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Rudolf Beissel

Der orientalische Reise- und Abenteuerroman


Habe ich im 1. Jahrgang des Karl-May-Jahrbuches1 diejenigen Reise- und Abenteuerromane einer eingehenden Betrachtung unterzogen, die sich stofflich mit dem Indianer beschäftigen, so will ich nunmehr versuchen, eine knappe Geschichte der orientalischen Romane dieser Literaturgattung zu schreiben, das heißt derjenigen dieser Romane, deren Schauplatz der Orient ist.

   Von einem Indianerroman kann man erst seit dem 18. Jahrhundert reden, der orientalische Roman im bezeichneten Sinne ist dagegen naturgemäß unverhältnismäßig älter; denn die Menschheit und ihre Kultur stammen aus dem Morgenland, und auch später, als deren geistige Führung auf das Abendland überging, verknüpften Ost und West tausend Fäden, die sich immer wieder erneuerten. Im Orient hatte der Sohn Gottes gelebt und gelitten; das Land seiner Erdenwanderung zu sehen, war der Wunsch unzähliger Christen. Und als die heiligen Stätten in die Hände der Ungläubigen gefallen waren, da nahm jeder, der es nur irgendwie ermöglichen konnte, das Kreuz auf sich und zog gen Palästina. Bedrohte zunächst der Islam auf dem Wege über Nordafrika und Spanien das Christentum, so tat er es in späteren Zeitläuften nach der Eroberung Konstantinopels nicht minder vom Balkan her: zweimal lagerten die Türken vor Wien. Und in der nahen Vergangenheit füllt die fast unlösbare politische orientalische Frage nicht die wenigsten Seiten der europäischen Geschichte; gerade durch das für uns Deutsche so unglückliche Ende des Weltkrieges ist sie aufs Neue aufgerollt worden.

   Es ist selbstverständlich, daß diese stete Verbindung zwischen Orient und Okzident ihren Niederschlag in der erzählenden Literatur des letzteren gefunden hat, vor allem in Reise- und Abenteuerromanen; denn mit einer abenteuerlichen Reise war bis in die jüngste Zeit und ist noch heute jeder Besuch des Orients verbunden, der über den Begriff einer Vergnügungsfahrt hinausgeht. Aber nicht nur diese orientalischen Romane des Okzidents gehören in den Bereich dieser Abhandlung, sondern auch jene Reise- und Abenteuerromane, die die reiche Fabulierkunst der orientali-



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schen [orientalischen] Völker selber schuf und die häufig in die Dichtung des Abendlandes in irgend einer Form mit übernommen worden sind. -

   Es mögen zuerst mit der Phantasie des sonnigen Südens begabte Nomaden gewesen sein, die ihren Stammesgenossen am nächtlichen Lagerfeuer von ihren Erlebnissen auf Jagd-, Reise- und Kriegszügen berichteten. Man raunte von den Heldentaten besonders kühner und tapferer Männer, ihr Ruf flog durch die Wüsten und Steppen und wurde von Mund zu Mund verbreitet. Redegewandte erzählten auf ihren Fahrten überall den begierig Lauschenden ausgeschmückte Einzelheiten von ihren Lieblingen, und so wird jenes Gewerbe der wandernden Erzähler entstanden sein, das noch heute in allen Ländern des Orients blüht. Als dann der Mensch die Kunst der Niederschrift von Gedanken und Worten erfunden hatte, da begann man aufzuzeichnen, was man dessen für wert hielt. Es ist charakteristisch, daß man auf alten ägyptischen Papyris aus der Zeit von 2500-1000 v. Chr. neben Zaubermärchen und Liebesgeschichten besonders Reiseabenteuer entdeckt hat. In einem Aufsatz Die Unterhaltungsliteratur der alten Ägypter2 schreibt Professor Dr. Wiedemann darüber:

Eine Reihe der Papyri enthält Reiseabenteuer... Wem es gelang, von einer Reise in fremdes Land wohlbehalten nach Ägypten zurückzukehren, der galt in seinem Heimatsorte als großer Held. Wie noch heutzutage, so werden auch damals bereits Freunde und Nachbarn zu ihm geeilt sein, damit er ihnen seine Erlebnisse vortragen könne. Und wie der moderne Reisende, so wird auch er es mit der Wahrheit nicht allzu genau genommen haben. Manches Ereignis wird er interessanter gefärbt oder auch geradezu erfunden haben, um im Kreise seiner Volksgenossen größeres Ansehen zu gewinnen. So entwickelte sich denn bereits früh im alten Ägypten neben der einfachen Reiseerzählung, die Mögliches und annähernd Richtiges berichtete, die Vorliebe für fabelhafte Geschichten, die in ihrer phantastischen Ausschmückung an die Erlebnisse Sindbads des Seefahrers und an Lucians Wahre Geschichten erinnern. Das älteste bisher bekannte Beispiel einer Reiseerzählung, welche den Charakter eines einfachen Berichtes an sich trägt und Unmöglichkeiten vermeidet, bildet die im mittleren Reiche entstandene, aber noch tausend Jahre später abgeschriebene und gelesene Geschichte des Saneha (Sinuhit)... Etwa der gleichen Zeit, der Mitte des dritten Jahrtausends v. Chr., entstammt die Geschichte vom Schiffbrüchigen... Wie die Erzählung Sanehas, so wird auch diese Geschichte in der Ich-


2In der Zeitschrift "Der alte Orient", 2. Jahrg. 1902, Heft 4. Leipzig, J. C. Hinrichssche Buchhandlung.


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Form vorgetragen und läßt den Helden selbst seine Abenteuer berichten. 3

Ähnlich wie im alten Ägypten wird es im gesamten alten Orient gewesen sein. Nur sind uns nicht wie dort aus jenen ältesten Zeiten Reise- und Abenteuerromane schriftlich überliefert. Bruchstücke und Überbleibsel von solchen aber sind z.B. zu erkennen in den persischen Volksepen, wie sie im 10. Jahrhundert Firdusi in seinem Schâhnâme (Königsbuch) oder im 12. Jahrhundert Nizâmî in Heft Peiker (Die sieben Schönheiten) dichtete, in dem indischen Heldenepos Mahâbhârata, das in seiner jetzigen Gestalt nach dem 5. Jahrhundert entstanden ist, und in der größten bis jetzt bekannten Sammlung indischer Märchen, dem Kathâ-saritsâgara (Das Meer der Märchenströme), die von Somadeva im 11. Jahrhundert verfaßt wurde. Ganz als Reise- und Abenteuerroman bezeichnen kann man den ältesten indischen Roman, die Geschichte der zehn Prinzen (Daçakumarâcarita), die der Dichter Dandin im 6. Jahrhundert schuf. Über dieses Erzeugnis, das in seiner Form sich allerdings noch stark einer ziemlich einfachen, naiven Rahmenerzählung nähert, schreibt Alexander Baumgartner in dem 2. Bande seiner Geschichte der Weltliteratur4:

Die Rahmenerzählung knüpft sich daran, daß Rajahansa, König von Maghada, von dem König von Mâlava bekriegt, Thron und Reich verlassen muß, um in den Vindhya-Wald zu fliehen. Hier wird ihm ein Prinz, Râjavâhana, geboren, der dann gemeinsam mit neun anderen Prinzen, zwei Königssöhnen von Videha und sieben Ministerssöhnen, aufgezogen wird. Nachdem sie dann das sechzehnte Jahr vollendet, ziehen sie gemeinsam in die Welt. Râjavâhana trennt sich aber heimlich von den ändern, um einem schutzflehenden Brâhmanen beizustehen. Auch die anderen trennen sich jetzt, um ihn aufzusuchen. Erst nach unsäglichen Abenteuern finden sie sich wieder und erzählen sich, was ihnen begegnet und was sich dann als Stoff zu dem Roman zusammenflicht.

Wie das Daçakumâracarita, so sind uns aus der Zeit des Sanskrit noch zwei andere Reise- und Abenteuerromane Vâsavadattâ und Kâdambarî erhalten, von denen Baumgartner folgendes uns mitteilt 5:


3Vgl. auch S. 368f. dieses Jahrbuchs. [In seinem Beitrag Das Recht auf Phantasie (KMJb 1920, S. 363-375) reiht Emil Sehling May oberflächlich in die Tradition der Ich-Erzählungen ein.]
4Die Literatur Indiens und Ostasiens, Herdersche Verlagsbuchhandlung, Freiburg i.B., S. 216.
5Die Literatur Indiens und Ostasiens, S. 217-218.


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Etwa ein Jahrhundert später als Die Geschichte der zehn Prinzen wird der Roman Vâsavadattâ des Subhandu angesetzt, d.h. auf das 7. Jahrhundert n. Chr.... Vâsavadattâ, die Tochter des Königs Cringâvacekhara von Kusumapura, erscheint dem Prinzen Kandarpaketu im Traum, worauf dieser in tiefster Melancholie mit seinem Freunde Makaranda auf die Suche geht. Während sie im Vindhya-Urwald ruhen, führt ein Papageienweibchen ihn auf die richtige Fährte. Er findet die Prinzessin, die einen ähnlichen Traum gehabt hat, und entführt sie auf seinem Pferde Manojava ('Schnell wie ein Gedanke') noch richtig am Vorabend des Tages, da sie an einen anderen vermählt werden soll... Im Vindhya-Walde aber, wo sie rasten, wird die Entführte auch ihm geraubt und von einem Einsiedler in ein Steinbild verwandelt, während zwei bewaffnete Karawanen sich um ihren Besitz streiten. Prinz Kandarpaketu irrt unterdessen im Wald umher und wird nur durch eine wunderbare Stimme davon abgehalten, sich zu ertränken. Nach langem Umherirren findet er das steinerne Bild seiner Geliebten im Walde. Als er es umarmt, wird es lebendig und verwandelt sich in die so schmerzlich vermißte Vâsavadattâ. Zuletzt gelangt er auch glücklich in seine Stadt zurück und genießt jegliche Freude. - Von ähnlichem Charakter, d.h. ebenso sentimental, naiv abenteuerlich und märchenartig, aber noch mehr in die Zauberwelt der Apharas, Gandharven und Götter hineinspielend, ist der Roman Kâdambarî, welcher Bâna, dem Hofdichter des Königs Cri-Harsha (7. Jahrhundert n. Chr.) zugeschrieben wird. Bloß der erste Teil rührt jedoch von ihm her, der übrige von seinem Sohne. Die Titelheldin ist natürlich wieder eine Prinzessin, die Unsägliches auszustehen hat, bis sie endlich ihren Geliebten findet und ihn durch ihre Liebe sogar aus dem Scheintode einer Verzauberung erlöst...

Eine Anzahl von Reise- und Abenteuerromanen, die teils uralter Herkunft und Reste verschollener Sagen sind, enthält auch das arabische Kitab Elf Leilah wa Leilah (Tausend und eine Nacht), in dem die Erzählungen fast sämtlicher orientalischer Völker - auch Stoffe des Okzidents sind verwoben - im reichsten Umfange gesammelt wurden. Seine jetzige Fassung geht auf das 15. Jahrhundert zurück, es wurde aber wohl bereits im 10. Jahrhundert von einem genialen Dichter erstmals zusammengestellt und herausgegeben .6 Es würde zu weit führen, sämtliche Reise- und Abenteuergeschichten daraus aufzuführen, ich erinnere hier nur an die Geschichte Sindbad des Seefahrers und an die Geschichte des Schah Omar al Numan und seiner Söhne Scharkan und Dul-Makan.

   Reste solcher altorientalischer Sagenstoffe sind uns auch vielfach durch die alten Griechen überliefert worden, die ja mit dem


6Vgl. dazu Adolf Gelber: Tausend und eine Nacht, der Sinn der Erzählungen der Scheherezade (Wien 1917, Verlag von Moritz Perles). Gelber beweist zum ersten Male, daß Tausend und eine Nacht ein klug durchdachtes, meisterhaft angelegtes Dichterwerk ist und nicht eine Häufung willkürlich durch einen Rahmen vereinter Erzählungen.


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Orient Jahrhunderte lang in fruchtbarstem Austausch kultureller Güter gestanden haben, besonders seit den Tagen Alexanders des Großen. Sie pflegten das Abenteuerliche rein um seiner selbst willen und schufen ihm eine Stätte in einer besonderen Art ethnographischer Dichtung. Erwin Rohde, der verdienstvolle Erforscher des altgriechischen Romans, schreibt darüber7:

Sie hatte ihren ersten Ursprung in der leichtbeweglichen Phantasie griechischer Seefahrer, welche, von weiten und gefährlichen Reisen heimgekehrt, in ihren Sagen und Erzählungen einen kleinen hellen und menschlichen Kreis, den wohlbekannten Winkel des Mittelmeeres, von einer wilden und nebelhaften Welt voll alter Schreckbilder und zauberhafter Ungetüme umlagert zeigten. Diese Schiffersagen bildeten sich zu einem künstlerischen Ganzen aus namentlich in den Sagenkreisen von der Heimfahrt des Odysseus und von den Zügen der Argonauten. Die Erzählung des Odysseus bei Alkinous, diese älteste Robinsonade, zeigt deutlich Spuren einer uralten, zum Teil wohl gar vorgriechischen Phantastik... Hier begegnen uns schon jene Ungetüme und halbmenschlichen Fratzen, wie sie von nun an unveränderlich die durch vordringende Forschung freilich immer weiter hinausgeschobenen unbekannten Erdgrenzen bevölkern müssen: z.B. die Makrokephalen, die Halbhunde, die Pygmäen; aber auch schon die gerechten Hyperboreer, die Höhlen bewohnenden 'Unterirdischen', die nomadischen, Pferdemilch trinkenden Skythen. - In den folgenden Zeiten einer unruhigen Wanderlust diente die reiche Fülle neuer und seltsamer Kunde, wie sie kühne Kaufleute und die Teilnehmer an den Koloniegründungen aus den Ländern des fernen Westens und Nordens nach Hause zurückbrachten, vor allem dazu, die Phantasie, statt sie durch die Erkenntnis der Mannigfaltigkeit des Wirklichen zu befriedigen, nur zu immer neuen abenteuerlichen Vorstellungen aufzuregen. Mit der schrittweise vorschreitenden Erweiterung der Peripherie der wohlbekannten Erdstrecken rückte freilich das Reich des Wunders immer weiter hinaus... Vor allem schmückte griechische Phantasie den Süden mit den buntesten Wundern, und mehr als alle andere das fabelhafte Land im Südosten, das Land der Inder, wo die üppigste Bildungskraft der Natur die menschliche Einbildungskraft selbst zur wetteifernden Fortsetzung ihrer Wunderschöpfungen aufzufordern schien. In dreifacher durch Skylax, Ktesias, Megasthenes vertretener Stufenfolge erschloß die griechische Forschung in immer genauerer und im ganzen erstaunlich treuer Schilderung die Kenntnis des wunderreichen Landes und seiner Bewohner; in gleicher Weise aber steigerte sich auch die Lust, zu allem Wunderbaren der Wirklichkeit auch noch die allerseltsamsten Wahnbilder der Märchenphantasie in so reicher und fremdartiger Umgebung anzusiedeln.

Durch die ethnographischen Fabeln, die diese Reiseberichte in ihre ernsten Werke verflochten, machten sie diese zu halben Märchenbüchern und bereiteten durch diese Art der ethnographischen Schilderung eine eigene Gattung förmlicher Reisedichtung in pro-


7In seinem Werke: Der griechische Roman und seine Vorläufer (3. Aufl., Leipzig 1914, Breitkopf und Härtel), S. 184ff.


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saischer [prosaischer] Form vor. Das uns überlieferte Volksbuch des Kallisthenes von dem Leben und den Taten Alexanders des Großen (1. Jahrhundert n. Chr. Geburt) ist ein Beispiel dafür, wie sehr jene orientalische Poesie des Abenteuerlichen allmählich die griechische Bevölkerung durchdrungen hat. Die Gestalt des mazedonischen Königs ist hier von der europäischen Heimat fast völlig losgelöst, er ist ausschließlich der Eroberer und Ordner des Ostens, der unter Kämpfen und Beschwerden tief ins Reich der Wunder zieht. Neben diesem uns erhaltenen Roman müssen noch eine Unzahl ähnlicher Abenteuererzählungen bestanden haben, auf die wir nur durch das Zerrbild, das Lucian von ihnen in seinen Wahren Geschichten aufgestellt hat, aufmerksam gemacht werden. Wir kennen kaum die Namen einiger Vertreter dieser wunderlichen Reiseromantik, deren Bestreben es war, die Natur der Dinge weniger ins Ideale als ins Fratzenhafte zu steigern.

   Doch bemächtigten sich auch ernstere Geister des ethnographischen Elements und entlehnten ihm die Farbenpracht zur Dichtung politischer Utopien, zu denen Platos Atlantis den ersten Anstoß gegeben hatte. Von diesen philosophierenden Schriftstellern sind besonders zu nennen Hecataeus von Abdera, ein Zeitgenosse Alexanders des Großen, mit seiner Kimmerischen Stadt, Euhemerus mit seinem Panchäischen Land und Jambulus mit einem utopistischen Reiseroman. Alle drei führen ihre Leser auf eine glückliche wunderbare Insel im fernen Ozean, zu der bei den letzten beiden Dichtern der Weg über Indien oder Äthiopien führt.

   Einen Mangel hatten diese Dichtungen fast alle. Es fehlte ihnen an Handlung, so daß ihnen zum Begriff des Romans ein wesentliches Merkmal abging. Dem wurde anders, als sich die Erotik der ethnographischen Erzählung bemächtigte: aus dieser Verschmelzung entstand der eigentliche altgriechische Roman, dessen Vertreter Antonius Diogenes, Heliodor, Jamblichus, Xenophon von Ephesus, Achilles Tatius und Chariton sind, und den man getrost als orientalischen Reise- und Abenteuerroman bezeichnen kann. Sie alle spielen in der östlichen Hälfte des Mittelmeeres. Allen Romanen ist ein gemeinsamer Typus der Erzählung eigen. Stets wird ein kaum vereintes Liebespaar auf das wilde Meer geschickt, Seestürme reißen es auseinander, sie haben Abenteuer und Gefahren in fremden Ländern, unter Räubern, in der Sklaverei, in allen barbarischen Winkeln einer sonst ganz regelrechten


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Zivilisation zu bestehen8, um dann schließlich wieder vereint zu werden. Der Zufall, die Tyche, spielt in allen eine große Rolle. Es erübrigt sich daher, hier des Näheren auf die einzelnen Werke einzugehen. Der Roman des ersten dieser Schriftsteller, Diogenes (l. Jahrhundert n. Chr.), Die Wunder jenseits Thule, der uns im Auszug erhalten ist, ist seines phantastischen Inhalts wegen den Utopien am meisten verwandt. Der Syrer Jamblichus (2. Jahrhundert n. Chr.) führt uns in seinen Babylonischen Geschichten9 in die Gegenden des mittleren Asiens, besonders Babylons. Des Xenophon von Ephesus Ephesische Geschichten von Antheia und Habrokomes10 beginnen und enden in Ephesus und spielen zwischendurch in Kleinasien, Ägypten und Italien. Wohl der beste dieser Romane, Heliodors (4. Jahrhundert n. Chr.) Äthiopische Geschichten11, hat vorzüglich das Land Äthiopien und die Sümpfe der Nilmündung zum Schauplatz seiner Handlung. Ebenfalls zu den Bukolen, den ägyptischen Sumpfräubern, und in die Stadt Tyrus verlegt Achilles Tatius (5. Jahrhundert n. Chr.) die Geschichte der Leucippa und des Klitophon.12 Chariton aus Aphrodisias (5. Jahrhundert n. Chr.) versetzt uns in den Abenteuern des Chaereas und der Kallirrhoë13 nach Persien, Syrien und Ägypten. Diesen griechischen Romanen zugerechnet werden kann auch die Geschichte des Apollonius von Thyras14 (älteste bekannte Fassung aus dem 6. Jahrhundert n. Chr.), die uns in lateinischer Sprache überliefert worden, höchstwahrscheinlich aber griechischen Ursprungs ist. Auch dieser anonyme Roman, der in seiner lateinischen Form ein Volksbuch der meisten Nationen des Mittelalters wurde, ist ganz in der Art der übrigen abgefaßt und hat ebenfalls Kleinasien und Ägypten zum Schauplatz seiner abenteuerlichen Handlung.

   Jahrhundertelang wurden die Reise- und Abenteuerromane der altgriechischen Kulturperiode mit Anteil und Bewunderung gelesen. In byzantinischer Zeit, seit dem 11. Jahrhundert wurden sie sogar nachgeahmt. Vier solcher Nachbildungen sind uns bekannt: Ihre Verfasser sind Theodorus Prodromus, Nicetas Eugenianus, Konstantinus Manasses und Eustathius. Sie gingen nicht im ge-


8Erwin Rohde: Der griechische Roman und seine Vorläufer, S. 264.
9Inhaltsangabe bei Erwin Rohde, S. 393-403.
10Inhaltsangabe bei Erwin Rohde, S. 409-416.
11Inhaltsangabe bei Erwin Rohde, S. 498-501.
12Inhaltsangabe bei Erwin Rohde, S. 453-460.
13Inhaltsangabe bei Erwin Rohde, S. 517-520.
14Inhaltsangabe bei Erwin Rohde, S. 436-439.


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ringsten [geringsten] über den engen Kreis der Erfindungen ihrer Vorbilder hinaus.

   Parallel mit diesen heidnischen Romanen laufen die Dichtungen der christlichen Legende, die auch sehr häufig im Orient spielen. In der Mitte des 2. Jahrhunderts ist in der Rahmenerzählung der Clementinischen Homilien sogar einmal der Versuch gemacht worden, dem Schema des heidnischen Abenteuerromans einen christlichen Inhalt zu geben. 15

   Wir sind im christlichen Mittelalter angelangt: Das höfische Versepos ist der Roman des Mittelalters. Roman war damals in Frankreich die Bezeichnung derjenigen epischen, meist in Reimpaaren verfaßten und ritterliche Stoffe behandelnden Gedichte, die nicht in der lateinischen, sondern in der Volkssprache, der lingua romana, geschrieben waren.16 Das Versepos wurde allmählich durch den Prosaroman abgelöst, dessen Aufkommen und Verbreitung durch die Erfindung der Buchdruckerkunst gewaltig gefördert wurde. Man hat diese Prosaromane mit dem Namen Volksbücher belegt. Diese sind nichts weiter als die Auflösungen und Fortsetzungen der Versepen; sie behandeln dieselben ritterlichen Stoffe. Sie erzählen von Rittern, die auf der Suche nach Abenteuern die Welt durchziehen und mit Riesen, Zauberern und Drachen zumeist im Dienste der Minne zu kämpfen haben. Daß diese Helden auf ihren Fahrten häufig in den Orient kamen, ist in der Zeit der Sarazenenkriege und Kreuzzüge selbstverständlich.

   Charakteristisch für diese ganze Dichtung ist der Mangel jeder wahren Schilderung orientalischer Natur. Trotzdem die Kreuzzüge doch Tausende in die Wunderwelt des Ostens geführt hatten, konnte man sich nicht von jenen aus dem Altertum überlieferten Vorstellungen von Fabelgeschöpfen und Naturwundern befreien, die sich im Laufe der Zeit unlösbar mit dem Orient verknüpft hatten. War doch selbst die Wissenschaft davon beherrscht, wie ein Blick auf die geographischen Karten des Mittelalters zeigt. Hielten sich auch die größten deutschen Meister, wie Wolfram von Eschenbach, der Verfasser des ersten psychologischen Entwicklungsromanes, dessen Held Parzival auf seinen Irrfahrten ebenfalls ins heilige Land kommt, vom phantastischen Zauberwesen verhältnismäßig fern, so leisteten ihre Nachfolger


15Vgl. S. 369 dieses Jahrbuchs. [Bezieht sich auf Sehlings Das Recht auf Phantasie.]
16Keiler-Kellen: Der Roman, 3. Aufl., 1908, S. 7 (Fredebeul & Koenen, Essen-Ruhr).


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um so mehr darin. In der Reihe der Volksbücher spielten u.a. auch der bereits oben genannte Alexanderroman des Kallisthenes und die Geschichte des Apollonius von Tyrus eine Rolle, die beide ins Deutsche übersetzt wurden, erstere im Jahre 1444 von Johann Hartlieb, allerdings in Versen, letztere 1471 von Heinrich Steinhöwel. Aus dem Jahre 1480 stammt der älteste deutsche Druck des Fortunatus von Cypern, der vielleicht ebenso wie diese beiden Romane aus einer griechisch-byzantinischen Quelle stammt. Von den übrigen Volksbüchern, deren Helden auf ihren Fahrten natürlich fast stets mit den Heiden kämpfen oder auch Jerusalempilger werden, nenne ich nur den Herzog Ernst (15. Jahrhundert), den man mit Recht gänzlich als einen orientalischen Reise- und Abenteuerroman ansprechen kann. Hubert Rausse gibt in seiner Geschichte des deutschen Romans bis 180017 den Inhalt kurz an:

Herzog Ernst von Bayern muß wegen eines Mordes mit seinem Freunde, dem Grafen Wetzelo, das Heimatland verlassen. Durch Ungarn gelangen sie über Konstantinopel ins Heilige Land und von dort nach langer, gefahrvoller Seereise zu den Agrippinern, die einen Menschenleib haben, aber Köpfe wie Kraniche. Es kommt zu erbitterten Kämpfen, aus denen die Helden glücklich entfliehen. Doch gelangt ihr Schiff in die Nähe eines Magnetberges, an dem zahlreiche Trümmer gestrandeter Schiffe liegen. Auch sie entgehen der Strandung nicht, werden aber in Säcke genäht, von gewaltigen Greifen geraubt und zu deren Nest getragen. Von dort fahren sie auf einem Floß durch einen hohlen Berg und kommen zu den Arimasyern, einem zyklopischen Geschlecht. Dies wird gerade von äußeren Feinden bedroht, und Herzog Ernst hilft den Arimasyern und besiegt zunächst die Einfüßler, die ihren breiten Fuß zugleich als Sonnenschirm benutzen, dann die Panachen, deren Ohrlappen bis auf die Erde hängen, und schließlich ein entsetzliches Riesenvolk. Von allen nimmt er Gefangene mit sich. Dann geht's nach Indien, dem Land der Zwerge, die mit den Kranichen Streit haben und mit Ernsts Hilfe diese besiegen. Nach nochmaligen Kämpfen im Heiligen Land kehrt Herzog Ernst in die Heimat zurück, wo mittlerweile seine Mutter beim Kaiser Verzeihung für ihn erlangt hatte.

Wohl der berühmteste und literarisch einflußreichste der Ritterromane wurde der Amadis von Gallien, ein Werk, das in Portugal entstanden und um 1350 zuerst in Spanien festzustellen ist. In ihm führen zum erstenmal nicht Liebestränke, sondern menschliches Empfinden Mann und Weib zusammen: ein Fortschritt gegenüber den bisherigen Romanen. Daß der Held Amadis sich mit Vorliebe im Morgenland herumtreibt, braucht kaum erwähnt zu werden.


17Verlag Jos. Kösel, Kempten, S. 30/31.


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   Die Ritterromane wurden jahrhundertelang gern gelesen; noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts konnte ein Auszug aus dem Amadis mit Erfolg veröffentlicht werden. In der Hauptsache wurde aber diese Literaturgattung mit dem Ausgang des 16. Jahrhunderts abgelöst: Cervantes (1547 bis 1610) machte ihr durch seinen Don Quijote de la Mancha den Garaus. Die gebildeten Kreise wandten sich dem 'Kunstroman' zu, während die niederen Volksschichten sich besonders an dem 'Schelmenroman' ergötzten.

   Den Kunstroman des 17. Jahrhunderts scheidet man in den Schäferroman, den galanten, historischen und heroischen Roman. Die beiden letzten Arten entwickelten sich in enger Anlehnung an den Amadis und den altgriechischen Roman. Damals erlebten auch Heliodors Äthiopische Geschichten ihre Wiederauferstehung. Von 1559-1624 wurden sie in der Übertragung Johannes Zschorns siebenmal aufgelegt.18 In den historischen und heroischen Romanen wird mit der Geschichte aufs sonderbarste umgesprungen. Personen und Geschehnisse der damaligen Gegenwart behandelte man darin, indem man sie mit äußerem Drum und Dran irgend einer vergangenen Zeit, vorzüglich mit dem des orientalischen Altertums umkleidete. Die Französin Madeleine de Scudéry (1607-1701) ist die erste Vertreterin dieser Art des Romans. Sie schrieb u.a. Ibrahim ou l'Illustre Bassa (1641) und Artamène ou le Grand Cyrus (1649-1653). Die deutschen Vertreter dieses pseudohistorischen Romans sind Philipp von Zesen (1619-1683), Andreas Heinrich Buchholtz (1607-1671), Daniel Kaspar von Lohenstein (1635 bis 1683), der Herzog Anton Ulrich zu Braunschweig (1633-1714) und Anselm von Ziegler und Klipphausen (1653 bis 1697). Des letzten Asiatische Banise oder blutiges, doch mutiges Pegu (1688) spielt in Hinterindien. Zesen ist mit seinen Werken Assenat (Geschichte des Josef, 1670) und Simson (1679) der Schöpfer des biblischen Romans. In die Zeit des römischen Kaisers Augustus, und zwar nicht nur nach Germanien, sondern auch nach Armenien, Babylon, Ägypten, Indien, ja China, fuhrt Lohensteins Großmütiger Feldherr Arminius oder Hermann (1689/09). Einen ganz ungeschichtlichen Krieg der Syrer gegen die Assyrer behandelt des Herzogs zu Braunschweig Durchlauchtigste Syrerin Aramena (1669/73),


18Dr. Hubert Rausse: Geschichte des deutschen Romans bis 1800, S. 59/60.


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während seine Oktavia (1677), deren Schauplatz u.a. Äthiopien, Palästina und Armenien sind, in das Gewand der römischen Geschichte von Claudius bis Vespasian gekleidet ist. In das dritte Jahrhundert n. Chr. verlegt Buchholtz Des christlichen deutschen Großfürsten Herkules und des böhmischen Königlichen Fräulein Valisca Wundergeschichte, sowie deren Fortsetzung Der christlichen Königlichen Herkuliskus und Herkuladisca auch Ihrer Hochfürstl. Gesellschaft anmutige Wundergeschichte (1659), deren Handlung zu großen Teilen im Partherland, in Persien, Arabien und Ägypten sich abwickelt.

   Neben dem Kunstroman einher lief als volkstümlicher Roman der Schelmenroman, der seinen Ursprung in Spanien hat. Geboren als Gegenstück zu dem romantischen Ritterroman, der von tugendhaften idealen Helden des Schwertes, von einer fernen wunderbaren Welt erzählte, schilderte er die platte Alltäglichkeit und in ihr durchtriebene spitzbübische Burschen, voll materieller Triebe, die sich mit Streichen aller Art durchs Leben schlagen. In Deutschland wandelten sich diese spanischen Pikaros in 'Maußköpff und Landstörtzer'. Im Schelmenroman wurzelnd schrieb Johann Jakob Christoffel von Grimmelshausen (1625 bis 1676) seinen Simplizius Simplizissimus (1669), der den Helden und Abenteurer des dreißigjährigen Krieges verewigt hat, den bedeutendsten Roman jener Zeit, der neben dem Parzival einen Höhepunkt in unserer deutschen Romangeschichte bildet. In seinem wildbewegten Leben, in dem die Reisen, die er macht, aber nicht viel zu besagen haben, kommt Simplizius auch in den Orient. Als er von Rom ins heilige Land wallfahren will, wird er in Ägypten von Räubern gefangen, nach übler Behandlung aber von Europäern wieder errettet. Der Schelmenroman an und für sich ist nicht exotischer Natur. Erst die Avanturierromane des 18. Jahrhunderts, die in ihm und im Simplizissimus ihren Ursprung haben, führen ihre Helden wieder in alle Welt und vor allem auch in den Orient.

   Bevor wir uns ihnen aber zuwenden, müssen wir noch zwei Männer des 17. Jahrhunderts kurz erwähnen: Eberhard Werner Happel und Christian Reuter. Happel (1648-1690) war ein Vielschreiber, der, in der Mitte zwischen Kunst- und Volksroman stehend, eine Unzahl langatmiger Helden-, Liebes- und Kriegsromane schrieb, in denen er besonders gern geographische Belehrungen gab und demgemäß vielfach die Handlung ins Morgenland verlegte. Christian Reuters (1665-??) Reiseroman Schel-


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muffskys [Schelmuffskys] wahrhaftige, kurieuse und sehr gefährliche Reisebeschreibung zu Wasser und zu Land (1696/7) ist eine Satire auf seine Zeit, besonders auf die herrschende Sucht, von weiten Reisen zu lügen. Der Held gelangt auf seinen Fahrten unter anderem auch zum Großmogul von Indien, welches Land und seine Gebräuche uns in ironischer Phantasie und handgreiflicher Unwirklichkeit geschildert werden.

Im Anfang des 18. Jahrhunderts nahm die Reise- und Abenteuerliteratur einen unheimlichen Aufschwung in den bereits oben erwähnten Avanturierromanen, deren Reihe 1714 der Kurtzweilige Avanturier des Nicolas Heinsius, eines holländischen Arztes, eröffnete, und den Robinsonaden, die nach dem Erscheinen von Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719) in fast unübersehbarer Zahl das Licht der Welt erblickten. Das weite Gebiet des volkstümlichen Romanes wurde von ihnen beiden beherrscht. Der Robinson Defoes wird von Korsaren überfallen und in die Gefangenschaft der Mohren geschleppt, denen er aber entrinnt. Es war kurz nach der Zeit der Türkenkriege. Von den Schrecken türkischer Gefangenschaft wußten viele aus eigener Erfahrung zu erzählen. Das Thema war damals aktuell und wurde in sehr vielen Avanturiergeschichten und Robinsonaden - die oft übrigens ihrem Wesen nach kaum zu unterscheiden sind - weidlich ausgeschlachtet. Dadurch muß man diesen häufig in großen Stücken den Charakter von orientalischen Reise- und Abenteuerromanen zuerkennen. Wie die Seeabenteuer, so wurde auch die Gefangenschaft bei den Mohammedanern geradezu als notwendiger Bestandteil mit dem Begriff Robinson verknüpft. August Kippenberg schreibt in seinem literargeschichtlichen Werk Robinson in Deutschland bis zur Insel Felsenburg (1731-43) darüber19:

Der Robinson kämpft unter Eugen, dem Helden des Tages, oder, wie der Schlesische Robinson, unter Starhemberg bei der Belagerung Wiens gegen die Feinde der Christenheit. Meistens aber gerät der Unglückliche im Dienst Venedigs oder der Malteser gegen türkische Seeräuber kämpfend in die türkische oder algerische Gefangenschaft. Wilhelm Retschir, der Sächsische Robinson, kommt auf besondere Weise ins Elend. Beim Besichtigen des Sklavenhauses in Konstantinopel verliert er seine Legitimationsmarke und muß nun dort trotz allen Protestes lange Zeit als Sklave schmachten....

Als Romane, deren Helden ganz und gar oder doch vorzüglich im Orient sich herumtreiben, seien genannt: der Persianische Robin-


19Hannover 1892, Norddeutsche Verlagsanstalt O. Goedel, S. 58/59.


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son [Robinson] (die Geschichte eines morgenländischen Königs, der seine drei Söhne auf Reisen schickt - der Titel Robinson ist nur aus buchhändlerischer Spekulation gewählt), der Schlesische Robinson, der Ungarische Simplizissimus, der Russische Avanturier, die Zwey Westfälischen Avanturier, der Asiatische Avanturier, der Dresdener Avanturier. -

   Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kam eine Literaturrichtung auf, die im Roman fast alles Exotische verschwinden ließ: der englische Familienroman, dessen bedeutendster Vertreter Richardson war. Ein Werk, das eine sonderbare Verschmelzung dieser neuen Richtung mit der alten des Abenteuerromans darstellt20, ist Gellerts Leben der schwedischen Gräfin G. (1746), das uns nach Schweden, Holland, Rußland, Sibirien und auch Ostindien führt. Es folgte sodann die Zeit Rousseauscher Naturschwärmerei und der Romantik. Der Orient wurde das Land der träumenden phantastischen Romantiker, die den Geheimnissen der Religion und uralter Weisheit der Mythologien, dem Rausch und der Pracht einer zauberhaften Natur nachspürten.21 Als erster machte Herder eindringlich auf die Dichter des Orients aufmerksam, und es begann die Zeit der Übertragungen orientalischer Schriftwerke in die europäischen Sprachen. In Deutschland wandte sich die Wissenschaft unter Friedrich und Wilhelm Schlegel und Bopp der Erschließung des Orients, vor allem Indiens, zu. Besonders der Übersetzungen und Umdichtungen Friedrich Rückerts, Platens und Daumers sei hier gedacht. Goethe kleidete die deutschen Stoffe seines Westöstlichen Diwans (1818) in ein persisches Gewand. 1823/24 erschienen die Märchen von Tausend und einer Nacht erstmalig in deutscher Sprache, nachdem sie mehr als hundert Jahre vorher überhaupt im Abendlande durch den Franzosen Galland bekannt geworden waren (Les milles et une nuits 1704/17), ohne jedoch zunächst einen größeren Einfluß auf die Phantasie der europäischen Schriftsteller auszuüben. Der erste Roman, der unverkennbar unter ihrem Bann entstand, ist des Engländers William Beckford (1760-1844) märchenhaftes Werk Vathek, das 1786 erschien. In den neunziger


20Vgl. S. 359 dieses Jahrbuchs. [Hubert Rausse: Aus der Geschichte des deutschen Abenteuerromans. In: KMJb 1920, S. 348-362; ohne May-Erwähnungen]
21Dr. Sigmar Schultze: Die Entwicklung des Naturgefühls in der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts, I. Das romantische Naturgefühl, S. 151 (Halle a. S., Ernst Tresinger, 1907).


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Jahren des 18. Jahrhunderts wurden von unbedeutenden Verfassern allerhand phantastisch unwirkliche orientalisierende Romane geschrieben, auf die des Näheren einzugehen unnötig ist. Ich nenne nur die Portugiesen in Indien (1793), ein Werk von C. A. Vulpius (1762-1823), dem Schwager Goethes und Schöpfer des berüchtigten Räuberromans Rinaldo Rinaldini.

   Man dürfte erwarten, daß es im Anschluß an die damalige romantische Schwärmerei ernster und weiter Kreise für den Orient, die in Deutschland ihren Höhepunkt in den Gedichten Heinrich Heines und Freiligraths erreichte, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Blütezeit des orientalischen Reise- und Abenteuerromans gekommen wäre. Dem ist aber nicht so. Und weshalb? Die Augen jener Zeit, die ebenso europamüde war, wie es unsere Gegenwart ist und die nächste Zukunft in steigendem Maße sein wird, waren nach Amerika gerichtet. Jenseits des atlantischen Ozeans lag das gelobte Land der Freiheit, dorthin wanderten alljährlich Tausende und Abertausende aus, begierig verlangte man nach Büchern, in denen amerikanische Verhältnisse behandelt wurden. Der Indianerroman ließ den orientalischen nicht neben sich aufkommen; Cooper leitet des ersteren Blütezeit ein. Und so geschah es, daß die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nur verhältnismäßig wenige Vertreter des letzteren aufzuweisen hat.

   Von deutschen Namen sind aus jener Zeit nur zu nennen: Wilhelm Hauff (1802-1827), dessen orientalische Märchen sich an die von Tausend und eine Nacht anschließen, und Leopold Schefer (1784-1862), der den Orient aus eigener Anschauung kannte. Schefer war ein Freund des Fürsten Pückler-Muskau (1785-1871), dessen feuilletonistische orientalische Reisebriefe Semilasso in Afrika, Aus Mehemed Alis Reich und Südöstlicher Bildersaal ein Mittelding zwischen Reisebeschreibung und Reiseerzählung darstellen. Von Schefers Kleinen Romanen und Novellen, die trotz mancher Schönheiten und trotz ihrer farbenprächtigen Naturschilderungen wegen ihres Mangels an Charakteristik der Personen und maßlosen Gefühlsüberschwangs sehr schwer lesbar sind, spielen eine große Zahl im Orient. Aufgeführt seien u.a. Der Zwerg, Der Gekreuzigte, Der Sklavenhändler, Die Perserin, Der heimliche König der Armenier, Martaban.


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   Von Franzosen, die sich im orientalischen Roman versuchten, ist nur François René de Chateaubriand22 (1768-1848) zu nennen, der die Ergebnisse seiner ausgedehnten Reisen im Morgenland einmal in dem Reisewerk Itinéraire de Paris à Jérusalem (1811), sodann aber auch in der epischen Prosadichtung Les martyrs (1809), die - in der Fabel sehr an die altgriechischen Romane erinnernd - die Schicksale eines christlichen Liebespaares unter dem römischen Kaiser Diokletian schildert, und in der abenteuerlichen Erzählung aus der Zeit der Vertreibung der Mauren aus Spanien Les aventures du dernier des Abencérages (1826) niederlegte.

   Weitaus die meisten Vertreter des orientalischen Romans hat zu jener Zeit England aufzuweisen. Das britische Weltreich dehnte sich über die ganze Erde aus, politische und Handelsbeziehungen verknüpften es insbesondere auch mit dem Orient. Globetrotter und Kolonialbeamte vermittelten dem Heimatland die Kenntnis fremder Völker und Länder, und es erstand eine eigene Literatur, deren Zweck es war, Verständnis für das Ausland zu erwecken und das Volk reif zu machen für die Herrschaft über die Welt. Neben wissenschaftlichen Reisebeschreibungen wurde eifrig auch der exotische Roman gepflegt, nicht zuletzt die 'oriental novel', deren ersten Vertreter Beckford ich bereits erwähnt habe. Sie schloß sich eng an die Arabian Nights Entertainements: Consisting of One Thousand and One Stories, an die Märchen von Tausend und eine Nacht, und entwickelte sich im Zusammenhang mit der romantischen Bewegung jener Zeit.

   Zunächst bemächtigte sich die romantische phantastische Verserzählung des orientalischen Stoffes. Robert Southey (1774-1843) begann sein Schaffen mit Thalaba, einer arabischen Zaubergeschichte. Ihr ließ er u.a. 1810 Kehamas Fluch folgen, eine mythologische Fabel aus Indien. Lord Byron (1788-1824) verwertete die Anregungen, die er auf einer größeren Mittelmeerreise empfangen, in romantischen Verserzählungen aus dem Orient Junker Harolds Pilgerfahrt, Der Giaur, Die Braut von Abydos, Der Korsar, Lara und Die Belagerung von Korinth, die von 1812 ab erschienen. Byrons Freund und Biograph Thomas Moore (1779-1852) zeigte sich als sein Schüler in dem epischen Gedicht Lallah Rookh (1817); dieses besteht aus vier indischen


22Vgl. Karl-May-Jahrbuch 1918, S. 223/4.


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Verserzählungen, zu denen eine Liebesgeschichte in Prosa den Rahmen bildet.

   Der zweite Vertreter des eigentlichen orientalischen Prosaromans ist Thomas Hope (1770 bis 1831), der in den Jahren 1788 bis 1796 fast alle Küstenländer des östlichen Mittelmeeres besuchte. Die Mannigfaltigkeit orientalischen Lebens, die er auf seinen Reisen kennen gelernt hatte, spiegelt er uns in seinem Werk Anastasius or memoirs of a Greek (1819) wider. Ein echter rechter Reise- und Abenteuerroman, der weiterbaut auf den alten Schelmen- und Avanturierromanen. Der Held erzählt uns in der Ich-Form sein buntbewegtes Leben, das ihn im ganzen damaligen türkischen Orient herumwirft und die allerverschiedensten Berufe ergreifen läßt.

   Eben solch ein orientalischer Schelmenroman sind The adventures of Hajji Baba of Ispahan (1824) von James Justinian Morier (1780 bis 1849). Morier war von 1807-1815 als Diplomat am persischen Hof in Teheran tätig und hatte so die beste Gelegenheit, morgenländisches Wesen zu studieren. 1824-26 weilte er in Mexiko, sodann widmete er sich ganz der Schriftstellerei. Hadschi Baba, der Barbiersohn aus Ispahan, erzählt ebenfalls in Ich-Form das Auf und Ab seines Lebens, das nicht minder bunt als das des Griechen Anastasius ist. Infolge seiner Verschmitztheit bringt er es schließlich zum Sekretär eines persischen Gesandten und nimmt als solcher an einer Gesandtschaftsreise nach England teil. Seine köstlichen Erlebnisse auf dieser Reise sind in The adventures of Hajji Baba in England (1828) geschildert. Von den weiteren Werken Moriers sind noch besonders zu nennen: Zohrab the Hostage (1832), Ayesha, the Maid of Kars (1834) und The Mirza (1841). Der Roman Zohrab, der Geisel spielt am Hofe des grausamen Schah Aga Mohammed und erzählt die Ereignisse, die zum Tode des Despoten führten. Ayesha, die Jungfrau von Kars ist ein Reise- und Abenteuerroman, der in vieler Hinsicht an Karl May erinnert. Der Hauptheld Osmond hat viele Ähnlichkeit mit Mays Helden, besonders darin, daß er den schurkischen Räuber Kara Bey immer wieder laufen läßt. Die Handlung zieht sich durch ganz Kurdistan hinauf nach Kars, sodann übers Schwarze Meer nach Konstantinopel und Rhodos. Der Mirza ist eine Sammlung von märchenhaften und abenteuerlichen Erzählungen, die Morier angeblich von einem Mirza, einem Hofdichter des Schahs, hörte. Morier wurde seinerzeit vielfach in die verschiedensten Sprachen übertragen, und seine Werke sind es wert, daß


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sie der Vergessenheit, der sie anheimgefallen sind, wieder entrissen werden.

   Neben Hope und Morier ist besonders noch James Baillie Fraser (1783-1856) als englischer Vertreter des orientalischen Romans zu nennen. Die schöngeistige Frucht seiner ausgedehnten Reisen in Kurdistan, Persien und Indien sind die Werke The Kuzzilbash (1828), The Persian Adventures (1830) und The Khan's Tale (1833). Erwähnt werden muß auch noch Walter Scott (1771-1832) mit seinem historischen Kreuzfahrerroman Der Talisman (1825), dessen Schauplatz Palästina ist.

   Die Zeit der 40er bis in die 70er Jahre des 19. Jahrhunderts gehörte auf dem Gebiet des exotischen Romans dem transatlantischen, besonders dem Indianerroman. Nur sehr wenige Verfasser orientalischer Reise- und Abenteuerromane sind in ihr zu finden. Da ist einmal Hermann Gödsche (1815-1878), der als Sir John Retcliffe rund 40 Bände 'historisch-politischer' Romane schrieb. Ich habe ihn bereits im Karl-May-Jahrbuch 1918 (S. 242) genügend charakterisiert. Im Orient spielen von seinen abenteuerlichen Werken besonders Nena Sahib, das den Aufstand der Inder gegen England im Jahre 1857 zum Gegenstand hat, und Sebastopol, für das die Ereignisse des Krimkrieges (1854) den Hintergrund abgeben, sowie auch Teile aus seinen anderen Romanen, z.B. aus Puebla, Um die Weltherrschaft u.a. Ein Lebensbild aus dem indischen Archipel gibt Hermann Breusing (1815-18??) in seinem eigenartigem Roman Germanisches Blut (1863). Breusing hat in den Jahren 1843-46 die malaiischen Inseln bereist. Ihm liegt besonders die Erweiterung von Deutschlands Welthandel und die Erwerbung überseeischer Besitzungen am Herzen. Sein Held ist ein begeisterter Pionier des Deutschtums, und er schließt sein Buch mit den Worten:

Borneo wartet, daß Deutschland sich zum Reich gestaltet. Und jeden Morgen, wenn die Sonne auf ihr Lieblingsland herabblickt, fragt sie: "Weht noch immer das Banner nicht, in dem sich mein Purpur und Gold über die schwarze Nacht der Trübsal siegreich entfaltet?"

Aus seinem vielbewegten Reiseleben, das ihn oft in die Türkei, nach Asien und Afrika führte, hat Hans Wachenhusen (1822-1898) den Stoff für seine Romane geschöpft, von denen zahlreiche im Orient spielen. Ich nenne nur: Der Vampyr, In der Nilbarke, Der türkische Kosak.

   Neben diesen Deutschen sind aus jener Zeit ebensowenige Ausländer zu nennen. Ich weiß nur drei aufzuführen: den Engländer


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Charles Augustus Murray, den Franzosen Grafen Joseph Arthur de Gobineau und den Ungarn Maurus Jókai. Murray (1806-1895), bekannt vor allem durch seinen Indianerroman Prärievogel23 , wirkte lange Jahre seines Lebens als Diplomat im Orient und schuf auch orientalische Romane: Hassan or The Child of the Pyramid (Hassan oder das Kind der Pyramide) erschien 1857, bedeutend später, 1883, gab er heraus Nour-ed-dyn or the Light of the Faith (Nureddin oder das Licht des Glaubens), und noch nach seinem Tode (1898) wurde veröffentlicht A short Memoir of Mohamed Ali (Eine kurze Erinnerung an Mohammed Ali). Graf Gobineau (1816-1882), der als französischer Diplomat in Persien, Griechenland, Nord- und Südamerika und Schweden tätig war, ist vor allem durch seinen Versuch über die Ungleichheit der menschlichen Rassen berühmt. Seine Asiatischen Novellen (1876) sind nur eines seiner dichterischen Nebenwerke. Sie spielen im Kaukasus, in Persien und Afghanistan und einzelne von ihnen (Die Liebenden von Kandahar, Die Tänzerin von Schemacha, Der Turkmenenkrieg) können sehr wohl als Reise- oder Abenteuererzählungen angesprochen werden. Jókai (1825-1904) schließlich schrieb unter der Unzahl seiner Romane auch einige orientalische, z.B. Die weiße Rose, Die letzten Tage der Janitscharen. Sie haben ihren Schauplatz in Konstantinopel und sind Bilder aus der Geschichte der Janitscharen.

   Der Schriftsteller, der als erster wieder die Traditionen des orientalischen Reise- und Abenteuerromans aufgriff und pflegte, war Karl May (1842-1912). Bei weitem der größte Teil seiner Werke spielt im Orient: Durch die Wüste, Durchs wilde Kurdistan, Von Bagdad nach Stambul, In den Schluchten des Balkan, Durch das Land der Skipetaren, Der Schut, Orangen und Datteln, Im Lande des Mahdi, Am Jenseits, Im Reiche des silbernen Löwen, Und Friede auf Erden, Ardistan und Dschinnistan, Der blau-rote Methusalem, Die Sklavenkarawane, außerdem ein Teil von Satan und Ischariot und einzelne Erzählungen aus Auf fremden Pfaden und Am stillen Ozean. Ebenfalls nach dem Orient führen uns Teile der drei Münchmeyer-Romane Deutsche Herzen, deutsche Helden, Waldröschen und Die Liebe des Ulanen. Auch aus den beiden noch unveröffentlichten Romanen Zepter und


23Vgl. Karl-May-Jahrbuch 1918, S. 245.


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Hammer und Die Juweleninsel24 handeln dort große Teile: und zwar aus jenem in Ägypten und aus diesem in Indien.

   Der Hauptheld der Mayschen Reiseerzählungen, der in Amerika Old Shatterhand genannt wird, heißt im Orient Kara Ben Nemsi. Wie der Leser dort aus den Prärien zum Mount Winnetou emporgeführt wird, so hier aus den Sandwüsten zum Dschebel Marah Durimeh. In allen Ländern des Orients spielen Mays Erzählungen: von Nordafrika im Westen bis nach China im fernsten Osten. Ardistan und Dschinnistan ist ein phantasiegeborenes Land, das man seinem Milieu nach aber etwa auf der Grenze von Persien und Arabien zu suchen hätte. Es schildert am klarsten von allen Mayschen Werken sein schriftstellerisches Wollen in Form einer Reise vom Gewaltvolk und Gewaltmenschen hinauf zum Lande der Edelmenschen. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle ausführlich Karl May und sein Verhältnis zum Orient zu besprechen. Zudem hat dies Amand von Ozoróczy bereits im Karl-May-Jahrbuch 1918 (S. 164-180) in seinem Aufsatz Karl May und sein Orient in vorbildlicher Weise getan. Ob May seine Aufgabe, das Morgenland mit dem Abendland auszusöhnen, gelöst hat, das vermögen wir heute noch nicht zu beantworten; eins hat er aber jedenfalls erreicht: er hat die Anteilnahme der Völker Europas, besonders des deutschen Volkes am Orient in außergewöhnlicher Weise geweckt. Daß unser Volk während des Weltkrieges ein solches Verständnis für unser Bündnis mit der Türkei gezeigt hat, das ist in hervorragendem Maße ihm zu danken. Er hat durch seine Werke den Weg gewiesen, auf dem allein dem Volke Kunde von fremden Ländern und Völkern und damit weltpolitisches Begreifen leicht und erfolgreich vermittelt wird.

   Karl Mays Schaffen ist auch auf die lebende Generation von Schriftstellern nicht ohne Einfluß geblieben. Angeregt durch seine Reiseerzählungen hat eine große Zahl wagemutiger Männer den heimischen Staub von den Füßen geschüttelt, sich mit offenen Augen in aller Herren Länder, besonders aber im Orient herumgetrieben und teilweise bereits begonnen, ihre Erlebnisse in Reise- und Abenteuerromanen zu verwerten. Hervorgetreten mit Romanwerken sind bisher Leopold Gheri, Dr. Franz Sättler, Otto Cesar Artbauer, sämtlich Deutsch-Österreicher. Alle drei bezeichnen sich offen als Schüler Karl Mays. Gheri, Schriftsteller


24Vgl. Karl May "Ich", S. 578. [Zepter und Hammer und Die Juweleninsel wurden erst 1926 in die Radebeuler Ausgabe integriert (Bd. 45/46).]


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und Kunstmaler (geb. 1866), machte größere Reisen in Ägypten, Algier, Syrien, Arabien, Sudan, Albanien, nach Ceylon und in Brasilien. Erst seit 1906 begann er zu schriftstellern. An orientalischen Reiseerzählungen, die meist in der Ich-Form geschrieben sind, verfaßte er: An Arabiens Gestaden, Ephrata (1907), In der Wüste, Esch-Scham (1911). Im Karl-May-Jahrbuch 1918 sind zwei Proben seiner farbenreichen Erzählerkunst zu finden (S. 127 bis 154 und S. 261-284).* Artbauer, Orientalist und Forschungsreisender (geb. 1878), trieb sich seit Beginn des Jahrhunderts in allen Ländern des Orients, von Marokko bis Indien, herum. Zumeist als Eingeborener verkleidet, erhielt er den Beinamen 'Vater des Bartes'. Außer volkstümlich-wissenschaftlichen Werken Kreuz und quer durch Marokko (1910), Die Riffpiraten und ihre Heimat (1911), Die Fremdenlegion (1913) veröffentlichte er den Reiseroman Ein Ritt durch Marokko (1911) und die Skizzen- und Novellenbücher Afrikanische Spiegelbilder und Afrikanische Stunden (1911). Im Karl-May-Jahrbuch ist er ebenfalls mit zwei Beiträgen vertreten: 1918 S. 292 bis 296 und 1920 S. 134 bis 141.** Der Orientalist Dr. Sättler schließlich, der ausgedehnte Reisen auf dem Balkan und in Syrien und Arabien machte - während des Weltkrieges wurde er in Saloniki gefangen und in den Pyrenäen interniert -, verfaßte bisher drei Reiseromane (1912/3) Am Libanon, Nach Damaskus und dem Hauran und Bei den Arnauten.

   Verwandtes mit Karl May zeigt sein sächsischer Landsmann Robert Kraft (1869-1916) in seinen vielbändigen Romanen, deren Handlung zumeist die ganze Erde umspannt und demgemäß auch häufig im Orient spielt. Kraft, der ein abenteuerliches Leben hinter sich hat, kannte ein großes Stück der Erde aus eigener Anschauung und hat besonders im Orient weite Strecken zu Fuß zurückgelegt. In seinem vierbändigen Erstlingswerk Um die indische Kaiserkrone gab er eine Umarbeitung des Retcliffeschen Romans Nena Sahib. Unter die besten seiner Werke zählt der fünfbändige Reise- und Abenteuerroman Die Vestalinnen, der die Reise zweier Segelschiffe, deren eines nur von Damen bedient wird, um die Erde schildert. Seine letzten endlos langen Romane Atalanta oder die Geheimnisse des Sklavensees, Das zweite Gesicht u.a., deren Helden in allen Winkeln der Erde und in


*Auf der Hammada Mokattam, Chabet el Akhra.
**Das Schicksal eines Briefes, John Stuart Smallwoods Ende.


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ausgiebiger Weise auch in allen Ländern des Ostens herumkommen, sind in vieler Hinsicht kaum noch zu genießen. Es liegt mir fern, Kraft Talent und eine überragende Phantasie abzusprechen, aber es mangelt ihm jede Beschränkung und jedes Gefühl für die Komposition. Zudem werden ihm die wenigsten darin zustimmen, wie er mit oberflächlicher Leichtigkeit solch schwierige Probleme wie Hellsehen, Gedankenübertragung usw. in seinen Romanen verwertet und löst. Es wäre sehr zu wünschen, wenn der gute Kern, der immerhin in den Werken dieses im Volke recht verbreiteten Schriftstellers steckt, durch eine geschickte Bearbeitung herausgemeißelt würde.

   Nach Afghanistan führt uns Viktor Laverrenz (1862-1910) in seinem Roman Der Afghanenspion (1907). Eine große Könnerin ist Thea von Harbou, die durch ihren Kriegsabenteuerroman Die Flucht der Beate Hoyermann (1917) zum erstenmal weiten Kreisen bekannt wurde. In Adrian Drost und sein Land (1918) nahm sie sich das Schicksal von Karl Peters zum Vorwurf.25 Ihr ebenfalls 1918 erschienener Roman Das indische Grabmal hat, wie bereits der Titel besagt, Indien zum Schauplatz.

   Da ich hier nicht auf die archaisierenden, altägyptischen Romane von Georg Ebers (1837-1898) eingehen will, bleibt nur noch übrig, einen Blick auf einige ausländische Schriftsteller zu werfen, die in den letzten Jahrzehnten orientalische Reise- und Abenteuerromane verfaßten. Ich will mich begnügen, solche Namen zu nennen, die durch Übertragungen ins Deutsche auch bei uns bekannt geworden sind.

   Ich beginne mit dem Engländer Rudyard Kipling (geb. 1865), der in seinen Dschungelbüchern (1894/5) das Tierleben Indiens musterhaft schildert. Der Weltliteratur angehört ebenfalls des amerikanischen General Lewis Wallace Roman aus der Zeit Christi Ben Hur. Wallace (1827-1905), ursprünglich Jurist, machte als Freiwilliger 1847 den Krieg der Union gegen Mexiko mit, blieb Soldat und brachte es im nordamerikanischen Bürgerkrieg (1861-65) bis zum General. Später wandte er sich wieder der Juristerei zu und war 1881-85 Gesandter der Union in der Türkei. Außer Ben Hur (1880) schrieb er noch zwei Romane, deren einer Die hehre Gottheit (1873) die Eroberung Mexikos durch Cortez zum Gegenstand hat, während der andere Der Prinz von Indien


25Vgl. S. 435 dieses Jahrbuchs. [Paul Leutwein: Karl Peters und seine weltpolitische Bedeutung. In: KMJb 1920, S. 401-436]


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(1893) ebenso wie Ben Hur im Orient spielt und den Fall Konstantinopels in geschickter Weise mit dem uralten Ahasverproblem verbindet. Ein Schüler Karl Mays ist zweifellos der Italiener Dr. Ugo Mioni in seinem Roman Der Schutzgeist des Kaisers von Birma (1903). Die Verwandtschaft mit May vermag in seinem prächtigen Roman aus der Zeit des Mahdi Durch die Wüste der Pole Henryk Sienkiewicz (1846-1917) nicht zu leugnen, der übrigens auch in seinen historischen Romanen Pan Wolodyjowski und Auf dem Felde der Ehre die Türkennot des 17. Jahrhunderts meisterhaft geschildert hat. Zum Schluß seien noch zwei Franzosen erwähnt: Jules Verne und Pierre Mille. Unter Vernes (1828 bis 1905) in allen Ländern handelnden 'wissenschaftlichen' Romanen haben auch einige den Orient zum Schauplatz, z.B. teilweise Die Reise um die Erde in 80 Tagen und das Dampfhaus. Mille (geb. 1864) bereist seit 1895 die Welt, besonders die Kolonien Frankreichs, deren typischer Schilderer er wurde. Ins Deutsche übersetzt wurden unter den Titeln Ramara und Kefaka und Marianne Übersee eine Anzahl seiner Novellen. -

   In dem satten, friedlichen Deutschland der Zeit vor dem Weltkriege war im gebildeten Bürgertum der Sinn für den Reise- und Abenteuerroman künstlich erstickt, nur seelenproblematische Werke waren literaturfähig. Der Krieg hat den Männern die bequeme Seßhaftigkeit genommen und sie in langen Reisen und gefährlichen Abenteuern hin- und hergeworfen. Die Jetztzeit hat etwas Nomadenhaftes an sich. Das Geschick wirbelt die Menschen durcheinander, und gerade uns Deutschen ist dadurch, daß sich jetzt so viele eine neue Schaffensstätte im Ausland suchen müssen, so recht wieder zum Bewußtsein gebracht, daß wir nicht allein auf der Erde sind, sondern daß wir ein Volk unter Völkern sind, und daß es wertvoll für uns sein muß, diese anderen Völker kennen zu lernen zu suchen, anstatt nur der Philosophie zu leben. Man wird jetzt eingesehen haben, wie abenteuerlich unsere Welt ist, und damit wird wohl auch niemand mehr die Berechtigung von Abenteuerromanen abstreiten wollen. Aus dieser Einsicht, sodann aus der Notwendigkeit, Auslandskunde zu treiben, und schließlich aus wiedererwachendem romantischem Empfinden wird eine neue Blütezeit des Reise- und Abenteuerromans geboren werden. Daß in ihr der Orient keine kleine Rolle haben wird, dafür bürgt schon allein das politische Interesse, das die noch immer ungelöste orientalische Frage in der nächsten Zukunft erwecken wird.



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