Ben Nemsis Verbleib an der Stelle, wo ihn sein Begleiter verläßt, wird erläutert, und sein Verhalten prompt als unter den Umständen richtig bestätigt. Der Dialog selber ist sprachlich gesehen von realistischer Kürze und Prägnanz, das zeigen die teils unvollständigen Sätze ("Und der Kanal auch."), die kurzen Fragepartikel, der Verzicht auf jede eingehendere Beschreibung. Die Sprache dient der raschen und treffenden Verständigung.

   Was unserer ersten ausgewählten Szene dann folgt, liest sich wirklich "wie ein Angsttraum, aus dem man sich nicht herausfindet, oder wie eine Rettung, die man nicht müde wird, hundertmal zu hören".3 Woran liegt das? Zunächst einmal auch hier wiederum an der Tatsache, daß May seinen Lesern generell alle Empfindungen, Gefühle, Hoffnungen, Wahrnehmungen mitteilt, so daß diese intensiv mit dem Ich-Helden miterleben und sich identifizieren können. Dann hat die Geschehensfolge ihre eigene gestaffelte Dramatik: Nach dem Zerbrechen des ersten Gitters folgt ein zweites als Hindernis, das im Wasser viel schwerer zu beseitigen ist als das erste. Auch hier hat übrigens der Erzähler den Leser auf den möglichen lebensgefährlichen Luftmangel vorher hingewiesen. Dieser Kampf im Wasser erscheint so tatsächlich wie ein Angsttraum des Erstickens, den man gut nachempfinden kann, mitgeteilt in parataktischem Satzstil, der die verrinnenden Sekunden imitiert. Auffällig ist dann die Realistik der Folgesätze: kein Moment des Abwartens, des dankbaren Gedenkens, die Gefahr


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überstanden zu haben. Es geht sofort weiter, was die fiktive Realitätsdarstellung des folgenden verstärkt.

   Ein zufälliges Knacken verrät das Schlafzimmer Senitzas, und Zufall ist bei May auch immer Vorsehung. Um die folgende Entführung in ihrer Gefährlichkeit wiederum vorausahnen zu können, tritt Abrahim als Wächter auf. Jedes Geräusch kann verderblich sein - was dann auch prompt von den beiden Verlobten verursacht wird. Vom selben Augenblick an erhält die Erzählung ein deutlich höheres Tempo.

   In der folgenden Szene hat man inzwischen den Hof erreicht und schon die Leiter angelegt, um Senitza (den 'Augapfel') aus ihrem Zimmer herabsteigen zu lassen.

Es dauerte einige Zeit, ehe ich die Gestalt des Mädchens erscheinen sah. Sie stieg herab, und Isla unterstützte sie dabei. In dem Augenblicke, in welchem sie den Boden erreichten, erhielt die Leiter einen Stoß; sie schwankte und stürzte mit einem lauten Krach zu Boden.

   "Flieht! Schnell nach dem Boote!" warnte ich.

   Sie eilten nach dem Thore, und zu gleicher Zeit hörte ich Schritte hinter der Thür. Abrahim hatte das Geräusch vernommen und kam herbei. Ich mußte den Fliehenden den Rückzug decken und folgte ihnen also mit nicht zu großer Schnelligkeit. Der Aegypter bemerkte mich, sah auch die umgestürzte Leiter und das geöffnete Gitter.

   Er stieß einen Schrei aus, der von allen Bewohnern des Hauses gehört werden mußte.

   "Chirsytz, hajdut, Dieb, Räuber, halt! Herbei, herbei, ihr Männer, ihr Leute, ihr Sklaven! Hilfe!"

   Mit diesen laut gebrüllten Worten sprang er hinter mir her. Da der Orient keine Betten nach Art der unseren kennt und man meist in den Kleidern auf dem Diwan schläft, so waren die Bewohner des Hauses alsbald auf den Beinen.

   Der Aegypter war hart hinter mir. Am Außenthore blickte ich mich um. Er war nur zehn Schritte von mir entfernt, und dort an dem inneren Thore erschien bereits ein zweiter Verfolger.

   Draußen bemerkte ich nach rechts Isla Ben Maflei mit Senitza fliehen; ich wandte mich also nach links. Abrahim ließ sich täuschen. Er sah nicht sie, sondern nur mich und folgte mir. Ich sprang um die eine Ecke, in der Richtung nach dem Flusse zu, oberhalb des Hauses, während unser Boot unterhalb desselben lag. Dann rannte ich um die zweite Ecke, das Ufer entlang.

   "Halt, Bube! Ich schieße!" erscholl es hinter mir.

   Er hatte also die Waffen bei sich gehabt. Ich eilte weiter. Traf mich seine Kugel, so war ich tot oder gefangen, denn hinter ihm folgten seine Diener, wie ich aus ihrem Geschrei vernahm. Der Schuß krachte. Er hatte im Laufen gezielt, statt dabei stehen zu bleiben; das Geschoß flog an mir vorüber. Ich that, als sei ich getroffen, und warf mich zur Erde nieder.

   Er stürzte an mir vorbei, denn er hatte nun das Boot bemerkt, in welches Isla eben mit Senitza einstieg. Gleich hinter ihm sprang ich wieder auf. Mit einigen weiten Sprüngen hatte ich ihn erreicht, packte ihn im Nacken und warf ihn nieder. (I 143-145)


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Auch hier dominiert der parataktische Satzstil mit freilich insgesamt kürzeren Sätzen, welche die Geschehensfolgen mit entsprechendem Tempo addieren. Erzähltechnisch ist das zufällige Umstürzen der Leiter eine vom Spannungsgefüge her notwendige Begebenheit, denn sonst hätte man unbemerkt den Ort der Entführung verlassen können. Es mußte also etwas geschehen, was die Dramatik festhält und steigert, mit noch gerade rechtzeitigem Entkommen. Natürlich übernimmt der Held persönlich die Aufgabe, "den Rückzug zu decken", setzt sich damit selber auch der größten Gefahr aus. Bei allem Tempo des Erzählten ist Zeit für Mays liebgewordene Gewohnheit, die landessprachlichen Ausrufe wiederzugeben und zu übersetzen, und auch Zeit, um trotz der Hast der Verfolgung landeskundliche Erläuterungen einzustreuen ("Da der Orient keine Betten nach der Art der unseren kennt"), wiederum auch aus Gründen der restlosen Information. Es folgt der Täuschungsversuch zur Ablenkung mit Ankündigung; daß freilich der Ägypter bewaffnet ist, wird aus der Sicht realistischer Wiedergabe nachträglich berichtet. Dies fügt sich auch dem Umstand, daß die Gedanken des Helden immer vertraut, die Absichten der Gegner nur nach und nach zu erschließen sind, und fügt sich ebenso der Sequentialisierung des Geschehensablaufes: eine Gefährdung reiht sich an die andere im Ablauf der Handlung und hat ihre Binnenstrukturierung. Das hohe Risiko, trotz der Aufforderung stehenzubleiben, weiterzulaufen, wird ohne Begründung akzeptiert, diesmal ohne die Wahrscheinlichkeit eines glücklichen Ausgangs vorwegnehmend zu erwägen. Im nachhinein kann so die glückliche List, sich tot bzw. verwundet zu stellen, überzeugend gelingen, und auch die vorübergehende Überwältigung des Gegners.

   Die meisten Sätze beginnen mit "Ich" oder "Er" bzw. "Der Ägypter" oder "Abrahim". Damit wird für den Leser die Verfolgungssituation in einer Art filmischer Parallelmontage rasch klar und die Synchronität der gleichzeitig ablaufenden Handlung (Verfolger-Verfolgter) verdeutlicht. Der Erzählbericht ist ganz auf die szenisch-narrative Darstellung konzentriert, mit nur an wenigen wichtigen Stellen erläuternden Passagen ("Da der Orient keine Betten [...] kennt"; "denn er hatte nun das Boot bemerkt").

   Insgesamt dominiert ein erklärend-rationalistischer Stil; mögliche Befürchtungen, Ängste, Spannungen des Ich-Erzählers werden nicht mitgeteilt, die Perspektive konzentriert sich auf das äußere Geschehen, den Handlungsablauf, durch den allein Span-


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nung [Spannung]erzeugt werden soll, mit ergänzenden Erklärungen des Erzählers hinsichtlich der nicht aus sich selber verständlichen Situation und Motivation der Betroffenen.

   Da der Leser sich durchweg auf dem Erkenntnisstand des Erzählers befindet, ist der Zusammenhang der Einzelereignisse weniger mysteriös als etwa bei Dumas' Der Graf von Monte Christo. Andererseits ist Karl Mays Rationalismus nicht mit Realismus zu verwechseln - da ist James Fenimore Cooper sehr viel realistischer in der glaubwürdigen Wirklichkeitswiedergabe; für Cooper besitzt auch die Naturwirklichkeit selber eine bestimmende literarische Funktion.

   Die latenten Möglichkeiten der Realität werden in Mays Abenteuerutopien verlängert bis zur Erfüllung, der Traum von einer besseren Identität wird wie im Märchen wahr, und wie im Märchen wird nicht psychologisiert und das Erstaunliche begründet. Das prägt Stil und Erzählweise, welche von einer schon geglückten und entschiedenen Utopie ausgehen und den Leser unmittelbar mit hineinnehmen in die fiktive Realisierung des Traums, ihn einladen, sich auch in eine neue Identität hineinzuträumen, die für die krude defizitäre Realität entschädigt. Die durch Stil und Erzählweise gewachsene Vertrautheit des Lesers mit dem Erzähler begünstigt eine wie selbstverständliche verständnisinnige Beziehung zwischen ihnen.

Anmerkungen

1Jochen Schulte-Sasse: Karl Mays Amerika-Exotik und deutsche Wirklichkeit. Zur sozialpsychologischen Funktion von Trivialliteratur im wilhelminischen Deutschland. In: Karl May, hg. v. Helmut Schmiedt. Frankfurt/M. 1983, S. 115.
2Ernst Bloch: Erbschaft dieser Zeit. Gesamtausgabe, Bd. 4. Frankfurt/M. 1962, S. 171.
3Ebd.



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