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Franz Kandolf

Von Hassan el Kebihr bis Hadschi Halef Omar


Im Karl-May-Jahrbuch 1921 habe ich im Aufsatz Der werdende Winnetou* gezeigt, wie sich die Romangestalt dieses indianischen Haupthelden aus dürftigen Anfängen immer mehr entwickelte, bis sie jene Form erhielt, die das Entzücken eines jeden begeisterten May-Verehrers bildet. Damals schrieb ich: "Für Winnetou glaube ich den Beweis erbracht zu haben, daß er als ein anderer in der Idee des gereiften Dichters, als ein anderer in der Vorstellung der Mannesjahre lebte. Man könnte diesen Beweis unschwer auch für seine übrigen Charaktergestalten, selbst Marah Durimeh nicht ausgenommen, führen." Heute will ich an der Gestalt Halefs zeigen, daß meine damalige Behauptung nicht aus der Luft gegriffen ist.

   Karl May läßt den kleinen Hadschi in rund fünfzehn Bänden eine bedeutende Rolle spielen, und der Leser wird nicht müde, sich an seinen drolligen Einfällen zu erfreuen. May hätte ruhig mit Halef noch weitere fünfzehn Bände füllen können und wäre dabei des Beifalls seiner Leser sicher gewesen, so anziehend hat er uns diese Lieblingsgestalt seiner Dichtkunst vor Augen gestellt. Aber auch sie ist ihm, gerade so wie Winnetou, nicht auf den ersten Wurf gelungen, sondern hat einige Wandlungen durchmachen müssen, bis sie endlich ihren bleibenden und den Leser immer wieder in seinen Bann ziehenden schriftstellerischen Ausdruck fand.

   Im Jahr 1878 erschien im 'Deutschen Hausschatz' die Erzählung Die Gum.1 Der Held wird von einem arabischen Diener begleitet, den May mit folgenden Worten schildert:

Die Araber sind nur selten über Mittelgröße und meist von schlanker, hagerer Gestalt; dieser Mann aber war fast ein Riese zu nennen. Er war so hoch und breit gewachsen, daß mir beinahe ein Ausruf des Erstaunens entfahren wäre, und sein langer, dichter Vollbart, verbunden mit dem Umstand, daß er bis unter die Zähne in allen möglichen Waffensorten steckte, gab ihm ein höchst martialisches Aussehen. Das war jedenfalls ein Begleiter, wie ich mir keinen bessern wünschen konnte, denn schon sein bloßer Anblick mußte dem Feinde Furcht einjagen.


*Wiederabdruck in: Karl Mays 'Winnetou'. Studien zu einem Mythos, hg. v. Dieter Sudhoff und Hartmut Vollmer. Frankfurt/M. 1989, S. 179-195.
1Ges. Werke, Bd. 10.



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Später entpuppt sich freilich dieser Riese, der nur auf den hochtrabenden Namen 'Hassan el Kebihr - Hassan der Große' hören will und sich selber 'Djezzar Bei - Menschenwürger' nennt, als ein ganz unglaublicher Feigling. Obgleich aber dieser Hassan, was Gestalt und Tapferkeit betrifft, das gerade Gegenteil des späteren Hadschi Halef Omar ist, besteht doch zwischen beiden eine Reihe von auffallenden Ähnlichkeiten. Auch Hassan fügt, wie später Halef, seinem einfachen Namen den ganzen Stammbaum bei, um auf den Hörer Eindruck zu machen - Hassan Ben Abulfeda Ibn Haukal al Wardi Jussuf Ibn Abul Foslan Ben Ishak al Duli; auch er ist wie Halef, der trotz des Koranverbots zeitweise eine Flasche Wein nicht verschmäht, ein Liebhaber geistiger Getränke, was ihn dazu führt, den Inhalt des Spiritusfäßchens, das Karl May zur Erhaltung der verschiedensten Wüstenkleintiere bestimmt hat, mit 'Ma el Zat - Wasser der Vorsehung' zu verwechseln; auch er ist ein eingefleischter Moslem, der, wenn er auch nicht darauf ausgeht, seinen Herrn zum Islam zu bekehren, doch keine Gelegenheit vorübergehen läßt, vor ihm mit der Überlegenheit seines Glaubens zu prahlen.

   Ganz besonders aber fordern die Ruhmredigkeit und Prahlsucht Hassans und seine Vorliebe, Reden zu halten, zum Vergleich auf. Man glaubt manchmal den späteren Halef zu hören, so sehr sind sich die beiden in dieser Beziehung ähnlich, wenn auch die Übertreibungen Hassans, weil mit seiner sonstigen Feigheit in Widerspruch stehend, nicht die überwältigende Komik besitzen wie die Halefs. Es mag genügen, zum Vergleich nur eine der Ruhmredereien Hassans anzuführen:

"Ja, wir wollen dir gehorchen, Sihdi. Du bist der Weiseste der Weisen, der Klügste der Klugen und der Held aller Helden. Seht her, ihr Männer, ich bin Djezzar Bei, der Menschenwürger. Dieser Säbel wird zehn Räubern den Bauch aufschlitzen, dieser Dolch wird zwanzig Mördern die Kehle zerschneiden, und diese Flinte, diese Lanze und diese Pistolen werden alles vernichten, was dann noch übrig ist. Für euch wird nichts übrig bleiben, als unsere Tapferkeit zu rühmen und unsere Heldentaten zu besingen, und wenn ihr zurückgekehrt seid zu euren Söhnen und Töchtern, so werden eure Zelte erklingen von dem Lobe Hassan el Kebihr und des großen Sihdi aus Germanistan, der Areth, den Herrn des Erdbebens, tötet, und den schwarzen Panther mit seiner Frau verschlungen hat!"

Das eine ist sicher: hätte May Hassan el Kebihr als Typ seines arabischen Dieners beibehalten, so würden dessen innerlich ganz und gar unwahren Salbadereien dem Leser stark auf die Nerven gehen, eine Erfahrung, die wir leider später bei Selim, dem lan-


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gen [langen] Haushofmeister des dicken Murad Nassyr, der in vielen Dingen ein getreues Abbild Hassans ist, machen - trotz seiner sonstigen Urwüchsigkeit.

   Hadschi Halef Omar hat noch einen zweiten Vorgänger. Im Jahr 1879 veröffentlicht May in einer Familienzeitschrift den Roman Zepter und Hammer, der zum großen Teil in Ägypten spielt. Hier lernen wir einen Diener kennen, der eine schmächtige, aber äußerst nervige und geschmeidige Gestalt besitzt und den Karl May folgendermaßen zeichnet:

Unter allen Leuten Said Abdallahs hatte er (der Held der Erzählung) Sawab am liebsten. Dieser war nicht nur ein treuer und zuverlässiger Diener, sondern er zeichnete sich unter seinen meist ernsten Genossen durch eine prächtige Lebhaftigkeit aus, die oft in Frohsinn überging und sich in erfrischenden Scherzen Luft machte.

Wie sehr dieser Diener, der auch Schlauheit und hohen, persönlichen Mut besitzt, dem Bild ähnlich ist, das wir uns von Halef machen, möge der Leser aus ein paar Stichproben erkennen:

Sawab sprang nach dem Fluß hin und erstieg die Dahabije. Einer der Männer, der ihn nicht kannte, trat ihm entgegen.

   "Was willst du hier?"

   "Sag mir zuvor, was du hier willst, du Ben el Kuskussu2!"

   "Ich gehöre zu diesem Schiff!"

   "So bist du wohl der Mann, der die überflüssigen Ratten und Mäuse totzubeißen hat, wie ich an deinem Großmaul ersehe?"

   "Hüte deine Zunge, Kleiner! Ich bin Hassan, der Segelwächter."

   "Hassan, der Segelwächter? Was ist ein Segelwächter, und was ist Hassan? Ein Segelwächter ist ein Mann, der nichts ist, und Hassan ist ein Name, den soviele Männer tragen, wie Sand am Meer oder wie es Flöhe in der Sahara gibt. Ich aber heiße Hadschi Sawab Ben Hadschi Kafur el Karihmi Ibn Hadschi Schehab el Kadiri Ibn Hadschi Ghanem en Nur und bin der erste Diener und Minister meines Effendi Katombo. Sieh, wie du vor Erstaunen den Mund aufsperrst, als ob du die Pyramiden von Giseh verschlingen wolltest, gerade wie deine Ratten und Mäuse!"

Und an einer andern Stelle:

"Also: Bab er Run, Effendi. Meine Gestalt ist kurz, aber mein Gedächtnis ist so lang wie der Nil; wie könnte ich mir sonst meinen eignen Namen merken?"

   "Und über dem Tor des Hauses steht die erste Sure des Koran."

   "Die erste? Das ist gut; da habe ich nicht so viel zu zählen, als wenn es die neunzigste oder hundertvierzehnte wäre."

   "Und du wirst deine Sache gut machen, Sawab?"

   "Maschallah, habe ich sie jemals schlecht gemacht? Nur ein einziges Mal bin ich dumm gewesen, weil ich das Krokodil nicht gleich ver-


2Sohn des Breis.


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schlungen [verschlungen] habe, als es mich fressen wollte. Sei ohne Sorge, Sihdi! Assuan ist nicht dafür bekannt, daß da besonders kluge Leute wohnen."

   "Hier hast du Geld. Es ist möglich, daß du welches brauchst."

   "Maschallah, Sihdi, ich weiß, daß ich stets welches brauche; aber was ich übrig behalte, das sollst du ehrlich wiederbekommen. Das Geld ist wie der Vogel: man weiß, aus welchem Ei er kommt, aber wenn er ausgekrochen ist, so weiß man nicht, wohin er fliegt."

   "So geh!" lachte Katombo.

   "Sallam - - -"

   Das "aaleik" war nicht mehr zu hören, denn Sawab sprang bereits ans Ufer. Hier gab er sich ganz das Ansehen eines Mannes, der ohne ein besonderes Ziel behaglich dahinschlendert, weil ihm die liebe Zeit nicht allzu karg zugemessen ist. Erst nach einiger Zeit trat er zu einem müßig stehenden Lastträger.

   "Sallam aaleik!"

   "Aaleik!" lautete die kurze Antwort.

   "Ist Friede in deinem Hause?"

   "Friede immerdar!"

   "Und Glück auf deinem Geschäft?"

   "Allah gibt jedem, was er braucht. Gibt er viel, so braucht man viel, gibt er wenig, so braucht man wenig."

   "Hamdulillah - Preis sei Gott, daß ich gefunden habe, was ich suche!"

   "Was suchst du?"

   "Sag lieber: Wen suchst du? Ich suche einen weisen Mann, der mir eine Frage beantworten kann, und da deine Worte von Gelehrsamkeit duften wie die Bücher des Kadi, so glaube ich, daß du mir die Antwort geben kannst."

   "So frage!" gebot der Lastträger, der sich geschmeichelt fühlte, und nun eine Frage erwartete, zu deren Beantwortung ein ungewöhnlicher Scharfsinn gehöre.

   "Wo liegt die Straße Bab er Run?"

   Das Gesicht des Lastträgers verfinsterte sich. "Ist das eine gelehrte Frage, so gehe dahin, woher du gekommen bist, sonst werde ich dir die Straße Bab er Run mit diesem da zeigen!" Dabei erhob er den Prügel, an dem er seine Doppellasten zu befestigen pflegte, um sie auf der Achsel zu tragen. "Glaubst du, ein ehrlicher Mann läßt sich von einem Mukkle3 äffen? Fort, sonst kommst du dreimal schneller weg als du denkst!"

   Dabei machte er eine so sprechende Bewegung, daß Sawab schleunigst das Weite suchte.

   "Maschallah, war das ein Grobian! Also auf diese Weise geht es nicht. Ich muß es auf eine andre versuchen."

Während Hassan nur unsre Lachlust weckt, innerlich aber uns fremd bleibt, gelingt es Sawab, auch unsre Teilnahme zu erregen. Und Hadschi Halef Omar ist die Summe von beiden. Wie ich das meine? Nun, wir nehmen von Hassan seine Ruhmrederei und Prahlsucht und seinen Fanatismus in Glaubenssachen, von Sawab seine Gestalt, seine Schlauheit, Tapferkeit, Lebhaftigkeit und seinen Witz, und wir haben Halef, wie er leibt und lebt und wie er


3Spaßvogel.


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uns im Jahr 1881 in der Reiseerzählung Giölgeda padishanün4 zum erstenmal entgegentritt.

   Es ist nicht Zweck dieses Aufsatzes, Halef im einzelnen zu charakterisieren, aber der aufmerksame Leser wird sich dem Eindruck nicht entziehen können, daß der Dichter, während er an seinem Halef schrieb und in liebevoller Kleinarbeit Zug um Zug und Strich um Strich dem Bild seines arabischen Freundes einfügte, diese Gestalt immer mehr in sein Herz einschloß. Und mit der Liebe wuchs die Freude an dieser urwüchsigsten seiner Gestalten. Sicher hat keiner seiner Leser eine größere Freude und ein innigeres Vergnügen über den kleinen Hadschi empfunden als der Dichter selber, wenn er einsam an seinem Schreibtisch saß und mit seinem Halef weinte und scherzte, lachte und schimpfte. Oder wenn er, wie uns seine Witwe erzählt, mitten in seiner Arbeit aufsprang und mit dem Manuskript in der Hand in die Küche zu seiner Frau stürmte und mit lachenden Augen ausrief: "Höre, liebe Frau, was mein Halef wieder angestellt hat! Das muß ich dir vorlesen!"

   Was ist aus dem armen Bedawi, dessen Burnus, als er uns zum erstenmal entgegentritt, "in allen möglichen Fett- und Schmutznuancen schimmerte", unter der Führung Kara Ben Nemsis geworden! Der fanatische Muselmann, der es sich in den Kopf gesetzt hat, seinen Sihdi zu bekehren, er möge wollen oder nicht, und der rauhe Sohn der Wüste, in dessen Augen ein Tuareg-Hedjihn mehr gilt als ein ermordeter Franke5, macht in kurzer Zeit den Weg zu einem überzeugten Christen. Rührend ist seine Anhänglichkeit zu seinem Sihdi, vorbildlich seine Treue gegen sein Weib, mustergültig seine Liebe zu seinem Sohn. Nur das Aufschneiden und sein hitziges Wesen kann er nicht lassen, sie sind zu seinem zweiten Selbst geworden.

   Aber auch hier ist er nicht der Unverbesserliche. Er macht sogar einen gewaltigen Anlauf zur 'Bekehrung', indem er im Band Am Jenseits seinen Sihdi bittet, ihm die Worte 'Kutub - Bücher' und 'El Mizan - die Wage der Gerechtigkeit' zuzurufen, wenn er im Begriff stehe, eine Tat der Unbedachtsamkeit und des Zornes zu begehen.

"Sihdi, mir soll dereinst keine stolze Standarte vorangetragen werden, sondern ich will in Demut nach der Wage wandern; denn ich habe mir das Wort gemerkt, daß Allah den Demütigen Gnade gibt. Darum bitte


4Jetzt: Ges. Werke, Bd. 1.
5Ges. Werke, Bd. l, S. 14.


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ich dich: wenn mich der Hochmut und der Stolz wieder einmal wie so oft bei meinem Zorn packen, und wenn ich überhaupt im Begriff stehe, etwas zu tun, was gegen die heute uns verkündigte Liebe ist, so rufe mir ja schnell 'El Mizan, die Wage' zu; dann wirst du sehen, daß ich sofort in mich gehe, um meinem Zorn die Bastonnade zu geben, die die Mekkaner nun nicht bekommen werden."

Jeder Leser, der die größte Schwäche Halefs kennt, wird mit mir der Meinung sein, daß er mit diesem Versprechen das Höchste geleistet hat. Mehr kann man wirklich nicht von ihm verlangen. Er hat am Schluß des Bandes Am Jenseits eine Sprosse auf der Stufenleiter des sittlichen Strebens erreicht, die hoch über jener liegt, auf der er gestanden ist, als das Kismet ihn mit Kara Ben Nemsi zusammenführte.

   Um so mehr muß es uns mit Verwunderung erfüllen, wenn wir in Ardistan und Dschinnistan, Bd. I, S. 3, Folgendes lesen:

Wir wohnten nicht in der Stadt, sondern bei ihr (Marah Durimeh) im Palaste, ich in demselben Stockwerk mit ihr, Halef aber im Erdgeschoß bei den dienenden Geistern. Sie liebte auch ihn. Sie war von seiner beispiellosen Liebe und Treue gerührt. Sie beglückwünschte mich, ihn gefunden und mir zum Begleiter erzogen zu haben. Aber sie tadelte an ihm, daß er sich keine Mühe gab, seine Seele in Geist umzusetzen, und sie hielt gerade das, was andere an ihm lobten, nämlich seine Liebenswürdigkeit, für seine größte Schwäche. Sie, die unvergleichliche Menschenkennerin, konnte keinen Menschen für entwickelt halten, der nicht die Kraft besaß, über die Forderungen seiner körperlichen Anima hinauszukommen.

Das klingt erstaunlich, wenn man bedenkt, daß May mit diesen Worten seinen Freund von der bisher erreichten Höhe in die ursprüngliche Tiefe hinabstürzen läßt. Er scheint nicht einzusehen, daß er ihm damit das erste und einzige, wirkliche Unrecht zufügt! Mit einigen Federstrichen hat er ein mehr als zwanzigjähriges redliches Streben seines treuen Halef gestrichen. Und warum das? Warum läßt er ihn sogar so tief fallen, daß er, der stets nüchterne und mäßige Scheik der Haddedihn, sich an dem berauschenden Getränk der Ussul sinnlos betrinkt? Weil sein Halef auf einmal nicht mehr einen Menschen mit Fleisch und Blut, sondern die Anima, das Menschliche, allzu Menschliche, vorzustellen hat. Ob dadurch die Gestalt des Mannes, den Kara Ben Nemsi nach Winnetou seinen liebsten Freund nennt, gewinnt, ist eine Frage, die ich nicht ohne weiteres mit 'ja' beantworten möchte. Fast scheint es mir, als ob Halef guten Grund hätte, sich über seinen


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Sihdi zu beschweren, und zwar in ähnlichen Worten, wie er es an einer ändern Stelle6 tut:

"Allah kerihm! So sei Allah mir gnädig! Was müssen diese Leute alle von mir denken! Für was müssen sie mich halten, den Scheik der Haddedihn, vom großen Stamm der Schammar! - - - Mein ganzer Ruhm ist hin! - - - Die Ehre meiner bescheidenen Unterwürfigkeit ist hingeschwunden und der Glanz meiner schönen Umgangsform in Finsternis verwandelt! O Sihdi, warum hast du das mir, deinem treuen Halef, angetan! - - - Nun ist dein Halef im ganzen Abendland ein anrüchiger Mensch geworden, und all mein einstiger guter Ruf hat sich in Schimpf und Schmach verkehrt. Ich bin eine verdorbene Wassermelone, ein fauler Apfel, ein wurmstichiger Buchecker geworden, den kein Sindschab (Eichhörnchen) verzehren mag!"

So schlimm, wie es Halef in seiner gewöhnlichen Sucht zu übertreiben hinstellen würde, ist es nun gerade nicht. Auch der symbolische Halef bleibt eine Gestalt, an der der Leser immer seine helle Freude haben wird. Ob sich freilich die Deutung Halefs als Anima zwanglos und ohne gewaltsame Pressung aus den früheren Bänden ergibt, soll nicht entschieden werden. Nach dem Gesagten ist es jedenfalls zweifelhaft.

   Reizvoll wäre es zu wissen, was Karl May mit Halef in seinen spätem symbolischen Werken gemacht hätte. Da diese die Entwicklung des Gewaltmenschen zum Edelmenschen hätten zeigen sollen, so hätte er Halef, die Anima, der er durch Marah Durimehs Mund jede Kraft zur Entwicklung nach oben absprach, folgerichtig sterben lassen müssen; denn soll der Gewaltmensch zum Edelmenschen werden, so muß seine Anima, das Niedrige in ihm, ertötet werden.

   Aber hier zeigt es sich nun, daß der Dichter nicht die Kraft findet, sich von Halef zu trennen. Er, der aus dem Tod Winnetous, der als Vertreter der roten Rasse sterben mußte, ein Kapitel erschütternder Tragik gestaltet hat, bringt es nicht fertig, Halef sterben zu sehen, so sehr lebt er in und mit dieser Lieblingsgestalt seiner Phantasie. Er hat zwar selber die bestimmte Empfindung, daß er diesen Schritt zu tun habe, aber er schiebt ihn immer wieder hinaus. Einmal, im dritten Band der Erzählung Im Reiche des silbernen Löwen, scheint es fast, als ob er sich entschlossen gehabt hätte, diesen Schritt zu tun. Die Art, wie dort Halef vom Sterben redet, mutet wie eine Todesahnung an und erinnert an die seltsamen Reden Winnetous vor seinem Tod. Aber da, wo die Befürchtungen des Lesers zur Wahrheit zu werden


6Am Jenseits, S. 71.


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scheinen, liefert der Pedehr ein psychologisches Meisterstück - und Halef ist dem Leben und den Lesern wiedergegeben. Karl Mays Witwe erzählt von ihrem Gatten ein kleines aber bezeichnendes Vorkommnis. Ich weiß nicht genau, wann sich dieses abgespielt hat, aber es ließe sich ganz gut denken, daß es in die Zeit fällt, da er am Silberlöwen schrieb. Es ist bekannt, daß der Dichter während der Arbeit mit seinen Gestalten und mit sich selber sprach. In einem dieser Zustände, in denen sich für ihn die Grenzlinie zwischen Dichtung und Wahrheit verschob und verflüchtigte, eilte er einmal in großen Schritten und händeringend in seinem Arbeitszimmer auf und ab und klagte: "Ich bringe es nicht über mich, meinen Halef sterben zu lassen, ich kann nicht, es geht über meine Kraft, ich habe ihn viel zu lieb dazu."

   Wir dürfen annehmen, daß May die Kraft hierzu in einem seiner späteren Werke doch noch gefunden und das Halefproblem ähnlich wie das Winnetouproblem zu einem Abschluß gebracht hätte. Das 'Wie' entzieht sich freilich unsrer Kenntnis, und es stehen uns nur Vermutungen zu Gebote. Vielleicht hätte er ihn auf seinem den Lesern angekündigten Ritt durch Märdistan7 im 'See der Schmerzen' ertrinken lassen, vielleicht wäre der Hadschi in der schrecklichen Geisterschmiede auf irgend eine Weise ums Leben gekommen. Der Tod ist dem Dichter allzufrüh in den Arm gefallen und hat uns um eines der erschütterndsten und rührendsten Kapitel gebracht, und der unsterbliche Hadschi Halef Omar ist ganz so wie Winnetou nicht zur Vollendung gekommen. - - -


7Siehe Ardistan und Dschinnistan Bd. I, S. 1.



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Sekundärliteratur


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