//219//

Katalin Kova[`´c]evi[´c]

Makedonien bei Karl May*


Es ist erstaunlich, wieviel man über diesen gewandten, weltbekannten und angeblich weitgereisten Vielschreiber veröffentlicht hat. Im Zusammenhang mit seinem Leben und seinem Schaffen sind mehrere tausend Zeitschriftenartikel und sonstige Arbeiten erschienen. Viktor Böhm, ein vorzüglicher Kenner des Mayschen Schaffens, hat 8000 Artikel für seine Untersuchung gefunden und gelesen.1 Er hat also einen Berg von Abhandlungen, Studien und sonstigen Schriften verarbeitet; sie bejahen oder verneinen den literarischen, erzieherischen und folkloristischen Wert seiner zumindest zweifelhaften Reiseschilderungen wie auch die Glaubwürdigkeit seiner Erlebnisse. Über ihn äußerten sich Literaturhistoriker verschiedensten Ranges, wie Werner Mahrholz2, Josef Nadler3, Eduard Engel.4 Die Literaturgeschichte von Hans Naumann5 berichtet über May ebenso wie die von Karl Storck.6 Der Philosoph Ernst Bloch widmete ihm als seinem bevorzugten Jugendschriftsteller einen Artikel7; desgleichen tat Carl Zuckmayer8, der Karl May alias Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand für das Ideal der Männlichkeit deklariert. Mit anderen Intentionen und in einem anderen Ton beschäftigen sich mit Karl Mays Opus Hermann Hesse und Arno Schmidt - um nur die bekanntesten Namen zu erwähnen. Es gibt auch eine Reihe von Monographien9 und sogar Dissertationen10 über das Phänomen Karl May. Also auch mit wissenschaftlichen Methoden und Ambitionen wurde das Leben und das Schaffen dieses einmaligen geistigen Abenteurers, Unterhaltungs- und Volksschriftstellers des 19. Jahrhunderts untersucht und dargestellt. Man stellte sich die Aufgabe, die Erfolgsgründe seiner populären Werke zu finden; auch literatursoziologische Arbeiten sollten dazu verhelfen.11

   Es ist aber bemerkenswert, daß Karl May trotz seiner ungemeinen Popularität und des Interesses, das selbst seriöse Literaturhistoriker an ihm genommen haben, in den meisten Fällen nur am Rande erwähnt wird. Eine Ausnahme stellt die Literaturgeschichte von Josef Nadler dar. Auch in der zweiten Ausgabe blieb er



Von der Internet-Redaktion wurden folgende Ergänzungen vorgenommen:
Probleme bei der Darstellung von diakritischen Zeichen wurden zunächst dadurch gelöst, daß sie vor den Buchstaben gesetzt wurden, sofern es nicht anders möglich war. Außerdem wurden dann beide Zeichen fett und in [ ] gesetzt. Wenn also ein Sonderzeichen und ein Buchstabe in [] und fett gesetzt sind, sind sie als ein Zeichen zu lesen.
Druckfehler wurden gegenüber der gedruckten Fassung korrigiert, indem der korrigierte Text in [ ] hinzugefügt wurde mit der zusätzlichen Kennzeichnung "IR", so dass man sowohl die Originalfassung der gedruckten Version sieht als auch die Korrektur. Bei einem getrennten Wort am Ende einer Seite wurde das Wort ohne Trennung auf der nächsten Seite auch in [ ] hinzugefügt.



//220//

bei seiner früheren Auffassung, daß Karl May "[...] die aufschlußreichste Aussage über den deutschen Seelenzustand zwischen dem ohnmächtigen und dem machtberauschten Deutschland ist". Im weiteren stellt er ihn neben Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Nadler meint, daß es, von dem Rangunterschied abgesehen, der Karl May von diesen trennt, etwas Wesentliches gibt, was diese drei in gleichem Maße besitzen: Dies sei die krankhafte Übersteigerung des Selbstbewußtseins, das Bedürfnis nach einem Dasein auf einer künstlichen Szene, Flucht aus der Wirklichkeit und Gegenwart in ein Traumreich des Ich und der Zukunft; Gedankenspiel mit einem ins Halbgöttliche überhöhten Menschentum und mit dem gesteigerten Ton nationaler Leidenschaft.12 Es wirkt befremdend, diese drei Namen so nebeneinandergestellt zu sehen. Was würden wohl Wagner und Nietzsche dazu gesagt haben?

   Heutzutage wissen wir, daß die meisten, die Karl May gelesen haben, diese ihre Unterhaltung für einen krummen, unbedeutenden jugendlichen Abweg betrachten, den sie aber gerne begangen haben.13 Wie schreiben aber über May die Lexika, diese populären Quellen des Wissens und der ersten Informationen, die zugleich ein Spiegel der allgemeinen Interessen und der zeitgemäßen Meinungen und Anschauungen sind? Meyers Lexikon, das 1928 herausgegeben wurde, erkennt die spannende Handlung und lebhafte Schilderung fremder Länder an, verurteilt aber die übertriebene Abenteuerlichkeit, Plattheit des Psychologischen und die sentimental-moralisierende, dem Katholizismus zuneigende Religiosität seiner Bücher. Die nächste Ausgabe dieses Lexikons (Leipzig 1964) bringt eine schärfere und viel abwertendere Beurteilung. Hier wird kategorisch behauptet, daß Mays Geschichten frei erfunden und wirklichkeitsfremd sind. Seine spannende und religiös-sentimentale Erzählweise wird auch hier erwähnt und ebenso werden seine nationalistischen Tendenzen wie die unrealistischen Vorstellungen von den Lebensbedingungen anderer Völker betont. Der große Brockhaus (Wiesbaden 1955) gibt keine Beurteilung Mays, sondern nur ausführliche Angaben über sein Leben. Es wird jedoch vermerkt, daß der Einfluß seiner Bücher auf die Jugend nicht einheitlich positiv, sondern meist "gedämpft positiv" sei. Ähnlich verfährt das Duden-Lexikon (Mannheim 1967). Neben den biographischen Angaben steht nur so viel darin, daß Mays detaillierte, jedoch in Schwarzweißmanier gezeichnete Abenteuerromane viel gelesen werden. Diesen nüchter-


//221//

nen [nüchternen], wenn auch nicht immer gründlichen Darstellungen gegenüber stehen einige Bekenntnisse früheren Datums, die beweisen, daß die ältere Generation von Mays Anschauungen in hohem Maße beeinflußt war.

   Einen Widerhall seiner drei Balkan-Romane, die das Thema dieser Arbeit darstellen, finden wir in den Karl-May-Jahrbüchern (erschienen vom Jahr 1918 bis 1933). Es ist selbstverständlich, daß Karl May in diesen Jahrbüchern nur positive Bewertungen zuteil wurden. Die Autoren dieser Aufsätze waren bemüht, May als echten Schriftsteller auszuweisen. Es gibt unter den Aufsätzen in diesem Jahrbuch unter anderem auch solche, die beweisen möchten, daß Mays Balkanschilderungen authentisch seien, nicht so sehr hinsichtlich der Tatsachen als vielmehr hinsichtlich der Menschencharakterisierung. Von diesen ist für uns vor allem Roda Rodas Artikel interessant. Er ist ja einer von denen, welche die jugoslawischen Gebiete gut kannten. Er beschreibt seinen Aufenthalt in Podgorica - heute Titograd - in Montenegro unter dem Titel In den Schluchten des Balkan, wo er einige Zeit als österreichischer Offizier verbrachte.14 Er erlebte dort eine Episode mit einem Albaner, der uns in seiner Beschreibung sehr an den Mayschen Schut erinnert, und Roda Roda vermutet, dieser habe viel mehr Abenteuer in seinem Leben erlebt, als es sich Karl May hätte ausdenken können. Dieser Albaner hatte Roda Roda verdächtigt, ihm 10 Kronen gestohlen zu haben, das heißt, der Albaner hatte die Absicht, 10 Kronen aus Roda Roda herauszulocken. Also ein eklatantes Beispiel, das die von May apostrophierte Habgier und Zügellosigkeit des Balkaners illustriert und beweist. - Roda Roda verlangte jedoch keine Strafe - er war also großzügig, wie einst Karl May.

   Ein anderer Karl-May-Leser, ebenfalls österreichischer Offizier in Serbien während des Ersten Weltkrieges, schildert seine Wanderungen durch Nisch, Üsküb, das heißt Skopje, und Prizren. Die Details seiner Ausführungen sind für uns weniger interessant als seine Schlußfolgerung: "Die Menschen jener Gegenden lernte ich genau so kennen, wie sie die Feder Karl Mays zeichnete [...]. Aufgefundene Leichen unserer Kameraden ließen immer erkennen, daß sie rücklings erschossen wurden. Hinterlist und Diebstahl geben dem Skipetaren das Gepräge."15 Zum Schluß betont der Verfasser, daß er den Balkan in jeder Hinsicht so gefunden habe, wie ihn Karl May darstellte und daß Mays Schilderungen


//222//

nur auf Grund persönlicher Erlebnisse hätten zustande kommen können.

   Es wurden und werden auch noch heute Bekenntnisse für oder gegen May abgelegt, wobei die meisten sich darin einig sind, daß ihnen Karl May ein weites Blickfeld eröffnete, weite Teile der Erde, interessante Menschen, fremde Bräuche, auf welche Weise auch immer, vor die Augen zauberte. Um so mehr, als es ihm eine lange Zeit hindurch gelang, den Anschein aufrechtzuerhalten, er sei in allen den beschriebenen Ländern gewesen und berichte folglich über seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen. Durch ihn, das heißt, durch seine Sehweise lernten viele Jugendliche die Indianer, Afrika und Asien und - wie wir schon erfahren haben - auch den Balkan kennen.

   Zu den bekanntesten Büchern Mays gehören in erster Linie seine Indianergeschichten, aber auch seine drei abenteuerreichen Balkanbände, deren Titel sind: In den Schluchten des Balkan (1884), Durch das Land der Skipetaren (1887) und Der Schut (1887). Sie sind einem jeden May-Leser bekannt. Unsere Untersuchungen beschränken sich auf diese drei 'Reiseromane', denn es ist keine Übertreibung, wenn wir behaupten, daß sie seit ihrem Erscheinen auf dem Büchermarkt die Vorstellungen des kleinbürgerlichen Durchschnittsdeutschen über diese Halbinsel wenn nicht gestaltet, so doch stark beeinflußt haben.16 Diese Bücher hat ab Ende des vorigen Jahrhunderts fast jeder Deutsche vom zehnten bis zum vierzehnten Lebensjahr gelesen, ja verschlungen, und manche erinnern sich mit erstaunlicher Genauigkeit an Einzelheiten aus dieser Lektüre. Überraschender ist es, daß Mays Bücher auch noch heutzutage zu der meistgelesenen Lektüre selbst der 18- bis 20jährigen gehören, denn wie könnte man sich anders die Tatsache erklären, daß in den meisten Kasernenbüchereien der BRD vor allem seine Bücher verlangt und auch zur Verfügung gestellt werden?17 - So ist es selbstverständlich, daß die meisten Deutschen bei der Erwähnung von Skopje bzw. von Makedonien überhaupt gleich an ihre Jugendlektüre denken. Der Gedanke, diese Arbeit zu schreiben, mich also der May-Forschung zu widmen, entstand gerade aus solchen Situationen, wo ich meinen deutschen Gesprächspartnern, zum Beispiel im Zug oder in irgendeiner Gesellschaft, erklärte, woher ich komme - nämlich aus Makedonien. Diese hatten fast alle gleich die Assoziation von Karl Mays Balkanromanen gehabt. Das Bild, das er vor fast einem Jahrhundert über die Menschen und einige Gebiete des Bal-


//223//

kans [Balkans] entworfen hat, wirkt offenbar bei manchen auch noch heute. Aber nicht nur in der Erinnerung seiner ehemaligen Leser; er hatte und hat auch in unserer Zeit noch Schriftsteller als Nachfolger, die seinen Stil, seine Themen im gleichen Ton nachahmen und pflegen.18

   Karl Mays Romane sind unrealistisch und ohne Ausnahme nach einem festen Schema geschrieben. Sie haben etwas vom Kriminalroman mit sentimentaler Reiseromantik vermischt an sich, ihre Handlungen spielen meist in exotischen Landschaften morgenländischer Färbung; hinzu kommt noch etwas politische Engagiertheit, gesunder, gern übertreibender Humor und hochgespielter Moralismus. Der Bau dieser Bücher läßt sich auf folgende Formel bringen: Der Hauptheld trifft unschuldig verfolgte Menschen, denen er sich entweder freiwillig oder auf deren Bitte anschließt. Dieser Hauptheld ist Karl May selbst - als Old Shatterhand in Amerika, als Kara Ben Nemsi im Orient. So fängt dann eine endlose Fahrt an; man sucht gemeinsam den Banditen, der die Unschuldigen gefährdet und natürlich ein ausgekochter Schuft ist. In den Balkanromanen ist diese negative Gestalt ein Perser namens Kara Nirwan, im Volk Schut = Zut (gelb) genannt. Nach langer Zeit erwischt ihn Kara Ben Nemsi und macht ihn unschädlich, und so vollbringt er wieder eine gute Tat. Er selbst tötet den Bandenhäuptling nicht - so etwas tut Kara Ben Nemsi niemals. - Mit der Vernichtung des Schuts und vieler seiner Anhänger beendet Kara Ben Nemsi seine Balkanreise.

   Die Komposition dieser Romane ist locker, ihr Stil unausgefeilt. Es gibt bei Karl May grobe stilistische Fehler oder Nachlässigkeiten. Er weiß sich nicht zu beschränken und gibt unendlich lange und langweilige Schilderungen, Erörterungen und Dialoge. Man gewinnt den Eindruck, daß sein Talent darin bestand, daß er fließend erzählen konnte. Ob seine Bücher literarischen Wert haben, ist heute - und war schon zum Teil auch zu seinen Lebzeiten - eine geklärte Frage. Ungeklärt blieb der Grund seines Massenerfolges. Es wurde behauptet, seine Bedeutung liege nicht im Künstlerischen, sondern im Erzieherischen; er bereichere die Jugend mit Kenntnissen aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen. Dies wird ihm aber auch abgestritten und im allgemeinen mit Recht. Hermann Hesse hielt ihn "für einen zweifelhaften Charakter und einen skrupellosen Macher, für einen richtigen


//224//

Bücherfabrikanten, der nichts von Ideal besaß".* Später allerdings änderte er seine Meinung und entdeckte, daß May "verblüffend ehrlich" sei, und meinte, er sei "der glänzendste Vertreter eines Typs von Dichtung, der zu den ganz ursprünglichen" gehöre und den er etwa "Dichtung als Wunscherfüllung" nannte.19 Zu dieser Behauptung gehört sicherlich eine ganze Menge Wohlwollen, was Hermann Hesse in hohem Maße besaß.

   Karl May, ein Webersohn, kam 1842 in Ernstthal in Sachsen auf die Welt und wuchs unter den elendsten Bedingungen auf. Eifrige Forscher haben herausgefunden, daß er psychisch belastet war, daß seine Familie nicht nur mit materiellen Gütern karg versehen war, sondern auch moralisch nicht innerhalb der akzeptierten Grenzen der bürgerlichen Gesellschaft stand. Obwohl May seinem Beruf nach Lehrer war, besaß er trotzdem keine richtige Ausbildung. Seine Reiseschilderungen beweisen, daß er keine gründlichen Kenntnisse hatte; er bleibt immer nur an der Oberfläche seiner landschaftlichen, volkskundlichen, geographischen und historischen Schilderungen, wobei er im allgemeinen mit knapp 3000 Wörtern auskommt. Seine Zeitgenossen haben ihm diese Mängel weniger übelgenommen als die Tatsache, daß er mehrmals bestraft worden war. Der Brockhaus vermerkt, daß May insgesamt 7 1/2 Jahre in verschiedenen Gefängnissen verbracht und daß ihn zu seinen Diebstählen seine finanzielle Notlage geführt haben soll. Seine Straftaten zeigen eine relativ reiche Skala: Unter Angabe falscher Namen und Berufe - manchmal als Polizeileutnant, ein anderes Mal als Adeliger - erschwindelte und stahl May Geld.20 In der Zeit von 1862 bis 1874 gibt es Jahre, in denen seine Spur völlig verschwindet. So von Ende 1862 bis 1864 und von Ende Juli 1869 bis Anfang 1870. Viele meinen, daß May zu dieser Zeit seine Reise nach Nordamerika bzw. in den Orient gemacht habe. Sichere Beweise gibt es dafür nicht. Fest steht, daß er erst nach der Jahrhundertwende nach Amerika reiste und dort einige Monate verbrachte, also erst nach der Entstehung seiner Indianerromane. Den Orient hat er ebenfalls erst in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts kennengelernt. Den Balkan kannte er zur Zeit der Veröffentlichung seiner Romane nur aus Lexikas und aus der Presse.

   Karl Mays Name ist seit drei Generationen sowohl in Deutsch-


*Als Hesse-Zitat nicht nachweisbar.


//225//

land [Deutschland] als auch im Ausland der Inbegriff des Bestsellers. Durch das Taschenbuch erlebte der Karl-May-Kult einen ungeheuren Aufschwung, so daß heute mehrere Millionen May-Bände vorhanden sind. Ihre Zahl wird auf über 20 Millionen geschätzt. Aber nicht nur die deutsche Jugend liest ihn gern. Durch Übersetzungen in über 20 Sprachen, unter anderem ins Französische, Holländische, Schwedische, Rumänische, Englische, Italienische, Slowakische, Finnische, Norwegische, Georgische, Ungarische, Bulgarische und nicht zuletzt ins Serbokroatische und Slovenische, erreichten Mays Werke die Jugend unserer Erdhälften. Die Jugoslawen können Karl Mays Schaffen ebenfalls gründlich kennenlernen, und unsere Jugend liest ihn offenbar auch gern. Von 1952 bis 1967 haben zehn bekannte jugoslawische Verlagshäuser fast vierzig Ausgaben von Mays Werken veranstaltet.21 Selbstverständlich wurden Winnetou und Das Vermächtnis des Inka am meisten übersetzt. Aber die Balkanbände fehlen auch bei den Jugoslawen nicht.

   Die Texte der deutschsprachigen Ausgaben, angefangen von den Erstausgaben, unterscheiden sich erstaunlich voneinander. Sie wurden mit der Zeit zurechtgestutzt, 'frisiert', Fehler in der Geographie, Geschichte und anderen Disziplinen wie auch in den von May zitierten Sprachen fast völlig ausgemerzt und die höheren Ansprüche des immer breiter werdenden Leserkreises berücksichtigt. Manuskripte von May gibt es wohl kaum, und so können wir seine Originale mit den heutigen Fassungen nicht vergleichen. Arno Schmidt schreibt, daß zum Beispiel nicht nur die einzelnen Episoden geändert und vertauscht, sondern auch sein dürftiger Stil durch einen reicheren ersetzt wurde. Er spricht von Bearbeitungen, wodurch mehrere Varianten entstanden. Es gibt nach ihm eine DDR-, eine österreichische und eine BRD-Variante.22 So ist es auch in den Balkanbänden schwer zu beurteilen, wie es mit den tatsächlichen Kenntnissen unseres Schriftstellers stand. Und doch, trotz der verschiedenen Textfassungen, der schablonierten, armseligen Sprache, trotz der sich immer wiederholenden Erlebnisse und des typisierten Handlungsablaufs vermindert sich auch heutzutage kaum seine Popularität. Den Grund für diese Erscheinung suchte man in seinem naiven Gemüt, in seiner, die Jugend direkt ansprechenden Einfalt, in seiner spielerischen Phantasie und ähnliches. Aber war denn nun dieser Karl May wirklich so naiv, ist er in der Tat ein ewiger Junge gewesen? Die Antwort wird kaum bejahend lauten können. Die Mo-


//226//

tive [Motive], die ihn zum Schreiben bewegten, wie zum Beispiel der Drang nach Selbstrechtfertigung, nach Selbstbestätigung und nach Erfüllung der Wünsche in einer erträumten Welt (wie es Hermann Hesse meint) oder eine 'krankhaft gesteigerte Sexualität', wie es Arno Schmidt sehr geistreich, stellenweise übertrieben, im ganzen aber sehr unterhaltsam zu beweisen bemüht ist, vermitteln nicht nur Knabenstreiche, exotische Träumereien und erotische Zwangsbilder. May hat nämlich mit einem unglaublichen Spürsinn die politischen Aktualitäten und Bestrebungen seiner Zeit in seine Schriften eingebaut. Dies haben schon M. Dittrich23 und V. Böhm24 bemerkt und sie zählen einige wichtige Daten aus dem dritten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts in konzisen Sätzen auf und weisen auf damals aktuelle politische Ereignisse hin, so etwa, daß die Entwicklung der hochkapitalistischen Weltwirtschaft kolonialer Kapitalquellen und Absatzmärkte bedürfe, was einen Kampf um die Verteilung der Erde auslöste. Die Herrschenden unterstützten einen jeden, der ihre Expansionspolitik und die diesbezüglichen Pläne ideologisch forderte und vorbereiten half. Karl May erspürte diese Bestrebungen, erfaßte den Geist seiner Zeit, der wohl auch die breiteren Massen, das heißt, seine Leser und Zeitgenossen, erfüllte. Der Leser seiner Bücher identifizierte sich mit deren Helden und fühlte sich selbst als dominierender, jede Schwierigkeit bewältigender Abendländer in Situationen, die mit den Bestrebungen der propagierten Tagespolitik im Einklang standen. May war überzeugt davon, daß Aktualitäten, in ein literarisches Werk eingewoben, zu dessen Erfolg in großem Maße beitragen könnten. Ihm schreibt man die folgenden Worte zu: "Man achtet auf die Regungen der Zeit, sucht sie zu begreifen und schließt sich derjenigen an, für welche man sowohl die Liebe als auch die nötige Begabung und Kraft besitzt. Indem sie [die Zeit] nach und nach zum Siege schreitet, nimmt sie auch den, der ihr dient, mit zum Erfolg empor. Das ist das ganze Geheimnis."25 Wie die Daten der Entstehung und die Schauplätze seiner Reiseromane sowie die historischen Begebenheiten jener Zeit zeigen, hat sich May tatsächlich wörtlich an das eben Zitierte gehalten.

   Ziehen wir nun für unser besonderes Thema die Geschichte heran. Es ist bekannt, daß der Balkan in den siebziger und achtziger Jahren das allgemeine Interesse der westeuropäischen Welt erregte. Es begann mit dem erfolgreichen Krieg Rußlands gegen die Türkei um die Befreiung der Balkanstaaten (1877 bis 1878),


//227//

mit dem Friedensschluß von San Stefano zwischen Rußland und der Türkei, als die Großmächte auf dem Berliner Kongreß Montenegro, Rumänien und Serbien als unabhängige Staaten anerkannten und Bulgarien (von der Donau bis zur Stara Planina) zum autonomen Vasallenfürstentum erklärten. Ausschlaggebend für Mays Interesse war wahrscheinlich auch der Krieg zwischen Serbien und Bulgarien im Jahre 1885. Seine anderen Reiseschilderungen, wie zum Beispiel die Indianer- und Orientromane, erwuchsen ebenfalls aus historischen Ereignissen - diese werden wir aber hier nicht untersuchen. Es ist allerdings nicht nebensächlich, daß in den achtziger Jahren, genauer 1884, auch die 'Deutsche Kolonial-Gesellschaft' gegründet wurde, was reichlich Gelegenheiten zu einschlägigen Zeitungsartikeln bot.26 Und Karl May verstand es, sich mit den notwendigen Unterlagen zu versehen. Er las viel und richtete sich eine zweckmäßige Bibliothek ein, die etwa 3000 Bücher umfaßte.27 Er besaß eine Sammlung, die ihm die ersten und notwendigsten Informationen liefern konnte. In dieser Bibliothek waren fast alle wissenschaftlichen Disziplinen vertreten: Geschichte, Sprachen, Wörterbücher, Rechtswesen, Ethnographie, Religion, Philosophie, Psychologie, Pädagogie, Kunst, Politik, Naturkunde, Sport und nicht zuletzt Zeitungen und Zeitschriften, Sammel- und Nachschlagewerke. Also eine gut ausgerüstete Werkstatt stand ihm zur Verfügung. Was diente ihm wohl als Unterlage für seine Balkanbände? Es wäre interessant, diese Quellen zu sichten (ich kenne sie hauptsächlich nur nach beiläufigen Hinweisen), da wir auf Grund ihrer Angaben, wenn auch kein vollständiges Bild - doch immerhin einen annähernden Einblick in die Vorstellungen des 'Abendlandes', das heißt, der Deutschen aus der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, über die Zustände auf dem Balkan gewinnen könnten. Was May in seiner Bibliothek über den Balkan besaß, ist allerdings überraschend wenig. Er hatte zwar auch darüber verschiedene Reisebücher, geographische Handbücher, ethnologische Studien wie auch verschiedene einschlägige Wörterbücher; das Hauptgewicht legte er jedoch wahrscheinlich auf die aktuelle Presse. Er las unter anderem eifrig die Zeitschrift 'Das Ausland'. Diese Zeitschrift, die von 1828 an durch 65 Jahre ununterbrochen erschien und ein lebhaftes Interesse für die Südslawen zeigte, brachte Artikel, Notizen und Darstellungen auch über Makedonien - natürlich viel seltener als über Serbien, Montenegro, Kroatien und Dalmatien. In der Bibliographie, die M. Moja[`´s]evi[´c] seiner Arbeit über diese


//228//

Zeitschrift28 beifügt, gibt es nur neunzehn Titel, die sich auf Makedonien beziehen. In diesen Artikeln finden sich reichlich weitere bibliographische Hinweise, die May hätten weiterführen können. Auf jeden Fall waren auch sonst originale Reisebeschreibungen in deutscher Sprache über Makedonien schon in dieser Zeit, aber auch aus den früheren Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts vorhanden, wie zum Beispiel jene von Georg Hahn29, Hochstetter30, J. Müller31 usw., die aber May nicht besaß, wie seine Schilderungen beweisen, auch nicht gelesen hatte.

   Wir wissen, daß die Kenntnisse des deutschen Intellektuellen des vorigen Jahrhunderts über die südslawischen Länder äußerst spärlich waren, obwohl sich schon Herder und Goethe mit der südslawischen Volkspoesie beschäftigt hatten und in einigen Zentren der deutschen Kultur etliche Wissenschaftler als Vermittler zwischen den Slawen und den Deutschen eine Brücke zu schlagen versuchten, indem sie das deutsche Leserpublikum und die deutschen Forscher mit der serbischen, kroatischen und slowenischen Volksdichtung und Geschichte bekanntmachten. Aber die Kenntnisse über das von den Türken besetzte Makedonien, das durch diese Herrschaft von der Welt sozusagen hermetisch abgeschlossen war, gingen über die knappe Information, daß dieser Erdenfleck der europäischen Türkei angehöre, nicht hinaus. Die junge, nationalbewußte makedonische Intelligenz meldete sich organisiert ja erst in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts.32 Aber auch sie trat nicht in Deutschland auf, obwohl es urkundlich beweisbar ist, daß es in Halle schon im 18. Jahrhundert Studenten aus Makedonien gab.33

   Nun bot sich einem Karl May die ausgezeichnete Gelegenheit, dieses 'Neuland' für seine Leser zu erschließen. Die sporadisch erschienenen Zeitungsartikel, die oft bestrebt waren, nur leere Sensationen hervorzurufen, dienten ihm wohl als Basis für seine Quasi-Reiseschilderungen, durch welche er die auch sonst verbreiteten Gerüchte bekräftigte, daß in dieser Ecke der Erde Raub- und Mordbanden herrschten und die Bevölkerung in Primitivismus, mit einfältiger Falschheit und Schlauheit ausgestattet, ihre Tage fristete. Im allgemeinen hat man diesen Eindruck auch aus seinen Romanen gewonnen. Daran ändert die Tatsache, daß er diese Gegenden nicht gesehen und nicht erlebt hat, absolut nichts. Die May-Forscher behaupten auch heute noch, zwar nicht einstimmig, daß May nicht einmal die Afrika-Reise gemacht habe, deren Fortsetzung die uns interessierende Balkanreise gewesen


//229//

sei. Seine Schilderungen beweisen aber eindeutig, daß in seinen Büchern vor allem seine Phantasie und seine politische Engagiertheit zum Ausdruck kamen.

   Auf seiner angeblichen Reise von Adrianopel - Kara Ben Nemsi kommt von Stambul - gelangt er nach Skutari (heute Skadar). Seine Stationen sind auf der geographischen Karte schwer zu verfolgen und seine Reiseroute gibt uns oft Rätsel auf. Die damaligen geographischen Karten waren ja unvollständig und ungenau, und so konnte May, in seinem Zimmer sitzend, bei bestem Willen keine Reiseroute realer Art zusammenstellen - zusammenbasteln. Es herrscht bei ihm ein Durcheinander sowohl hinsichtlich der geographischen Einzelheiten als auch hinsichtlich der Nationalitätenfragen. Es ist allerdings notwendig, festzustellen, daß es zu seiner Zeit gar nicht so leicht war, über diese Fragen im klaren zu sein, denn auch Reiseschriftsteller, die tatsächlich diese Gebiete aus eigenen Erfahrungen kannten und ein reales Bild ihrer eigenen Wahrnehmungen und Beobachtungen zu entwerfen versuchten, bieten oft ziemlich konfuse und widerspruchsvolle Darstellungen. Über die Unzulänglichkeit der damaligen Landkarten berichten auch der Franzose Boue wie der Österreicher Georg Hahn. Ob May diese Reiseschriftsteller gekannt hat, ist eine offene Frage. Die genannten Autoren bieten im allgemeinen annehmbare und objektive Darstellungen und Feststellungen über Makedonien. Hahns Schilderungen verraten guten Willen, und seine ausgedehnten Kenntnisse ließen es nicht zu, die makedonische Umwelt von oben herab als etwas Minderwertiges darzustellen. Auch dann, wenn er den Balkaner von dem Europäer unterscheidet, vergißt er nicht, daß diese Menschen unter völlig anderen Bedingungen lebten. Eine Parallele zwischen Hahn und May könnte fast grotesk wirken, und sie zu ziehen ist auch nicht unsere Absicht: Die Erwähnung Hahns soll nur ein Hinweis sein, daß man im deutschen Sprachbereich auch solche Schilderungen des Balkans aus dem vorigen Jahrhundert finden kann, die nicht unbedingt und unvermittelt dessen angeblichen Primitivismus beanspruchen.

   Wie sehen nun die Menschen, ihre Lebensweise und die Landschaften dieser Gebiete in Mays Projektion aus? Gibt er überhaupt Schilderungen von Volksbräuchen, wie zum Beispiel Boue und Hahn? Laut May ist die Bevölkerung des türkischen Balkans, das heißt Makedoniens, hauptsächlich albanischer Nationalität - Skipetaren, die bei May fast ausnahmslos skrupellose Verbrecher


//230//

sind. Kara Ben Nemsis Begegnungen mit Türken bestätigen seine Annahmen über diese Nation - sie sind korrumpiert, habgierig und borniert, ergebene Untertanen des Sultans. Ab und zu führt er auch Bulgaren und Montenegriner in die Handlung ein; Serben werden nur erwähnt. Die Einheimischen sind Christen und leben wie Troglodyten, die bei dem Leser eher Furcht und Abscheu als Mitleid und Verständnis für ihr Schicksal erregen. Allen diesen ist May, alias Kara Ben Nemsi, himmelhoch überlegen, er löst die verwickeltsten Situationen mit verblüffender Genialität. Aber die westlichen Ausländer, zum Beispiel Franzosen und Engländer, die er manchmal auf seiner Reise trifft, erfahren ebenfalls keine bessere Schilderung und Charakterisierung als die Balkanbewohner. Sie erregen meist durch ihre national-bedingten Eigenschaften die Heiterkeit des jungen Lesers. Den Terminus 'Makedonien' oder 'Makedonier' erwähnt May nie. Nach der Lektüre seiner Balkanromane gewinnt man also den Eindruck, daß die Einheimischen durchwegs Albaner sind, die seiner Erfahrung nach "wenig taugen", weil es unter ihnen Diebe, Räuber und Mörder gibt.34 Schon ihr Aussehen ist schreckenerregend, jedoch imponierend; sie sind breitschultrig, hoch und stark, aber feindselig und verschlossen, wie ihr Land. Der Mensch dieser Gegenden zeigt wenig helle und freundliche Züge. Er ist rachsüchtig, argwöhnisch und mißtrauisch.35

   May schildert auch Dörfer und Häuser, die er gesehen haben will. Diese Schilderungen ähneln aber eher einem Lexikon-Aufsatz über das makedonische Dorf als einem erlebten Bild. Kara Ben Nemsi sieht durchwegs nur in die Erde gegrabene Hütten mit kegelförmigen Strohdächern oder Häuser aus Weidengeflecht - im Lande der Felsen und Steine! Georg Hahn dagegen berichtet auch über stattliche Steinhäuser. Die Armut der Bevölkerung wird auf Schritt und Tritt betont, jedoch ohne eine konsequente und objektive Einstellung des Schriftstellers diesem Umstand gegenüber.

   May versucht auch einige Stimmungsbilder aus dem Leben der Völker auf dem Balkan zu entwerfen. So schildert er ein Fest, das Kara Ben Nemsi veranstaltet. Bei dieser Gelegenheit läßt er eine Kapelle auftreten, die recht verschiedene Musikinstrumente spielt, von denen aber manche mit den in Makedonien gebräuchlichen wenig zu tun haben. Er gibt nämlich diesen Instrumenten Namen, die jedem Deutschen bekannt sind. So spricht er unter anderem auch über die Gitarre und die Trommel, die es in Makedonien damals nicht gab. Er erwähnt noch die Posaune und Flöte


//231//

als Instrumente der nämlichen Kapelle. Von allen diesen beeindruckten ihn aber nicht die Töne, das heißt, nicht die Musik dieser Instrumente, sondern deren Beschaffenheit, besser gesagt ihr schäbiges Aussehen. Über die Pauke, die bekanntlich eines der bedeutendsten Elemente der makedonischen Musikkapelle ist, verliert er kein Wort. Wir erfahren auch nicht, ob bei dieser Gelegenheit slawische oder türkische Lieder vorgeführt wurden. May sagt nur so viel, daß die Sololieder ein wehmütiges Gepräge hatten, während im Chor ausnahmslos Kriegslieder gesungen und von Schreien unterbrochen wurden, die Kara Ben Nemsis Trommelfell zu zerreißen drohten. Es wurde auch getanzt, aber dies wird nur nebenbei vermerkt.36 Was hier eigentlich getanzt wurde? Dies erfährt der Leser nicht, obwohl May sonst alles sehr ausführlich beschreibt.

   Es hapert aber auch sonst mit der Ethnographie und Folklore bei ihm. Auf seiner Reise trifft er einmal eine junge Bulgarin, die zu den wenigen Gestalten gehört, die er nicht mit komischen und abwertenden Zügen ausstattet. May wollte hier wahrscheinlich eine charakteristische Figur schaffen und sagt, daß diese Anka "ein echt bulgarisches Gesicht, weich, rund und voll, mit kleiner Nase und sanften Augen" gehabt habe, ein rotes Tuch auf dem Kopf und zwei Zöpfe; ihr Kleid sei rot gewesen.37 Obwohl May die Bekleidung des Mädchens als rot darstellt, ist diese Schilderung doch im Vergleich mit der wirklichen Tracht der Balkanerinnen farblos und auf keinen Fall zutreffend.

   Den nächsten Fehler, den er begeht, finden wir bei der Darstellung der Landwirtschaft. Er will nämlich auf der Mustafa-Ebene, heute Ov[´´c]e Pole, Südfrüchte gesehen haben. Er schildert prächtige "Limonien" mit wunderschönen Früchten.38 Dies gab es und gibt es in Makedonien nicht. Einen ähnlichen Fehlgriff tut er, wenn er über einen Konak - Übernachtungsstätte - eines Schäfers schreibt.39 Einen Konak konnte nur ein Beg, türkischer Gutsbesitzer, unterhalten und keineswegs ein Schäfer. Über die sozialen und politischen Zustände berichtet May selten etwas. Ab und zu erwähnt er, daß die Bevölkerung unter den türkischen Paschas viel zu leiden habe und daß sie unterdrückt werde - aber dies alles nur nebenbei. Auf geschmacklose Weise zaubert er uns die primitivste Lebensart vor die Augen. Er macht dies bewußt, mit Absicht entwirft er extrem drollige und groteske Bilder, aber so sehr zu Ungunsten der Einheimischen, daß diese Balkanbücher stellenweise zu Pamphleten werden


//232//

   Mit Vorliebe vergleicht dann May alles, was er auf dem Balkan sieht, mit Deutschland. Wenn er ein Haus schildert, so fügt er unbedingt hinzu, daß in Deutschland nicht einmal der Kuhstall so aussieht, wie dort ein Wohnhaus. Dasselbe trifft auch auf die Straßen zu: "Die Wege, auf denen unsere [also die deutschen] Bauern zu ihren Feldern fahren, sind besser angelegt und gepflegt als diese Heeresstraße."40 Aber nicht nur die Straßen und Wohnhäuser sind in Deutschland besser als auf dem Balkan. Als einmal Kara Ben Nemsi Bier angeboten wird, kommt er zu der Überzeugung, daß auch das Bier in Deutschland besser ist als dort: "[...] dünn war es, sehr dünn, Münchener Gebräu mit fünffacher Wassermenge vermischt."41 Das Rezept der Bierzubereitung bekam der Wirt natürlich von einem Deutschen. Nun ist dort eben alles schlechter als in Deutschland - erfahren immer wieder die Leser. May nützt ja jede Gelegenheit aus, das immer gute und bessere 'Deutsche' den dortigen Verhältnissen gegenüberzustellen. Die völlig anderen, historisch begründeten Lebensbedingungen läßt er unberücksichtigt bei seinen Vergleichen. Er war der Tatsache offenbar nicht bewußt, daß man diese Bevölkerung und dieses Land mit den westeuropäischen Ländern nicht vergleichen kann, weil keinem von ihnen ein gleiches Schicksal widerfuhr wie Makedonien während der fünfhundertjährigen türkischen Herrschaft. Was sie ihm dennoch bot, nützte er nicht aus, um es in bezug auf Makedonien als ein deutsches Positivum hervorzuheben. Er versäumt nämlich, die sächsischen Bergleute zu erwähnen, die im Mittelalter zur Entwicklung des dortigen Bergbauwesens beigetragen haben und konkrete Spuren hinterließen, welche sich nicht übersehen lassen, wenn man Makedonien so kreuz und quer bereist, wie May vorgibt, es getan zu haben. Wäre er dort gewesen, hätte er erfahren können, daß es in Makedonien Dörfer gibt, die, wie Schlegovo (von 'schlagen'), Sasi (von 'Sachsen'), Stalkovica (von 'Stahl') usw., auf diese vergangenen Zeiten hinweisen.42

   Mays politische Ansichten über den Balkan sind eindeutig. Er verbirgt sie nicht hinter den Zeilen, sondern sagt sie offen heraus. Er klassifiziert die Ereignisse auf dem Balkan gar nicht so plan- und harmlos, wie man gewöhnlich annimmt. Kara Ben Nemsi, dieser Supermensch und edle Vertreter der abendländischen Kultur, mächtig, reich, musterhaft ehrlich, stark und jedem grenzenlos überlegen, bedient sich verschiedener nicht immer sehr korrekter Mittel, um seine Feinde zu überwältigen. Durch Beschleichen und Belauschung zum Beispiel erfährt er, daß ein


//233//

Einfall in Serbien vorbereitet wird, wobei er einen Banditen folgendes sagen läßt: "Jetzt gärt es überall. Man spricht nicht mehr von Räubern, sondern von Patrioten. Das Handwerk hat den politischen Turban aufgesetzt. Wer nach dem Besitz anderer trachtet, der gibt an, sein Volk frei und unabhängig machen zu wollen."43 Das folgende Zitat soll beweisen, daß es hier nicht um etwas Zufälliges geht: "Auf der Balkanhalbinsel hat das Räuberwesen niemals gesteuert werden können. Ich selbst [Kara Ben Nemsi] hatte ja, schon von Damaskus an, meine Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt. Anfangs hielt ich Stambul für den Hauptsitz dieser Verbrecher [...]. Dann lernte ich anders denken. Gerade in der letzten Zeit berichten die Zeitungen fast ununterbrochen von Aufständen, Überfällen, Mordbrennereien und anderen Ereignissen, die auf die Haltlosigkeit der Zustände in den türkischen Balkanländern zurückzuführen waren."44 Was May hier gibt, ist, entsprechend den Berichten, die er kannte, purer Zeitungston, einseitige Darstellung der Situation auf dem Balkan. Zu Banditen wurden nämlich damals alle diejenigen gestempelt, die gegen die herrschenden Zustände und für die Befreiung von der türkischen Herrschaft kämpften.45 Mildernd wirkt der Umstand, daß May den Häuptling der Räuberbanden auf dem Balkan als einen Perser darstellt und daß er einmal sagt, daß sich um diesen Perser die Unzufriedenen versammelt hätten. Trotzdem gibt er auf die Frage, ob er die Menschen auf dem Balkan für böse halte, eine beinahe absolut negative Antwort. Sie lautet nämlich: "Für böse gerade nicht, aber die Leute, die zwischen hier [Kara Ben Nemsi befindet sich in den Rhodopen] und der Adria wohnen, haben mitunter eigentümliche Gewohnheiten. Sie lieben die Gütergemeinschaft, das heißt, nur dann, wenn ein anderer etwas hat. Und sodann halten sie öfters allerlei Schieß- und Stechübungen und da nehmen sie sonderbarerweise am liebsten irgendein lebendes Wesen als Ziel."46

   Der Hauptton liegt in seinen Büchern über den Balkan nicht darauf, daß dort die Menschen unterdrückt und ausgebeutet wurden, daß ihnen das schwerste Los in dem Europa der vergangenen Jahrhunderte zuteil wurde, sondern auf dem Elend, das dieser Umstand auslöste und das May durchwegs in negativem Licht darstellt.

   Und nun am Ende wiederholen wir noch einmal die so oft gestellte Frage: Ist denn May tatsächlich auf den Balkan gereist? Die Reiseroute, die er mit großer Umständlichkeit entwirft, seine


//234//

oberflächlichen Beschreibungen von Menschen, Sitten und Landschaften beweisen, daß er nie auf dem Balkan war. Aus seinen 'Reiseromanen' bekommt man kein richtiges Bild über die Geographie, über die Verbreitung der einzelnen Nationalitäten in Makedonien. Seine Schilderungen makedonischer und türkischer Siedlungen und der verschiedenen Eigenheiten der einheimischen Völker sind nur auf die extrem-komischen oder abscheuerregenden Effekte gerichtet. Seine Beobachtungen über die religiösen Verhältnisse der Bevölkerung, über ihre soziale Schichtung, die Landwirtschaft und das Handwerk entsprechen nicht der Wahrheit oder sie spiegeln nur teilweise die objektive Sachlage wider. Die Betonung des Kuriosen und Negativen überwiegt in diesen Büchern. Neue, aktuelle Strömungen in diesem Gebiete läßt er völlig unbeachtet, obwohl es Tatsache ist, daß in Makedonien, hauptsächlich in den Städten, in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, also zur Zeit der fiktiven Reisen Mays, ein junges makedonisches Bürgertum im Begriff war, sich zu entfalten und daß diese Ansätze deutlich bemerkbar waren.47 May erwähnt nie den einheimischen slawischen Bürger, obwohl dieser vorhanden war und durch einen regen Handel - sogar mit Deutschland und Österreich - hervortrat.48 Karl May ging es nicht darum, die Verhältnisse auf dem Balkan, das heißt, in Makedonien, objektiv darzustellen, sondern eher darum, die primitiven Züge dieser Gebiete einseitig hervorzuheben, und er befand sich damit in Übereinstimmung mit den vorherrschenden politischen Zielsetzungen seiner Zeit.


Anmerkungen

1V. Böhm: Karl May und das Geheimnis seines Erfolges. Ein Beitrag zur Leserpsychologie. Wien 1955.
2W. Mahrholz: Karl May. In: Das literarische Echo 21 (1.11.1918), H. 3, S. 129-141.
3J. Nadler. Literaturgeschichte des Deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften. Bd. 3. Berlin 4/1938.
4E. Engel: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis in die Gegenwart. Bd. 2. Leipzig, Wien 2/1907.
5H. Naumann: Die deutsche Dichtung der Gegenwart. Stuttgart 2/1924.
6K. Storck: Deutsche Literaturgeschichte. Stuttgart 4/1908.
7E. Bloch: Traumbasar. In: KMJb 1930, S. 59-64.
8C. Zuckmayer: Palaver mit den jungen Kriegern über den großen Häuptling Karl May. In: KMJb 1930, S. 35-43.


//235//

9O. Forst-Battaglia: Karl May - ein Leben, ein Traum. Zürich, Wien 1931; ders.: Karl May. Traum eines Lebens - Leben eines Träumers. Bamberg 1966; W. Raddatz: Das abenteuerliche Leben Karl Mays. Gütersloh 1965.
10H. Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde. Radebeul b. Dresden 1936; E. Kainz: Das Problem der Massenwirkung Karl Mays. Masch. Diss. Wien 1949.
11W. Nutz: Der Trivialroman. Seine Formen und Hersteller. Ein Beitrag zur Literatursoziologie. Köln 1962.
12J. Nadler: Geschichte der deutschen Literatur. Regensburg 2/1961, S. 584-586.
13Zuckmayer [Anm. 8], S. 36.
14Roda Roda: In den Schluchten des Balkan. In: KMJb 1928, S. 384-386.
15J. Goebel: "In den Schluchten des Balkan" In: KMJb 1925, S. 149-153.
16Z. Konstantinovi[´c]: Deutsche Reisebeschreibungen über Serbien und Montenegro. München 1960, S. 163.
17G. Wiese:Was die Soldaten in den Kasernen so lesen. In: General-Anzeiger für Bonn und Umgegend (22./23.8.1970).
18W. Mathießen: Adler der schwarzen Berge. Stuttgart 1953; J. Behm: Balkan, Bakschisch und Basare. Stuttgart 1954.
19H. Hesse: Phantastische Bücher. In: Vossische Zeitung (9.9.1919), Nr. 458.
20H. Plischke: Von Cooper bis Karl May. Eine Geschichte des völkerkundlichen Reise- und Abenteuerromans. Düsseldorf 1951, S. 107f.
21Prijevodi s njema[`´c]kog jezika (Übersetzungen aus dem Deutschen). Inter Nationes. Bad Godesberg 1967, S. 27.
22A. Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Frankfurt/M. 1969, S. 15.
23M. Dittrich: Karl May und seine Schriften. Dresden 1904.
24Böhm [Anm. 1], S. 98f.
25Dittrich [Anm. 23], S. 70.
26Böhm [Anm. 1], S. 99.
27F. Kandolf, A. Stütz, M. Baumann: Karl Mays Bücherei. In: KMJb 1931, S. 212-291.
28M. Moja[`´s]evi[´c]: Die Zeitschrift "Das Ausland" und die Jugoslawen. In: Jahrbuch der Philosophischen Fakultät. Bd. 3. Beograd 1955, S. 421-517.
29J. G. v. Hahn: Reise von Belgrad nach Saloniki. Wien 1861; ders.: Reise durch die Gebiete des Drin und Wardar. Denkschriften der Wiener Akademie, Phil.-hist. Klasse XVI, 9 (1869).
30F. Hochstetter: Geologie des östlichen Teiles der europäischen Türkei. 1870.
31J. Müller: Albanien, Rumelien und die österreichisch-montenegrinische Grenze. Prag 1844.
32Lj. Lape: Kratak pregled makedonske istorije öd kraja 19. veka do 1913. g. Beograd 1955.
33E. Winter: Die Pflege der west- und südslawischen Sprachen in

Halle im 18. Jahrhundert
. Berlin 1954, S. 159f.
34K. May: Durch das Land der Skipetaren. Wien, Heidelberg 1951, S. 73-75.
35K. May: Der Schut. Wien o. J., S. 216, 272.
36K. May: Durch das Land der Skipetaren, S. 170.
37Ebd., S. 213.
38K. May: Der Schut, S. 5.


//236//

39Ebd., S. 6.
40K. May: Durch das Land der Skipetaren, S. 226.
41Ebd., S. 200.
42Kondev: Osogovijata kako sto[`´c]arsko-[`´s]umska i rudarska oblast (makedonisch). In: Annalen der Naturwissenschaftlichen Fak. Der Univ. Skopje, Geogr.-Geologie, 15. Buch (1966), Nr. 3.
43K. May: Der Schut, S. 129.
44K. May: In den Schluchten des Balkan. Wien, Heidelberg 1951, S. 13.
45Istorija na mäkedonskiot narod (Geschichte des makedonischen Volkes). Skopje 1969, II. Buch, S. 76 (makedonisch).
46K. May: In den Schluchten des Balkan, S. 168.
47Istorija [Anm. 45].
48Zografski: Za trgovskite vrski na Makedonija so Avstrija vo sredinata na 18. vek (Über die Handelsverbindungen zwischen Makedonien und Österreich). Pregled V 6/1955 (makedonisch); Bilgner: Makedonisch-türkische Wörtersammlung mit kulturhistorischen Erläuterungen. Berlin 1889.



Inhaltsverzeichnis


Sekundärliteratur


Übersicht Veröffentlichungen


Titelseite KMG

Impressum Datenschutz