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Helmut Schmiedt

Der Jude Baruch

Bemerkungen zu einer Nebenfigur in Karl Mays 'Von Bagdad nach Stambul'


Ich [...] habe unter den schwarzen, braunen, roten und gelben Völkern wenigstens ebenso viele gute Menschen gefunden wie bei den weißen, wenigstens, sage ich, wenigstens! (XIV 241)

Ein Jude überlistet zehn Christen; ein Yankee betrügt fünfzig Juden; ein Armenier aber ist hundert Yankees über (XXIII 394).

Diese beiden Sätze Karl Mays - Äußerungen des Erzählers bzw. Ich-Helden, die dem ersten Teil des Old Surehand und einer Erzählung des Sammelbandes Auf fremden Pfaden entstammen - verweisen auf einen der beliebtesten Diskussionspunkte in der neueren Karl-May-Literatur: Wie hält es dieser Schriftsteller mit Vorurteilen nationaler, rassischer, sozialer und kultureller Art? Auf den ersten Blick macht sich ein eklatanter Widerspruch zwischen den Zitaten bemerkbar. Spricht aus dem Surehand-Satz eine offene, von engstirniger Voreingenommenheit weit entfernte Gesinnung, so operiert der folgende auf geradezu buchhalterische Weise mit argen Klischeevorstellungen zum Charakter 'des' Juden, 'des' Yankees und 'des' Armeniers. Derartige Gegensätze ziehen sich durch weite Teile des Mayschen Werkes: Immer wieder wechseln Bekundungen, nach denen es grundlegende Wert- und Rangunterschiede zwischen den Angehörigen verschiedener Völker, Rassen und Nationen nicht gebe, mit Zeichen der Fixierung auf Vorurteile, die ebendiese Differenzen erläutern wollen; erscheint May an der einen Stelle als Kritiker an der ideologischen Rechtfertigung des Imperialismus seiner Zeit, so arbeitet er an der anderen selbst mit deren Versatzstücken. Unter diesen Umständen liegt es nahe, daß sich die Forschung dem Thema immer wieder zugewandt hat; ihre Ergebnisse sind konsequent uneinheitlich ausgefallen, doch scheint May - alles in allem und im Vergleich zu manchen anderen 'Abenteuerschriftstellern' des 19. Jahrhunderts1 - aus heutiger Sicht wenigstens nicht ganz schlecht dazustehen.

   Daß insbesondere Karl Mays Darstellungen jüdischer Figuren in diesem Zusammenhang von großem Interesse sind, bedarf keiner näheren Begründung. So hat es denn auch zu diesem speziel-



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len [speziellen] Thema schon einige Untersuchungen gegeben, die ebenfalls zu einem für den Autor insgesamt nicht ungünstigen Urteil gelangen.2 Ein solches Fazit schließt freilich nicht aus, daß sich auch hier das eine oder andere unerfreuliche Extrem findet. Ein herausragendes Beispiel bilden in Satan und Ischariot Jakob Silberberg und seine Tochter Judith: Der Vater stellt sich sogleich als "Handelsmann von Kindesbeinen an" (XX 43) vor, die Tochter wechselt ihre männlichen Partner nach deren finanzieller Potenz, und beide weisen auch äußerlich einige jener Merkmale auf, die das antijüdische Klischee verlangt.3

   Nicht viel besser scheint es Baruch Schebet Ben Baruch Chereb Ben Rabbi Baruch Mizchah, kurz Baruch genannt, zu ergehen: einem Juden, bei dem sich Kara Ben Nemsi mit zwei Begleitern während des in Von Bagdad nach Stambul geschilderten Aufenthaltes in der zweiten Stadt des Titels für kurze Zeit einquartiert. Im Verlauf der ersten Begegnung mit Baruch entdeckt der deutsche Held zunächst einen

Holzklotz, dessen Bestimmung unmöglich zu erraten war, und auf diesem rätselhaften Klotz saß ein Ding, welches mir noch viel rätselhafter gewesen wäre, wenn es nicht einen alten, schmierigen Tschibuk geraucht hätte. Das Ding hatte nämlich Kugelform und war in einen viel zerrissenen Kaftan gewickelt; auf dieser Kugel lag ein früher vielleicht blau oder meinetwegen auch rot gewesener Turban, und zwischen Kugel und Turban stahl sich eine, wie es schien, menschliche Nase und der soeben erwähnte Tschibuk hervor. Die Nase war nicht viel kürzer als die Pfeife.

   Bei unserm Anblick stieß das igelartig zusammengerollte Wesen ein Grunzen aus, das halb behaglich, halb aber auch feindselig klang, und traf Anstalt, sich aus dem Kaftan zu wickeln.

   "Sallam!" grüßte ich

   "Ssssss   - -   hmmm!" zischte und brummte es als Antwort.

   "Dieses Haus ist zu vermieten?"

   In einem Nu kollerte die Gestalt von dem Klotz herunter und richtete sich dann nach menschlicher Weise auf.

   "Ja, jawohl, allerdings, sofort zu vermieten! Schönes Haus, herrliches Haus, prächtige Wohnung, fast für einen Pascha zu gut, alles beinahe ganz neu! Wollen Sie sich das Haus ansehen, Hoheit?" (III 480f.)

Ein Ding, das hinsichtlich seiner Rätselhaftigkeit einem Holzklotz ähnelt; ein Wesen, das sich mit Grunzen, Zischen und Brummen artikuliert; ein Mensch, der als solcher erst, dann aber sofort zu sich kommt, als es ums Geschäftliche geht: das sind die drei Entwicklungsstufen, durch die sich Baruch bei seinem ersten Auftritt bewegen muß. Bemerkenswert erscheint auch, was dazwischen und danach kommt. Die Pfeife (Tschibuk), die Kara Ben Nemsi auf den Gedanken bringt, er habe es mit einem


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menschlichen Wesen zu tun, ist schmierig, die Kleidungsstücke sind teils zerrissen, teils von undefinierbarer Farbe: Es ist alles schäbig an diesem Menschen, und daß die Länge seiner Pfeife auch noch in Konkurrenz zu derjenigen der Nase tritt, gemahnt nicht nur sensible Leser an die physiognomischen Klischeevorstellungen vom typischen Juden, als der Baruch denn auch einige Zeilen weiter prompt identifiziert wird. Eine grammatische Fehlleistung des Erzählers, das falsche "stahl" statt der richtigen Pluralform, suggeriert darüber hinaus auf heimtückische Weise, daß Nase und Pfeife eins sind, denn wenn sie eine Einheit bilden, steht der Singular, der Nase und Tschibuk verbindet, in höherem Sinne zu Recht da; gleichsam unterderhand darf sich die Assoziation zur Hakennase einstellen, durch die dem Klischee vom jüdischen Aussehen erst recht entsprochen wird.4 Was das Wesen schließlich veranlaßt, sich endgültig als Mensch zu entpuppen, ist das Stichwort "vermieten": Da wird Geld in Aussicht gestellt, und das bringt Baruch sofort auf die Beine. Seine Anpreisung der zu vermietenden Räume - die im späteren Urteil des Erzählers freilich "Höhlen" sowie einem "Taubenschlag" und einem "Hühnerstall" gleichen (482) - deutet Geschäftstüchtigkeit an, die maßlose Anrede an den potentiellen Mieter dagegen eine Unterwürfigkeit, die sich mit ihr auf unangenehme Weise verbindet. Kein Zweifel: "Es war ein Jude, der jetzt in seiner ganzen patriarchalischen Glorie vor uns stand" (481).

   Nach dieser Einführung mag man vermuten, es mit einer Klischeefigur übelster Art zu tun zu bekommen. Der Judentypus, der sich, was das Äußere betrifft, "in hagerer Gestalt mit langer Hakennase und verschlagenen Gesichtszügen ausdrückt"5, und in seinem Verhalten durch Geldgier und eine beträchtliche Skrupellosigkeit geprägt ist, scheint in Baruch ein weiteres Mal zum Leben erweckt zu werden; einige dieser Merkmale tauchen zumindest andeutungsweise auf, und der Umstand, daß der Leser durch solche Vorgaben angeregt wird, den Fundus der eigenen Vorurteile zur Vervollständigung des Bildes zu nutzen, gibt dem Porträt im Rezeptionsvorgang besonders scharfe Konturen. Der Dreischritt vom "Ding" zum "Wesen" und von da zum Menschen erscheint wie eine individuelle Zutat des Autors, die die Figur erst recht in ihrer Häßlichkeit entlarven soll.

   Aber dann wendet sich die Tendenz der Darstellung mit bemerkenswerter Entschiedenheit, und zwar zunächst - entsprechend der vorherigen Einführung der Figur - im Hinblick auf ihr Ausse-


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hen [Aussehen]. Da sich Baruch nun "nach menschlicher Weise" (480) aufgerichtet hat, kann Kam Ben Nemsi ihn genauer betrachten, und es ergibt sich, daß er so weit wie eben möglich vom stereotypen Bild des 'hageren' Juden abweicht: "Er war klein, sehr klein, aber desto dicker" (481). In der Beschreibung weiterer Äußerlichkeiten ist zwar wiederum von allerlei Unerfreulichem die Rede, aber das Ganze erhält nun eine Wendung, bei der sich immer stärker abstruse Züge mit freundlichem Spott mischen. So heißt es z.B.:

Aus den Pantoffeln blickten alle zehn Zehen in rührender Eintracht hervor; [...] der Turban hatte das Aussehen einer ungeheuren, runzeligen Backpflaume, und die Pfeife war nach und nach vorn so abgebissen worden, daß nur noch der Kopf übrig geblieben war, in welchen der glückliche Besitzer anstatt des Rohres einen hohlen Geierknochen gesteckt hatte; der war nicht so leicht durchzubeißen. (481)

Von Schäbigkeit kann hier wohl nicht mehr die Rede sein; die Beschreibung tendiert ihrem Stil - etwa im Vergleich mit der Backpflaume - und ihrem Inhalt nach mehr und mehr ins Groteske, und der abwertende Akzent geht dabei allmählich verloren. Jeder erfahrene May-Leser kennt ähnliche Schilderungen; die meisten Personen, denen sie gelten - zu denken ist etwa an Westmänner vom Schlage der Tante Droll -, werden überwiegend freundlich beurteilt, und bald erweist sich, daß es hier nicht anders ist.

   Näheren Aufschluß verspricht der Hinweis auf den Geierknochen als Rohrersatz, der "nicht so leicht durchzubeißen" war: Hat Baruch ihn vielleicht benutzt, weil er zu arm war, ein neues Rohr zu kaufen? Der folgende Satz lautet: "Uebrigens hatte der Kaftan keine Aermel mehr, und die Aengstlichkeit, mit welcher ihn der Mann zusammengeschlagen und den Kragen emporgezogen hielt, ließ vermuten, daß er die einzige Bedeckung des Vermieters bilde." (481) Man wird geneigt sein, die eben formulierte Frage nun mit Ja zu beantworten, denn Baruchs "Aengstlichkeit" deutet an, daß der disaströse Zustand seines Kaftans ihm nicht gleichgültig ist; hier scheint eine als peinlich empfundene, aber eben nicht zu verbergende Armut im Spiel zu sein.

   Die Vermutung bestätigt sich in den folgenden Passagen ganz unzweideutig. Baruch und seine Frau leben in bitterer Not; das miserable Aussehen ihrer Gewänder und der übrigen Utensilien beruht auf nichts anderem als einem gewaltigen Mangel an Geld. Unter diesen Umständen rückt im nachhinein Baruchs spontane


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Reaktion während der Vorstellungsszene in ein neues Licht: Als Zeichen maßloser finanzieller Gier wäre sie zu verurteilen, als Verhalten dessen, der über jede kleine Einnahme glücklich sein muß, ist sie verständlich und verzeihlich. In der Tat zeigt Baruch rasch, wie leicht er zufriedenzustellen ist: "ich brauche nicht viel", versichert er, als Kara Ben Nemsi sich seinerseits als "arm und gering" (483), d.h. als ein wenig zahlungskräftiger Mieter zu erweisen scheint. Baruchs weitere Äußerung, er "kaufe und verkaufe Brillanten, Schmuck und Altertümer", entpuppt sich als kläglicher Versuch, über das Elend hinwegzutäuschen. Auf die Frage, wo sich denn das "Lager" dieser wertvollen Dinge befinde, antwortet er: "ich habe grad jetzt alles verkauft" (483), und Kara Ben Nemsi erkennt, daß diese Flunkerei "nicht in böser Absicht geschehen" ist (486). Schließlich wird auch noch der unangenehme Eindruck vom übermäßigen Schmutz relativiert: Baruchs Frau reinigt die zu vermietenden Räume "nach Kräften" (484), und bei der Zubereitung des Essens zeigt die "alte Jüdin [...] eine größere Sauberkeit, als ich vermutet hatte" (486) - eine bemerkenswerte Feststellung, denn Kara Ben Nemsi stellt bekanntlich nicht eben häufig falsche Vermutungen an, auch nicht in nebensächlichen Details.

   Parallel mit der jetzt skizzierten Entwicklung verändert sich das Verhältnis von Mieter und Vermieter: Es wird zusehends freundlicher, enger, herzlicher, obwohl sich die gesamte Episode nur über wenige Stunden erstreckt. Zunächst einmal sind dafür utilitaristische Erwägungen auf beiden Seiten verantwortlich: Kara Ben Nemsi ahnt, daß "mir die beiden Alten nützlich sein konnten", und will sich "deshalb gern ihr Wohlwollen erwerben" (485); Baruch und seine Frau rechnen trotz der vermeintlichen Armut ihrer Mieter mit einem gewissen finanziellen Ertrag, "mit unserem Erscheinen war vielleicht eine kleine Hoffnung über ihrem Elende aufgegangen" (485f.). Aber der Umstand, daß noch die rückblickende Schilderung des Erzählers mit einer Vielzahl affektiv gefärbter Begriffe arbeitet, läßt erkennen, daß auch anderes als pures Nützlichkeitsdenken im Spiel ist. Beim Abschluß des Mietvertrags ist bereits von "unserem guten Baruch" (484) die Rede; später taucht er dann einmal als "der alte Baruch" (508) auf, kurz darauf hingegen als "mein alter Baruch" (511), was gewissermaßen die Koseform zur vorherigen Bezeichnung ist. Baruchs Bemühungen um das Wohl der Reisenden kommentiert der Erzähler nahezu überschwenglich: "man sah die Liebe; er hielt


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uns für mittellos und meinte es gut." (485) Vom schnöden Bild des raffgierigen Juden, dem man ob seiner Hinterhältigkeit stets mit aller Vorsicht begegnen muß, bleibt jetzt nichts mehr übrig; der deutsche Held und Baruch sind durch eine - wenn auch im Blick auf die Kürze ihrer Bekanntschaft verständlicherweise oberflächliche - emotionale Beziehung verbunden, deren Herzlichkeit mit pragmatischen Aspekten allein nicht hinreichend erklärt werden kann.

   Allerdings zahlt sich die Beziehung am Ende für beide auch im utilitaristischen Sinne aus. Kara Ben Nemsi erhält von Baruch jene Auskünfte (486 ff.), deren er bei der Verfolgung seiner Pläne bedarf, und es gelingt ihm binnen weniger Stunden, einer im Nachbarhaus tätigen Verbrecherbande das Handwerk zu legen. Baruch wiederum gelangt, nachdem der Held ihn mit einigen Kleinigkeiten beschenkt hat, in den Besitz von tausend Piastern, die Kara Ben Nemsi einem reichen Mann abnötigt, der ohne Baruchs Hinweise vermutlich von jenen Verbrechern ermordet worden wäre. Bemerkenswert an diesem Finale ist noch zweierlei. Zum einen wagt Kara Ben Nemsi einen derben Streit mit dem unfreiwilligen Wohltäter, einem Offizier höheren Ranges, um den "braven Juden" (545) materiell zu unterstützen und das "Glück der alten Leute" zu begründen. Zum anderen betont der Erzähler, tausend Piaster seien "im höchsten Falle zweihundert Mark; damit war dem braven Baruch geholfen, wenn es auch zu wenig war, um einen Handel mit 'Juwelen und Altertümern' damit zu begründen." (548) Dieser Hinweis beugt dem möglichen Einwand vor, mit Kara Ben Nemsis Hilfe gelange Baruch am Ende doch noch auf den Weg eines Geschäftsmannes, der dem gängigen Bild vom Juden entspräche.

   Man übertreibt wohl nicht, wenn man die Baruch-Episode als ein kleines didaktisches Kabinettstück des Autors betrachtet: Es richtet sich darauf, die antijüdischen Ressentiments der Leser zu mobilisieren, sie dann aber ad absurdum zu führen und ihnen damit um so energischer die Grundlage zu entziehen. Zunächst einmal erscheint Baruch als ein Jude, der nach den Hinweisen des Erzählers weitgehend dem Klischee entspricht. Dann aber stellt sich heraus, daß das Bild ein Trugbild ist: nichts bleibt von ihm übrig, Stück um Stück wird es seiner Fehlerhaftigkeit überführt, wobei das, was zuerst da war, und die Korrektur überwiegend streng aufeinander bezogen sind. Der Eindruck der Habgier wird mit dem Hinweis auf die trostlose materielle Situation des Ehe-


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paars [Ehepaars] revidiert; das abschätzige Urteil, das sich im Blick auf Äußerlichkeiten ergeben hat, wird ebenfalls zurückgenommen; Kara Ben Nemsis wohlwollendes und noch in der späteren Schilderung mit freundlichen Worten nicht sparendes Verhalten tut ein übriges, die jüdischen Figuren dem Klischee zu entreißen. Die pragmatische Seite der Beziehung zwischen dem Helden und dem Ehepaar wiederum arbeitet dem Eindruck entgegen, das Spiel mit Vorurteilen und Empfindungen dominiere zu sehr gegenüber den Erfordernissen der Romanhandlung; überdies verhindert der Umstand, daß Baruch dem Helden wertvolle Hinweise gibt, das Abgleiten der Figur in die Rolle eines Bettlers, an die sich womöglich neue Klischees heften könnten. Alles in allem erweist sich Karl May in dieser Episode als ein Autor, der nicht nur eine gerade im zeitgenössischen Zusammenhang aller Ehren werte Haltung zum Umgang mit Juden6 vertritt, sondern sie auch im Erzählvorgang auf das geschickteste zu entwickeln und vermitteln weiß; daß er die Auflösung des Klischeebildes gleichsam als eine eigene kleine Geschichte mit dichten motivischen Fügungen inszeniert, dabei aber eine intensive Verbindung zu dem zentralen Plot des Romans herstellt, macht die besondere literarische Qualität der Baruch-Episode aus - wenn Literatur festgefahrene Vorstellungen ihrer Leser überhaupt zu revidieren vermag, dann wohl nur auf solche Weise. Es sei freilich an dieser Stelle noch einmal ausdrücklich darauf verwiesen, daß Mays literarische Juden-Porträts auch ganz andere Seiten aufweisen, und zwar nicht nur in Texten, die erheblich früher entstanden sind.

   Die Besonderheiten der Baruch-Episode geben noch zu einigen weiteren Überlegungen Anlaß. Zunächst einmal erweist es sich abermals, daß die genaue und konzentrierte Beschäftigung mit den Formulierungen dieses Schriftstellers lohnend ist: Mag seine Sprache auch an den hier wiedergegebenen Stellen nicht ohne einige jener Mängel sein, die man ihr generell nachsagt, so kommt ein umfassender Eindruck von der Argumentation doch nur mit dem präzisen Blick auf den Wortlaut zustande. Abgesehen davon, daß offenbar selbst Fehlleistungen einen Sinn haben können, ist es da beispielsweise wichtig, daß May zunächst "der alte Baruch" (508) und dann "mein alter Baruch" (511) notiert: nicht etwa umgekehrt, denn dies wäre eine unpassende emotionale Antiklimax.

   Auch in sehr grundlegender struktureller Hinsicht ist die Episode exemplarisch. Man kann das Geschehen um Baruch charakterisieren als einen Vorgang, bei dem etwas sichtbar wird, das


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verborgen war, nun aber das zunächst Sichtbare verdrängt: An die Stelle des Klischeebildes tritt ein anderes, richtigeres Bild. Diese Korrektur einer Verwechselung von Schein und Sein ist nun aber etwas, das sich in Mays Texten und gerade auch im großen Orientroman beständig vollzieht: Da werden, in den berühmten Gerichtsszenen, Angeklagte zu Anklägern und Richter zu Angeklagten, da entpuppt sich ein dem ersten Blick nach erbarmungswürdiges Männlein wie Halef, das den Eindruck erweckt, es habe "ein volles Jahrzehnt zwischen den Löschpapierblättern eines Herbariums in fortwährender Pressung gelegen" (I 2), als dauerhaft heroischer Begleiter des obersten Helden, da werden, von Abrahim-Mamur über den 'heiligen' Mübarek bis zum Schut, diverse Persönlichkeiten, die sich eines großen öffentlichen Ansehens erfreuen, als Verbrecher schlimmster Art entlarvt. Stets erweist sich das, was auf den ersten Blick und nach allgemeinem Urteil Geltung beansprucht, als scheinhaft und falsch, und nicht anders ist es ja mit dem Eindruck, der zunächst vom Juden Baruch vermittelt wird.

   Man mag die beharrliche Aufklärungsarbeit, die Kara Ben Nemsi als Held und Erzähler in den sechs Bänden leistet, als generellen Vorbehalt gegenüber den Exponenten der gesellschaftlichen Ordnung und damit gegenüber ihrer Trefflichkeit selbst gedeutet wissen wollen, und analog dazu wäre die Darstellung Baruchs dann erst recht nicht nur als Korrektur zu einem einzigen Juden zu begreifen. Im übrigen verweist gerade auch die Episode, in der er auftritt, sehr eindringlich auf die Misere der öffentlichen Ordnung: Zum Umfeld der Bande, die Kara Ben Nemsi in Stambul bekämpft, gehören mehrere ranghohe Persönlichkeiten, und ihr gleichfalls wohlbekanntes Opfer, das nur dank Baruchs Hinweisen und Kara Ben Nemsis tätigem Eingreifen vor dem Tod bewahrt wird, verhält sich danach äußerst arrogant und undankbar; unter allen Beteiligten der Episode sind es, von Kara Ben Nemsi und seinen Begleitern abgesehen, eigentlich nur die beiden Juden, die als sympathisch gezeichnet werden.

   Man könnte die eben skizzierten Phänomene auch mit dem Begriff des Umschlags, der Verkehrung zweier Extreme, fassen und dann noch andere Beobachtungen hinzufugen. Reiche, angesehene und mächtige Persönlichkeiten werden entlarvt und gestürzt, arme und scheinbar hilflose dagegen unterstützt und an die Spitze der Wertehierarchie der Romanwelt befördert; dieser Umschlag


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der Verhältnisse spiegelt sich in der antithetischen Beziehung wichtiger Topoi in Mays Romanwelt: Gefangenschaft und Befreiung gehören in diesem Sinne zueinander, das Verfolgen von Verbrechern und die eigene Verfolgung durch andere Personen, schließlich auch - gerade Von Bagdad nach Stambul ist voll davon - die enge Nachbarschaft von höchstem Glück und deprimierendem Unglück. Auch der Mikrokosmos der Baruch-Episode läßt sich mit dieser Kategorie erfassen: Der Klischeejude verwandelt sich quasi in seinen Widerpart, die Arbeit an der Bestätigung kollektiver Vorurteile verkehrt sich zur Argumentation gegen die Schablone.

   Manches ließe sich darüber hinaus noch untersuchen, etwa Mays Verfahren, seine literarischen Figuren durchweg zunächst im Blick auf Äußerlichkeiten zu beschreiben, die dann aber unter dem Aspekt der psychischen Befindlichkeit, der allgemeinen Lebenssituation und der gerade aktuellen Erlebnisse des Betreffenden oft eine überraschende Interpretation erfahren. Doch auch ohne weitere Ausgriffe sollte das Gewicht der Episode um das jüdische Ehepaar verständlich geworden sein. Sie ist, ihrer Beiläufigkeit im Handlungsgefüge des großen Romans zum Trotz, nicht nur von besonderem Wert für den, der sich mit dem eingangs zitierten Problem der Vorurteile in Karl Mays Schriften befaßt; sie erweist sich auch als ein Textstück, dessen Beschaffenheit fundamentale Erzählverfahren des Autors konzentriert und spiegelt.


Anmerkungen

1Vgl. Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Frankfurt/M. 2/1987, S. 158ff.
2Vgl. Norman Strech: Die Darstellung der Juden bei Karl May. In: MKMG 58 (1983), S. 32-43; Rainer Jeglin: Karl May und der antisemitische Zeitgeist. In: JbKMG 1990, S. 107-131.
3Der Hinweis, May habe in Judith weniger eine Jüdin als vielmehr - in verkappter Form - die eigene Ehefrau porträtieren wollen, die er damals eben entsprechend abschätzig beurteilt habe (vgl. Strech [Anm. 2], S. 42), macht die Sache nicht erfreulicher: Es wäre dann für Mays Judenbild bezeichnend, daß er sich zur Attacke auf die wenig geliebte Gattin der antisemitischen Klischees bedient hat.
4May hat sich solcher Klischees manchmal auch mit beträchtlicher Grobschlächtigkeit bedient: Über den eben erwähnten Juden Jakob Silberberg beispielsweise heißt es kurz und schlicht, sein Gesicht zeige "den ausgesprochensten jüdischen Typus" (XX 40f.).
5Strech [Anm. 2], S. 32.


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6Vgl. dazu insbesondere auch das bei Heinz Stolte (Auf den Spuren Nathans des Weisen. Zur Rezeption der Toleranzidee Lessings bei Karl May. In: JbKMG 1977, S. 17ff.) dargestellte Beispiel eines erstaunlichen Briefwechsels zwischen May und einem jüdischen Kind. Zum allgemeinen literaturhistorischen Zusammenhang vgl. Das Bild des Juden in der Volks- und Jugendliteratur vom 18. Jahrhundert bis 1945, hg. v. Heinrich Pleticha. Würzburg 1985; Juden in der deutschen Literatur. Ein deutsch-israelisches Symposion, hg. v. Stéphane Moses und Albrecht Schöne. Frankfurt/M. 1986; Gustav Kars: Das Bild des Juden in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. Freiburg 1990.



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