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Martin Lowsky

Die Reise nach Jerusalem

Zur Dynamik in Karl Mays Orientzyklus


Aber das Jerusalem / das droben ist /das ist die Freie / die ist unser aller Mutter
Galater IV, 26

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Nennen wir, ehe wir uns Karl May und seiner literarischen Reise durch den Orient zuwenden, einen wirklichen Morgenlandfahrer und seinen Reisebericht. Bei seinem zweiten Rom-Aufenthalt im September 1787 lernt Goethe, so ist in seiner Italienischen Reise zu lesen, den französischen Architekten Louis Frangois Cassas kennen, der lange im Orient gewesen ist und seine Eindrücke in Zeichnungen festgehalten hat. Zehn solcher Zeichnungen beschreibt uns Goethe: die erste ist von Konstantinopel, dem, wie er sagt, "Wohnort des Großherrn", andere von Baalbek, von Palmyra, vom Libanon, und die letzten zwei zeigen Ansichten von Ägypten. In der Mitte jedoch, als Zeichnung Nr. 5, erscheint in besonderer Imposanz die "große Moschee zu Jerusalem, auf den Grund des Salomonischen Tempels gebaut".1 Jerusalem darf natürlich nicht fehlen in der Reihe der orientalischen Schauplätze. Wem fiele jetzt nicht ein, daß Jerusalem auf christlichen Weltdarstellungen oft in die Mitte gerückt und als 'Nabel der Welt' angesehen wurde. Goethe, der Kosmopolit, der sich gerade in einer anderen 'Hauptstadt der Welt' befindet, entscheidet sich für die größere Perspektive. Er erwähnt nicht nur die biblische Tradition dieser Metropole ('Salomonischer Tempel'), sondern auch ihre muselmanische Geschichte ('Große Moschee').

   Fast genau einhundert Jahre später, im April 1888, schloß Karl May seinen großen Orientroman ab, jenen Zyklus von Reiseabenteuern, dem er verschiedentlich den Obertitel "Giölgeda padi[´s]hanün", d. i. 'Im Schatten des Großherrn', gab. Cassas' Zeichnungen könnten für dieses Werk geeignete Illustrationen sein; jedenfalls finden wir ihre Szenerien fast alle als Schauplätze bei May wieder, wenn auch in umgekehrter Reihenfolge (denn von Ägyp-



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ten [Ägypten]nach Konstantinopel verläuft Mays Route). Es gibt im wesentlichen nur eine Ausnahme: Jerusalem läßt May seine Leser nicht erleben, und das, obwohl er doch so viel von Christentum und Islam in seinem Roman erzählt. Im Mittelteil des Werkes, als Damaskus besucht wird, erfahren wir, daß Mays Helden "nach Palästina" (III 356), "nach Jerusalem" (448) wollen, doch der vorauseilende Bösewicht mit den gestohlenen Pretiosen zwingt sie zu einer anderen Route aufs Meer hinaus. Dem Erzähler, so ist zu vermuten, waren hier die Abenteuer wichtiger als das heilige Jerusalem.

   Wir wissen nicht, ob May Goethes Italienische Reise damals schon kannte - Tagebuchaufzeichnungen aus späterer Zeit bezeugen sein Interesse für den Reisenden Goethe - und ob er gar über die Orientfahrt Cassas' unterrichtet war, der seinen Reisebericht 1799 in Paris als Buch herausgebracht hatte. Doch macht unser Rückblick in das 18. Jahrhundert deutlich, daß May eine solide Tradition verließ, als er in seiner Roman-Wanderung durch den Orient auf Jerusalem verzichtete.

   Er verzichtete? Nicht ganz. Schließlich taucht Jerusalem doch als Reisestation auf: die Reise des Orientromans, die über Konstantinopel hinaus auf den Balkan und an die Adria führt, endet nicht in südeuropäischen Regionen, nicht im Lande der Skipetaren, wenngleich dort die Jagd nach dem Schut und seinen Kumpanen ihr glückliches Ende hat. Vielmehr geht es von der albanischen Küste nach - Jerusalem! "Habe mich genug geärgert, daß wir auf unserm Ritt von Damaskus nach dem Meer Jerusalem zur Seite liegen lassen mußten. Können das nachholen", läßt May seinen David Lindsay, den Globetrotter und Gefährten des Ich-Helden Kara Ben Nemsi, vorschlagen, als die Reisegesellschaft vor Skutari steht (VI 530). "Sein Gedanke gefiel mir sehr", sagt sich dann der Held, Lindsay bietet noch seine Reisekasse an, und kurz vor dem Ende des Romans, ehe der Brief Halefs zitiert wird, heißt es:

am andern Morgen schifften wir uns mit den Pferden ein, und dann entschwand die Küste des Skipetarenlandes sehr bald unsern Blicken. Wie wir nach Jaffa und el Kudsischscharif [Anm. Mays: Jerusalem, die "heiligedle"] gekommen sind, davon vielleicht ein anderes Mal. (VI 532f.)

Jerusalem ist also die letzte Etappe. Freilich wird dieser Reiseabschnitt im Roman nur genannt, der Leser darf nicht mit dorthin, und das halbe Versprechen, "vielleicht ein anderes Mal" davon zu erzählen, hat May nicht eingelöst, auch nicht in dem


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umfangreichen Anhang, den er 1892 für die 6 Bände umfassende Buchausgabe des Romans hinzuschrieb. Dabei entsteht aber kein offener Schluß, wie wir ihn von Mays Altersroman Ardistan und Dschinnistan mit dem fernen Ziele auf der Höhe kennen, denn es folgt ja noch die Wiedergabe von Halefs Brief, die klarstellt, daß der Erzähler und Briefempfänger inzwischen wieder daheim in Deutschland ist. Lediglich formt sich, kontrastiert von der sonst im Roman mitgeteilten Fülle an ethnographisch-geographischen Details und an abenteuerlichen Wechselfällen, ein weißer Fleck, der aber, um im Bild zu bleiben, eine eigene Leuchtkraft hat. "Jerusalem, die 'heiligedle'", so lakonisch und geheimnisvoll-faszinierend nennt May sein Ziel.

   In seiner Scheu, die Angabe 'Jerusalem' weiter auszufüllen, steht May übrigens nicht allein. Denn Chateaubriand etwa hat in den Jerusalem-Abschnitten seines Tagebuchs einer Reise von Paris nach Jerusalem (1811) sein großes Unbehagen darüber bekannt, daß er nur beschreibe, was ungezählte Pilger und Reisende vor ihm schon beschrieben hätten.2 May allerdings, der als Nicht-Reisender radikaler sein konnte, verweigert gänzlich die Beschreibung. Doch wichtiger als diese Verweigerung soll uns zunächst sein, daß May überhaupt nach Jerusalem strebt. Seine erzählte Reise durch den Orient wird überraschend zu einer Reise nach Jerusalem.

   Eine Überraschung ist dies in der Tat, denn die Gelegenheit, Jerusalem aufzusuchen, hatte der Erzähler vorher demonstrativ ausgeschlagen. Was hat May dazu bewogen, doch noch Jerusalem ins Auge zu fassen? Nun war der 'Deutsche Hausschatz', für den May von 1881 bis 1888 seinen Roman in Fortsetzungen schrieb, eine katholische Zeitschrift, so daß sich der Gedanke aufdrängt, die letzte Reisestation sei nur ein eiliger Nachtrag, den May der christlichen Leserschaft und dem christlichen Verlagshaus in Regensburg schulden zu müssen meinte. In der Tat sind Mays 'Hausschatz'-Erzählungen da und dort "deutlicher katholisierender Tendenz"3 zu zeihen, und auch in den Orientroman hat May einige offenkundige Reverenzen vor dem Katholizismus eingebracht. Marah Durimeh, die Friedensstifterin in Kurdistan, ist Katholikin; auf dem Balkan erscheint einmal eine mit Rosenkranz betende Christin, deren Dienerin, ihre Glaubensgenossin, dem Helden zur Hand geht (IV 338 ff, 358 ff.),und schon zu Beginn des Romans hat Kara Ben Nemsi selbst "ein Tesbih, einen Rosenkranz" umhängen. (Letzterer findet sich allerdings nur in der


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Erstfassung des Romans, in der Buchausgabe hat May das fromme Utensil gestrichen.4 Doch sollte man daraus nicht schließen, es stamme statt aus der Feder Mays aus der eines eifrigen Redakteurs: allein May kann das arabisch-türkische Wort 'Tesbih' geschrieben haben.) Schließlich gibt es eine Stelle - sie ist zwar nicht speziell katholisch, aber betont biblisch orientiert -, in der Mays Erzähler den Blick absichtsvoll in Richtung auf das Heilige Land richtet und sogar ausführlich aus dem Alten Testament zitiert. Es lohnt sich, diese Passage genau zu betrachten.

Es geschach das Wort des HERRN zu Jona dem son Amithai / und sprach / Mache dich auff / und gehe in die grosse stad Nineve // und predige drinnen
Jona I, 1f.

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Wir müssen dazu in den Anfangsteil unserer Erzählung zurückblättern. Unmittelbar nach dem Abenteuer am Nil will sich Kara Ben Nemsi ins Heilige Land aufmachen, memoriert er doch, zu Beginn des Kapitels Abu-Seïf, aus der Bibel jenen berühmten Abschnitt, in dem die Kinder Israels, geführt von Moses und verfolgt vom "Heere der Aegypter" (I 169), den Exodus durch das Rote Meer unternehmen. Mays Held befindet sich ebenfalls vor diesem Wasser und blickt über die "glitzernden Fluten des roten Meeres" zum "Felsenstock des Sinai" (I 170f.). Wenige Seiten später erfahrt man explizit, daß er, offenbar voll des religiösen Eifers, nach dem "Manastyr", dem Kloster, "auf dem Dschebel Sinahi" möchte (I 181).

   Kara Ben Nemsis biblisch inspirierter Ausblick steht an einer entscheidenden Stelle des Orientromans. Denn hier beginnt Karl May im eigentlichen Sinne seine literarische Reise in die Gefilde des Padischah; alles, was dieser Szene voranging, fügt sich nur unter Vorbehalt in die Morgenlandexotik ein. Denn im ersten Kapitel5 steht die Leiche des ermordeten Franzosen und das Erlebnis auf dem tunesischen Salzsee im Mittelpunkt, so daß Europa vergleichsweise nahe bleibt, und das folgende Kapitel, die Episode am Nil, bildet ein älterer Text Mays, die Geschichte Leïlet, die er kaum verändert in den Roman übernommen hat. Bisher hat sich also May an die Exotik nur herangetastet, erst im dritten Kapitel


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wird es schaffenspsychologisch ernst: May sah sich gezwungen, den Roman in Fahrt zu bringen, seinen Helden endgültig hinaus in den Orient zu stoßen. So hat es auch die französische Übersetzerin J. de Rochay empfunden, denn sie hat dem ganzen ersten Band ihrer Fassung des Orientromans den Titel Les pirates de la Mer Rouge gegeben und damit der Episode am Roten Meer die Schlüsselstellung zugewiesen.6

   An diesem Punkt also läßt May seinen Helden an den alttestamentlichen Exodus denken. Daneben erwähnt er noch den Aufenthalt Napoleons in Ägypten (I 171), und er spricht von seiner Großmutter, die ihm die biblischen Stoffe "erzählte" (I 172), so daß dieser Bezug zur Bibel schon gebrochen ist. Doch gibt es keine Stelle im ganzen Roman, die noch ausführlicher Verse der Bibel zitiert. Mays Rückgriff auf die Bibel gerade in diesem Kapitel des Beginnens paßt perfekt, denn der Exodus der Kinder Israels ist eine der großartigsten Parabeln für den menschlichen Aufbruch, die wir in der Bibel finden. Sie ist also ein Musterstück für alle Abenteuer- und Heldengeschichten, für die die Ausfahrt ins Neue und Ungewisse, das 'Drängen nach Vorwärts' (Ernst Bloch) charakteristisch ist. Der ehrwürdige Mythos und die aktuelle Reise- und Abenteuerlust verbünden sich an diesem Kapitelanfang. Da die Großmutter erwähnt wird und sich damit der Held in die Rolle des Kindes zurückdenkt (er erinnert sich sogar, daß ihm die Alte "die kleinen Hände gefaltet" habe), wird die Idee des Beginnens und Aufbrechens noch unterstrichen.

   Doch so vollkommen das alles harmonieren mag - ist dieses Bibelzitieren, dieser Ansatz, Moses nachzuspielen, nicht zu verkrampft, ist diese Verklammerung des biblischen Exodus mit der romanhaften Heldenausfahrt nicht eine allzu triviale Konstruktion? Dem ist sofort entgegenzuhalten, daß May sich die Arbeit so leicht nicht gemacht hat. Denn der Bezug zur Bibel ist, wie wir schon sagten, gebrochen, und vor allem gibt May der Geschichte bald eine andere Richtung, als man nach Kara Ben Nemsis sehnsüchtigem Blick über das Wasser denkt: Kara darf nicht zum Sinai, nicht ins Heilige Land, sieht vorerst nichts von Juden oder Christen (und erst recht nichts von Katholiken), sondern er gerät, ohne den Bereich des Roten Meeres zu verlassen, in engsten Kontakt mit Moslems, mit der außerchristlichen Exotik.

   Sehen wir nach, wie May es fertigbringt, seinen Helden umzudirigieren. Der Kern dieses Vorgangs besteht in dem Umstand,


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daß Kara von dem Seeräuber Abu-Seïf, der ihm als frommer Derwisch entgegengetreten ist, niedergeschlagen und zwangsweise in Richtung Süden transportiert wird. Dies ist ein wenig origineller Einfalt, doch wie so oft bei May wird der schlichte Kern durch erzähltechnische Raffinements episch weit entfaltet. So sorgt May dafür, daß das Gefühl der Unsicherheit, in dem Kara, der aus der Bahn geworfene, sich befindet, auf den Leser übergeht. Dies geschieht zunächst dadurch, daß Kara, der doch sonst die Menschen rasch in gute und schlechte zu trennen weiß, bezüglich des Derwischs ratlos vor den Leser tritt: "Ich hatte äußerlich nicht den mindesten Grund zu irgend einer Befürchtung, und dennoch kam mir in der Seele dieser Mann verdächtig vor." (I 188) Darüber hinaus wird der Leser in einem grundsätzlichen Punkt irritiert: In welcher Rolle unternimmt der Held überhaupt die Orientreise, die erst jetzt richtig startet? Die Frage steht während der Abu-Seïf-Handlung im Raum. Ist Kara Ben Nemsi, wie man zunächst glauben kann, ein Pilger, da es ihn zum Sinai und seinem Kloster zieht? Ist er eher ein "Jazmakdschi", ein "Schreiber" (I 177), wie er gegenüber dem Zolleinnehmer erklärt? Ein Gelehrter gar, da er den persischen Dichter Hafis zu zitieren weiß (I 192f.)? Reist er als Forscher, da er "eine Reise auf gebahnten Wegen" ablehnt (I 174)? Und hat er nicht auch das Zeug zu einem Diplomaten und Politiker, da er sich schwarz auf weiß (mittels "Bjuruldu", I 179) als Günstling des Padischah ausweist, oder sogar zu einem Eroberer, da er von der "europäischen Waffenführung" spricht (I 204) und sich im Sande Ägyptens an Napoleon erinnert? Auch als Missionar wäre er denkbar, als er mit der geheimnisvollen Fremden Glaubensdinge anspricht, doch hier, vor den Toren Mekkas, setzt der Erzähler einen Schlußpunkt in all dem Hin und Her; er bekennt noch, daß er als "Missionär" tätig werden könnte, aber: "nur mit großem Aufwande an Zeit und Mühe; als 'Weltbummler' war mir dies unmöglich." (I 296) So geschieht die Ablenkung von Sinai und Moses durch eine Reihe von angedeuteten Rollenspielen; sie erweist sich in dieser Wechselhaftigkeit als eine große spielerische Veranstaltung, die der Leser intensiv miterleben darf. Auch der frommste 'Hausschatz'-Abonnent konnte so verschmerzen, daß aus dem Sinai-Schwärmer ein Weltenbummler geworden war, daß die erstrebte Palästina-Reise zu einer Mekka-Reise geriet und damit eine christliche Angelegenheit durch das muslimische Pendant ersetzt wurde.


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   Die Aufbruchsstimmung, die mit dem Bibelzitat evoziert wurde, bleibt jedoch erhalten, wie auch der verheißungsvolle Schauplatz Rotes Meer bestehen bleibt. Sie wird, auf neuen Wegen, sogar weiterentwickelt. Denn sie dehnt sich auf Karas Begleiter Halef aus, der durch den Mekka-Aufenthalt zu einem wahrhaftigen Hadschi wird und sich obendrein als eine Art Märchenprinz entpuppt; bekommt er doch seine Hanneh und wird durch diese Heirat zum Enkel eines leibhaftigen Scheiks. Sein Auftreten in Mays späteren Romanen als das Oberhaupt der Haddedihn wird hier vorbereitet.

   Es gibt noch etwas im Handlungsverlauf, das den Leser für die Loslösung von der Sinai-Route zu gewinnen vermag. Die erzwungene Fahrt über das Rote Meer, im Innern des Piratenschiffes, hält eine neue Assoziation an das Alte Testament bereit. In dieses Erlebnis hat May Elemente aus dem Buch Jona hineingewoben, jener Geschichte von dem Propheten, der auch übers Meer reist, in Seenot gerät und dann "drey tag vnd drey nacht" hilflos und allein im Bauch eines Walfisches verbringt.7 Für Kara Ben Nemsi ist es der Bauch des Schiffes, wo er einsam liegen muß, und auch da "vergingen drei Tage" (I 212), bis sein Gefährte Halef zu ihm findet. Jona klagt in seiner Isolation: "Die Erde hatte mich verriegelt ewiglich", und Kara vermeldet traurig, "am Abend wurde die Thüre verriegelt und mit allerlei Gerümpel verbarrikadiert" (I 211). "Kein Mensch weiter schien sich um mich zu bekümmern, kein Mensch sprach ein Wort zu mir" (I 210), erzählt uns May, der hier in poetischer Sprache die Isolation beschreibt, ähnlich wie einst Jona klagte: "Alle deine wogen vnd wellen giengen vber mich. Das ich gedacht / Jch were von deinen Augen verstossen". Das Ganze stellt sich, hier wie dort, als eine Regression dar und wird zu einer psychisch zwiespältig erlebten "Mischung aus Geborgenheit und Absonderung", wie Erich Fromm einmal Jonas Abenteuer im engen Fisch genannt hat.8 So haben wir im Buch Jona wie in Mays Durch die Wüste das bekannte Motiv von der Initiation des Helden, der, verwandelt und gestärkt in dieser entschiedenen Einsamkeit, zu neuen gefährlichen Unternehmungen bereit ist.9 Diese neuen Unternehmungen sind bei Jona das prophetische Auftreten in Ninive, bei Kara Ben Nemsi der Gang nach Mekka. Interessanterweise ist auch in Mays Erzählung, wo der Schiffsbauch die große Bedeutung hat, am Rande das Bild des verschlingenden Fisches präsent: "Bedenke",


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warnt der Schiffsführer seinen Gefangenen, "daß hier im Wasser viele Fische sind, die dich fressen würden!" (I 210)

   Mithin bleibt Mays Handlung am Roten Meer, so sehr sie sich auch vom Sinai entfernt, den biblischen Mythen treu. Dies geschieht unaufdringlich, denn den Namen Jona oder ein direktes Bibelzitat lesen wir nicht mehr. Auch bei diesem Wechsel von Moses zu Jona scheint May zu spielen, nur daß es jetzt, anders als bei den erwähnten Rollenspielen, um biblische Stoffe geht. War auch zuvor die Route in Richtung Heiliges Land verlockend in Aussicht gestellt, schließlich schicken sich, dank der spielerischen Übergänge, alle gern in die neue Richtung drein, der Held wie der Leser.

Und jre thor werden nicht verschlossen des tages / denn da wird keine Nacht sein.
Offenbarung XXI, 25

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Mays spielerischer Umgang mit alttestamentlichen Stoffen, den wir in den Episoden vom Roten Meer bemerkten, beweist, daß es nicht bitteres Pflichtgefühl gegenüber seiner Zeitschrift war, das ihn im Verlauf der fabulierten Orientreise zu biblischen Assoziationen bewog. Vielmehr kamen ihm die biblischen Stoffe für den Aufbau und die Atmosphäre seines Erzählens gelegen. Sie waren ihm von seiner Lehrerseminarzeit, in der Religion als das wichtigste Fach galt, vertraut. Die überraschende Erwähnung Jerusalems am Ende des Romans ist also mit Mays Bibelkenntnis und mit seiner Freude am spielerischen Umgang mit biblischen Stoffen in Verbindung zu bringen.

   Eine Stelle in dem Jerusalem-Komplex zeigt uns Mays Hang zum Spielerischen sofort. David Lindsay ist es wohlgemerkt, der nach Jerusalem drängt, und dieses Detail paßt nicht nur, da Jerusalem die 'Stadt Davids' ist, gut zu seinem Vornamen, sondern es ist auch ein wesentliches Element in der Erzählstruktur des Romans. Denn Lindsay, der Hobby-Archäologe, hatte viel früher im Roman, bei seinem ersten Auftreten, ein anderes mächtiges Reiseziel angeregt, Babylon nämlich (I 320). In der christlichen Mythologie und speziell in der Offenbarung des Johannes gilt diese Metropole, die 'Hure Babylon', als die Stadt der Laster und


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der Verdammnis, und ihr wird Jerusalem, die Gottesstadt, entgegengesetzt.10 So ist es der angemessene Ausgleich, wenn Lindsay, der nach Babylon wollte - wo unsere Reisenden tatsächlich das Unheil in Form der Pestilenz überfällt -, auch nach Jerusalem strebt. Aber mehr noch! Lindsay ist auch derjenige, der im selben Atemzug mit seinem Babylon-Vorschlag den Namen der Stadt 'Niniveh' ausspricht (I 320). Bedenken wir wieder das Geschehen am Roten Meer, so entdecken wir eine dynamische Folge von Verkettungen: der Held wollte dort in Richtung Palästina aufbrechen und geriet statt dessen auf die Spuren Jonas, des Ninive-Reisenden; Ninive wiederum wird von Lindsay genannt, der auch Babylon aufsuchen möchte und als Ausgleich für diese elende Etappe schließlich Jerusalem vorschlägt; so daß der Held auf diese Weise nach Palästina kommt, gerade jenem Ziel, das er zuerst im Sinn hatte. Dies ist ein von mythologischen Elementen gebildeter Reigen, der an seinen Ausgangspunkt zurückführt. Derartige Konstruktionen sind in der erzählenden Literatur vor allem in der Form der 'Liebeskette' zu finden, bei der der Handlungsfaden von Person zu Person springt und über wechselnde Verliebtheiten und Paarbildungen zur ersten Person zurückkehrt. In Mays Kette regieren die Reisewünsche der Hauptpersonen und die Störmanöver ihrer Widersacher. Da ist es nicht erotische Anziehung, sondern die Dynamik von Reise und Abenteuer, die das Nacheinander der Kettenglieder bestimmt.

   Damit sei nicht behauptet, daß May diese Kette von vornherein im Auge gehabt und sie dann planvoll entwickelt hätte; in der Weise etwa, wie er später seinen ersten Band Winnetou konzipierte, wo er in einer Plauderei über Greenhorn-Allüren schon zu Beginn auf alle wichtigen Stoffe des Werkes und ihr nuanciertes Auftreten vorausdeutet.11 Solch ein weitblickendes erzählerisches Kalkül können wir bei der Arbeit an diesem Orientzyklus, die der wirtschaftlich ungesicherte May immer wieder wegen anderer Aufträge unterbrach, nicht annehmen. Die Kette hat May spontan nach und nach entwickelt. Und erst recht wäre es falsch zu meinen, May hätte das Ziel Jerusalem durchgehend fest im Blick gehabt und sich absichtsvoll erst am Ende den Einzug nach Jerusalem gestattet, als Bild für eine metaphysische Glückseligkeit, die sich der Held schließlich erfüllen darf. Nein, ein solches Finale, das man von John Bunyans Pilgrim's Progress kennt und das auch Mays Ardistan und Dschinnistan andeutet, haben wir im Orientzyklus nicht


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   Fest steht aber, daß am Ende des Romans, nach der vollständigen Abwicklung der Abenteuerfabel, May Lust verspürt hat, auf die einstige am Roten Meer entstandene Sehnsucht nach dem Heiligen Land wieder zurückzukommen. Es zeigt sich sogar, daß der Romanausklang nicht nur vage auf jene frühe Episode anspielt, sondern daß er als Gegenkonstruktion zu ihr angelegt ist. Denn zum einen wird das Heilige Land, anders als damals, nun tatsächlich erreicht, und zwar offenbar ohne besondere Anstrengung. Sodann ist es nicht mehr der Held selbst, den es am stärksten nach Jerusalem drängt, sondern sein Gefährte Lindsay, und diese Rollenverschiebung und Entlastung der Hauptfigur gibt dem Unternehmen eine heitere Leichtigkeit, während der Held am Roten Meer sich etwas verkrampft auf die Bibelstelle konzentriert hatte. Und schließlich, mit dieser Leichtigkeit zusammenhängend, haben die Motive Wasser und Meer, die einst die Gefahr und den Aufbruch á la Moses und Jona verbildlichten, nun eine beruhigende Funktion. Dies demonstriert vor allem die Erwähnung des Skutarisees: Kara Ben Nemsi und seine Freunde, die "die Herren" "spielten", lassen sich dort im "wunderschönen Anblick" der Stadt "spazieren fahren" (VI 531). Eine ähnliche Atmosphäre des Städtischen und des Herren-Spielens findet sich übrigens im Damaskus-Kapitel, und auch dort stand, wie Lindsays Worte uns erinnern, der Gedanke an Jerusalem im Raum. Entsprechend wird die Fahrt übers Meer nach Jerusalem ohne Zutun des Helden organisiert, denn Lindsay kann ohne Mühe ein Fahrzeug auftreiben. ("Pshaw! Habe ich nicht den Franzosen unten im Hafen liegen? Er bringt uns hin", VI 530. Wenn aber das Wasser doch stürmisch erscheint, so meidet man es jetzt gelassen: Osko, der den "trügerischen Wellen" nicht trauen will, VI 531, darf auf dem Landweg weiterreisen.) Über Lindsays Route wird nicht mehr mitgeteilt, als daß sie über Jaffa führt, und dies bedeutet, daß sie auf den ausgetretenen Bahnen der europäischen Pilgerfahrten verläuft. Der Held mag demnach als Pilger erscheinen, aber als einer ohne alle Berauschtheit, und eine Heldenapotheose wird daraus auch nicht. Jaffa erinnert zusätzlich an den Propheten Jona: er beginnt dort seine Schiffsreise, während, wieder in der Umkehrung, Kara dort das Schiff verlassen wird.

   Dies alles bedeutet den Rückzug aus dem Abenteuer, der natürlicherweise das Ende dieses Abenteuerromans bestimmt. Der Rückzug bildet sich in Einzelpunkten ab, die ihrerseits antithetisch zu Elementen des Romananfangs mit seiner Aufbruchsstim-


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mung [Aufbruchsstimmung]entworfen sind. Haben wir aber damit das Streben auf Jerusalem zu ganz erfaßt, steht dieses Streben, das einst den Aufbruchswillen des Helden markierte, jetzt nur noch für Rückzug und Abenteuerferne? Wir sahen doch bereits, daß der 'weiße Fleck' Jerusalem auf den letzten Seiten des Romans den Leser fasziniert. Führen wir die Beobachtungen weiter, indem wir die Angabe Jerusalem losgelöst von den früheren Kapiteln untersuchen.

   Eine komplizierte Dynamik herrscht, wenn am Schluß Jerusalem ins Blickfeld rückt, denn zwei andere Ziele sind fast drohend gegenwärtig. Das eine ist die deutsche Heimat des reisenden Helden Kara Ben Nemsi, der sein "Ich muß heim" (VI 530) ausspricht. Das andere Ziel bilden die "Weideplätze der Haddedihn" (VI 529), zu denen Halef zurückkehren will. In beiden Fällen verläßt man die Abenteuersphäre, denn Kara wird sich in den Schriftsteller verwandeln, und Halef wird seine Rolle als Ehemann und Familienvater annehmen. Diese letzte Perspektive unterstreicht May noch dadurch, daß er auch Omar Ben Sadek vom Tigris träumen läßt, wo er "eine liebliche Tochter des Stammes" (VI 529) heiraten möchte. Ob nun Deutschland oder die mesopotamischen Weideplätze, hier wie dort kündigt sich, als radikale Form des erwähnten Rückzugs aus dem Abenteuer, Seßhaftigkeit an. Dieser Umschwung nach all den schönen Abenteuern, dieser, wenn man so will, Übergang vom Lust- zum Realitätsprinzip, hat etwas Elegisches. May führt uns dies im Falle Kara Ben Nemsis emotionsreich vor, wenn dieser mit seinem Freund über den Verbleib seines edlen Pferdes Rih diskutiert ("Wer versteht dort die Behandlung dieses Pferdes, welches der König der Rappen ist!", VI 370), und im Falle Halefs hat schon, wie sich der Leser betrübt erinnert, seine Verheiratung vor Mekka dazu geführt, daß er für einige Romanabschnitte dem Abenteuer fernbleiben mußte. Die Rückkehr zur Frau ist traditionellerweise und vor allem natürlich in der althergebrachten patriarchalischen Position das Ende des Abenteurertums, und der berühmteste literarische Vorläufer Halefs ist Odysseus, der sich nach seinen langen Fahrten als 'trauriger Abenteurer', wie ihn Ernst Bloch beurteilt hat, bei Frau und Sohn in die Seßhaftigkeit begeben muß. Übrigens hat auch Halef einen Sohn.

   An dieser Stelle des Romans, an diesem zweifach gegebenen Ziel der Seßhaftigkeit, taucht die Station Jerusalem auf, und sie stiftet Versöhnung. Denn Jerusalem, als das plötzlich erwogene


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Ziel, das die Freunde "mit Entzücken" (VI 530) vernehmen und bei dem die Segel wieder in Richtung Orient gesetzt werden, ist eine Aufmunterung und birgt eine Spur von Aufregung und Abenteuer, und andererseits ist es eine oft genannte religiöse Stätte, die Entspannung und inneres Wohlbefinden verspricht. Jerusalem ist fremd und vertraut zugleich. Dieser Ort, der von May nicht näher beschrieben und nicht im Beisein des Lesers erreicht wird, stellt eine eigene Kategorie von Reiseziel dar, eine Kategorie, die sich dem Dualismus von Abenteuer und Seßhaftigkeit entzieht. Auch ist Jerusalem ein Ziel für Männer, und das heißt für Abenteurer, denn mit der Jerusalemfahrt besiegeln offenbar Kara und Lindsay ihre Männerfreundschaft, und andererseits weckt diese Stadt, die auch 'Tochter Zions' heißt, weibliche Assoziationen, wie May selbst die feminine Formel "die 'heiligedle'" benutzt. In die Antithese von Männlich und Weiblich, die auch für Abenteuernähe wider Abenteuerferne steht, fügt sich also Jerusalem ebenfalls nicht ein.

   Dabei hat Jerusalem in der realen Geographie dieses Orientromans seinen Platz, einen übrigens sehr zentral gelegenen, es ist, wie bereits festgestellt, kein metaphysisches Ziel, sondern es wird im Hier und Jetzt aufgesucht. Diese Erdverbundenheit wird vollends deutlich, wenn der Aufbruch nach Jerusalem mit dem materiellen Problem der Reisekosten verkoppelt wird (das erfreulicherweise der spendable Lord sofort löst). Überhaupt hat der Romanschluß solche betont irdischen Züge, denn mehrfach wird über Geld und Geldgeschenke gesprochen, wobei die Summen explizit genannt werden. Neben den reichen Lord rückt jetzt noch der reiche Kaufmann Galingré, als sollte die Freude am Materiellen doppelt gezeigt werden. Die irdische Ausrichtung findet sich auch in kosmopolitischen Zügen wieder, wenn von französischen, englischen und orientalischen Währungen die Rede ist (VI 527f.). Somit erscheint die Reise nach Jerusalem als ein Bestandteil erdverbundenen Trachtens. Aber halten wir uns auch an Mays Bibelkenntnis und an das, was er an Wissen über den Mythos Jerusalem bei seinen Lesern voraussetzen konnte. In der Bibel, etwa in den Worten des Redners der Offenbarung (III, 12), ist Jerusalem das Bild für eine neue Welt, für die "stad meines Gottes / die von Himel her nider kompt / von meinem Gott". Auch hier, wo Irdisches und 'himmlisch Gegebenes' und nicht nur das Gegeneinander von Seßhaftigkeit und Abenteuer erscheinen, bemerken wir, daß das Bild Jerusalem die Antagonis-


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men [Antagonismen] vereint. In einem sehr umfassenden Sinne versöhnt also Mays Jerusalem die Gegensätze, die sich am Ende der Abenteuererzahlung ergeben.

   Die mythologische Betrachtungsweise, die wir der Bibel für unser Jerusalem entnehmen, veranlaßt uns, nachdem wir schon Helden der Antike angerufen haben, auch die bekannten mythischen Aspekte des Abenteuerromans zu erwähnen. Danach ist der Abenteuerheld, der die Ferne sucht und sich zugleich eine Heimat wünscht, das Bild des Menschen schlechthin. Mays Jerusalem mit seinen versöhnenden Impulsen erhält von daher eine tiefe Bedeutung, die etwa so zu benennen wäre: dieses Jerusalem steht als Chiffre für die Ganzheitlichkeit des Menschen, für die in sich widersprüchlichen, aber nach Einheit strebenden Elemente seines Wollens. Die zur Harmonie gewordene Totalität von all dem, was ein Mensch ersehnen und dem er sich hingeben kann, wird mit dem Wort Jerusalem angedeutet.

   Dieser Gedanke des Ausgleichs am Ende, diese vorübergehende Aufhebung des Gegensatzes von Abenteuernähe und Abenteuerferne, ist etwas Ungewöhnliches in der Gattung der Abenteuerromane. Eher lassen die versöhnenden und ganzheitlichen Tendenzen an Theorien der Romantik denken, und in der Tat gibt es sogar ein berühmtes Werk jener Epoche, in dem ebenfalls am Ende eine heilige Stadt verführerisch angerufen wird. Es ist Joseph von Eichendorffs Aus dem Leben eines Taugenichts, eine Erzählung, in der sich der reisende Held nach Rom sehnt, wobei dieses Rom, wie man weiß, auch für Jerusalem steht.12 Anders als bei May wird dieses Ziel erreicht und beschrieben - es ist ein Rom, in dem die Damenkleider rauschen und die Wasserbrunnen plätschern -, und später, in den letzten Zeilen der Erzählung, taucht es noch einmal auf. Die bekannte Stelle lautet:

"Oh", rief ich voller Freuden, "englischen Frack, Strohhut und Pumphosen und Sporen! und gleich nach der Trauung reisen wir fort nach Italien, nach Rom, da gehn die schönen Wasserkünste, und nehmen die Prager Studenten mit und den Portier!" - Sie lächelte still und sah mich recht vergnügt und freundlich an, und von fern schallte immerfort die Musik herüber, und Leuchtkugeln flogen vom Schloß durch die stille Nacht über die Gärten, und die Donau rauschte dazwischen herauf - und es war alles, alles gut!13

Diese Passage lebt geradezu aus der menschlichen Ganzheitlichkeit, wenn sie in rascher Bilderfolge vom Heiraten, vom Reisen und von fernen Freunden spricht und dabei die Erinnerung an das einst gesehene Rom wieder weckt. Dies ist sprachlich höchst


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virtuos dargestellt. Gegenüber Eichendorffs Meisterschaft erscheint May beinahe sprachlos. Bei ihm finden wir nicht die dicht formulierte Bildlichkeit, und er hat das bereiste Jerusalem nicht vorgeführt. May, der die großflächige Epik beherrschte, konnte wohl in einzelnen Worten andeuten, nicht aber im kompakten Bild entfalten. Doch auch er vermochte im Finale seines Romans die Idee eines die Gegensätze auflösenden Glücks zu beschwören. Achten wir noch auf ein Detail. In der zitierten Eichendorffschen Passage gibt es auch einen unruhigen und bizarren Zug, der in diesem ganzheitlichen Happy-End die "ewige Melodie des Archaischen" (Friedrich Heer14) erklingen läßt. Es ist dies der Satz "Leuchtkugeln flogen vom Schloß durch die stille Nacht". Diese Archaik, diese sich lautstark äußernde Freude oder, sagen wir - um nicht nur auf Rom, sondern auch auf Goethe zurückzukommen - : diesen 'Keim von Verwegenheit', den der alte Goethe von jedem Künstler forderte, erleben wir bei dem Abenteuerschriftsteller Karl May erst recht. Denn da gibt es den türkisch-arabischen Brief Halefs, der den Roman endgültig beschließt, und darin stehen die Parolen ungezügelten Jubelns, die den Leser bis zuletzt in Erregung halten (VI 534): "Geld! Panzer! Ruhm, Ehre, Wonne!"


Anmerkungen

1Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. XI. Hamburg 7/1967, S. 402.
2"Ici j'éprouve un véritable embarras. Dois-je offrir la peinture exacte des lieux saints? Mais alors je ne puis que répéter ce que l'on a dit avant moi". [Francois René] Vicomte de Chateaubriand: Itinéraire de Paris à Jérusalem. II. Paris 1877, S. 2.
3Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Ubstadt 1989, S. 157.
4Halef sagt zu Kara Ben Nemsi: "Und das [die Bekehrung zum Islam] muß mir gelingen, denn Du hast ja auch ein Tesbih, einen Rosenkranz, umhängen." (Karl May: "Giölgeda padi[´s]hanün". Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreiche. In: Deutscher Hausschatz 7, 1880/81, S. 256; KMG-Reprint Regensburg 1977) In I 8 fehlt der Satz. Diese Streichung muß nicht bedeuten, daß May katholisierende Tendenzen habe zurücknehmen wollen; ihm kann auch, aus prokatholischer Sicht, die in dem Satz angedeutete Gleichsetzung von katholischen und muselmanischen Gebetsketten gestört haben. - Das Wort Tesbih erscheint in der Zeitschriftenfassung noch einmal: "O Gott! Ein Tesbijeh!" (Karl May: Der letzte Ritt. In: Deutscher Hausschatz 12, 1885/86, S. 301; KMG-Reprint Regensburg 1978), während die Buchversion an dieser Stelle sagt: "O Gott!


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Ein Rosenkranz!" (IV 368) Es handelt sich hier natürlich nicht um einen Rosenkranz Kara Ben Nemsis. - Tesbih', auch 'tespih' geschrieben, bezeichnet übrigens auch im heutigen Türkisch den Rosenkranz.
5Wir folgen hier der - sinnvolleren - Kapitel-Einteilung im Zeitschriftendruck; dort ist nach Abu el Nassr (= 1. und 2. Kapitel im Buch) und Die Tschikarma (= 3. und 4. im Buch) Abu-Seïf das 3. Kapitel. Ihm entsprechen im Buch das 5. bis 7. Kapitel (Abu-Seïf, Wieder frei, In Mekka).
6Vgl. Ulrich von Thüna: Karl-May-Übersetzungen in Frankreich 1881-1974. In: MKMG 29 (1976), S. 26-30. Der Titel blieb auch in der russischen Übersetzung erhalten, die am französischen Text unternommen wurde; vgl. Hans-Dieter Steinmetz: Die russischen Karl-May-Ausgaben. In: JbKMG 1990, S. 152f.
7Bibelzitate, auch im folgenden, nach D. Martin Luther: Die gantze Heilige Schrifft Deudsch, hg. v. Hans Volz. 2 Bde. München 1972.
8So in seinem Aufsatz von 1951 The Forgotten Language; zit. Nach Erich Fromm: Märchen, Mythen, Träume. Eine Einführung in das Verständnis einer vergessenen Sprache. In: ders.: Gesamtausgabe hg. v. Rainer Funk. Bd. IX. Stuttgart 1981, S. 183.
9Vgl. Bernd Steinbrink: Initiation und Freiheit. Karl May und die Tradition des Abenteuerromans. In: Karl May, hg. v. Helmut Schmiedt. Frankfurt/M. 1983, S. 264: "Lähmung und Bewegungslosigkeit auf der einen Seite, Befreiung daraus, Unrast und Tatendrang auf der anderen".
10Vgl. Otto Borst: Babel oder Jerusalem? Sechs Kapitel Stadtgeschichte. Stuttgart 1984.
11Helmut Schmiedt: "Einer der besten deutschen Erzähler ..."? Karl Mays 'Winnetou'-Roman unter dem Aspekt der Form. In: Karl Mays 'Winnetou'. Studien zu einem Mythos, hg. v. Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Frankfurt/M. 1989, S. 83-101 (zuerst in: JbKMG 1986, S. 33-49).
12Vgl. Oskar Seidlin: Der Taugenichts ante portas. In: ders.: Versuche über Eichendorff. Göttingen 1965, S. 14-31.
13Joseph von Eichendorff: Werke. Bd. 2. München 1978, S. 647.
14Friedrich Heer: Die Botschaft eines Lebenden. In: Eichendorff heute, hg. v. Paul Stöcklein. Darmstadt 1966, S. 103.



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