Karl Mays Erzählkunst (Werner Kittstein)


"Unter so eenem Fell, da schteckt ooch merschenteels was dahinter!"

Materialien zur Karl May-Forschung
Band 15

Herausgegeben von Karl Serden, Ubstadt (Baden)
im Auftrag der Karl-May-Gesellschaft e.V.

Werner Kittstein

Karl Mays Erzählkunst

Eine Studie zum Roman
"Der Geist des Llano estakado"

1992
ISBN 3 - 921983 - 23 -1
Frontispiz: Carl-Heinz Dömken

Alle Rechte vorbehalten


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung 1

2. Der Geist der Erzählung: Erzähltechnik 7

a. Der epische Erzähler 7
b. Die Zeitgestaltung 47
c. Was der Erzähler verschweigt 55

3. Landschaft und Raum 58

4. Die Personen der Handlung 80

a. Erwachsene Helden als Vor- und Leitbilder 80
b. Jugendliche als Spiegelfiguren 90
c. Hobbel-Frank 102

5. Das Exemplarische und die Liebe zum Detail 114

6. Leitmotive 139

7. Utopisches 152

8. Innere Form 155

Anmerkungen 159


[- 1 -]

1. Einleitung

Der Geist des Llano estakado(1) ist in mehrfacher Hinsicht ein außergewöhnlicher Roman, der bisher in der Forschung aber nur wenig Beachtung gefunden hat. Das muß angesichts seiner erzählerischen Qualitäten befremden. Auch verdient die Zeichnung der jugendlichen und der erwachsenen Hauptfigur besonderes Interesse, unterscheiden sich beide doch von den vergleichbaren Gestalten der anderen Jugenderzählungen beträchtlich. Außergewöhnlich ist zumal die Darstellung der Beziehungen zwischen den Jugendlichen und den Erwachsenen. Beide Aspekte hängen schließlich mit der sehr differenziert angelegten Erzählerrolle zusammen.

Wenn wir einen Blick auf die jeweils erste Begegnung der jugendlichen Protagonisten mit dem erwachsenen Haupthelden in den beiden frühen Jugenderzählungen werfen, wird die besondere Stellung des Geist des Llano estakado deutlich. In Der Sohn des Bärenjäger(2) wird diese Begegnung folgendermaßen geschildert:

Wohkadeh war bis an die Bäume zurückgetreten, Er stand an einem derselben gelehnt und ließ die Augen mit bewunderndem Ausdrucke auf den beiden Ankömmlingen ruhen, - bei den Indianern ist die Jugend eben gewöhnt, bescheiden zu sein. Wohkadeh hätte geglaubt, den größten Fehler zu begehen, wenn er als gleichberechtigt in der Nähe der anderen stehen geblieben wäre. Martin Baumann betrachtete sich eben so die beiden Männer, von denen er bereits so viele Heldenthaten hatte erzählen hören, sehr genau, freilich nicht aus solcher Entfernung wie der junge Indianer. Er stand da zwei Vorbildern gegenüber, welchen nachzueifern sein heißes Bestreben war, obgleich er nicht hoffen konnte, sie jemals im Leben zu erreichen. Winnetou hatte sich von Davy die Hand drücken lassen; den drei anderen nickte er grüßend zu. Das war so seine ernste Art und Weise. Old Shatterhand dagegen, heiteren Naturells und ungewöhnlich menschenfreundlich, gab ihnen, sogar dem Neger, die Hand. Das ergriff Wohkadeh in der Weise, daß er die Rechte aufs Herz legte und leise versicherte:

"Wohkadeh wird sein Leben gern für Old Shatterhand geben! Howgh!"

Der junge Indianer ist die personifizierte Bewunderung und Ehrfurcht, er wagt sich nicht einmal in die Nähe des weißen Superhelden. Seine Unterwerfung unter Old Shatterhand, nur leise ausgesprochen und von diesem kommentarlos hingenommen, als wenn sie selbstverständlich wäre, erinnert an die Unterwerfungsszene Freitags in Defoes Robinson Crusoe, nur daß diese noch drastischer gestaltet ist als die in Der Sohn des Bärenjägers(3). Martin Baumann, der als Weißer nicht den sozialen Normen der Indianer verpflichtet ist, bleibt zwar in der Nähe, betrachtet die beiden Männer aber ebenso ehrerbietig; sie sind für ihn unerreichbare Ideale. Wie ist


- 2 -

es da mit dem Literaturpädagogen(4) May und seiner Absicht, der Lehrer seiner Leser, hier der Jugendlichen, sein zu wollen(5), bestellt, wenn er diesen, die den erwachsenen Vorbildern nacheifern sollen, von vorneherein den Mut nimmt, sie könnten ihr Ideal jemals erreichen?(6)

Am unangenehmsten aber wirkt der Erzähler an dieser Stelle. Er kommentiert das Verhalten der Personen mit geradezu penetrantem Einverständnis(7). Jugendliche, die ihre eigene Minderwertigkeit zu Markte tragen, sollen hier offensichtlich Vorbilder für die Leser sein! Etwas wehleidig mutet die Betonung der Bescheidenheit der indianischen Jugend an, was man indirekt als einen Tadel an der jungen Leserschaft auffassen kann; daran ändert auch der nachgeschobene Hinweis auf die indianische Sitte nichts. Old Shatterhand und Winnetou werden in weite Ferne, ja in eine überirdische Sphäre entrückt. Heiteren Naturells und ungewöhnlich menschenfreundlich muß man sein, soll man als Old Shatterhand einfachen Sterblichen die Hand reichen - sogar dem Neger! Diese Betonung zeigt deutlich, wie überrascht der Erzähler von einer solchen Selbstverleugnung des Weißen ist. Lakonischer kann sich Rassismus kaum äußern.(8)

Ähnlich, aber in bezeichnenden inhaltlichen und erzählerischen Details anders verläuft die erste Begegnung eines jungen Indianers mit Old Shatterhand in Der Geist des Llano estakado (S. 175):

Eisenherz, der junge Komanche, war auch herbeigekommen. Eben trat er zwischen den Sträuchern hervor. Er sah Old Shatterhand stehen [...] und sagte:

"Nina-nonton, die 'zerschmetternde Hand'! Shiba-bigk, der Sohn der Komanchen, ist zu jung, einem so berühmten Krieger in das Antlitz schauen zu dürfen."

Er wendete sich nach indianischer Sitte zur Seite. Old Shatterhand aber trat rasch auf ihn zu, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:

"Ich erkenne dich, obgleich mehrere Winter vergangen sind und du größer geworden bist, seit ich dich sah."

Auch hier verhält sich der Indianer, gemäß dem sozialen Kodex seines Volkes, dem berühmten Jäger gegenüber bescheiden, aber das wird ganz ohne Peinlichkeit erzählt. Der Westmann geht auf Eisenherz zu und unterhält sich mit ihm wie mit einem Gleichrangigen. Der Erzähler enthält sich jeden Kommentars und läßt die Szene ganz zwanglos und natürlich wirken.

Die Begegnungen des jugendlichen Haupthelden, Bloody-Fox, mit Old Shatterhand heben wir uns für später auf. Sie und die gesamte Be-


- 3 -

ziehung zwischen den Vertretern verschiedener Generationen unterscheiden sich beträchtlich von den Verhältnissen in Der Sohn des Bärenjägers.

In den anderen Jugenderzählungen, die Amerika zum Schauplatz haben, ebenso in Der blau-rote Methusalem, sind die Jugendlichen nur noch Randfiguren; vor allem die weißen bleiben ausgesprochen blaß. Auch da wird die Bescheidenheit der jungen Indianer betont(9), aber in ungleich zurückhaltenderer Form als im Bärenjäger. Ein genauer Vergleich wäre unergiebig und erübrigt sich darum.

Gerade mit dem jugendlichen Haupthelden, Bloody-Fox, sind viele Interpreten der Geist-Erzählung gar nicht zufrieden; er verursacht ihnen einiges Kopfzerbrechen. Zwar wird die Erzählung insgesamt sehr gelobt. Das Nachwort zur Reclam-Ausgabe(10) schließt mit dem Gesamturteil B. Kosciuszkos: 'Der Geist des Llano estakado' ist ein gutes Jugendbuch - meiner Ansicht nach Mays bestes. (Dem stimme ich voll zu!) Es lobt die gelungene Konzeption, die Vielzahl der Identifikationsmöglichkeiten, die dem Leser geboten werden, besonders die starke Einbeziehung der Jugendlichen in die Handlung; die Betonung des Wertes der Gemeinschaft; schließlich die Erfüllung der Kriterien I. Brönings(11) für ein gutes Jugendbuch. Weniger gut, sicher insgesamt mit Recht, wird die typisierende Personenzeichnung beurteilt. Deutlich Kritik übt Kosciuszko an der im Vergleich mit der ethisch idealeren Figur Eisenherz problematischere[n] Figur Bloody-Fox. Dessen Selbstjustiz wird im Karl-May-Handbuch(12) vom gleichen Autor als pädagogisch problematisch bezeichnet. Beschwichtigend heißt es dann im Nachwort der Reclam-Ausgabe: Die von Bloody-Fox gelebten positiven Werte [...] stehen jedoch so stark im Vordergrund, daß der Figur durchaus noch eine Vorbildfunktion zukommt(13). Das spiegelt die verbreitete, allzu naive Auffassung von der Wirkung einer literarischen Gestalt auf den Leser wider(14); sie ist auch, wie wir unten sehen werden, von der Ausprägung dieser Figur und ihrem Handeln her nicht haltbar.

Die genannten Gründe, die den Wert der Erzählung als auch heute noch sehr empfehlenswerte Jugendlektüre belegen, sollen in der folgenden Arbeit an einzelnen Aspekten ausführlich dargestellt, vor allem aber ergänzt werden, wobei die Erzählerrolle, ihre Funktion und ihre Wirkung auf den Leser im Vordergrund stehen. Was die Vorbehalte gegen die Figur des Bloody-Fox angeht, soll gezeigt


- 4 -

werden, daß sie nicht nur unbegründet sind, sondern gerade einen der besonderen Vorzüge dieser Erzählung mißdeuten. Dieser jugendliche Held hat, so scheint mir, nicht trotz, sondern w e g e n seiner negativen Eigenschaften und Verhaltensweisen Vorbildcharakter, freilich nicht in dem vordergründigen Sinne, daß alles, was er tut, nachahmenswert sein muß, sondern gemäß der Maxime, die Karl May selbst in Mein Leben und Streben ausführt(15):

Darum weiß ich, daß man dem Volke und der Jugend keine Tugendmusterbücher in die Hand geben darf, weil es eben keinen Menschen gibt, der ein Tugendmuster ist. Der Leser will Wahrheit [...] Die Aufgabe des Jugendschriftstellers besteht nicht darin, Gestalten zu schaffen, die in jeder Lage so überaus köstlich einwandfrei handeln, daß man sie unbedingt überdrüssig wird, sondern seine größte Kunst besteht darin, daß er von seinen Figuren getrost die Fehler und Dummheiten machen läßt, vor denen er die jugendlichen Leser bewahren will. [...] Musterknaben und Mustermenschen sind schlechte Vorbilder; sie stoßen ab. Man zeige Negatives, aber lebenswahr und packend, so wird man Positives erreichen.

May hat sich, was seine Helden angeht, in seinen Romanen leider selten an diese Erkenntnis gehalten. Gegenbeispiele sind vor allem die beiden Tugendbolde Old Shatterhand und Winnetou, während die allermeisten jungen Helden der Jugenderzählungen nur brav und eigentlich fast entbehrlich sind.

Negatives, aber lebenswahr und packend - das ist eine zutreffende Charakteristik des Bloody-Fox und seines Verhaltens. In keiner anderen Erzählung für die Jugend hat May einen Jugendlichen - trotz aller Typisierung - so lebensecht als ein vom Leser kritisch zu hinterfragendes Spiegelbild, das gleichzeitig Vorbild ist, geschaffen; einen Menschen, der so selbständig und dominierend agiert, daß er sich sogar den meisten Erwachsenen überlegen zeigt. Was manche Interpreten mit allerlei Winkelzügen deuten oder hinweginterpretieren zu müssen glauben(16) und was von anderen verwundert in Frage gestellt wird(17), daß ein junger Leser versteht, wie ein Jugendlicher sich ein eigenes Reich schafft und dort nach eigenen Vorstellungen für Recht und Ordnung sorgt, ist ja im Gegenteil das mindeste, was man von einem aufgeweckten Leser erwarten kann.

Bisher liegen nur wenige Untersuchungen der Erzähltechniken, z. B. Erzählerrolle, Erzählhaltung und -perspektive im Werk Karl Mays vor(18). Die relativ wenigen Arbeiten, die sich nicht auf inhalt-


- 5 -

liche, biographische, psychoanalytische, soziologische oder geistesgeschichtliche Themen beschränken, haben im allgemeinen die Handlungsführung, Personen- und Motivgestaltung o. ä. zum Gegenstand, kaum aber einmal den Vorgang des Erzählens selbst; zum Geist des Llano estakado enthalten sie nur gelegentlich Einzelbemerkungen. Letzteres gilt auch gerade für die kleine Zahl von Analysen der Erzähltechnik im engeren Sinne in Mays Romanen(19). Die einzige ausführliche Behandlung eines speziellen erzählerischen Elementes bietet H. Schmiedt, Helmers Home und zurück. Das Spiel mit Räumen in Karl Mays Erzählung 'Der Geist des Llano estakado'(20) .

Eine breit angelegte Analyse einer Jugenderzählung Mays ist die Arbeit von H. Stolte über den Literaturpädagogen May am Beispiel der Sklavenkarawane(21). Einige der dort dargestellten Aspekte werde ich auch am Geist überprüfen und erläutern. Insgesamt aber habe ich andere Akzente gesetzt. Nicht der Autor May soll im Vordergrund stehen, nicht der Pädagoge oder Didaktiker, sondern die fertige Erzählung und ihre erzählerische Gestalt. Gemäß der Forderung D. Arendts(22) möchte ich sagen: Statt des Autors hat mich sein Erzähler interessiert. Ihm verdankt Der Geist des Llano estakado seine meiner Ansicht nach einzigartige Stellung unter den Jugenderzählungen Mays. Wie weit übrigens das Bildungsgut, das diese Erzählungen vermitteln sollen, wirklich bei der Rezeption zu Buche schlägt, wie weit vor allem die damaligen jugendlichen Leser (von den heutigen ganz zu schweigen) in der Lage waren, beispielsweise die Verdrehungen des Hobbel-Frank zu entschlüsseln und zu verstehen, bleibe dahingestellt; ich habe da jedenfalls meine Zweifel, kannte doch Karl May die Lerninhalte des Gymnasiums kaum. Mir scheint aber auch viel wichtiger zu sein, daß die Jugendgemäßheit, die der Geist aufweist, in Inhalt und Erzählweise weniger eine pädagogische oder psychologische Wirkung hat, sondern eher dazu dient, eine Leseatmosphäre zu schaffen, die der Bereitschaft des Lesers zur Aufnahme der abenteuerlichen Ereignisse, welche manchmal sehr hohe Anforderungen an die Einbildungskraft stellen, fördert. Der Erzähler spielt auf eine sinnvolle Weise so raffiniert mit dem Leser, daß dieser (auch heute noch und bei wiederholter Lektüre) seine Umgebung während des Lesens ganz vergißt und sich in die fiktive Welt der Abenteuer hineinziehen läßt. So kann er die große Wanderung durch das Unwirkliche antreten, kann die Chance zur Besinnung, zur Selbstbegegnung wahrnehmen - und welche Romanfigur wäre dazu besser geeignet als Bloody-Fox! Gewiß hilft


- 6 -

auch ein Jugendbuch wie dieses dem Leser, eigene Phantasie zu entwickeln und damit den Bedrohungen und Zwängen der wirklichen Welt sowohl Toleranz als auch Aktivität entgegen[zu]setzen(23).

Ich gehe nicht der Frage nach, wie weit Karl May diese Erzählung bewußt geplant und gestaltet hat; dem widerspricht gewiß nicht, wenn hie und da didaktische Absichten des Autors konstatiert werden. Nach allem, was über seine Arbeitsweise bekannt ist(24), dürfte die Erzählung eine Mischung aus bewußt-planvollem und unbewußt-spontanem Schreiben gewesen sein; eine ausgefeilte Formung des differenziert angelegten Erzählers, der sich uns zeigen wird, war seine Sache sicher nicht. Das meiste war wohl Frucht einer glücklichen Begabung. Andererseits gehen viele der Mängel in Handlungsführung, Stil und Sprache zweifellos auf die Produktions- und die psychischen Bedingungen, unter denen May schreiben mußte, zurück. Allerdings würde ein eingehender Vergleich der beiden ersten Jugenderzählungen im Guten Kameraden, Bärenjäger und Geist, gewiß zeigen, daß May von der ersten zur zweiten, aufs ganze gesehen, große Fortschritte gemacht hat; zu Beginn der Einleitung habe ich ein Beispiel dafür vorgestellt.

Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich in allererster Linie mit der erzählerischen Gestaltung der Handlungsebene und anderen ästhetischen Kriterien. Sie vermeidet vor allem jeden Ausflug in die Bereiche der Sozialpsychologie oder des Autobiographisch-Psychoanalytischen; das überlasse ich kompetenteren Interpreten. Sie ist einfach aus Liebhaberei entstanden, sozusagen das Produkt eines Dilettanten - hoffentlich im guten Sinne des Wortes.


- 7 -

2. Der Geist der Erzählung: Erzähltechnik

a) Der epische Erzähler

Am Rande des Llano estakado stoßen zwei Mexikaner(25) auf vier Yankees, die sich ihnen anschließen, um unter ihrer Führung durch die Wüste zu reiten.

Das Aussehen der beiden Mexikaner war allerdings nicht geeignet, Mißtrauen zu erwecken, dennoch aber mußte es als eine Unvorsichtigkeit bezeichnet werden, daß die Yankees sich so schnell und ohne alle Prüfung entschlossen, mit ihnen zu reiten. Nur einer von den vieren schien nicht ganz vertrauensselig zu sein, nämlich Ben New-Moon.

Er hatte diesen Beinamen erhalten, weil sein schwarzes, rundes Gesicht an dasjenige des treuen Trabanten unserer Erde erinnerte. Vielleicht war er erfahrener und auch scharfsinniger als seine drei Gefährten. Er ritt, als die Reiter sich nun flußabwärts in Bewegung gesetzt hatten, hinter den anderen her und hielt seinen Blick beobachtend auf die Mexikaner gerichtet. Einen offenbaren Grund, ihnen zu mißtrauen, fand er nicht; aber ein instinktives Gefühl sagte ihm, daß ihnen gegenüber Vorsicht doch am Platze sei.(S. 226)

Wer erzählt hier, und aus welchem Blickwinkel tut er das? Welche Beziehung zum Geschehen, zu den Personen, aber auch zum Leser hat der Erzähler? Zunächst werden zwei Urteile gefällt; das erste, welche Folgerungen aus dem Aussehen der Mexikaner zu ziehen sind, wird in einer sprachlichen Form, die aufmerken läßt, vorgetragen. Das Adverb allerdings hat an dieser Stelle bestätigende Bedeutung; es bekräftigt etwas, was schon jemand behauptet hat, und damit können nur die Yankees gemeint sein, die sich der Führung der Mexikaner durch den Llano anvertrauen. Wer gibt dieses Urteil ab? Offensichtlich eine Person, die an der Handlung nicht unmittelbar beteiligt ist, ein Außenstehender, den man gemeinhin als epischen Erzähler bezeichnet. Wozu betont dieser Erzähler nochmals ausdrücklich, daß kein sichtbares Anzeichen, welches Mißtrauen rechtfertigen würde, vorhanden ist? Der einzige Zweck besteht darin, dem Leser diese Versicherung zu geben; in Form einer Sprachgeste wendet sich diesem der Erzählende zu, suggeriert ihm gleichzeitig durch die Negation, Mißtrauen sei eigentlich doch angebracht; die Verneinung fordert geradezu ein dennoch aber heraus, das auch prompt im nächsten Satz folgt. Das damit eingeleitete zweite Ur-


- 8 -

teil tadelt die Vertrauensseligkeit der Amerikaner. Eine explizite Begründung gibt der Erzähler dafür nicht, aber der gesunde Menschenverstand sagt ihm wohl, sie müßten sich in dieser gefährlichen Gegend vergewissern, daß die beiden Führer auch wirklich verläßlich sind. Immerhin hat der Leser vorher (S. 224) erfahren, daß die Yankees den Llano nicht kennen, wogegen die Mexikaner behaupten, sie seien mit ihm völlig vertraut. Der Erzähler hat auch mitgeteilt, daß die beiden nach der Erwähnung des Geldes, das die Yankees bei sich tragen, von diesen unbemerkt verdächtige Blicke wechseln. Der aufmerksame Leser müßte also schon selbst mißtrauisch geworden sein. Der Erzähler entschuldigt das Verhalten der Yankees ein wenig, bestätigt aber gleich darauf mit seinem zweiten Urteil die reservierte Haltung des Lesers. Er steht, so scheint es, genau auf der Schwelle zwischen der Welt des Lesers und der fiktiven Welt des Erzählten; er beobachtet das Verhalten der Personen aufmerksam, hält aber gleichzeitig Kontakt mit dem Leser, dem er hilft, die rechte Einstellung zum Geschehen zu finden.

Da überrascht es doch sehr, wenn sich dieser Erzähler gleich danach auffallend unsicher äußert, indem er nur vom Anschein eines Mißtrauens, das Ben New-Moon beschleicht, spricht. Verstärkt wird diese Auffälligkeit dadurch, daß er zwar dessen merkwürdigen Übernamen erklären kann, dann aber wieder mit einem Vielleicht seine Unsicherheit verrät. Wenn er schon die Herkunft des Übernamens kennt, müßte er dann nicht auch wissen, um was für einen Menschen es sich handelt, den er da auftreten läßt; müßte er nicht sein Verhalten erklären können und die Gründe dafür kennen? Eine ganz so verläßliche Hilfe für den Leser, wie es uns gerade eben erschien, bietet dieser Erzähler offenbar doch nicht. Er registriert, wie Ben den Blick aufmerksam auf die Mexikaner gerichtet hält, und zieht daraus bloß Schlüsse, wobei er sich auf sein eigenes Urteilsvermögen verlassen muß.

Damit hat der Erzähler seinen Blickwinkel leicht verändert; er hat die Perspektive Bens übernommen und mit ihm auf die anderen Reiter geschaut. Dann wechselt die Sichtweise nochmals; der Erzähler teilt dem Leser Bens Gedanken mit, dessen Ungewißheit, ein warnendes Gefühl, und zwar in einer Form, die der "Erlebten Rede" angenähert ist, in der die Gedanken einer Romanperson sozusagen zitiert werden, wobei aber die grammatische Form der 3. Person des Präteritums die Anwesenheit eines vermittelnden Erzählers noch ahnen läßt.


- 9 -

Die Erzählperspektive verschiebt sich also von einem Beobachterstandort am Rande des Geschehens zur Perspektive einer der beteiligten Personen und schließlich in diese Person hinein. Die Äußerungen des Erzählers setzen sich zusammen aus einem Vorwissen, genauer Beobachtung und gesundem Menschenverstand einerseits sowie aus Vermutungen, die eine irritierende Unsicherheit verraten, andererseits. Die Wiedergabe des Gefühl[s], das Ben instinktiv warnt, lenkt den Blick schließlich auf Zukünftiges: Vorsicht ist am Platze gegenüber dem, was die Mexikaner tun werden.

Der Erzähler erscheint als eine eigenständige Figur, die das fiktive Geschehen und den Leser dauernd im Blick behält. Es sieht fast so aus, als wolle er den einen Yankee zum Zeugen für seine eigene zwiespältige Haltung anrufen; dieser bestätigt sowohl den Verdacht des Erzählers als auch dessen Unsicherheit, ob dieser Verdacht wirklich angebracht ist. Der Erzähler schafft auf diese Weise eine Atmosphäre voller Irritation, die dem tatsächlichen Stand der Handlung vollkommen entspricht. Dies ist unabhängig davon, welche Stufe die gesamte Auseinandersetzung zwischen den beiden Parteien, den Guten und den Bösen, in der Erzählung inzwischen erreicht hat; unabhängig davon, daß der Aktionsradius der Geier schon empfindlich eingeschränkt ist, daß sie schon einen ihrer Anführer verloren haben. Ganz situativ, nur aus den Erfordernissen der an dieser Stelle der Erzählung vorliegenden Situation heraus wird die Szene erzählerisch gestaltet.

Daß Ben New-Moon für den Erzähler bloß die Rolle eines Zeugen zu spielen hat, wird sich später bestätigen, wenn sich herausstellt, daß dieser Yankee die Mexikaner, bei denen es sich natürlich um Banditen handelt, nicht selbst entlarven wird; dies bleibt dem Bärenjäger und Winnetou vorbehalten. Ben hat nicht den geringsten Anteil daran; seine Rolle beschränkt sich auf die erzähltechnische Funktion, die besondere Stellung des Erzählers zum Geschehen, zu den Personen der Handlung und zum Leser hervorzuheben.

Inwiefern aber kann eine für die Handlung ganz nebensächliche Figur, wie sie Ben New-Moon darstellt, bezeugen, was der Erzähler dem Leser vermitteln will? Müßte sie für diese Rolle nicht etwas mehr Gewicht erhalten? Aber so unbedeutend ist die Gestalt des Yankees auch gar nicht. Das werden wir sofort erkennen, wenn wir die noch nicht erschöpfend gedeuteten Informationen, die über sie gegeben werden, untersuchen. Ben New-Moon wird immerhin mit einer interessanten Geschichte ausgestattet, die erklärt, wie er zu sei-


- 10 -

ner merkwürdigen Gesichtsfarbe gekommen ist. Diese Geschichte wird zunächst nur angedeutet, aber etwas später (S. 239ff.) von ihm ausführlich erzählt. Sie verbindet das Schicksal Bens mit dem Juggle-Fred und dem führenden Schurken unserer Erzählung, Burton alias Stealing-Fox. Damit wird die auf den ersten Blick an dieser Stelle deplaziert wirkende Erklärung des Übernamens in ihrer Funktion deutlich. Ben ist ein Weißer. Woher hat er das geschwärzte Gesicht? Irgend etwas muß dieser Mann erlebt haben, was ihm zu dieser Abnormität verholfen hat und was ihn gleichzeitig über die ganz uninteressanten Durchschnittswestmänner hinaushebt; man darf ein gefährliches Abenteuer dahinter vermuten. Wenn man andere May-Erzählungen kennt, erinnert man sich an viele mit einem körperlichen Makel behaftete Westläufer, die recht tüchtig sind; in unserer Erzählung gehören Hobbel-Frank und Juggle-Fred dazu. Ben New-Moon hat mit Sicherheit Gefährliches durchgemacht - und überlebt. Damit rechtfertigt die Erklärung seines Namens die Vermutung des Erzählers, daß dieser Yankee über eine genügende Portion Erfahrung und Scharfsinn verfügt, die ihn über seine drei Gefährten stellt. Und dies wiederum rechtfertigt die erzähltechnische Bedeutung dieser Figur, dem Leser gegenüber die vom Erzähler gewünschte irritierende Atmosphäre mit aufzubauen. Das alles läßt einen überlegt und absichtsvoll agierenden Erzähler erkennen, dem die besondere Wirkung dieser so kurzen Szene zu verdanken ist.

Die Theorie des Romans hat seit langem die bedeutende Rolle erkannt, die der Erzähler bei der Aufgabe, die fiktive Welt des Erzählten dem Leser zu vermitteln, spielt(26). Er kann als eigenständige Figur verstanden werden, vom Autor entworfen, die - mehr oder weniger deutlich hervortretend - die Geschehnisse an den Leser heranträgt. Der Erzähler kann als eine Person erscheinen, die vorgibt, die fiktive Welt erschaffen zu haben, wie er es am Anfang von Goethes Wahlverwandtschaften tut (Eduard - so nennen wir einen reichen Baron im besten Mannesalter). Er kann auch fast gänzlich hinter den Personen und Ereignissen zurücktreten und nur ab und zu seine Anwesenheit verraten, wie zum Beispiel in den Romanen Fontanes. Ich spreche hier nur von der Er-Erzählung, weil eine solche in Der Geist des Llano estakado vorliegt, und vernachlässige die Ich-Erzählung. Der Erzähler kann auch die Fiktion, die er vor dem Leser ausbreitet, dadurch aufzuheben versuchen, daß er sich auf Gewährsleute beruft, etwa den Verfasser einer Chronik, von Briefen oder tagebuchartigen Aufzeichnungen; eine solche andersartige Fik-


- 11 -

tion, die die Wahrheit des Erzählten garantieren soll, handhabt beispielsweise Charles Brockden Brown in seinem Schauerroman Wieland oder Die Verwandlung oder auch - um ein bekannteres Beispiel zu geben - Theodor Storm in Der Schimmelreiter. Der Erzähler kann sich auch völlig hinter seinen Romanfiguren verbergen, sie scheinbar ganz selbständig handeln lassen, woraus sich ein vielfältiger Perspektivenwechsel ergibt, wie z. B. in Heinrich Bölls Haus ohne Hüter. Im letzteren Fall spricht man von der personalen Erzählhaltung, weil der Erzähler sozusagen eine oder mehrere Rollenmasken vor sein Gesicht hält und die Geschehnisse ausschließlich aus deren Sicht wiedergibt, obwohl er natürlich trotzdem immer als vorhanden gedacht werden muß. In den erstgenannten Fällen handelt es sich um den sogenannten auktorialen Erzähler, der entweder zugleich als allwissender erscheint, indem er Fakten wiedergibt, über deren Kenntnis nur er aus einem Vorwissen heraus verfügen kann - was der aufmerksame Leser bemerkt - , oder sich gar, wie in den Wahlverwandtschaften, als Erschaffer seiner Figuren bekennt. Er kann aber seine Allwissenheit auch verbergen, so daß sie dem Leser kaum oder gar nicht zum Bewußtsein kommt. F. Stanzel(27) hat gezeigt, daß diese Erzählsituationen, wie er sie nennt, einander mehr oder weniger angenähert erscheinen können; er ordnet sie auf einem Typenkreis(28), auf dem sich der auktoriale Erzähler wie auch der Ich-Erzähler in die Nähe der personalen Erzählsituation bewegen können und umgekehrt. Es ist also bei jeder Erzählung neu zu fragen, welche Rolle der Erzähler spielt. Gibt er sich als Erfinder der Geschichte aus? Macht er dem Leser deutlich, daß er alles, was für das Erzählen der Geschichte notwendig ist, und noch mehr als das weiß, daß er dem Leser also zusätzliche Informationen geben könnte, wenn es nötig wäre oder er es auch nur wollte? Oder hält er sich damit zurück, um im Leser, wenigstens im Augenblick des Lesens, den Eindruck zu erwecken, die Geschehnisse seien wahr, den Leser seine eigene Situation ganz vergessen machend? Wo befindet sich, bezogen auf den Handlungsort, der Erzähler? Praktiziert er eine Art Vogelschau, steht er quasi neben den Personen, oder nimmt er eine Froschperspektive ein? Wie nah ist er den Personen und Ereignissen, räumlich und zeitlich, intellektuell und emotional? Erzählt er aus nur einer Perspektive, oder wechselt er sie? Wie weit nähert er sich der personalen Erzählhaltung, d.h. wie weit betrachtet er die Vorgänge mit den Augen seiner Gestalten und erzählt aus ihrer Sicht auf die Dinge? Das alles mündet schließlich in die Fragen: Welche Beziehung zwischen der erzählten Hand-


- 12 -

lung mit ihren Personen und dem Leser wird aufgebaut? Geht diese Beziehung so weit, daß der Erzähler direkten Kontakt zum Leser aufnimmt, etwa indem er ihn anspricht oder sich ihm sonstwie zuwendet?

Welche Stellen einer Erzählung verlohnen nun besonders, diese Fragen aufzuwerfen, zumal am Beginn einer Untersuchung wie der vorliegenden? Am ehesten bieten sich wohl solche an, an denen es den Erzähler besonders interessieren muß, ein bestimmtes, von ihm gewünschtes Beziehungsgefüge zwischen sich, der Handlung und dem Leser aufzubauen, wo er also eine bestimmte Methode anwenden muß, mit der er dem Leser seine fiktive Welt nahebringen will. Dazu eignet sich vorzüglich der Anfang der Erzählung(29), die Stelle oder - zeitlich, vom Erzähl- und Lesevorgang her gesprochen - der Augenblick, da der Leser aus seiner realen Umwelt eintauchen soll in die Welt des Erzählten und von dem an sein Interesse wachgehalten werden muß. Außerdem dürften weitere Kapitelanfänge für die besondere Ausprägung der Erzählerrolle bzw. Erzählsituation geeignet sein, wenn mit ihnen ein wesentlicher Orts-, Zeit- oder Personenwechsel verbunden ist. Noch eine weitere Überlegung spricht dafür, auch die Anfänge späterer Kapitel in den Blick zu nehmen: Hier könnte der Erzähler am ehesten geneigt sein, die Erzählhaltung in wichtigen Punkten zu variieren, entweder weil es die Handlungsstruktur bzw. ganz einfach der Inhalt erfordert oder weil er den Leser durch die Veränderung der Erzählweise erneut fesseln will.

Soweit diese allgemeinen Überlegungen, die knapp genug sind. Ich spare mir vor allem deshalb eine differenziertere Darstellung der unterschiedlichen Erzählsituationen, weil Karl May viele von ihnen in seinen Romanen nicht verwandt hat oder erst im Spätwerk, bzw. am Übergang dazu, wenn er z.B. die Rolle seines auktorialen Ich-Erzählers dahingehend ausweitet, daß er den Vorgang des Erzählens und seine eigene Schreibsituation reflektiert, so etwa im 3.Band des Old Surehand(30).

In den Jugenderzählungen des Guten Kameraden und der "Union"- Ausgabe agiert ein Er-Erzähler, ein Unterschied zu den Reise-Erzählungen in Ich-Form, der schon oft genannt, aber bisher nicht ausführlich analysiert worden ist(31). Es stellt sich die Frage, wie diese Er-Erzählsituation in Der Geist des Llano estakado ausgeformt ist und welche Varianten sie aufweist. Vielleicht hat gerade diese Erzählhaltung etwas mit dem besonderen Erfolg der sogenannten Jugenderzählungen zu tun.


- 13 -

Wenden wir uns also dem Anfang des 1. Kapitels der Erzählung zu, das mit Bloody-Fox überschrieben ist (S. 7ff.).

Zwei Männer kamen am Wasser dahergeritten, ein Weißer und ein Neger. Der erstere war sehr eigentümlich gekleidet. Er trug indianische Schuhe und Lederhosen, dazu einen einst dunkelblau gewesenen, jetzt aber sehr verschossenen Frack mit Patten, hohen Achselpuffen und blank geputzten Messingknöpfen. Die langen Schöße hingen flügelartig rechts und links an den Seiten des Pferdes hernieder. Auf dem Kopfe saß ein riesiger, schwarzer Amazonenhut, welchen eine gelb gefärbte, unechte Straußenfeder schmückte. Bewaffnet war der kleine, schmächtige Mann mit einer Doppelbüchse, welche ihm über die Schulter hing, mit einem Messer und zwei Revolvern, die er im Gürtel trug. An dem letzteren hingen mehrere Beutel, wohl zur Aufnahme der Munition und allerhand notwendiger Kleinigkeiten bestimmt; jetzt aber schienen sie ziemlich leer zu sein.

Der Schwarze war eine riesige, breitschulterige Figur. Auch er trug Mokassins und dazu indianische Leggins von jener Art, welche aus zwei voneinander getrennten Hosenbeinen bestehen, so daß man eigentlich Haut gegen Haut auf dem Pferde sitzt. Das ist aber freilich nur dann von Vorteil, wenn man ohne Sattel reitet. Zu dieser Bekleidung des Unterkörpers wollte freilich diejenige des Oberkörpers nicht recht passen, denn sie bestand aus dem Waffenrocke eines französischen Dragoneroffiziers. Dieses Kleidungsstück war wohl bei der französischen Invasion nach Mexiko gekommen und hatte sich dann auf unbekannten Umwegen auf den Leib des Schwarzen verirrt. Der Rock war dem herkulischen Neger viel zu kurz und viel zu eng; er konnte nicht zugeknöpft werden, und darum konnte man die breite, nackte Brust des Reiters sehen, welcher wohl deshalb kein Hemd trug, weil es im Westen keine Wäscherinnen und Plätterinnen gibt. Dafür aber hatte er ein großes, rot und weiß kariertes Tuch um seinen Hals gebunden und vorn zu einer riesigen Schleife zusammengezipfelt. Der Kopf war unbedeckt, damit man die unzähligen kleinen, fettglänzenden Löckchen, die er sich anfrisiert hatte, sehen und bewundern könne. Bewaffnet war der Mann auch mit einem Doppelgewehre, außerdem mit einem Messer, einem irgendwo entdeckten Bajonette und einer Reiterpistole, deren Geburtsjahr jedenfalls auf Anno Tobak zu setzen war. Beritten waren beide gut. Es war den Pferden anzusehen, daß heute ein weiter Weg hinter ihnen liege, und doch schritten sie noch so munter und kräftig aus, als ob sie ihre Reiter kaum stundenlang getragen hätten.

Die Ufer des Baches waren saftig grün bewachsen, doch nur in einer gewissen Breite. Über dieselbe hinaus gab es dürre Yuccas, fleischige Agaven und vertrocknetes Bärengras, dessen wohl 15 Fuß hohe Stengel verblüht waren.

"Schlechte Gegend!" sagte der Weiße. "Im Norden hatten wir es besser. Nicht wahr, Bob?" "Yes", antwortete der Gefragte.

[...]

"Schau, kommt dort nicht ein Reiter?" Er deutete nach rechts über das Wasser hinüber. Bob hielt sein Pferd an, legte die Hand über die Augen, um sie gegen die im Westen tiefstehende Sonne zu beschatten, öffnete nach seiner Weise den Mund sehr weit, um noch besser sehen zu können, und antwortete nach einer Weile:

"Ja, es sein ein Reiter, ein kleiner Mann auf großem Pferd. Er kommen hierher zu Masser Bob und Massa Frank."


- 14 -

Der Reiter, von welchem die Rede war, kam in scharfem Trabe herbei, hielt aber nicht auf die beiden zu, sondern schien ihnen vorn quer über ihre Richtung kommen zu wollen. Er tat gar nicht so, als ob er sie sehe.

[Bob ruft den Reiter nun an, der pariert sein Pferd, und sie reiten zu ihm hin.]

Als sie in seine Nähe gelangten, erkannten sie, daß sie keinen Mann von kleiner Statur, sondern einen kaum dem Knabenalter entwachsenen Jüngling vor sich hatten. Er war genauso wie die bekannten kalifornischen Cow-boys ganz in Büffelkuhleder gekleidet, und zwar in der Weise, daß alle Nähte mit Fransen versehen waren.

[...]

Sein Gesicht war von der Sonne tief gebräunt und trotz seiner Jugend von Wind und Wetter gegerbt. Von der linken Seite der Stirn ging ihm eine blutrote, zwei Finger breite Wulst quer bis auf das rechte Auge herab. Das gab ihm ein äußerst kriegerisches Aussehen. Überhaupt machte er keineswegs den Eindruck eines jungen, unerwachsenen und unerfahrenen Menschen. Die schwere Büchse so leicht in der Hand, als ob sie ein Federkiel sei, das dunkle Auge groß und voll auf die beiden gerichtet, saß er stolz und fest wie ein Alter auf dem Pferde, welches sich unter ihm nicht bewegen zu können schien.

Die beiden zunächst beschriebenen Reiter bewegen sich offensichtlich in recht geringem Abstand vom Erzähler auf dessen Standort zu. Am Wasser - das kann vor dem Hintergrund des Schauplatzes der ganzen Erzählung, den schon der Titel vorgibt, nur heißen: an einem kleinen See oder einem schmalen Wasserlauf, und wenig später wird das Wasser auch als Bach bezeichnet. Demnach kann sich der Erzähler nicht allzu weit von den Reitern entfernt befinden. Er nimmt außerdem eine statische Position ein.

Im nächsten Satz tritt der Erzähler hervor, indem er die Kleidung des einen Reiters als sehr eigentümlich bezeichnet, sie also beurteilt. Welcher Maßstab liegt diesem Urteil zugrunde? Zunächst der des Erzählers selbst, denn nur dieser weiß ja bisher, wie der Reiter gekleidet ist. Dann aber muß dieser Maßstab auch vom Leser übernommen werden, der nämlich in der folgenden Beschreibung alles andere als eine für einen Menschen, der sich im Wilden Westen Nordamerikas herumtreibt, zu erwartende Aufmachung erkennt. Damit stellt sich schon zu Beginn der Erzählung eine Beziehung zwischen Erzähler und Leser her. Das Geschehen wird dem Leser nicht neutral, sondern kommentierend vermittelt, wodurch der Leser eine Hilfe erhält, die Personen einzuordnen und in eine emotionale Beziehung zu ihnen zu treten.

Die detaillierte Beschreibung des Reiters erfolgt von dem zunächst eingenommenen Erzählerstandort aus, bezieht sich aber nicht bloß auf die von da aus sichtbaren Kleidungsstücke, sondern informiert auch über den früheren Zustand des Fracks und die künstliche


- 15 -

Straußenfeder. Hier spricht der allwissende Erzähler, der seine Kenntnisse nicht allein dem Augenschein verdankt, der auch nicht nur den Wilden Westen, dessen Gewohnheiten und Personal kennt, sondern ein Vorwissen hat, aus dem er hier schöpft. Die genauen Einzelheiten der Beschreibung betonen wieder den geringen Abstand des Erzählers von der beschriebenen Person. Bei den weiteren Angaben zu Aussehen und Ausstattung des Reiters wird eine dritte Variante der Erzählweise deutlich. Nach der genauen Beobachtung aus geringer Distanz und ersten Anzeichen seiner Allwissenheit äußert der Erzähler zwei Vermutungen über Funktion und Inhalt der Beutel am Gürtel. Weiß er also doch nicht alles, stimmt etwas mit seiner Allwissenheit nicht? Das ist eher unwahrscheinlich; vielmehr sieht es so aus, als sollte zwischen den beiden extremen Positionen des interessierten Beobachters, der aus seiner beschränkten Sicht nur das wiedergeben kann, was er sieht oder hört, und der des allwissenden Erzählers, der dem Leser leicht das Gefühl vermittelt, er sei bloß Spielball des Erzählers und ihm völlig ausgeliefert, ein Ausgleich geschaffen werden. Da ein allwissender Erzähler natürlich weiß, wozu die Beutel da sind und welchen Füllungsgrad sie besitzen, nimmt er offenbar absichtlich die Haltung des Nichtwissenden ein.

Gleich zu Beginn macht der Erzähler also seine Position und die beabsichtigte Erzählweise klar: Er beruhigt den Leser - immer vorausgesetzt, dieser nimmt das überhaupt wahr -, daß er über alle notwendigen Kenntnisse verfügt, um eine zusammenhängende und sinnvolle Geschichte zu erzählen; er beobachtet sehr genau und läßt damit das Geschehen für sich selbst sprechen; und er läßt genügend Ungeklärtes, im Bereich der Mutmaßungen Angesiedeltes, was den Reiz des Rätselhaften vermittelt.

Eine weitere Aufgabe kommt der zuletzt genannten Vermutung: jetzt aber schienen sie ziemlich leer zu sein zu; sie gibt dem Geschehen eine größere zeitliche und räumliche Dimension. Es wird klar, daß die Männer schon längere Zeit unterwegs sein müssen, daß sie wahrscheinlich von weither kommen und eine Menge erlebt haben, zumindest Jagdabenteuer, vielleicht auch Zusammenstöße mit Menschen, denn wobei sonst hätten sie fast ihre ganze Munition verbraucht? Das entspricht der für Mays Abenteuererzählungen typischen räumlichen und zeitlichen Struktur. Die Helden kommen von weither und reiten auf ein Ziel zu, wobei an der vorliegenden Stelle die Zielgerichtetheit des Reitens noch betont erscheint durch die Statik des Erzählerstandortes, auf den die beiden Reiter sich zu bewegen.


- 16 -

Bei der Beschreibung des Schwarzen mehren sich sowohl die Indizien, die auf das Viel-, wenn nicht gar Allwissen des Erzählers schließen lassen, als auch - auf den ersten Blick wieder in seltsamem Kontrast - die vielen Vermutungen, die auf eine eingeschränkte Sicht deuten. Adverbielle Bestimmungen wie wohl, auf unbekannten Wegen, jedenfalls lassen an der Allwissenheit des Erzählers zweifeln, welche andererseits wieder bestätigt wird, wenn der Erzähler den Grund, weshalb der Schwarze den Kopf unbedeckt hält, zu nennen weiß. Die scheinbaren Unsicherheiten können auch darauf hindeuten, daß es sich um recht unwichtige Dinge handelt. Schließlich wird auf interessante Weise ein Bezug zum Leser hergestellt, wenn der Erzähler auf dessen Wirklichkeit und Alltagswelt verweist mit der Begründung, es gebe im Westen keine Wäscherinnen und Plätterinnen, eine humorige Bemerkung, die im übrigen auch gut zu dem etwas ulkigen Aufzug des Negers paßt.

Über die Pferde teilt der Erzähler nur mit, was er von seinem Standort aus zu sehen bekommt (Es war den Pferden anzusehen). Dann kommt die Umgebung in den Blick, wobei sich die geschilderten landschaftlichen Einzelheiten gut mit dem Standort des Erzählers nahe bei den Personen vereinbaren lassen. Warum erfolgt hier plötzlich eine Ortsbeschreibung? Außer der allgemeinen Überlegung, daß der Raum, durch den sich die Personen der Handlung bewegen, natürlich beschrieben werden muß, da er ja deren Verhalten mitbestimmt, zumal er in dieser Erzählung eine entscheidende Rolle spielt, kann man diesem Abschnitt eine spezielle situative Funktion zuweisen: Er begründet das Thema des Gesprächs, in das wir im folgenden hineinhören.

Bei der Wiedergabe des Gesprächs verändert sich der Erzählerstandort notwendigerweise. Da es während des Reitens über eine längere Zeit stattfindet und der Erzähler jedes Wort versteht, muß er sich ganz nahe bei den Sprechern befinden, d.h. er muß sich mit ihnen fortbewegen. Der Erzähler übernimmt sogar die Perspektive der beiden Personen und schildert die Annäherung des dritten Reiters in einer sprachlichen Form, die ihrem Sehen entspricht (Der Reiter ... kam ... herbei, ... schien ihnen vorn quer über ihre Richtung kommen zu wollen). Diese Formulierungen zeigen, daß die beiden Reiter die Bewegungsrichtung des Neuankömmlings so deuten. Das rechtfertigt auch die Formulierung: Er tat gar nicht so, als ob er sie sehe. Da schwingt die Vermutung, daß der Betreffende sich verstellt, mit. Eine solche Vermutung könnte zwar der Erzähler durch-


- 17 -

aus äußern. Aber die verneinende Form tat gar nicht so drückt viel stärker eine Erwartung, der Betreffende müsse sich eigentlich anders verhalten, aus; eine solche Erwartung kann aber nicht der Erzähler hegen, sondern nur einer, der den fremden Reiter selbst kommen sieht. Gerade diese sprachliche Form unterstreicht den Eindruck, daß aus der Sicht Franks und Bobs erzählt wird; eine deutliche Annäherung des Erzählens an die personale Erzählhaltung! Diese Perspektive wird nun beibehalten, wenn wir ihrem Gespräch zuhören. Der dritte Reiter wird aus ihrer Sicht beschrieben: erkannten sie; dabei wird aber gegen Ende der Beschreibung deutlich, daß die Erzählhaltung nicht völlig zur personalen hin verschoben wurde; dem auktorialen Erzähler beliebt es vielmehr, bewußt den Bloody-Fox mit den Augen der beiden zu schildern: das dunkle Auge ... auf die beiden gerichtet. Dann kehrt der Erzähler zur echten auktorialen Haltung zurück. Nur er bemerkt offenbar das leise ironische Lächeln des Fox, nicht aber Frank und Bob. Dazu paßt auch die Distanz, aus der das folgende Gespräch zwischen Frank und Fox wiedergegeben wird. Kommentare (Das Gesicht des Führers war ein sehr ernstes; ... war so gewesen, als ob; mit wilden, freundlichen Augen) sowie das Überwiegen des fast ohne Unterbrechung durch den Erzähler wiedergegebenen Dialogs betonen die sachlich-distanzierte Registrierung des Rittes und des Gesprächs durch den Erzähler. Der Inhalt des Gesprächs interessiert hier nicht weiter. Als sich die Reiter dann ihrem heutigen Ziel, Helmers Home, nähern, zeigt sich auch wieder die Allwissenheit des Erzählers: Hier gab es stellenweise den fruchtbaren, schwarzen Sandboden des texanischen Hügellandes, welcher reiche Ernten gibt. - ... an dem Wohnhause, hinter welchem sich die Stallungen und die Wirtschaftsgebäude befanden (S. 17), was man aus der Perspektive der Reitenden gar nicht sehen kann. Gleich darauf wird diese Distanz aber wieder zurückgenommen durch den mit den Augen der Personen beobachtenden Erzähler: Man sah es auf den ersten Blick, ...

Fassen wir die Beobachtungen zusammen. Der Standort des Erzählers ist zwar nicht exakt zu definieren, aber eindeutig in hinreichender Nähe zum Geschehen und zu den Personen zu denken, und er ist beweglich. Manchmal übernimmt der Erzähler sogar die Perspektive der handelnden Personen, ohne daß der Leser seine Anwesenheit vergißt, bevor er wieder mit reiner Außensicht deutlichere Distanz einnimmt, z.B. bei der Wiedergabe des Dialogs. Man kann eine Art Zoom-Bewegung nachvollziehen, Erzähler und Leser nähern sich mehr-


- 18 -

fach den Personen an und gehen wieder auf Distanz.

Eine Frage wirft noch der Schluß der untersuchten Stelle auf: Man sah es auf den ersten Blick, daß rechts vom Eingang der Wohnraum und links von demselben der von Bloody-Fox erwähnte Laden lag. Wer genau wird mit diesem Indefinitivpronomen man bezeichnet? Die beiden Reiter Frank und Bob, der Erzähler allein oder alle drei? (Bloody-Fox scheidet aus, er braucht das nicht zu sehen, er weiß es schon.) Die bisherige Analyse ergibt, daß alle drei gemeint sein müssen; der Erzähler ist irgendwie als eine anwesende Person zu denken, die die Bewegungen mitmacht, das Geschehen erlebt und gleichzeitig dem Leser vermittelt, mal dem Geschehen näher, mal ferner ist, mal sein Mehrwissen kundtut, mal den Unwissenden spielt und sich dabei auf eine Stufe mit dem Leser stellt.

Ich erlaube mir, hierzu den Geist der Erzählung zu bemühen, den Thomas Mann am Anfang seines Romans Der Erwählte für die besondere Erzählsituation verantwortlich macht(32), wobei ich weiß, welcher Abstand zwischen der Erzählkunst eines Thomas Mann und der eines Karl May besteht - aber ein Geist der Erzählung waltet offenkundig auch in unserer Erzählung vom Geist des Llano estakado, und nicht minder wirkungsvoll als der verkleidete Bloody-Fox.

Das 3.Kapitel, Die beiden Snuffles, beginnt so (S. 76 ff.):

Ungefähr zwei Stunden vor der Zeit, in welcher Hobbel-Frank und Bob mit Bloody-Fox zusammentrafen, kamen zwei andere Männer aus der Richtung von Coleman City geritten. Doch konnten sie diesen Ort wohl kaum berührt haben, denn sie hatten ganz das Aussehen von Männern, welche längere Zeit bewohnten Gegenden ferngeblieben sind.

Die beiden Maultiere, welche diese Leute ritten, zeigten zwar Spuren von Ermüdung, schienen sich aber in guten Händen zu befinden und waren ziemlich wohlgenährt. Einen ganz entgegengesetzten Eindruck machten die Reiter, lange, außerordentlich schmächtige Gestalten, von denen man hätte annehmen mögen, daß sie wochenlang Gäste des Hungers gewesen seien. Daß dem aber nicht so sei, zeigte ihre gesunde Hautfarbe und kräftige Haltung, welche sie im Sattel behaupteten. Der Westen hat eine starke, austrocknende Luft, welche kein überflüssiges Fleisch auf den Knochen duldet, dafür jedoch die Sehnen stählt und den Gliedern jene ausdauernde Kraft und Widerstandsfähigkeit verleiht, ohne welche der Mensch dort bald zugrunde gehen müßte.

Überraschend war die außerordentliche Ähnlichkeit, welche zwischen ihnen herrschte. Wer sie erblickte, mußte sie sofort für Brüder, vielleicht gar für ein Zwillingsbrüder paar halten. Diese Ähnlichkeit war so bedeutend, daß man sie, zumal beide ganz gleich gekleidet und bewaffnet waren, nur mit Hilfe einer Schmarre unterscheiden konnte, welche dem einen von ihnen quer über die linke Wange lief. [...]


- 19 -

Leider war diesen beiden Reitern keine allzu große männliche Schönheit zuzusprechen, was seinen Grund in dem Umstande hatte, daß der hervorragendste Teil ihrer Gesichter auf eine ganz ungewöhnliche Weise entwickelt war. Sie hatten Nasen, aber was für welche! Man konnte getrost darauf schwören, daß zwei solche Geruchsorgane im ganzen Lande nicht wieder zu finden seien. Nicht die Größe allein, sondern auch die Form war außerordentlich, ebenso die Farbe. Um sich diese Nasen vorstellen zu können, müßte man sie gesehen haben. Denkt man sich den in Gestalt einer Weintraube verholzten Saftausfluß einer Birke, in allen möglichen Farben schimmernd, welche sich jemals auf einer Malerpalette befanden, so kann man sich einen ungefähren Begriff von diesen Nasen machen. Und dabei waren auch sie einander geradezu zum Erstaunen ähnlich. Es gab kein gleicheres Brüderpaar als diese beiden Männer, welche wohl bereits manchen Sturm erlebt hatten, da sie wenigstens in der Mitte der Fünfziger standen.

Nun darf man aber nicht denken, daß der Eindruck ihrer Gesichter ein abstoßender gewesen sei, o nein! Sie waren sorgfältig glatt rasiert, so daß kein Bart den wohlwollenden Ausdruck derselben verbarg. In den Mundwinkeln schien ein heiteres, sorgloses Lächeln sich für immer eingenistet zu haben, und die hellen, scharfen Augen blickten so gut und freundlich in die Welt, daß nur ein schlechter Menschenkenner behaupten konnte, man habe sich vor ihnen in acht zu nehmen.

Die Gegend, in welcher sie sich befanden, war ziemlich steril zu nennen. Der Boden trug nur knorriges Knieholz, zuweilen mit Yuccas und Kakteen vermischt.

[...]

"Verteufelt triste Gegend!" sagte derjenige, welcher die Schmarre auf der Wange hatte.

Der erste Satz beweist, daß der gleiche Erzähler wie bisher souverän über Ort und Zeit verschiedener Handlungsstränge verfügt. Er ordnet die Ereignisse des 1. und 3. Kapitels zu einer Folge wie er sie wünscht, und er kann sich an ganz verschiedene Orte versetzen. Bezeichnend ist die Reihenfolge: zuerst das Zusammentreffen Franks und Bobs mit Bloody-Fox, danach das Erscheinen der beiden Snuffles, obwohl es zwei Stunden vor dem zuerst geschilderten liegt. Dem Erzähler ist es offensichtlich wichtiger, zunächst die jugendliche Hauptperson einzuführen und (im 2.Kapitel) handeln zu lassen. Die sich darin zeigende souveräne Verfügung über die zeitliche Strukturierung des Geschehens ist Bestandteil auktorialer Erzählhaltung, der sich auch die weitgehenden Kenntnisse des Erzählers einfügen: Er weiß, woher die beiden Snuffles kommen, er nimmt wie im 1.Kapitel in betonter Form den gleichen Standort ein an einem ganz bestimmten Punkt, an den die beiden geritten kommen müssen. Daß auch hier der Geist der Erzählung am Werk ist, beweist die Formulierung zwei andere Männer, die nur erklärbar ist, wenn der Erzählende sich den Anfang des 1.Kapitels unmittelbar vergegenwärtigt und in diesem Augenblick des Erzählens alle vier Personen: Frank, Bob und die Snuffles vor Augen hat, obwohl zwei Stun-


- 20 -

den bzw. etwa 70 Reclam-Seiten dazwischenliegen! Gleich darauf wird die Erzählperspektive verändert, die auktoriale Haltung wird zugunsten einer Beobachterrolle in der Nähe der Personen verschoben, es wird erzählt, was zu sehen ist; Vermutungen, die sich aus dem Augenschein ergeben, werden geäußert und sogleich aufgehoben (Daß dem aber nicht so sei). Hinter allem wird aber deutlich, daß der Erzähler sich in seinem Metier auskennt, wie ein Westmann, der über den Wilden Westen, seine Lebensbedingungen und Anforderungen genauestens Bescheid weiß und dem Leser an Stellen, wo es nötig erscheint, diese Kenntnisse vermittelt, um ihm ein Urteil über Handlungs- und Verhaltensweisen der Protagonisten zu ermöglichen. Gerade die erste dieser ganz allgemeinen Informationen über den Wilden Westen: Der Westen hat eine starke, austrocknende Luft läßt den erfahrenen May-Leser allerdings stutzen. An dieser Stelle wird begründet, warum die beiden Snuffles lange, außerordentlich schmächtige Gestalten sein müssen; Ergebnis der klimatischen Bedingungen im fernen Westen. Wird aber nicht an anderer Stelle der gleichen Erzählung der Dicke Jemmy (daher hat er ja den Übernamen) als sehr dick (S. 155) beschrieben, und erinnert man sich nicht auch gleich z.B. an den dicken Hammerdull und andere berühmte Westleute, die jahrelang im Westen leben und keineswegs "austrocknen"? Ein Widerspruch? Vielleicht. Aber vielleicht auch ein erneuter Beweis für situatives Erzählen, das hier zu einer Begründung ausholt, die in anderen Situationen bzw. für andere Personen nicht gilt. Im 1.Kapitel hatten wir gesehen, daß die Ortsbeschreibung, die man eher am Anfang erwartet, da eingefügt ist, wo sie den Beginn des folgenden Gesprächs motiviert. Das gleiche gilt für das Einsetzen des Dialogs zwischen den Snuffles am Ende des von mir zitierten Kapitelanfangs. Situatives Erzählen ist bei May ein häufig anzutreffendes Mittel, mit dem man oft bemerkte Ungereimtheiten oder Zufälle in der Handlung seiner Erzählungen widerspruchsfrei erklären bzw. rechtfertigen kann: die immer wieder wie gerufen kommenden Landschaftsformationen, die es erlauben, eine ganz bestimmte Handlung (z.B. Gefangennahme zahlenmäßig überlegener Gegner) zu ermöglichen; die Tatsache, daß Feinde immer genau dann Wichtiges besprechen, wenn sie vom Helden belauscht werden; die gerade in den Jugenderzählungen oft zu bemerkende Befremdlichkeit, daß intelligenteste, tüchtigste, scharfsinnigste Helden zur Mittelmäßigkeit herabsinken und lächerliche Fehler machen, sobald die Haupthelden Old Shatterhand und Winnetou nur in die Nähe kom-


- 21 -

men (z.B. Sam Hawkins im Ölprinz(33); die beiden Snuffles in der vorliegenden Erzählung: S. 179, 181). Das Erzählen fließt also ganz aus den in einer individuellen Situation angelegten Möglichkeiten.

Das Verbergen der zweifellos gegebenen Allwissenheit des Erzählers wird weiter praktiziert. Besonders betont wird dies, wenn es heißt, man könne die beiden nur an der Schmarre des einen unterscheiden. Wieder muß man fragen: Wer ist man? Der Erzähler müßte beide ohne dieses Mal unterscheiden können; offensichtlich stellt er sich auf eine Stufe mit einem unwissenden Betrachter, der nur anhand einer Verletzung und des späteren Gesprächs mit den Anreden Jim und Tim die Zwillinge auseinanderhalten kann. Auch bei der Beschreibung von Kleidung und Bewaffnung wird diese Variante der auktorialen Erzählhaltung beibehalten: Nur Sichtbares wird beschrieben, ergänzt durch Bemerkungen des Kenners der Verhältnisse. Dabei bezieht die Floskel Wer jedoch weiß den Leser indirekt mit ein, der eben dies aus seiner Lektüre von Abenteuergeschichten wissen dürfte.

Die Schilderung der Nasen verstärkt den Eindruck, der Erzähler scheine die beiden zum ersten Mal zu sehen. Er gibt sich überrascht beim Anblick so riesiger Gesichtsteile. Dabei zeigen aber die Äußerungen Leider und Nun darf man aber nicht denken, daß der Erzähler eine gewisse Teilnahme für seine Personen hegt, außerdem das deutliche Bemühen, sie auch für den Leser zu Sympathieträgern zu machen, deren spätere schnöde Behandlung, die sie von einigen Banditen bzw. Dummköpfen erfahren, dann die rechte Einstellung des Lesers vorfindet und dementsprechend verurteilt wird. Mehr noch: Der Erzähler scheint sich zu scheuen, diese Zinken überhaupt genau in ihrem Aussehen zu beschreiben. Wie redet er um den heißen Brei herum! Ein Ausruf: Was für welche! Ihre Außerordentlichkeit wird genannt. Eine Ausflucht merkwürdiger Art: Um sich diese Nasen vorstellen zu können, müßte man sie gesehen haben. Je nun, dann brauchte man sie sich nicht mehr bloß vorzustellen! Dann erst folgt die in ihrer Drastik allerdings kaum noch zu überbietende Beschreibung in einem mehrfachen Vergleich.

Die Umgebung schließlich wird in gleicher Weise beschrieben wie die Personen, von einem Beobachterstandpunkt aus. Auch hier dient die Ortsbeschreibung wieder dazu, den Gesprächsstoff für die einsetzende Unterhaltung der beiden Reiter zu liefern. Der wörtliche Anklang an den Dialoganfang im 1.Kapitel ist auffallend. Er gibt dem Ganzen fast den Charakter des Leitmotivischen,. Dort heißt es:


- 22 -

"Schlechte Gegend!" sagte der Weiße (S. 8); hier: "Verteufelt triste Gegend!" sagte ... (S. 78). Dies ist ein schönes stilistisches Beispiel für die Verknüpfung verschiedener Zeiten und Handlungsorte durch den Geist der Erzählung. Hier wie dort geht die Beschreibung von Personen und Örtlichkeiten in den gleichen Schritten vor sich, nur daß die Pferde im 3.Kapitel vor den Reitern beschrieben werden, was aber gerechtfertigt erscheint durch die Qualitäten, die diese Tiere bald beweisen werden.

Auch der Verlauf des Gesprächs, das hier nicht wiedergegeben ist, wird unmerklich von dieser Art auktorialem Erzähler gesteuert, wenn sich die beiden Snuffles beispielsweise über Dinge gegenseitig informieren, die sie eigentlich schon wissen: Ich hoffe, die Old Silver Mine, welche für heute unser Ziel ist ... oder Wir waren nur darauf bedacht, schnell vorwärtszukommen (S. 79). Dies ist aber keineswegs unrealistisch; denn in einer Situation wie der der Snuffles, die lange Zeit durch unwirtliche und gefährliche Gegenden reiten, ist es sinnvoll, vielleicht gar ein Bedürfnis, sich miteinander über gemeinsame Absichten und Ziele immer wieder zu verständigen.

Was die Beweglichkeit des Erzählers angeht, kann man auch hier wieder feststellen, daß er gewissermaßen mit den beiden Personen reitet, sonst könnte er nicht über längere Zeit ihr Gespräch verfolgen und es dem Leser wiedergeben.

Zusammenfassend kann man feststellen: Bis zum Beginn der Wiedergabe des Gesprächs ist der Erzählerstandort statisch, die beiden Reiter werden betrachtet, während sie heran- und vorbeireiten, anschließend verläßt der Erzähler seinen imaginären Standort, um sie zu begleiten. Auffällig ist die Sympathie des Erzählers für die beiden. Wieder stellt er sich auf eine Stufe mit dem Leser, indem er seine Allwissenheit geschickt verbirgt, sobald er die Rolle des allwissenden auktorialen Erzählers durch das zeitliche Arrangement der Vorgänge im allerersten Satz des 3.Kapitels festgelegt hat; im 1.Kapitel hatte er noch mehrere Bemerkungen, die auf sein Vorwissen schließen ließen, eingestreut; jetzt hält er sich merklich zurück; es zu zeigen, scheint kaum noch nötig, der Leser müßte inzwischen längst einen festen Bezug zu dem Erzählten gewonnen haben.

Den Anfängen des 1. und 3. Kapitels ist die personenbezogene Erzählweise gemeinsam. Zwar beginnen beide mit Aktion, aber es sind keine spannenden Geschehnisse, sondern Personen werden eingeführt


- 23 -

und genau beschrieben. Das ist in einer speziell für die Jugend verfaßten Erzählung auf den ersten Blick vielleicht überraschend, andere Erzählungen Mays fangen auch durchaus anders an. Aber Jugendliche haben ein Interesse gerade an skurrilen, ausgefallenen Menschentypen, und um solche handelt es sich sowohl bei den Snuffles, als auch bei dem Hobbel-Frank und dem Neger Bob, wogegen Bloody-Fox durch sein einem Erwachsenen gemäßes Verhalten und seine rätselhafte Vergangenheit von Anfang an fesselt. So kann der Erzähler auch bei diesen vergleichsweise geruhsamen Erzählanfängen des Leserinteresses sicher sein.

Was sich bisher aus der Analyse der Erzählerrolle am Anfang des 1. und 3. Kapitels ergeben hat, gilt für die ganze Erzählung, nämlich daß der allwissende auktoriale Erzähler sich selten klar zu erkennen gibt, sondern meist zurücktritt und sein Mehr- und Vorwissen verbirgt hinter der Maske eines interessierten Beobachters, der nur das wiedergibt, was er sieht und hört, und darüberhinaus Vermutungen äußert; dabei erweist er sich allerdings auch als ein großer Kenner der Verhältnisse im Wilden Westen Nordamerikas. Da ist es vielleicht naheliegend, einige der wenigen Passagen zu untersuchen, an denen sich der auktoriale Erzähler deutlich zeigt, wenn die eigentliche Romanhandlung in Gang gekommen ist, wenn es also nicht mehr in erster Linie darum geht, neue Personen einzuführen.

Greifen wir dazu die Begegnung des angeblichen Dragoneroffiziers, der in Wirklichkeit einer der Geier ist, mit Old Shatterhand in Helmers Home heraus (S. 158f.).

Der Dragoneroffizier hatte gesagt, daß er ausruhen wolle. Er tat dies aber, als ihm die eine Giebelstube angewiesen worden war, keineswegs. Er hatte den Riegel vorgeschoben und schritt nachdenklich in dem Raume auf und ab. Dieser letztere lag nach Norden zu, und so kam es, daß er die Ankunft der drei Reiter bemerkt hatte. Er war an das Fenster getreten und betrachtete sie sehr genau. "Wer mögen diese Kerls sein, und wohin mögen sie wollen?" fragte er sich. "Höchst wahrscheinlich haben sie auch die Absicht, durch den Llano zu gehen. Das ist bedenklich. [...]

Meine Uniform ist echt, und wenn Helmers keinen Verdacht geschöpft hat, so werden auch diese Neuangekommenen nicht auf den Gedanken kommen, daß ich der verkleidete Anführer der Llano-Geier bin." Er wartete noch eine Welle und ging dann hinab, um sich zu den Männern zu gesellen, welche jetzt essend vor dem Hause saßen. Dieser verkleidete Dragoner war kein anderer als jener Stewart, welcher gestern mit seinen Leuten die beiden Komanchen angegriffen und verfolgt hatte und dann mit den beiden Snuffles zusammengetroffen war, Die kleine Hasenscharte konnte man heute nicht sehen, weil er sie durch den niederhängenden Schnurrbart verdeckt hatte.


- 24 -

Als er unten ankam, war Old Shatterhand von den gestrigen Vorkommnissen bereits unterrichtet, und Helmers hatte eben erwähnt, daß ein Offizier angekommen sei. Als der Wirt den letzteren erblickte, fuhr er fort:

"Da kommt der Kapt'n. Er kann also selbst erzählen, in welcher Absicht er sich hier befindet. Holla, Frau, noch einen Teller für den Offizier!"

Dieser Ruf galt der Hausfrau, welche am Fenster erschienen war, um nach den Gästen zu sehen. Der Teller wurde gebracht, und der Offizier setzte sich mit zum Essen nieder. Er erschrak nicht wenig, als er die Namen der drei zuletzt Gekommenen hörte, gab sich aber alle Mühe, seinen Schreck nicht bemerken zu lassen. Nichts konnte ihm so unwillkommen wie die Anwesenheit Old Shatterhands sein. Er musterte denselben mit scharfem Blicke; der berühmte Jäger sah das sehr wohl, tat aber ganz so, als ob er es nicht bemerke, und gab sich den Anschein, als ob er der Person des Offiziers nur eine ganz gewöhnliche Aufmerksamkeit widme.

Dieser letztere wiederholte seinen Bericht, den er bei seiner Ankunft gegeben hatte. Es entging ihm dabei, daß Old Shatterhand seinen Hut tiefer in das Gesicht zog und unter der Krempe desselben hervor den Sprecher heimlich betrachtete.

Die Stelle setzt mit einer Rückblende ein, mit der ein Schauplatzwechsel verbunden ist. Der Erzähler versetzt sich in die Kammer, die dem angeblichen Offizier angewiesen wurde, und hört seinem Selbstgespräch zu, bzw. liest in seinen Gedanken. Dann bewegt er sich mit ihm nach unten. Auch dort weiß der Erzähler, was soeben getan und gesprochen wurde, ganz als ob er in zwei Personen gespalten wäre: Während die eine oben in der Kammer weilte, sah und hörte die andere den Leuten im Hof zu. Auch dies ist eine Variante des auktorialen Erzählers, die dem Leser deutlich vorgeführt wird. Der Geist der Erzählung kann an zwei Orten gleichzeitig sein, nur das Erzählen selbst muß als ein Nacheinander erfolgen. Wichtig ist außerdem, daß der Leser etwas erfährt, was nur der auktoriale Erzähler wissen kann: daß der angebliche Offizier in Wirklichkeit derjenige ist, der am vorhergehenden Tag mit den Snuffles zusammengetroffen war. Aber nicht nur das. Er sieht auch Verborgenes, die vom Schnurrbart verdeckte Hasenscharte; genauer gesagt, er sieht sie natürlich nicht, sondern weiß von vorneherein, daß sie da ist. Aus einer rein beobachtenden Erzählsituation heraus könnte der Leser dies nicht erfahren. Und trotzdem wird die Rolle des beobachtenden, an dem Geschehen unmittelbar teilhabenden Erzählers nicht ganz aufgegeben. Dies zeigt sich an den Zeitadverbien: gestern - heute - gestrige Vorkommnisse. Der auktoriale Erzähler müßte statt dessen am vorhergehenden Tag, am Tag vorher - jetzt, in diesem Augenblick - von den Vorkommnissen des letzten Tages, des vergangenen Tages sagen. Gestern dagegen paßt nur zu einem Sprecher, der von den Ereignissen des betreffenden Tages selbst


- 25 -

betroffen ist oder ihnen zumindest beigewohnt hat, d.h. zu einem scheinbar nur beobachtenden Erzähler. Tatsächlich wird also diese Rolle auch da beibehalten, wo dem Leser Informationen zugespielt werden (die wahre Identität des verkleideten Banditen, das Selbstgespräch bzw. die Überlegungen in der Rückblende), über die nur ein allwissender auktorialer Erzähler verfügt. Der Leser braucht solche Informationen, um dem folgenden Gespräch zwischen Old Shatterhand und dem verkleideten Geier aufmerksam und zugleich genüßlich folgen zu können; gleichzeitig soll die Fiktion des unmittelbar anwesenden Erzählers beibehalten werden.

Die Allwissenheit des Erzählers kommt dann allerdings in den folgenden Mitteilungen recht deutlich zum Ausdruck; das Erschrecken des Geiers, als er erfährt, daß er es mit Old Shatterhand zu tun hat, könnte noch von einem anwesenden Erzähler beobachtet werden, nicht aber das Urteil, daß ihm das unwillkommen ist, da ja noch niemand außer dem allwissenden Erzähler (und dem Leser) weiß, daß es sich um einen verkappten Verbrecher handelt; ebensowenig die Bemerkungen, daß der berühmte Jäger sich verstellt und der Geier dessen Verhalten nicht durchschaut.

Blenden wir zum Vergleich kurz zurück zu der Szene, da der angeb1iche Offizier auf Helmers Home ankommt (S. 144ff.):

Er stieg ab und nahm bei ihnen Platz. Sie betrachteten ihn genau, und er tat gar nicht, als ob er das bemerke. [...] Sein Blick war scharf und stechend.

[...]

Helmers faßte zu dem Offizier volles Vertrauen. Er erzählte zunächst, was er von dem Trader gehört hatte, und berichtete dann weiter über das gestrige Duell und den Tod des Fremden.

Der Offizier hörte ihm sehr aufmerksam zu. Seine Züge bewegten sich nicht, aber seine Augen funkelten. Helmers glaubte dies dem Interesse zuschreiben zu müssen, welches der Soldat an dem Zweikampfe nahm. Ein aufmerksamerer Beobachter aber hätte vielleicht bemerkt, daß dieses intensive Aufglimmen der Augen nichts anderes sei als das Funkeln des Zornes, des Hasses. Seine Faust ballte sich um den Griff des Säbels, und einmal war es sogar, als ob seine Zähne ein leises Knirschen hören ließen. Sonst aber blieb er sehr ruhig und gab sich alle Mühe, nichts zu zeigen als nur die gespannte Aufmerksamkeit, welche die Erzählung bei jedem Zuhörer erwecken mußte.

Hier spricht eindeutig der allwissende auktoriale Erzähler, was an vielen sprachlichen Signalen erkennbar ist. Schon die Formulierung Er tat gar nicht, als ob zeigt das deutlich. Niemand von den Anwesenden weiß, um wen es sich wirklich handelt, natürlich auch der Leser nicht. Aber nur einer, der den Fremden durchschaut, kann von


- 26 -

ihm so direkt anzeigen, daß er sich verstellt. Diesmal ist es also der Erzähler, der die Erwartung ausdrückt, der Offizier müsse sich eigentlich anders verhalten. Der über das entsprechende Vorwissen verfügende Erzähler stellt auch Helmers' Irrtum richtig, und zwar in einer Ausdrucksweise (hätte vielleicht bemerkt), die ein scheinbar anwesender Erzähler nicht verwenden würde. Auf diese Weise wird also der Leser auch hier befähigt, Identität und Beziehungen der Personen gleich richtig zu deuten.

Vergleichen wir eine andere Szene, in der zwei feindliche Gruppen einander begegnen, das Gespräch der Snuffles mit einigen Bandenmitgliedern, zu denen auch Stewart gehört (S. 112ff.). Die Szene zieht sich wegen des ausgiebigen Dialogs so lange hin, daß man sie hier nicht zusammenhängend zitieren kann.

Es dominiert zunächst die Haltung des interessierten Beobachters, der registriert, was zu sehen und zu hören ist, auch Vermutungen äußert bzw. Folgerungen zieht: Auch die sechs Diamond-boys hatten jetzt die Pferdegruppe gesehen und hielten sich infolgedessen nun wieder nahe zu den beiden Brüdern. Sie fühlten sich also doch in Gesellschaft derselben sicherer als allein. Einmal nähert sich der Erzähler der Position personalen Erzählens an (S. 117), wenn er die Gedanken Stewarts in Form der erlebten Rede wiedergibt:

Stewart warf einen langen, forschenden Blick auf Jim und Tim. Er schien der Gleichgültigkeit, welche der erstere in Beziehung auf die Leiche zeigte, doch nicht recht zu trauen. Die Snuffles waren als sehr tüchtige Westmänner bekannt: sollten sie wirklich an dem Toten vorübergeritten sein, ohne denselben genau untersucht zu haben und ohne dann Mißtrauen und Verdacht zu hegen?

Das darauf folgende Gespräch Stewarts mit den Diamond-boys (S. 118ff.) wird auf andere Weise mitgeteilt: Stewart warf seinen Gefährten einen schnellen, bezeichnenden Blick zu und bemerkte dann in möglichst gleichgültigem Tone - rief Stewart in gutgespieltem Schreck - er sagte das in so treuherziger und besorgter Weise, daß Gibson sich täuschen ließ. Hier täuscht Stewart andere erfolgreich, seine wahren Absichten sind aus Worten, Mimik und Gestik nicht zu erkennen, sie können nur dem allwissenden Erzähler bekannt sein, woher anders, als aus seiner Planung der ganzen Handlungsführung.

Im Unterschied zu dieser gelungenen Täuschung ist den Snuffles an der vorher besprochenen Stelle von vorneherein klar, daß sie es mit Verbrechern zu tun haben.


- 27 -

Sobald die beiden Snuffles wieder mit Stewart sprechen, (S. 128) und klar wird, daß s i e ihn durchschaut haben, wechselt der Erzähler aus seiner allwissenden Haltung in die des Beobachters: Er sah bei diesen Worten scharf in Stewarts Gesicht; dieser konnte sich nicht ganz beherrschen; es war ihm anzusehen, daß er erschrak.

Bevor wir eine sich hier schon anbietende Erklärung für die beiden unterschiedlichen Varianten, in denen der auktoriale Erzähler agiert (sich als solcher zeigend; als aufmerksamer Beobachter in den Hintergrund tretend), zu geben versuchen, wollen wir uns noch kurz eine auf Helmers Home spielende Szene ansehen. Es handelt sich um die Ankunft eines angeblichen Mormonen (S. 28ff.); wir lassen den Dialog weg:

Eben als Helmers antworten wollte, wurde seine Aufmerksamkeit durch einen sich langsam nähernden Mann in Anspruch genommen, dessen Ankunft erst jetzt, als er um die Ecke des Hauses trat, bemerkt wurde. Er war durchaus in schwarzes Tuch gekleidet und trug ein kleines Päckchen in der Hand. Seine lange Gestalt war sehr schmal und engbrüstig, sein Gesicht hager und spitz. Der hohe Chapeau claque, welcher ihm tief im Nacken saß, gab ihm, zumal er eine Brille trug, im Verein mit dem dunklen Anzuge das Aussehen eines Geistlichen.

Er trat mit eigentümlich schleichenden Schritten näher, griff leicht an den Rand seines Hutes und grüßte:

[...]

Helmers betrachtete den Mann mit einem Blicke, aus welchem zu ersehen war, daß er kein großes Wohlgefallen an ihm fand.

[...]

"Ich heiße Tobias Preisegott Burton und bin Missionar der Heiligen des Jüngsten Tages."

Er sagte das in einem sehr selbstbewußten und salbungsvollen Tone, welcher aber keineswegs den beabsichtigten Eindruck auf den Farmer machte, denn dieser meinte achselzuckend:

[...]

Das war sehr deutlich, ja sogar beleidigend gesprochen. Burton aber behielt seine verbindliche Miene bei, griff abermals höflich an den Hut.

[...]

[Helmers] überflog die Gestalt des Fremden abermals mit einem scharfen, prüfenden Blicke und zog dann ein Gesicht, als ob er etwas nichts weniger als Angenehmes gesehen habe. Der Mormone erhob den Blick gen Himmel, räusperte sich einigermaßen.

[...]

[Es folgt eine sehr beleidigende Rede von Helmers.]

Selbst jetzt tat der Mormone nicht, als ob er sich beleidigt fühle. Er griff zum drittenmal an den Hut und sagte in mildem Tone:

[...]

[Der Fremde] setzte sich an den nächsten Tisch, legte sein Bündel auf denselben, faltete kopfschüttelnd die Hände und senkte ergeben das Haupt, ruhig wartend, was man ihm bringen werde. Er hatte ganz das Aussehen eines Mannes, welchem ein unverdienter Schmerz bereitet worden war.


- 28 -

Auch hier geht es wieder, wie an den bisher besprochenen Stellen, um das Vortäuschen einer falschen Identität. Der Erzähler nimmt die Position des hellwach beobachtenden Zuschauers ein, ganz wie die Personen der Handlung, besonders Helmers, der das Gespräch führt. Klar, daß er als Inhaber einer nahe am Llano gelegenen Farm Fremde kritisch betrachtet, wenn es auch Ausnahmen gibt (s.o. S.25 zur Textstelle S. 144ff.). Auch der Hobbel-Frank hört der Unterhaltung mit Interesse zu (S. 33). Bloody-Fox läßt den Blick keinen Moment von dem Fremden (ebda.); später stellt sich heraus, daß er gute Gründe dafür hatte. So ist verständlich, daß in allen Einzelheiten beschrieben wird, wie der Fremde aussieht, sich bewegt, spricht - all das registrieren die Anwesenden, mit ihnen der Erzähler. Auch die wieder verwendete Form Der Mormone tat gar nicht, als ob ist aus der Sicht dieser Beobachter erklärlich; nach den beleidigenden Ausfällen, die sich Helmers erlaubt, kann jeder eigentlich erwarten, daß der Mormone anders reagiert. Der Erzähler nennt ihn sogar weiterhin so, wie der Fremde sich selbst bezeichnet: der Mormone, als wenn er auch der Täuschung erliege. Nur ein einziges Mal deutet sich Allwissenheit an, als er von dem beabsichtigten Eindruck spricht, den der Mormone hervorrufen will, aber die erzähltechnische Bedeutung dieses Ausdrucks bleibt dem Leser sicher verborgen.

Erhält der Leser also an dieser Stelle keine Hilfe durch den Erzähler, die ihm die richtige Einschätzung des angeblichen Mormonen erlauben würde? Soll er der gleichen Täuschung erliegen wie Helmers, der zwar sein Mißfallen äußert, aber nicht daran zweifelt, daß es sich um einen Mormonen handelt? Das wäre merkwürdig. So enthält die Szene denn auch andere Indizien, die es dem Leser gestatten, dem Fremden gegenüber die richtige Haltung einzunehmen, ihn also nicht für das zu halten, wofür er sich ausgibt, ohne daß ein allwissender Erzähler deutlich in Erscheinung treten müßte. Diese Indizien bestehen darin, daß in der übertrieben frömmelnden Weise, mit der sich der Fremde den anderen anzubiedern versucht, gleich seine Enttarnung durch den Leser angelegt ist. Seine auch für einen Geistlichen ganz unwahrscheinlich sanftmütige Reaktion auf offene, direkte Beleidigung, seine Redeweise, ganz zu schweigen von dem Mißtrauen, das Helmers deutlich zu erkennen gibt: All das verweist fast überdeutlich auf ein Täuschungsmanöver, welches ein offenkundiger Heuchler unternimmt, - nur daß hier die wahre Identität des Fremden noch nicht aufgedeckt wird.


- 29 -

Versuchen wir eine deutende Zusammenfassung:

Wo ein Täuschungsversuch stattfindet, der zunächst Aussicht auf Erfolg hat bzw. zu haben scheint, tritt entweder der allwissende Erzähler deutlich in Erscheinung mit Bemerkungen, die nur er machen kann, oder es wird so erzählt, daß dem Leser eindeutige Hinweise auf die versuchte Täuschung gegeben werden, gleichgültig ob der Versuch gelingt oder letztlich vereitelt wird. Dem Dragoneroffizier gelingt es zunächst, Helmers und die anderen hinters Licht zu führen; erst im Verlauf des Gesprächs mit Old Shatterhand wird er als Lügner entlarvt, wenn das auch noch nicht zweifelsfrei bewiesen werden kann. Die fünf Mörder des Komanchenhäuptlings Feuerstern verbergen ihre wahre Identität erfolgreich gegenüber den Diamond-boys. Wer der "Mormone" Burton wirklich ist, wird auf Helmers Home, trotz mehrfacher Ansätze zur Entlarvung, noch nicht erkannt.

Wo hingegen ein von vorneherein aussichtsloser Versuch, andere über die wahre Identität zu täuschen, gestartet wird, braucht kein allwissender Erzähler einzugreifen. So wird die zweimalige Verhandlung der Snuffles mit den fünf Mördern ausschließlich aus der Position des interessierten Beobachters wiedergegeben, denn die Snuffles haben gleich, als sie die fünf erblickten, ihren Verdacht, der für sie Gewißheit ist, geäußert. Kein allwissender Erzähler muß daher dem Leser Hilfestellung geben, wenn dieser aus dem Gespräch der handelnden Personen erkennt, was für Menschen die Beteiligten sind. Nur wenn diese selbst nicht in der Lage sind, sich sofort Gewißheit zu verschaffen, leistet das der Erzähler für den Leser, indem er eindeutige Signale setzt. Dies erscheint notwendig, wenn der Erzähler ein Interesse daran hat, dem Leser ein möglichst großes Vergnügen bei der Lektüre zu verschaffen, und das ist immer dann der Fall, wenn der Lesende mehr weiß als die handelnden Personen, daher bewußt verfolgen kann, auf welche Weise eine Täuschung ge- oder mißlingt; Spannung auf den Gang, weniger den Ausgang der Handlung wird aufgebaut.

Wollen wir noch einmal auf den Typenkreis Stanzels zurückkommen, so können wir den Erzähler in Der Geist des Llano estakado am ehesten auf dem Drittel, das der auktoriale Erzähler einnimmt, aber in der Nähe des Übergangs zum personalen Erzähler einordnen. Meist wird so erzählt, als ob der Erzähler sich ganz in der Nähe der Personen befinde, mit ihnen genau beobachte und zuhöre, manchmal


- 30 -

übernimmt er sogar ihre Perspektive. In dieser seiner Position kann er alles Geschehen sehr genau verfolgen, er kann es kommentieren, meist in Form von Vermutungen oder Schlußfolgerungen, die sich aus Aussehen, Verhalten und Sprechweise der Personen ergeben. Dabei hat er immer die Bedürfnisse des Lesers im Blick; er unterscheidet genau, wann er diesem mehr oder weniger deutliche Hilfestellung geben muß und wann er ihn mit den Geschehnissen allein lassen kann. Er macht auch deutlich, mit wem er sympathisiert, mit wem nicht, verhilft damit dem Leser behutsam zu einem Standpunkt, von dem aus dieser die Personen und Ereignisse optimal verfolgen und beurteilen kann.

Der Erzähler hat seine Geschichte vollständig im Griff. Er überblickt sie ganz und behandelt ihren Stoff souverän, indem er ihn bewußt nach eigenem Gestaltungswillen strukturiert. Beim Vergleich des Einsatzes des 1. und 3. Kapitels haben wir das gesehen. Da ist der Geist der Erzählung am deutlichsten greifbar; aber auch in anderen Kapiteln, zumal im letzten, in dem sich die einzelnen Personengruppen aus verschiedenen Himmelsrichtungen aufeinander zu bewegen und wo der Erzähler in immer schnellerer Folge große Räume durchmißt, um die weit voneinander getrennt agierenden Gruppen und ihr Tun zu schildern, aber auch ihre Beziehung zueinander zu verdeutlichen. Zum einen scheint er sich in großer Höhe über dem Gesamtgeschehen zu befinden, wie ein Adler, der in schwindelnder Höhe kreist und den ganzen Llano estakado überblickt. Diese Vogelperspektive wird jedesmal ergänzt oder überlagert durch die oben dargestellte Position in der Nähe der Personen, wobei der Erzähler im letzten Kapitel sich zunehmend bewegt, entsprechend der dauernden Bewegung der Personengruppen. Parallel zu diesen vielen Standortwechseln des Erzählers wechseln auch die Erzählzeitpunkte, es kommt zu Rückblenden bzw. zur Betonung der Gleichzeitigkeit von Ereignissen, die natürlich nacheinander erzählt werden müssen. Besonders auffällig ist in diesem Zusammenhang der schnelle Wechsel der Erzählperspektive am Ende der Jagd auf die Geier, als nur noch drei von ihnen, darunter ihr Anführer, übrig sind. Die Lebendigkeit des Erzählvorgangs, die den Leser packt und völlig in Atem hält, rührt nicht allein daher, daß sich die Handlung ihrem Höhepunkt nähert und in dieser Szene schließlich kulminiert; sie wird auch durch die Art des Erzählens erzielt, die man am besten mit einer Filmsequenz vergleichen kann, in der der Eindruck von Be-


- 31 -

wegtheit und Leben durch die Montage, d.h. den dauernden Wechsel des scheinbaren Erzähler- bzw. Kamerastandortes, des Blickwinkels in den Bildausschnitten, erweckt wird.

Wir wollen dazu die betreffende Stelle (S. 298-300) untersuchen.

Bloody-Fox stieg wieder auf und ritt mit ihnen [d.h. mit zehn Komanchen, darunter Eisenherz] weiter, indem er die Oase wieder verließ und draußen an der südöstlichen Ecke des Kaktuswaldes Stellung nahm. Sein Auge blickte forschend nach Norden.

Jetzt erhob sich da oben eine finstere Wand, gegen welche von unten her helle Flammen zuckten.

"Jetzt bringt das Feuer die Geier getrieben", sagte er zu Eisenherz. "Vielleicht findet mein roter Bruder darunter einen der Mörder seines Vaters."

Er nahm das Gewehr zur Hand. Eisenherz tat dasselbe.

Die Wolkenwand näherte sich; noch vor ihr kam das Feuer. Die Luft wurde von Minute zu Minute drückender. Ganz heran konnte das Feuer nicht. Es mußte an der Kaktusgrenze stehenbleiben.

"Uff!" rief einer der Indianer, nach Norden deutend. "Sie kommen." Ja, sie kamen, die "Geier", aber es waren nur noch drei. Die anderen waren unterwegs von ihren Verfolgern ausgelöscht worden. Ihre Pferde trieften vor Schweiß; sie selbst konnten sich kaum noch im Sattel erhalten. Eine Strecke hinter ihnen sah man Old Shatterhand und Winnetou, denen die anderen alle folgten. So kam die wilde Jagd näher. Die beiden letztgenannten strengten ihre Pferde nicht sehr an. Sie wollten die drei letzten Geier für Bloody-Fox und seine Komanchen aufbewahren.

Der erste war Burton, den beiden anderen weit voran. Er sah die Bäume, ein Wunder auf dem Llano, und hielt gerade auf sie zu. Fox lenkte auf ihn ein. Als der Hormone ihn erblickte, schrie er auf vor Entsetzen und schlug auf sein Tier ein, daß es seine letzte Kraft anstrengte, die Bäume zu erreichen.

Jetzt kamen die beiden übrigen. Sie mußten nahe an Eisenherz vorüber, Er erkannte sie, die bei der Ermordung seines Vaters beteiligt gewesen waren. Er zog das Gewehr an die Achsel - zwei Schüsse, und sie stürzten von den Pferden. Er ritt zu ihnen hin, um ihnen die Skalpe zu nehmen.

Indessen jagte Bloody-Fox den frommen Burton, den schlimmsten von allen, vor sich her, auf die Bäume zu, zwischen denselben hin bis vor die Hütte. Dieser Ritt war ein so wilder, daß Fox während desselben sein weißes Büffelfell verlor. Vor der Hütte brach das Pferd des Geiers zusammen und Burton flog aus dem Sattel. Im nächsten Augenblick stand Fox neben ihm, riß das Messer aus dem Gürtel und holte aus, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Aber er fuhr wieder empor und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Beim Sturze hatte sich Burtons indianischer Kopfputz gelöst und zugleich wurde sichtbar, daß er auch sonst eine Perücke getragen haben mußte. Die langen Haare lösten sich vom Schädel und ließen die natürlichen, kurz geschorenen Haare sehen. Sein Gesicht war durch die Anstrengung des Rittes verzerrt und aufgedunsen und seine Augen blickten starr und gläsern zu dem jungen Manne auf - er hatte den Hals gebrochen. Jetzt erkannte Bloody-Fox den Mörder seiner Eltern. Er hatte bei jenem Überfalle den Namen desselben rufen hören, und dieser Name Fox war das einzige gewesen, was von seinem Gedächtnisse festgehalten worden war. Er hatte ihn immer und immer genannt und ihn darum von Helmers als seinen eigenen bekommen.


- 32 -

Wir versuchen einmal, diese Szene in der Art einer Filmsequenz darzustellen(34):

Kamera am Rande des Kaktusfeldes postiert, Halbtotal: Bloody-Fox kommt mit den Komanchen an. (2 Zeilen)

Groß: Kopf des Fox mit den forschend nach Norden blickenden Augen. (3/4 Zeilen)

Total: Die finstere Wand mit den Flammen. (1 1/2 Zeilen)

Kamera etwas hinter den beiden, Total: Fox, Eisenherz, im Hintergrund die Wolkenwand. (2 1/2 Zeilen)

Gleiche Einstellung: Fox und Eisenherz nehmen die Gewehre zur Hand. Wolkenwand nähert sich, Flammen immer näher und größer. (4 1/2 Zeilen)

[insgesamt 8 1/2 Zeilen]

Nah: Ein Indianer erblickt die Fliehenden; sein Ausruf. (1 Zeile)

Total wie oben: Wolkenwand, davor drei Flüchtlinge, dahinter Old Shatterhand, Winnetou und die anderen. (6 Zeilen)

Halbtotal: Old Shatterhand und Winnetou, ruhig reitend. (2 1/2 Zeilen)

Nah: Burton, gehetzt aussehend. (1 Zeile)

Kamerafahrt mit Burton auf die Oase zu, Fox kommt ins Bild, auf Burton zu. (2 Zeilen)

Halbnah: Burton, dessen Aufschrei und Anstrengung. (2 1/2 Zeilen,)

Kameraschwenk zurück auf die beiden anderen Geier: Halbtotal. (1 Zeile)

Nah: Eisenherz, sein Gesicht, es zeigt, daß er die Mörder seines Vaters erkennt. (1 1/2 Zeilen)

Halbtotal: Eisenherz erschießt die beiden, reitet zu ihnen. (2 Zeilen)

Total (Indessen): Fox jagt Burton. (3 Zeilen)

Kamerafahrt oder Zoom auf die beiden zu (von hinten), Fox verliert das Büffelfell. (1 1/2 Zeilen)

Halbtotal: Burtons Pferd bricht vor der Hütte zusammen, Burton fliegt aus dem Sattel. (1 1/2 Zeilen)

Amerikanisch bis Nah: Fox steht neben ihm, holt zum Todesstoß aus. (2 Zeilen)

Nah: Fox fährt auf, sein Entsetzensschrei. (1 Zeile)

Nah: Burtons Perücke fällt herab. (4 1/2 Zeilen)

Groß: Burtons Gesicht mit den weit aufgerissenen Augen. (3 Zeilen)

Groß: Fox' Gesicht, Erkennen zeichnet sich ab. (5 1/2 Zeilen)


- 33 -

Ich hoffe, daß diese Auffächerung der Szene der Art, wie der Erzähler sie arrangiert und dem Leser vermittelt, einigermaßen gerecht wird. Sie verdeutlicht die mitreißende Art, mit der das sich zuerst langsam, dann immer schneller zuspitzende Geschehen erzählt wird. Die Szene ist klar gegliedert, mit rhythmisch wechselnden Einstellungsgrößen, die zum Ende hin immer mehr zur Nah- und Großaufnahme tendieren und die Hauptperson Bloody-Fox und ihren wichtigsten Gegenspieler in den Mittelpunkt stellen. Dem entsprechen die Einstellungslängen: zunächst relativ lange in den Totalen und Halbtotalen, dann kürzere, in Verbindung mit Kamerabewegungen (wirklichen mit Schwenk bzw. Fahrt oder scheinbaren mit Zoom), um am Schluß in einer langen Großaufnahme des Gesichts von Bloody-Fox zu enden. Entsprechend den Kamerapositionen und -bewegungen verändert sich der Standort des Erzählers bzw. Lesers; entsprechend den Einstellungen variiert die Entfernung vom Geschehen. Der auktoriale Erzähler hat diese Szene überlegt arrangiert und strukturiert wie ein moderner Drehbuchautor.

Ebenso bewußt komponiert wie die visuelle Gestaltung der Vorgänge erscheint die akustische. Nicht erwähnt werden Geräusche, die selbstverständlich zu hören sein müßten und die der Leser vielleicht während des Lesens unwillkürlich empfindet: das Knistern und Prasseln der Flammen, das Hufgetrappel, das Keuchen der Reiter, die Schüsse. Aber dafür gibt es vier andere akustische Signale, die ihrerseits auch den Geschehensablauf strukturieren. Zunächst spricht Bloody-Fox zu Eisenherz, erregt, aber doch gefaßt. Wenig später erfolgt der Ausruf eines Indianers. Als drittes hören wie den Entsetzensschrei des Mormonen, und zuletzt erfolgt, fast wörtlich übereinstimmend formuliert, der Entsetzensschrei des Bloody-Fox, beides Reaktionen auf das Erkennen eines seit langem Gefürchteten bzw. Langgesuchten. Akustischer Höhepunkt der ganzen Erzählung, zwiefach ausgestoßener Schrei zweier Ausnahmemenschen, eines schrecklichen Verbrechers und eines mit rätselhaftem und grausamem Schicksal geschlagenen Jugendlichen. Das ist so mitreißend, daß sogar der Erzähler ganz konsterniert erscheint. Er weiß zwar, daß der Verbrecher Burton auch unter dem Namen Stealing-Fox sein Unwesen getrieben hat, aber er teilt es dem Leser nicht mit, so daß dem eigentlich nicht ganz klar sein dürfte, wieso Bloody-Fox den Namen Fox behalten hat von einem Verbrecher, der bisher immer nur Burton genannt wurde, Erst etwas später nennt Ben New-Moon den Namen Stealing-Fox in bezug auf Burton.

Das ist ein etwas kurioser Beweis dafür, daß auf den Leser an die-


- 34 -

sem Endpunkt der Jagd auf die Geier keine Rücksicht mehr genommen wird; es werden ihm keinerlei Hilfen mehr gegeben, mit denen er sich zurechtfinden könnte. Die Ereignisse überschlagen sich, lassen den Leser nicht zur Besinnung kommen (und den Erzähler auch einmal nicht!). Aber der Leser müßte längst auf diese rasante Erzählweise vorbereitet und eingestimmt sein: Inhaltlich, indem sich die bisherige Erzählung eindeutig auf dieses Finale zugespitzt hat; erzähltechnisch, indem der Leser auf alle mögliche Weise in den Stand gesetzt wurde, sich auf verschiedenste Aktionen einzustellen; emotional, indem er dazu gebracht wurde, die endgültige Vernichtung der Geierbande und vor allem ihres Anführers zu erwarten, ja regelrecht herbeizusehnen; psychisch durch den Umstand, daß er nur noch wenige Seiten zu lesen hat, die Anspannung also bald gelöst sein wird. Alle Fronten sind klar, der Ereignisraum ist überschaubar geworden, das Personal auf wenige Hauptakteure reduziert, die Erzählung neigt sich dem Ende zu: Der Leser kann sich somit ganz dem distanzlosen Miterleben der Hetzjagd auf den Hauptverbrecher hingeben.

Wir wollen jetzt einen neuen, bisher nur angedeuteten Aspekt der Erzählerrolle untersuchen: Wie steht der Erzähler zum Geschehen und zu seinen Personen, wie zeichnet er sie? Vor allem: Wie sieht seine Beziehung zu den jugendlichen Protagonisten aus? Am meisten interessiert uns da natürlich die Titelfigur, der Geist des Llano estakado, der niemand anders ist als Bloody-Fox. Besonderes Interesse dürfte diese Frage angesichts der oben (S. 3) zitierten Bedenken gegenüber diesem jungen Helden finden. Teilt der Erzähler diese Vorbehalte, will er gar dem Leser solche einflößen oder wird es dem Leser leicht gemacht, unabhängig vom Erzählerverhalten eine kritische Distanz zu Bloody-Fox, dem jugendlichen Rächer, zu entwickeln? Schauen wir uns einige Situationen an, in denen das Verhalten des Bloody-Fox im Vordergrund steht, und untersuchen wir, wie der Erzähler diese Situationen arrangiert, d.h. ja wohl, wie der Leser diese Gestalt und ihr Tun sehen und beurteilen soll. (S.269f., 282f., 285-287)

[Bloody-Fox kommt zur Oase.] Er sah sehr blaß und ermüdet aus; sein Pferd schwitzte am ganzen Körper und hatte einen müden, stolpernden Gang. Beide mußten ungewöhnlich angegriffen sein. "Weicome, Massa!" empfing ihn die Alte [d.i. die Negerin Sanna]. "Sanna gleich bringen Essen; Sanna schnell machen!"

"Nein, Sanna", antwortete er, indem er sich aus dem Sattel schwang. "Fülle die Schläuche, alle, alle! Das ist das notwendig-


- 35 -

ste, was jetzt geschehen muß."

"Warum Schläuche? Für wen? Warum Massa Fox nicht essen? Er doch haben müssen ein sehr groß Hunger!"

"Allerdings habe ich den; aber ich werde mir selbst nehmen, was ich brauche. Du hast keine Zeit dazu. Du mußt die Schläuche füllen, mit denen ich augenblicklich aufbrechen werde."

"Jessus, Jessus! Schon wieder fort? Warum alt Sanna stets ganz allein lassen mitten in groß, weit Estakado?"

"Weil sonst ein ganzer Zug fremder Einwanderer verschmachten muß. Diese Leute sind von den Geiern irregeführt worden."

"Warum haben Massa Fox sie nicht besser führen?"

"Ich konnte nicht an sie, denn sie werden von so zahlreichen Geiern umschwärmt, daß ich dem sichern Tode verfallen wäre, wenn ich es gewagt hätte, die Kette zu durchbrechen, welche sie bilden."

"So werden töten sie die arm, gut Emigrant!"

"Nein. Es kommen kühne und starke Jäger von Norden her, auf deren Hilfe ich mit Sicherheit rechne. Aber was nützt diese Hilfe, wenn kein Wasser vorhanden ist! Die Emigranten würden verschmachten, obgleich sie von den Geiern befreit worden wären. Also Wasser, Wasser, Sanna, und zwar schnell! Ich belade sämtliche Pferde mit den Schläuchen. Nur den Rappen hier muß ich zurücklassen. Er ist zu sehr ermüdet."

[...]

[Fox nähert sich einer Gruppe von Menschen, die er für die Emigranten hält, bis er erkennt, daß es die Geier sind.]

"Heavens!" rief er aus. [...] "All devils! Das sind die Llano-Geier, denen ich gerade in die Fänge geritten bin! Sie wollen mich fassen. Mit so vielen kann ich es nicht aufnehmen. Ich muß also die Flucht ergreifen."

[Er verliert die das Wasser tragenden Pferde und erschießt dafür zwei seiner Verfolger.]

"So, nun vorwärts! Jetzt kommen sie mir wohl nicht wieder nahe. Ich kann nun für die Schmachtenden nichts anderes tun, als daß ich Old Shatterhand zu finden suche und ihn auf ihre Fährte bringe."

[...]

[Der Hobbel-Frank] wurde von einem Ausrufe Old Shatterhands unterbrochen. Dieser letztere deutete mit seiner ausgestreckten Hand nach Süden und sagte:

Dort kommt ein Reiter, ein einzelner Mann. So ganz allein hier zu reiten, dazu gehört eine große Kühnheit und eine außerordentliche Kenntnis des Llano estakado."

"Wer mag er sein?" fragte Tim. "Er scheint sich so schnell wie möglich von außen herum an uns heranschlängeln zu wollen."

Old Shatterhand hielt sein Pferd an, zog sein Fernrohr aus der Satteltasche, richtete es auf den Reiter, welcher im gestreckten Galopp näher kam, ließ es dann wieder sinken und sagte im Tone der Freude:

"Es ist der Bloody-Fox, der uns so lang entschwunden war. Erwarten wir ihn hier!"

Nach kurzer Zeit erkannte Fox die einzelnen Personen der Truppe. Er schwenkte den Arm zum Gruße und rief bereits von weitem: "Welch ein Glück, daß ich euch treffe, Mesch'schurs! Ich muß um eure schnelle Hilfe bitten."

"Für wen?" fragte Old Shatterhand.

"Für einen Zug von meist deutschen Auswanderern, welche höchst wahrscheinlich noch heute nacht von den Geiern überfallen werden sollen."


- 36 -

Bei diesen Worten war er herangekommen, hielt sein Pferd an und reichte den Männern die Hand zum Gruße.

"Jedenfalls dieselben, welche wir suchen", nickte Old Shatterhand.

"Wo sind sie?"

"Im Südost von hier. Sie scheinen gerade auf das große Kaktusfeld zuzuhalten."

"Das kenne ich nicht."

Es ist das größte des ganzen Llano. [...]

"Wie weit haben wir zu reiten, um die Leute einzuholen?"

"Im Galopp über drei Stunden lang."

"Well, dann vorwärts! Wir wollen keine Zeit verlieren. Sprechen können wir auch während des Reitens."

Nun jagte die kleine Schar wie im Sturme über die Ebene dahin. Bloody-Fox hielt sich an Old Shatterhands Seite und erzählte ihm sein Zusammentreffen mit den Geiern und den Verlust seiner vier Pferde. Der Jäger sah ihn von der Seite an und sagte mit einem bezeichnenden Lächeln:

"Fünf Pferde habt Ihr, Fox? Hm! Hier mitten in dem Llano? Ist auch dasjenige dabei, auf welchem da kürzlich der Avenging-ghost an uns vorüberritt?"

"Ja, Sir", nickte Fox.

"Dachte es mir!"

"Das Geheimnis ist ja doch nicht mehr festzuhalten, da Ihr auf alle Fälle nun mein Geisternest zu sehen bekommt. Auch werde ich nicht mehr nötig haben, Komödie zu spielen, da es uns nun hoffentlich gelingen wird, die ganze Bande bis auf den letzten Mann auszurotten, Es fehlt mir nur noch einer, einer, einer!"

"Welcher?"

"Der Anführer von damals, als ich allein von allen übrig blieb."

"Wer weiß, wo seine Gebeine schon längst bleichen. Fox, Ihr seid trotz Eurer Jugend doch ein wahrer Held. Ich habe Respekt vor Euch. Später mögt Ihr uns einmal alles ausführlich erzählen. Schon jetzt aber weiß ich, was für ein Mann Ihr seid und mit welchen Gefahren Ihr siegreich gerungen habt."

Bloody-Fox muß eingestehen, daß er allein der Aufgabe, die er sich gestellt hat, nicht gewachsen ist.

Wie präsentiert der Erzähler den anderen Personen der Handlung sowie dem Leser diese Einsicht des jungen Mannes? Dafür gäbe es verschiedene Möglichkeiten. Er könnte einige der beteiligten Personen von sich aus auf die Hilflosigkeit des Fox hinweisen und ihn vor allen anderen fühlen lassen, daß er auf sie als Helfer angewiesen ist. Dies könnten sie mit mehr oder weniger Häme tun, hat er sich doch bisher Erwachsenen gegenüber so herrisch und selbstherrlich gezeigt. Für eine solche - wenn auch nicht hämische - Form der Zurechtweisung in seine Schranken käme am ehesten Old Shatterhand in Frage, der sich dadurch für die lakonische Abfuhr, die er in der Geisterstunde (S. 209) erfahren hatte (dazu weiter unten, S. 43), revanchieren könnte. Diese Möglichkeit wird in den Ich-Erzählungen Mays häufig genug praktiziert, wo das Ich jede Gelegenheit ergreift, seinen Gefährten ihre Fehler und Versäumnisse vorzuhalten. Gelegentlich übernimmt auch Winnetou diese Rolle, die ihm aller-


- 37 -

dings weitaus weniger rechthaberisch gerät als dem Ich-Erzähler. Eine andere Möglichkeit bestände darin, daß Fox in die Hände der Geier fiele und erst im letzten Augenblick von Old Shatterhand und den Gefährten befreit würde, was ihm die Notwendigkeit, sich in eine Gruppe zu integrieren, handgreiflich vor Augen führte, eine sicher wirksamere Lehre als verbale Vorhaltungen. Opfer solcher praktischen Zurechtweisungen sind etwa Old Wabble im Surehand I und die Snuffles im Silberlöwen I. Aber auch in den Jugenderzählungen kommt dieser Fall vor, so in Der Sohn des Bärenjägers, wo gerade die gegen Befehl und Rat Old Shatterhands handelnden Jugendlichen in die Gefangenschaft feindlicher Indianer und damit in höchste Lebensgefahr geraten, aus der sie erst im buchstäblich letzten Augenblick gerettet werden.

Drittens könnte der Erzähler selbst dem Leser kommentierend zu verstehen geben, wie sich Bloody-Fox in seinem Streben nach Eigenständigkeit, ja in seiner Eigenmächtigkeit verrannt hat. Was den Hobbel-Frank angeht, verhält sich der Erzähler so, wenn er ihn mit leiser Ironie als zürnenden Achill bezeichnet (S. 192) und ihn so kritisiert. Aber der kleine Sachse ist grundsätzlich starker Kritik ausgesetzt und nicht solches Identifikationsobjekt für den Leser wie Bloody-Fox.

Alle diese Mittel, den jungen Mann in seine Schranken zu weisen, werden vom Erzähler nicht genutzt. Dieser erscheint vielmehr wie ein wohlwollender Zeuge des Geschehens und der Überlegungen des Fox und arrangiert die Szene so, daß der Jugendliche nicht nur heil und ungeschoren davonkommt, sondern sogar noch aufgewertet wird. Zunächst einmal läßt er ihn selbst zur Einsicht gelangen, daß er auf Helfer angewiesen ist. Allerdings verliert er darüber nicht seine Tatkraft. Als er dann seinen Irrtum erkennt - die vermeintlichen Emigranten entpuppen sich als Banditen -, bleibt er ruhig und gefaßt und macht kehrt, um Old Shatterhand zu suchen, nicht ohne vorher kaltblütig noch zwei Geier zu erschießen.

Die dritte Textstelle ist in unserem Zusammenhang die heikelste. Wie wird der Erzähler die Reaktion der anderen gestalten, wenn Fox mit ihnen unmittelbar konfrontiert wird und sie um Hilfe angeht, er, der bisher alle Unterstützung so schroff abgewiesen hat, sogar dem großen Jäger gegenüber? Verurteilt dieser das als jugendliches Ungestüm, läßt er ihn wenigstens im Zwiegespräch die Überlegenheit des Erwachsenen spüren? Nichts davon! Wieder legt der Erzähler die Szene so an, daß Fox nichts von der Sympathie verliert, welche ihm die handelnden Personen, der Erzähler und der Leser bisher entge-


- 38 -

gengebracht haben. Das gelingt durch die Wahl der Perspektive, durch die Direktheit des Fox und durch das Zeitgefüge der Szene. Am stärksten wirkt dabei die Perspektive. Die Annäherung des Bloody-Fox wird aus der Sicht Old Shatterhands geschildert. Er entdeckt als erster den einsamen Reiter, ohne zu wissen, um wen es sich handelt, und spricht sogleich ein Lob aus über seine Kühnheit und seine Kenntnisse. Diese Charakteristik des Einzelgängers als eines kühnen und kenntnisreichen Mannes ist die Bedingung für die folgende Reaktion Old Shatterhands, als er Fox - den er noch nie richtig gesehen hat (bei der bisher einzigen Begegnung in der Geisterstunde hatte Fox ja das Büffelfell über dem Kopf) - erkennt, indem er wiederum auf eine besondere Qualität des Jugendlichen verweist, nämlich seine Selbständigkeit (Bloody-Fox, der uns so lange entschwunden war). Nach so positiver Bewertung ist jedem denkbaren Tadel gegenüber Fox praktisch der Boden entzogen. Daß Old Shatterhand übrigens seinen Namen nennt, hängt wieder mit der situativen Erzählweise zusammen. Zum einen wissen Erzähler und Leser, daß es sich um Fox handelt, somit sind keine langen Umschweife nötig, diesen vorzustellen; zum anderen erfordert es die Anlage der Szene, daß Old Shatterhand sein Lob namentlich auf Fox abstellt, dessen Entlastung und Rechtfertigung offensichtlich erklärtes Ziel des Erzählers ist.

Danach läßt der Erzähler den Ankommenden selbst ohne Umschweife, ohne jede Beschönigung seine bedrängte Lage gestehen und sein Hilfegesuch aussprechen. Schließlich ist die Situation auch zeitlich so konstruiert, daß Hilfe schnell geleistet werden muß (Fox hat die Pferde mit dem Wasser verloren!), weshalb gar keine Zeit bleibt, unangenehme Fragen zu stellen oder einen Tadel zu äußern. Es werden nur die nötigsten Informationen ausgetauscht, wobei die überlegene Ortskenntnis des Fox herausgestellt wird, da selbst der berühmte Westmann das große Kaktusfeld nicht kennt. So sind alle Voraussetzungen geschaffen, daß während des schärfsten Galopps von Fox selbst die Integration in die Gemeinschaft anerkannt wird, als wenn dies das Selbstverständlichste von der Welt wäre, aber ohne daß er seine Individualität und Selbständigkeit aufgibt. Der Hinweis auf die Geier veranlaßt das große Lob Old Shatterhands, das die zitierte Stelle abschließt. Die gesamte Konstruktion des Geschehens, in das dieses Gespräch eingebettet ist, verhindert jede Zurechtweisung, die trotz allem aus der Sicht des Erwachsenen berechtigt sein könnte; sie provoziert statt dessen Lob und Anerken-


- 39 -

nung, die sich vordergründig auf den gefährlichen Kampf des Fox gegen die Banditen beziehen, eigentlich aber seine Fähigkeit zur Einsicht, daß er den Beistand anderer akzeptieren und in Zukunft auf seine Selbstisolierung verzichten muß, betonen. So wird er unter die Erwachsenen aufgenommen und wird schließlich am Ende der Geschichte allen Teilnehmern des Zuges seine bisher geheimgehaltene Oase, sein Refugium und Versteck, öffnen.

Auch bei einer anderen Gelegenheit, als die unerbittliche Haltung des Bloody-Fox, die so gar nicht im Sinne Old Shatterhandscher Humanität ist, deutlich wird, bewährt sich die freundschaftliche Einstellung, die der Erzähler bei der Anlage der Erzählsituation an den Tag legt(35). Gemeint ist der Zweikampf des Fox gegen einen der Geier auf Helmers Home. Der Erzähler verhält sich hier scheinbar wie ein neutraler Zeuge, verrät aber durch die Gestaltung der Szene doch seine Sympathie für seinen Helden. (S. 74-76)

Die Tötung des Verbrechers wird von dem vorher als rechtlich denkender Mann eingeführten Helmers entschuldigt:

"Einen Getöteten vor sich zu haben, ist kein erfreulicher Anblick, und selbst der ärgste Schurke bleibt doch immerhin ein Mensch; aber Gerechtigkeit muß sein, und wo das Gesetz keine Macht hat, da ist man eben gezwungen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Und hier ist zudem von einem Akt der Lynchjustiz gar keine Rede, denn Bloody-Fox hat ihm die gleichen Chancen gelassen. Es ist bewiesen, daß er ein Mörder ist. Gott sei seiner Seele gnädig!"

Im Wilden Westen erweist sich Humanität im chancengleichen Zweikampf; außerdem in einem gewissen Schauer beim Anblick eines Toten, wenn auch dieser dann nur eingescharrt wird. Bevor sich der Leser Gedanken darüber machen kann, ob des Farmers Argumentation wirklich überzeugend ist, ob tatsächlich bewiesen ist, daß der Fremde ein Mörder war, nur weil er das Gewehr eines Ermordeten besaß, was schließlich nur ein Indiz ist, lenkt der Erzähler schnell den Blick auf einen neuen aufregenden Vorgang, indem er den Mormonen entfliehen läßt. Das veranlaßt Fox zu einem ebenso schnellen Aufbruch und zu rüdem Abschied: Er stieg auf und trabte davon, ohne jemand die Hand gereicht zu haben. Die leise Kritik, die der Juggle-Fred an diesem Verhalten übt, lenkt zunächst gänzlich von der Frage ab, ob die Tötung des Geiers wirklich rechtmäßig war; und sogar diese leise Kritik wird von Helmers zurückgewiesen, der die Handlungsweise des Fox verständnisvoll rechtfertigt:

"Lassen wir ihn! [...] Ja, er ist jung, aber er nimmt es mit manchem Alten auf, und ich bin überzeugt, daß er über kurz oder lang diesen Master Tobias Preisegott Burton und vielleicht auch noch andere beim Kragen hat!" (S. 76)


- 40 -

Wie beurteilt der Erzähler nun die offensichtlichen Lynchmorde, die Bloody-Fox begeht, wenn er in der Wüste - manchmal eindeutig aus dem Hinterhalt, wie ein Heckenschütze - die Banditen mit seinem berühmten Schuß in die Stirn tötet? Er läßt die handelnden Personen für die Morde Entlastungsgründe liefern. Außerdem werden die Geier als besonders niederträchtig geschildert, da sie ihre arglosen Opfer in die Wüste locken und dem Tod des Verschmachtens preisgeben. Nicht zuletzt ist auch der wilde Charakter der Landschaft zu bedenken(36), in die Verbrechen und Strafe irgendwie eingebunden erscheinen, was durch das Fehlen von Rechtsstaatlichkeit, Gesetzen bzw. einer Staatsgewalt, die letzteren Geltung verschaffen könnte, noch verstärkt wird - alles Verhältnisse, die eine Selbstjustiz, wie sie Bloody-Fox ausübt, direkt zu fordern scheinen. Aber man gewinnt trotz allem den Eindruck, daß dem Erzähler selbst bei der Schilderung dieser Aktionen etwas unheimlich zumute ist, denn er geht merkwürdig schnell darüber hinweg. Diese distanzierte Haltung des Erzählers läßt sich aus einem strukturellen Befund bestätigen, wenn wir die zwei kurzen Szenen dieser Erzählung untersuchen, die in geschlossenen Räumen spielen und in denen die einzigen echten Selbstgespräche vorkommen.

Da ist einmal die schon oben (S. 23f.) zitierte Stelle, an der sich der angebliche Dragoneroffizier in eine Giebelstube von Helmers' Haus begibt (Geist, S. 158f.).

An der zweiten Stelle betritt Bloody-Fox das Passifloren-Häuschen der Oase und betrachtet nachdenklich das Büffelfell und die Messer der von ihm getöteten Geier (S. 270f.).

Fox ging nach dem Häuschen und trat durch die von den Passifloren eng umrahmte Tür. Das Innere bestand aus einem einzigen Raume.

[...]

Unter dem Dache hingen Stücke geräucherten Fleisches und an den Wänden alle Arten von Waffen, welche in dem Westen zu sehen und zu haben sind. [...] Den größten Schmuck der Stube bildete die dick zottige Haut eines weißen Büffels, an welcher der Schädel gelassen worden war. Sie hing der Tür gegenüber, und zu beiden Seiten von ihr steckten wohl über zwanzig Messer in der Wand, in deren Horn und Holzgriffen verschiedene Zeichen eingeschnitten waren.

[...]

Bloody-Fox trat zu dem Felle, strich mit der Hand an demselben herab und sagte zu sich:

"Die Uniform des 'Geistes', daneben die Messer der Mörder, die von seiner Kugel fielen --- sechsundzwanzig schon. Wann aber werde ich den entdecken, der mehr als sie alle den Tod verdient? Vielleicht nie! Pshaw, noch hoffe ich, denn der Bösewicht pflegt von seinem Gewissen immer und immer wieder zur Stätte des Verbrechens zurückgetrieben zu werden. Jetzt muß ich eine Viertelstunde lang ruhen."


- 41 -

Er warf sich auf das eine Lager und schloß die Augen, doch nicht, um zu schlafen. Was für Bilder mochten an der Seele dieses noch so jungen Mannes vorüberziehen!

Vergleichen wir die beiden Szenen, in denen zwei wichtige Gegenspieler ihre Selbstgespräche führen.

Stewart befindet sich, auf Böses sinnend, im Hause eines rechtschaffenen Mannes, und zwar in einer Wohn- und Schlafstube. Diese befindet sich direkt unter dem Dach. Stewart hat sich die Dragoner-Uniform angezogen, die er ausdrücklich als echt bezeichnet und mit deren Hilfe er die anderen Menschen täuschen will. Sie sollen in ihm nicht den Banditen erkennen und seine bösen Pläne nicht durchkreuzen können. Die Giebelstube bietet freien Ausblick in die Weite, just in die Richtung, aus der Old Shatterhand mit seinen zwei Begleitern kommt. Stewart bemerkt daher dessen Annäherung, bereitet sich auf die Ankömmlinge vor und faßt einen Plan, wie er sie in seine verbrecherischen Pläne einspannen kann. Aber weil er Old Shatterhand nicht erkennt, wird sein Täuschungsmanöver mißlingen; sein erhöhter Standpunkt in der Giebelstube wird ihm also nichts nützen.

Bloody-Fox tritt in sein eingeschossiges Häuschen, bleibt also zu ebener Erde. Er hat vor, sich kurz auszuruhen, bevor er sich mit Wasserschläuchen zur Hilfeleistung für die Emigranten aufmacht. Die Stube ist unter anderem mit vielen Zeichen des Todes versehen: Waffen und vor allem Messern der Getöteten sowie der Büffelhaut, mit der der verkleidete Fox sein geheimnisvolles Rächerhandwerk betrieben hat. Auch er denkt über die Zukunft nach, vor allem über die Frage, ob er sein Lebensziel, die Rache am Mörder seiner Eltern, erreichen kann. Der Fortgang der Ereignisse zeigt, daß ihm dies gelingen wird.

Was verbindet diese beiden Szenen, die in der Erzählung ziemlich weit auseinanderliegen und auf den ersten Blick außer Äußerlichkeiten (geschlossener Raum, Selbstgespräch über Pläne) kaum etwas miteinander gemein zu haben scheinen? Auffallend ist zunächst das Wort, mit dem beide Protagonisten ihre Verkleidung bezeichnen: Uniform. Der Begriff trifft sachlich richtig die Tarnkleidung Stewarts; für das Büffelfell des Fox ist es überraschend, daß dieser ihm einen solchen Namen gibt(37). Vielleicht aber ist das gerade aus der parallelen Gestalt der beiden Szenen zu erklären und zu rechtfertigen. Beide Kleidungsstücke dienen der Tarnung und Täuschung: in Stewarts Fall dem Verbergen der verbrecherischen Absichten, in


- 42 -

Fox' Fall der Sicherheit des jungen Mannes und dem Erschrecken der Banditen, die in Aufregung versetzt werden sollen, damit es der Einzelgänger Fox leichter hat. Im ersten Fall verbirgt die Uniform vor den meisten Menschen tatsächlich, wer wirklich unter ihr steckt; nur Old Shatterhand durchschaut die Tarnung. Im zweiten Fall verbirgt das Fell nur vor den Unverständigen, daß sich ein Mensch unter ihm befindet, die verständigen Betrachter wissen, daß dies der Fall sein muß. Hier dominiert die bergende Funktion; der Schreck soll die Geier, die bloße Vermummung soll die Gutgesinnten daran hindern, Bloody-Fox zu erkennen. Ein weiterer Unterschied: Stewart gebraucht die Tarnung, um Missetaten vorbereiten zu können, Fox benutzt sie, um Gutes zu tun, zumindest so, wie er es versteht. Beiden gemeinsam ist das Mittel und der äußerliche Zweck: mit Tarnung zu töten; zu unterscheiden ist das Motiv der beiden, bzw. der Endzweck ihres Tuns. Die gleiche Benennung ihrer Tarnkleidung als Uniform verweist aber auf die gefährliche Nähe des Tuns der beiden, legt man moralische Maßstäbe an. Auch bei Fox kann man fragen, ob der Zweck die Mittel heiligt. Das strukturelle Element der auffälligen Parallele zwischen diesen beiden Szenen zeigt, wie differenziert das Problem der Lynchjustiz in dieser Erzählung gestaltet ist. Nun wird der jugendliche Leser solche Überlegungen schwerlich anstellen, fällt ihm doch der parallele Gebrauch des Wortes Uniform und dessen Bedeutung sicher nicht auf. Zu deuten ist die sich darin zeigende Zurückhaltung des Erzählers bei der Wertung der Lynchjustiz des Fox aber gewiß so, daß er einerseits die objektive Fragwürdigkeit dieses Tuns nicht leugnen kann, andererseits jedoch das Verhalten des Fox auch wieder verständlich findet.

Nun stellt sich die Frage, ob die Figur des Bloody-Fox im Hinblick auf den jugendlichen Leser als problematisch zu bezeichnen ist. Man muß dabei beachten, daß es sich ersichtlich nicht um eine "heile" Abenteuerwelt handelt, mit makellosen Gestalten als Helden, mit denen sich der Leser distanz- und reflexionslos identifizieren kann und soll, sondern mit durchaus fehlbaren Menschen, denen man kritisch gegenüberstehen muß und die gerade deshalb -bei aller phantastischen Erfindung des Autors May - als Menschen von Fleisch und Blut erscheinen. Hier erinnere man sich der Stelle in Mein Leben und Streben (zitiert oben S. 4), an der May sich über die Helden äußert, die seiner Meinung nach im guten Jugendbuch vorkommen sollen, und man wird zugeben, daß Bloody-Fox unter den gegebenen Umständen so handeln muß, wie er es tut. Gleichzei-


- 43 -

tig kann man feststellen, daß sich May hiermit endlich einmal an seine löblichen theoretischen Einsichten gehalten hat.

Ganz deutlich wird diese Einschätzung am Schluß der Erzählung. Bis dahin hört man gerade von Old Shatterhand immer wieder die Mahnung, man dürfe Menschenblut nur dann vergießen, wenn es gar nicht zu vermeiden ist. Das könnte als eine immerhin indirekte Kritik an dem mörderischen Tun des jungen Mannes aufgefaßt werden. Aber dann folgt der vor diesem Hintergrund merkwürdige, ja bestürzend anmutende Befehl Old Shatterhands: "Schießt nicht auf die Pferde, sondern auf die Reiter!" (S. 294) Diese Aufforderung ist nur aus der Anlage der Situation und dem daraus resultierenden Verhältnis des berühmten Jägers und Menschenschoners zu dem jungen Rächer Bloody-Fox zu verstehen und zu erklären, und das ist eben Frucht des bewußten Arrangements durch den Erzähler. Damit schlägt dieser endgültig die emotionale Brücke zu seinen Lesern. Indem Old Shatterhand an dieser Stelle die Einstellung des Fox zu seiner eigenen und endlich mit der Vernichtung der Geier-Bande Ernst macht, fallen Ethos und Wunschhandeln beim jungen Leser zusammen. Am Ende der Erzählung weiß sich dieser mit Old Shatterhand im Einklang, weil der Erwachsene endlich so konsequent handelt, wie es der Leser schon längst getan hätte, säße er nicht in seinem Zimmer zwischen Schulbüchern und -heften, die er heimlich zugunsten der Abenteuererzählung vernachlässigt. Humanität, Langmut, Verzeihen sind ja schön und gut, aber in bestimmten Lagen hilft nun mal nur Dreinschlagen und die radikale Ausmerzung des Bösen. Hier ist der Jugendliche einmal unausgesprochen zum Vorbild für den Erwachsenen geworden.

Daß diese Sicht keineswegs abwegig ist, zeigt ein Blick auf eine Szene, die schon einmal erwähnt wurde (oben S. 36). Bloody-Fox, auf seiner Flucht vor den Geiern von Old Shatterhand angerufen, gibt auf dessen Schutzangebot die selbstbewußte Antwort: "Der Avenging-ghost bedarf keines Schutzes. Ich danke euch!" (S. 209) Wie reagiert Old Shatterhand darauf? Mit keinem Wort antwortet er auf diese kurze Abfertigung, sondern wappnet sich, den vordersten Verfolger mit dem Lasso zu fangen. Vordergründig, sozusagen kampftechnisch, aber auch situativ gesehen, könnte man dies damit erklären, daß die Situation schnellstes Handeln erfordert. Ein Blick auf die von May entworfene Erzählerrolle gibt aber weitere, überraschende Einsichten. Man erinnere sich, wie in dieser und anderen Erzählungen Mays Freund und Feind auf die Aussage: "Ich bin Old Shatterhand!" reagieren. Freunde erstarren in Hochachtung


- 44 -

oder freudigem Schreck, Feinde geraten in Panik, verlieren alle Entschlußkraft, erstarren manchmal regelrecht zu Salzsäulen. Der Name allein hat die magische Wirkung des Zauberworts in alten Märchen: Er bannt die ganze menschliche Umgebung und macht den Namensträger zum unumschränkten Herrn der Lage. Wie anders hier! Der Name hat überhaupt keine Wirkung, der Reiter äußert herablassenden Dank und verschwindet, als ob der berühmte Jäger gar nicht da wäre. Ja, mehr noch: Mit der (klein geschriebenen) Anrede euch spricht er nicht einmal Old Shatterhand allein an, sondern auch dessen Begleiter, stellt ersteren also auf die gleiche Stufe wie die letzteren. Auch der Erzähler hält es nicht für nötig, nur mit einer einzigen Geste diese einzigartige und ungestrafte Mißachtung der das ganze Werk der Mayschen Reise- und Abenteuererzählungen beherrschenden Figur zu kommentieren.

Nun könnte man einwenden, daß es in den Reiseerzählungen und auch in den Erzählungen für die Jugend öfters Fälle von Ungehorsam, ja Aufsässigkeit gegenüber Old Shatterhand gibt, wobei die Protagonisten versuchen, auf eigene Faust das zu erreichen, wovon Old Shatterhand behauptet, daß es nur mit ihm und unter seiner umsichtigen Leitung gelingen könne. Ein eklatantes Beispiel dafür enthält die Bärenjäger-Erzählung, in der sich Martin Baumann, Wokadeh, Frank, Jemmy und Davy gegen den ausdrücklichen Willen Old Shatterhands aufmachen, Martins Vater und dessen Gefährten zu befreien. Aber dieser Ungehorsam zeitigt auch prompt schlimme Folgen. Erstens müssen die Ungehorsamen ihr Verhalten bitter büßen, indem sie ihrerseits in Gefangenschaft geraten, wo ihr Leben nur noch an einem seidenen Faden hängt. Zweitens wird über dieses augenfällige Geschehen hinaus noch ganz deutlich gemacht, daß sie diese Folgen nur ihrer Eigenmächtigkeit zu verdanken haben, daß sie also besser daran getan hätten, brav bei Old Shatterhand zu bleiben. Für uns wichtig ist die Feststellung, daß der Erzähler im Bärenjäger ganz derselben Meinung ist, denn er spricht von den fünf kühnen oder vielmehr leichtsinnigen Deserteure[n](38). Etwas später werden die vier Weißen von ihm als unvorsichtige Männer bezeichnet(39). Ganz anders in Der Geist des Llano estakado. Old Shatterhand läßt sich das Verhalten des Fox still gefallen, kommt auch später mit keinem Wort darauf zurück, handelnde Personen wie Erzähler akzeptieren die provozierende Art des jungen Mannes. Damit wird aber Bloody-Fox zu einem völlig gleichberechtigten Partner des Erwachsenen, und es gibt - soweit ich sehe - keine andere May-Erzählung, in der eine solche Anerkennung eines jüngeren Gefährten durch Old Shat-


- 45 -

terhand zu finden wäre, wie sie dann am Ende der Geist-Erzählung von dem erwachsenen Haupthelden ausgesprochen wird. Respekt des berühmtesten Bleichgesichts in den Prärien vor einem Halbwüchsigen - dagegen verblaßt sogar die Ehrung, die der Hobbel-Frank am Ende der Bärenjäger-Erzählung durch Old Shatterhand erfahren hat, als er den feindlichen Häuptling besiegt hatte: "...hier, lieber Frank, haben Sie meine Hand. Sie sind ein prächtiger Kerl!" Und der freut sich wie ein Schneekönig: Der Sachse ergriff die Hand des berühmten Jägers und antwortete, indem eine Freudenthräne in sein Auge trat: "Dies Wort aus Ihrem Munde freut mich königlich. "(40) Keinerlei Reaktion auf die Respektsbezeugung Shatterhands wird dagegen von Fox mitgeteilt, der nimmt's ganz cool zur Kenntnis!

Auch eine genaue Betrachtung des Wortlauts zweier wichtiger Aussagen bestätigt diese Gleichrangigkeit. Handlungsimmanent scheint zwar eine Unterordnung des Jugendlichen unter die größere Fähigkeit des Erwachsenen vorzuliegen, wenn er zu dessen Gruppe stößt und um das nachsucht, was er in der Geisternacht so abrupt von sich gewiesen hat. In der betreffenden Nacht lautet die Ablehnung: Der Avenging-ghost bedarf keines Schutzes. (S. 209) Jetzt aber heißt es: Ich muß um eure schnelle Hilfe bitten. (S. 286) Die entscheidenden Begriffe sind Schutz und Hilfe. Der Schutz bezieht sich auf Bloody-Fox selbst, und alle Ereignisse zeigen, daß er dessen tatsächlich nicht bedarf. Die Hilfe aber, um die er schließlich nachsucht, soll den hilflosen Auswanderern gebracht werden, bedeutet also soziales Handeln für andere Menschen. Folglich beeinträchtigt diese Bitte das Selbstbewußtsein des Fox in keiner Weise.

Eine letzte Beobachtung aus einem anderen Blickwinkel bestätigt nochmals diesen Befund. Wie läßt der Erzähler die Helden zweiten Ranges, also die Gefährten Old Shatterhands und Winnetous, agieren, je nach der Nähe oder Ferne, in der sie sich von diesen befinden? Als Folie für die andersartige Wertung des Bloody-Fox soll dieser Aspekt jetzt etwas genauer vorgestellt werden. Es handelt sich um ein spezifisches Arrangement des Erzählers, denn die Eigenschaften und Fähigkeiten der Gefährten können ja absolut gesehen nicht von dem Aufenthaltsort Old Shatterhands abhängen. Deutliche Unterschiede zu Bloody-Fox lassen sich feststellen. Herausragende Beispiele in unserer Erzählung sind die beiden Snuffles, die sich im 3. Kapitel als ebenso hervorragende Fährtensucher und


- 46 -

-leser zeigen wie sonst nur Old Shatterhand und Winnetou. Sie erweisen sich aber in diesem Metier sogleich als unfähig, sobald Old Shatterhand auch nur in ihre Nähe kommt. Die als so scharfsinnig und überlegen eingeführten Snuffles sind plötzlich blutige Anfänger, die sich sogar den Spott eines Gleichrangigen, des Juggle-Fred, gefallen lassen müssen: "Ihr seid mir die richtigen Westmänner! Laßt euch beschleichen und betrachten und beobachten, ohne das geringste zu bemerken!" (S. 174) Kurz vor der Begegnung mit Old Shatterhand hatten sie schon die Spur der von ihnen Verfolgten verloren und trotz allen Suchens nicht wiedergefunden (erwähnt auf S. 179), was Old Shatterhand nur mit einem ungläubigen "Unmöglich!" quittieren kann - mit Recht. Als Entschuldigung kann zwar angeführt werden, daß felsiger Boden die Fährte unleserlich werden ließ und auch der junge Komanche versagt hat. Aber erstens ist dieses Mißgeschick ganz symptomatisch für das Versagen berühmter Westläufer, wenn sie in den Dunstkreis Old Shatterhands geraten; zweitens findet dieser die Spur prompt wieder. Und wenn der Held dem Boden ganz deutlich ansieht, daß an dieser Stelle ein Versteck sein muß, so sehen die Snuffles ihm erstaunt in das Gesicht, als wenn er eine ihnen unbegreifliche Meisterleistung vollbracht hätte. (S. 181)

Man denke zum Vergleich auch an das markante Beispiel im Ölprinz, wo Sam Hawkins eine ganze Bande in überlegener Manier an der Nase herumführt und schließlich unschädlich macht, um sich dann in eine plumpe Indianerfalle locken zu lassen, sobald Old Shatterhand in der Nähe ist.

Ganz anders wieder bei Bloody-Fox. Mit und ohne Old Shatterhand ist er der kühne, umsichtige, tüchtige Jäger, der keinen Fehler macht. Von Anfang an ist klar, daß er allein die Geierbande nicht wird ausschalten können, weil sie zu zahlreich ist; er wird also für die endgültige Vernichtung dieser Plage Hilfe brauchen - nicht etwa, weil er versagt, als Old Shatterhand ins Geschehen eingreift. Dementsprechend läßt er auch kein einziges Mal ein Zeichen der Bewunderung für den großen Westmann erkennen, wie es die zweitrangigen Helden tun (z.B. Tim Snuffle S. 180 oben, Eisenherz S. 175, Juggle-Fred S. 157). Im Gegenteil: i h m wird ehrliche Anerkennung ausgesprochen, von Old Shatterhand!

Zu bemerken bleibt noch, daß der Erzähler an keiner Stelle ein direktes Urteil, etwa moralischer Art, über die Personen und ihr Verhalten fällt. Allein durch das Arrangement der Szenen und über


- 47 -

Äußerungen der Personen der Handlung werden positive oder negative Urteile vermittelt, der Erzähler selbst enthält sich jeder Stellungnahme.

b) Zeitgestaltung

Wir haben bisher die Figur des Erzählers unter dem Gesichtspunkt betrachtet, wie er sich zu dem erzählten Geschehen, zum Denken und Handeln seiner Personen stellt, d.h. ob er hervortritt und am Erzählten erkennbaren Anteil nimmt, ob er nur den Beobachter spielt oder ob er das Verhalten der Personen direkt bewertet. Die zwei erstgenannten Varianten der auktorialen Erzählhaltung, manchmal in die Nähe des personalen Erzählens verschoben, lassen sich im Geist beobachten, die dritte kommt nicht vor.

Aufschlußreich dürfte aber auch die Untersuchung sein, wie das Verhältnis der Zeitspanne, die das erzählte Geschehen umfaßt, und der Zeit, die der Erzähler braucht, um seine Geschichte zu vermitteln, also zwischen der sogenannten erzählten Zeit und der Erzählzeit, gestaltet ist.(41) Messen läßt sich die Erzählzeit nach der Zahl der Druckseiten eines Werkes(42), denn jede Zeitmessung mit der Uhr legt räumliche Maßstäbe an und macht so unterschiedliche Zeit-"Räume" miteinander vergleichbar.

Das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit zeigt, wie wichtig der Erzähler bestimmte Geschehnisse nimmt, wie bedeutend ihm das Aussehen von Personen und Landschaften, Innenräumen und Gegenständen erscheint; je wichtiger sie ihm sind, desto länger wird er bei ihrer Beschreibung verweilen, wobei dann die erzählte Zeit stillzustehen scheint. Dieses Verhältnis sagt aber auch etwas darüber aus, wie wichtig der Leser das Erzählte nehmen, wie intensiv er bei ihm verweilen, wie detailliert und genau er es sich vorstellen soll. Der Erzähler sucht also dem Leser ein bestimmtes Zeitgefühl aufzudrängen, je nachdem, wie gemächlich oder wie hektisch bestimmte Vorgänge vor ihm ausgebreitet werden. (Wir sprechen wieder vom Erzähler als eigenständiger Romanfigur, nicht vom Autor, können also das produktionsorientierte Phänomen der "Zeilenschinderei" weglassen, zumal es in den Mayschen Jugenderzählungen sicher kaum eine Rolle spielt.)

Eigens zu betrachten ist noch das Problem der Lesezeit; nicht in dem äußerlichen Sinne, wie es bei Müller(43) angedeutet wird: daß


- 48 -

verschiedene Leser unterschiedlich schnell lesen, was u.a. von ihrer verschieden ausgebildeten Lesefertigkeit abhängt. Das hat nämlich nichts mit der Erzählweise, also z.B. der Zeitgestaltung zu tun. Ich meine vielmehr die unterschiedliche Lesegeschwindigkeit, mit der ein und derselbe Leser verschiedene Teile des Romans aufnimmt, auch wieder unabhängig von äußeren Faktoren wie Stimmung oder fürs Lesen gerade verfügbarer Zeit. Der Leser wird manches sorgfältig und genau, sozusagen langsam lesen, z.B. ihm wichtig oder besonders interessant erscheinende Personenbeschreibungen oder Landschaftsschilderungen, aber auch schwer verständliche Passagen. Dagegen wird er besonders aufregendes Geschehen, aber auch Dialoge, in denen verschiedene Meinungen über wichtige Entscheidungen hart aufeinanderprallen, ungeduldiger, schneller lesen, sozusagen verschlingen, um möglichst schnell das Ergebnis der Debatte oder den Ausgang der erregenden Handlung zu erfahren. Wieder andere Passagen wird er vielleicht überfliegen ("diagonal lesen") oder gar überschlagen, weil sie ihm langweilig oder überflüssig erscheinen - die bekannte Erfahrung, daß vor allem jugendliche May-Leser langatmig empfundene Landschaftsbeschreibungen oder historische Exkurse überspringen, wobei der erwachsen gewordene Leser bemerkt, daß die angeblich so ausufernden Landschaftsbeschreibungen gar nicht so umfangreich sind. Diese unterschiedliche Lesegeschwindigkeit und damit verbundene mehr oder weniger große Leseintensität sollte auch einmal daraufhin untersucht werden, ob der Erzähler sie plant und steuert. Vorläufig darf man wohl vermuten, daß jeder normale Leser besonders spannende Stellen "verschlingt", d.h. schnell, aber doch aufmerksam liest, weniger spannende Passagen dagegen gemächlicher aufnimmt. Und da fällt die Beobachtung auf, daß in unserer Erzählung z.B. der Schlußkampf mit den Geiern äußerst rasant erzählt wird, die gewiß genauso aufregenden atmosphärischen Erscheinungen der Geisterstunde dagegen sehr ausführlich und detailliert geschildert werden. Daraus läßt sich die Annahme ableiten, daß dem Erzähler die Naturerscheinungen ganz besonders wichtig sind, so daß er den Leser durch den Erzählduktus bzw. die Zeitgestaltung (geringe Raffung, Tendenz zur Zeitdeckung) zwingen will, diese Vorgänge genau aufzunehmen und sich vorzustellen. (Mit Sicherheit wird kein Leser diese Naturbeschreibungen bloß überfliegen oder gar auslassen.) Die packenden Ereignisse bei der abschließenden Verfolgungsjagd sollen dagegen den Leser vielleicht einfach "nur" fesseln, ihn mitreißen und gerade nicht zur Besinnung kommen lassen.


- 49 -

Untersuchen wir das Verhältnis der erzählten Zeit zur Erzählzeit. Es wird im allgemeinen mit den bekannten Begriffen Zeitraffung (einschließlich Aussparung), Zeitdeckung und Zeitdehnung erfaßt.

Müller(44) unterscheidet drei Hauptarten erzählender Zeitraffung:

1. das Überspringen von Zeitspannen

a) ausdrücklich (im Geist z.B. Um die Mittagszeit des darauf folgenden Tages saß Helmers ... (S. 141);

b) ohne besondere Erwähnung.

Beide Formen wären auch als Aussparung zu bezeichnen.

2. das Zusammenraffen der Ereignisse in große Schritte oder Ergebnisse (im Geist z.B. S. 52/53 der Bericht über den Ausbruch und die Folgen des Diamantenfiebers in Arizona; oder S. 91: Jeder der beiden schritt, den Boden sorgfältig untersuchend, einen weiten Halbkreis ab, dessen Mittelpunkt die Leiche war. Als sie zusammentrafen, teilten sie sich ihre Ergebnisse mit und kehrten dann zurück.).

3. die geraffte Wiedergabe iterativer und durativer Vorgänge (im Geist z.B. S. 268: Viele, viele Tränen waren auf das Bild gefallen, und ebenso viele Küsse hatten es so verwischt, ...).

Zeitdeckung liegt im Geist annähernd vor

1. bei der Wiedergabe von Gesprächen, deren es sehr zahlreiche und lange gibt (annähernd deshalb, weil die Pausen, die die Sprecher naturgemäß häufig machen, im Dialog und beim Erzählen nicht berücksichtigt werden);

2. außerdem können Handlungen, Vorgänge minuziös geschildert werden, so daß ihre Dauer mit der des Erzählens übereinstimmt (im Geist z.B. S. 208, als Old Shatterhand den Lasso zum Wurf zurechtlegt).

Häufig handelt es sich allerdings nur tendenziell um Zeitdeckung, denn wenn man z.B. die Erzählzeit bei Gesprächen mit konkreten Zeitangaben in der Erzählung vergleicht, erkennt man, daß sie sich nicht wirklich decken. So wird im 1. Kapitel der


- 50 -

Ritt von der Begegnung der beiden ersten Reiter mit Bloody-Fox bis zur Ankunft in Helmers Home ganz durch einen Dialog gefüllt, der etwa 15 Minuten Erzähl- gleich Lesezeit einnimmt; nach den Worten von Fox (S. 11) soll der Ritt bis Helmers Home aber 45 Minuten dauern. In Wirklichkeit liegt also auch hier Zeitraffung vor, die dem Leser aber praktisch nicht auffällt.

Zeitdehnung kommt ebenfalls in zwei Arten vor:

1. als Wiedergabe von Gedanken, deren Vollzug durch den Denkenden oft in Sekundenbruchteilen erfolgt, die beim Erzählen aber so viel Zeit einnehmen, als würden sie gesprochen (im Geist selten, vielleicht in Form der erlebten Rede bei Stewart [S. 117])

2. als Beschreibung von Personen oder Landschaften, wobei die erzählte Zeit stillzustehen scheint und so zerdehnt wird.

Darüber hinaus kann der Erzähler frei entscheiden, ob er Zeitpunkt und -dauer der Ereignisse angibt oder nicht.

Die Bedeutung der Zeitstruktur macht Müller(45) deutlich, wenn er schreibt: Es ist ein grundlegendes Gestaltungsprinzip der Erzählkunst, daß schon einer ihrer elementarsten Bildungsvorgänge, die Vergegenwärtigung von Zeitabläufen in einer Spannung von Erzählzeit und erzählter Zeit, deutend wirkt.

In was für ein zahlenmäßiges Verhältnis nun die Beziehung von Erzählzeit und erzählter Zeit zu bringen ist, kann im allgemeinen nur eine Schätzung ergeben, und zwar aus zwei Gründen. Erstens ist nicht immer eindeutig zu bestimmen, wie lange die erzählte Handlung dauert, da die Zeitangaben dafür oft nicht genau genug sind. Zweitens läßt sich auch die Erzähl- gleich Lesezeit nicht genau messen, weil, wie schon erwähnt, das individuelle Lesetempo verschieden ist, aus den oben genannten objektiven und subjektiven Gründen. Ich setze mittlere Werte an: für die Zeit, die man zum Lesen einer Reclam-Seite benötigt, eineinviertel Minuten. Ich fasse übrigens die Buch-Kapitel 1 und 2, 3 und 4 sowie 7 und 8 zusammen, da sie jeweils eine zusammenhängende Handlung enthalten und auch im Guten Kameraden je ein Kapitel bilden.


- 51 -

Die gesamte erzählte Zeit umfaßt etwa 60 Stunden, vom Nachmittag des ersten Tages bis zum Vormittag des vierten (eingeschlossen die übersprungenen Zeiträume, daher ist die erzählte Zeit nicht einfach die Summe der folgenden Einzelangaben). Die gesamte Erzählzeit beträgt etwa 6 Stunden, also ein Zehntel der erzählten.

Die Handlung setzt an einem Nachmittag mit dem Ritt der beiden Snuffles ein; dieser bildet aber erst den Inhalt des 3. und 4. Kapitels. Das 1. Kapitel setzt zwei Stunden später ein mit dem Ritt Franks und Bobs und deren Begegnung mit Fox. Grund für die Umkehr der chronologischen Folge, so haben wir schon weiter oben vermutet, dürfte die Bedeutung der jugendlichen Hauptperson des Romans sein, die zeitlich erst später in die Handlung eingreift, aber so wichtig ist, daß mit ihr die ganze Erzählung beginnt.

Die Handlung der beiden ersten Kapitel erstreckt sich also vom Nachmittag bis zum späten Abend des ersten Tages; es ist dunkel geworden, als der Zweikampf zwischen Fox und dem Fremden in Helmers Home stattfindet. Die erzählte Zeit dürfte etwa viereinhalb Stunden betragen. Von dem Auseinanderklaffen der Erzählzeit während des Rittes bis zur Farm (etwa 15 Minuten) und der entsprechenden Zeitangabe des Fox (45 Minuten) war schon die Rede. Das Zeitverhältnis muß also sehr differenziert betrachtet werden. Die Handlung des 3. und 4. Kapitels erstreckt sich zeitlich parallel zu der der beiden ersten; sie umfaßt etwa sechs Stunden, zu erzählen ist sie in etwa 80 Minuten.

Der dritte Handlungskomplex, im 5. und 6. Kapitel, beginnt nach einem Zeitsprung am Mittag des zweiten Tages und dauert bis in die zweite Nacht hinein, bis zur Geisterstunde, womit natürlich die Mitternachtsstunde gemeint ist. Als Dauer der hier geschilderten Ereignisse dürften also etwa zwölf Stunden anzusetzen sein; die Erzählzeit beträgt etwa 90 Minuten.

Die Handlung des 7. und 8. Kapitels beginnt nachmittags; die Angaben, die auf einen bestimmten Zeitpunkt hindeuten, sind nicht sehr genau und entsprechen einander auch nicht exakt. Einmal (S. 226) wird geritten, dann ist es gegen Abend, danach noch nicht spät am Nachmittage. Die ungefähre Gleichzeitigkeit mit den Vorgängen im vorigen Handlungskomplex ergibt sich aus Winnetous Bericht vom


- 52 -

Sandsturm und aus seiner Aussage: Old Shatterhand muß ungefähr heute den Llano erreicht haben (S. 238). Die Handlung erstreckt sich also vom Nachmittag des zweiten Tages bis zur nächsten Nacht; insgesamt dürfte sie etwa sechs Stunden umfassen, die Erzählzeit beträgt ca. 65 Minuten.

Das 9. Kapitel schließlich beginnt am Morgen des dritten Tages und reicht bis zum Vormittag des vierten. Hier gibt es die meisten genauen Zeitangaben (Sonnenaufgang, Mittagszeit desselben Tages, Nachmittag fast vergangen; die Sonne glüht, es ist also Mittagszeit; Ritt von über drei Stunden bis zu den Emigranten; Sonnenuntergang, Nacht, der Tag beginnt). Die erzählte Zeit umfaßt rund fünfzehn Stunden, die Erzählzeit etwa 45 Minuten.

Vergleichen wir das Verhältnis von erzählter Zeit und Erzählzeit in den fünf Handlungskomplexen, so erkennen wir eine interessante Struktur. Die erzählte Zeit ist im ersten Komplex etwa dreimal so lang wie die Erzählzeit, im zweiten Komplex etwa viereinhalb mal; im dritten ist sie fast achtmal so lang. Der Eindruck entsteht, als ob immer "schneller" erzählt werde, bzw. als ob die Ereignisse immer schneller abliefen. Dann wird das Erzähltempo wieder etwas gemächlicher: Im vierten Komplex ist die erzählte Zeit etwa fünfeinhalb mal so lang wie die Erzählzeit, dann im letzten (9. Kapitel) steigt das Tempo wieder rasant: Die erzählte Zeit dauert hier zwanzigmal länger als die Erzählzeit!

Die Romanhandlung umfaßt eine verhältnismäßig geringe Zeitspanne, etwa 60 Stunden, also einen recht kleinen Zeit r a u m, der mit dem relativ engen geographischen Raum, in dem sich alles abspielt, korrespondiert. Zeiträume außerhalb dieses engen Rahmens kommen selten in den Blick. Die Möglichkeit, den zeitlichen Rahmen zu sprengen, beispielsweise durch Rückblenden, wird kaum genutzt. Es gibt nur ganz wenige solcher Rückblenden, die vor den Zeitpunkt des Handlungsbeginns zurückführen. Da ist einmal der zusammenfassende Bericht des Erzählers über den Ausbruch des Diamantenfiebers in Arizona, der den Blick in die jüngste Vergangenheit lenkt (S. 53: Es war kurz nach Beginn des Diamantfiebers ... ) und auch berichtet, was nach Ablauf der eigentlichen Romanhandlung geschehen wird; der Ausgang der Hatz auf die Diamanten wird vorweggenommen, um dem Leser zu helfen, die bald auftretenden Diamond-boys zu beurteilen. Außerdem leisten Personen der Handlung sporadisch eine


- 53 -

Erweiterung des Zeitrahmens. Bloody-Fox berichtet vom Überfall der Geier vor Jahren auf seine Eltern; die Snuffles geben eine zusammenfassende Deutung der Kampfspuren, die nur wenige Stunden in die Vergangenheit zurückführt. Außerdem werden frühere Untaten des Stealing-Fox alias Weller (alias Burton) berichtet, z.B. von Ben New-Moon (S. 221). Zum einen gewährleistet der Berichtstil, in dem alle diese Rückblenden gehalten sind, daß der zeitliche Rahmen der Erzählung praktisch genauso wenig erweitert wird wie der geographische Raum. Außerdem erlangen diese Erinnerungen an frühere Ereignisse nirgends Eigenständigkeit; sie bleiben zeitlich an den Augenblick gebunden, in dem sie erzählt werden. So wie der Handlungsraum, d.h. der Aktionsradius der Helden und ihrer Gegenspieler, immer mehr verengt wird (die Helden tun dies zielgerichtet, die Gegner sind dieser Einengung ausgeliefert), bis jeder Ausweg für die Verbrecher gänzlich blockiert ist, genau so scheint die Zeit zusammengepreßt zu werden, wenn im abschließenden Kapitel das Geschehen in so stark raffender Form erzählt wird.

Verstärkt wird dieser Effekt noch durch den Anteil, den die Gespräche in den einzelnen Handlungskomplexen am gesamten Text haben. Beanspruchen sie in den ersten acht Kapiteln den größten Teil des Textes, so kehrt sich das Verhältnis im letzten Kapitel um. Das Verhältnis der Gespräche zur Ereignisschilderung beträgt in Kapitel 1/2 etwa 2,3 zu 1, in Kapitel 3/4 etwa 3 zu 1; wenn man die lange Zusammenfassung der Ereignisse um die Ermordung Feuersterns nicht als Gesprächsanteil rechnet, da sie genauso in der Form des Erzählerberichts gehalten sein könnte, beträgt das Verhältnis wieder etwa 2,3 zu 1 zugunsten der Gespräche. Im Kapitel 5/6 ist es etwa 2 zu 1, wobei die Anteile im 6. Kapitel, der Geisterstunde, allerdings fast gleich sind. Im 7./8. Kapitel ist es immerhin noch etwa 1,4 zu 1. Im 9. Kapitel aber ist das Verhältnis etwa 1 zu 1,6! Hier kommt der Ereignisschilderung also zum ersten Mal mehr Textanteil zu als den Dialogen. Der Eindruck eines recht gemächlichen Erzählens (in einem Abenteuerbuch!) ist in den ersten Kapiteln ganz stark, zumal ein großer Teil der Reden auf das Konto des Hobbel-Frank geht (sie haben mit der eigentlichen Handlung meist gar nichts zu tun!); selten handelt es sich um Auseinandersetzungen zwischen Dialogpartnern oder gar feindlich gesonnenen Personen nach Art der Debatte zwischen Frank und dem Fremden in Helmers Home oder zwischen Old Shatterhand und dem angeblichen


- 54 -

Offizier, die ganz anders auf den Leser wirken als die meist recht behäbig dahinfließenden Unterhaltungen.

Die Welt wird in einem kleinen räumlichen und zeitlichen Ausschnitt gezeigt. Sie erscheint dem Leser vergegenwärtigt aufgrund der in den ersten acht Kapiteln vorherrschenden Neigung zur wirklichen oder wenigstens tendenziellen Zeitdeckung, nicht nur in den Gesprächspartien, sondern auch in den raffenden Schilderungen, die nichts Wesentliches auslassen. Das bedeutet: Die Welt, die der Erzähler vor dem Leser ausbreitet, erscheint als ganze, in sich vollkommen geschlossene Welt, nichts, was sich zu erfahren lohnte, wird verschwiegen - mit einer Ausnahme bloß: die Herkunft des Bloody-Fox bleibt ungeklärt, aber sie liegt gewissermaßen ganz außerhalb des zeitlichen Rahmens der Erzählung.

Ansonsten kann sich der Leser vertrauensvoll der Führung des Erzählers hingeben, was - wie wir gesehen haben - vor allem durch die Erzählhaltung ermöglicht wird. Diese Welt des Romans scheint den Anspruch zu erheben, daß sie ganz so, wie sie ist, vor den Leser hintritt, unbearbeitet durch einen Außenstehenden. Der Erzähler greift meist nur durch unmerkliche Raffung in den Ereignisablauf ein. Im Grunde gibt es nur zwei Fälle, wo er in offen eigenwilliger Weise seinen Stoff nach seinem Gutdünken bearbeitet, und beide Male erhält dadurch die Figur des Bloody-Fox besonderes Gewicht. Einmal ist das die zeitliche Umstellung der Vorgänge, die in den Kapiteln 1/2 und 3/4 erzählt werden, wodurch Fox ostentativ herausgestellt wird; zum anderen ist es das letzte Kapitel, in dem der Erzähler oft seinen Standort wechselt, die Ereignisse entsprechend deutlich im Zeitablauf mit häufigen Zeitangaben gliedert, wo er am stärksten rafft und in der Gipfelszene, der Schlußjagd auf die drei letzten Geier, eine artifizielle Leistung vollbringt. Alles in allem atmet die Erzählung bis zum furiosen Finale den Geist ruhiger Überschaubarkeit. Der Leser kann sich ganz der Imagination eines räumlich(46) und zeitlich fest umgrenzten Handlungsgefüges hingeben, dessen Personal übersichtlich geordnet ist, in kleinen Gruppen nacheinander vorgestellt und schließlich zusammengeführt wird. Die handelnden Personen sind entsprechend ihren Qualitäten praktischen und moralischen - fein säuberlich abgestuft, trotzdem zumindest was die positiven Helden angeht - einigermaßen differenziert gezeichnet. Kulminiert einmal die Handlung in aufregenden Szenen, besonders im Schlußkapitel, läßt sie der Er-


- 55 -

zähler immer wieder in ruhige, oft heitere Gelassenheit ausklingen. Kurz - die Erzählung ist unter allen inhaltlichen und formalen Aspekten auf ihren hauptsächlich jugendlichen Leserkreis abgestimmt. Dessen Bedürfnisse werden befriedigt, seine intellektuellen und moralischen Fähigkeiten werden - vor allem was die Beurteilung der jugendlichen Hauptfigur angeht - stark herausgefordert, aber nicht überfordert, und beides ist einem Erzähler zu verdanken, der sich an jeder Stelle seiner Geschichte als ein Freund seiner Helden wie auch seiner Leser erweist und Vorgänge vermittelt, die mit ihren moralischen, didaktischen und informativen Intentionen in die reale Welt des Lesers hineinragen. Das soll in einem späteren Kapitel (über das Exemplarische) genauer aufgezeigt werden.

c) Was der Erzähler verschweigt

Über die fehlende Erklärung der Herkunft des Bloody-Fox sind wir oben recht schnell hinweggegangen mit der Bemerkung, das falle nicht in den zeitlichen Rahmen der Geschichte. Eine gewiß sehr ungenügende Erklärung, im Grunde gar keine. Natürlich gehört es zur Persönlichkeit des Bloody-Fox, wo er herkommt, wer seine Eltern waren, welcher Nationalität er ist (Deutscher, was naheliegt, am Ende gar Sachse?) usw. So einfach lassen wir uns nicht abspeisen bei unserem Wunsch nach Aufklärung.

W a s also erfährt der Leser über den geheimnisvollen Geist des Llano estakado und, ebenso wichtig, w i e erfährt er etwas? Im Laufe der Erzählung gewinnt der Leser sicher zunehmendes Interesse an dem jungen Mann, was nicht zuletzt der Art und Weise zu verdanken ist, mit der der Erzähler ihn behandelt. Sein Aussehen wird aus der Sicht Franks und Bobs am Anfang ausführlich geschildert, auch die greuliche Narbe, ohne daß zunächst eine Erklärung für diese Verunstaltung des Gesichts gegeben wird. Anschließend äußert Fox selbst seine Anschauungen über notwendige Anredeformen und über Ehrlichkeit (S. 9f.). Wenig später erzählt er von seinem Kindheitserlebnis (S. 13f.), als seine Eltern überfallen wurden und er selbst schwer verletzt überlebte. Da erfahren wir also alles, was Bloody-Fox selbst weiß.


- 56 -

Die nächsten wichtigen Informationen vermittelt deshalb der Erzähler wie ein neutraler Beobachter: Fox hat den angeblichen Mormonen schon einmal irgendwo gesehen, kann sich aber nicht genau an Ort, Zeit und Umstände erinnern (S. 33 und 75). Aber Aufklärung erteilt der Erzähler dem Leser nicht, ebenso wenig wie nach des Fox Gedanken über den Mörder seiner Eltern, denen der junge Mann in der Hütte seiner Oase nachhängt: Die Uniform des "Geistes" [...]. Wann aber werde ich den entdecken, der mehr als sie alle den Tod verdient? Vielleicht nie! Pshaw, noch hoffe ich. Darauf erfolgt einer der ganz wenigen Kommentare des Erzählers: Was für Bilder mochten an der Seele dieses noch so jungen Mannes vorüberziehen! (S. 271) An dieser Stelle scheint sich anzudeuten, daß der Erzähler gewillt ist, seine Zurückhaltung bezüglich der Erklärung, woher Bloody-Fox stammt, abzulegen und dessen geheimnisvolle Herkunft zu enthüllen. Warum sonst sollte er hier endlich diesen fragenden Kommentar abgeben, mit dem er sozusagen die existentielle Grundlage des Lebens seines Helden andeutet. Auch die Situation wäre dafür günstig, hat der Erzähler doch soeben das Geheimnis der Oase aufgedeckt, hat dem Leser damit entdeckt, wie es Bloody-Fox möglich war, den Geist zu spielen, scheinbar gleichzeitig bzw. innerhalb kürzester Frist an verschiedenen Orten des Llano zu sein. Dadurch ist die wichtige Frage, wer sich hinter der Titelfigur des ganzen Romans verbirgt, aufgeklärt worden. Ebenso wichtig dürfte es für den Leser sein, endlich zu erfahren, wer dieser Fox eigentlich ist, woher er stammt. Und es ist ihm nicht zu verdenken, wenn er Antworten auf diese einzig noch offene Frage verlangt und erwartet. Aber der Erzähler läßt die Gelegenheit vorübergehen, keine weitere Erklärung folgt.

Aber es gibt ja eine noch besser geeignete Stelle, das Geheimnis zu lüften, nämlich da, wo Fox in Burton den Mörder seiner Eltern erkennt. Da wird die Identität des Hauptschurken aufgedeckt; könnte man nicht gleiches in bezug auf den jugendlichen Haupthelden erwarten? Ein Schockerlebnis, dieses Erkennen, das eine Anamnese in Gang setzt! Das wäre sehr wirkungsvoll. Oder wenigstens der Erzähler könnte sein Schweigen brechen. Aber nichts davon. Im Gegenteil - ohne jeden Erzählerkommentar konstatiert Fox selbst: Da ist er, der Mörder! Darum kam er mir so bekannt vor! Nun ist er tot, und ich werde nie erfahren, wer meine Eltern gewesen sind! (S. 300)


- 57 -

Die Herkunft des Bloody-Fox bleibt im Dunkeln, alles deutet darauf hin, daß der Erzähler selbst sie nicht kennt!

Wie verträgt sich das mit dem Geist der Erzählung, den wir beschworen haben?

Blendend! Es zeigt, daß dieser Geist eben das Produkt der Erfindungsgabe des Autors Karl May ist und dessen didaktischen Absichten an dieser Stelle in interessanter Weise verwirklicht.

Die Wurzeln der Existenz des Bloody-Fox erscheinen am Schluß der Erzählung endgültig gekappt; der Jugendliche ist von seinem familiären Ursprung abgeschnitten. Dafür hat er eine neue Gemeinschaft gefunden, in der er als anerkanntes Mitglied seine Stelle erhält und die Aufgabe bestätigt, die er in Zukunft erfüllen wird: Er wird den Llano von Verbrechern reinhalten und damit weiterhin einen Dienst an den Menschen vollbringen. Gleichzeitig kann er dabei seine Individualität bewahren: er selbst spricht den festen Entschluß dazu aus (S. 301). Der Vorgang erscheint wie eine Allegorie aufs Erwachsenwerden, welches ja auch bedeutet, sich von den behütenden Eltern zu lösen und in andere Gemeinschaftsformen hineinzuwachsen. Ein mit Trauer verbundener, daher hier so kraß gestalteter, aber unabdingbarer Vorgang, will man sein Leben meistern. Das ist eine wichtige Botschaft an den jugendlichen Leser, und nicht die geringste, die diese Erzählung bereit hält.


- 58 -

3. Landschaft und Raum

Dort öffnete sich eine enge Schlucht, in welcher ein schmales, seichtes Wasser floß. Die beiden Mexikaner lenkten hinein und sagten den anderen, daß dies das Singende Tal sei, welches weiter aufwärts bedeutend breiter werde.

(S. 227)

Wie wird hier Landschaft dem Leser vermittelt, welche Qualität, d.h. welche Bedeutung für die Handlung und die Stimmung der Menschen erhält sie?

Betrachten wir zunächst die einzelnen Wortarten. Das wichtigste Substantiv ist Schlucht; es benennt eine topographische Erscheinung, die sich in die drei räumlichen Dimensionen erstreckt. Die Schlucht ist ein vom Beobachterstandort aus nach hinten, in die Ferne verlaufender Einschnitt, dessen Ränder steil und hoch in die Höhe streben; sie ist sehr schmal, daher besonders geeignet, ein Gefühl der Beengung einzuflößen. Letzteres wird durch die Adjektive unterstützt: eng, schmal. Die Aussicht auf die Verbreiterung mindert das Gefühl der Bedrohung etwas. Verben geben eine Bewegung an, die die Dimensionen Breite und Tiefe spezifizieren: öffnete sich, floß, lenkten hinein, breiter werde[n]. Das letztere spricht wieder eine zeitliche Dimension, die Zukunft, an, indem es auf das Durchreiten der Schlucht verweist. Die Adverbien weiter aufwärts schließlich betonen noch einmal die Bewegungsrichtung des Ansteigens, also die Höhe. Als Bewegung im Raum wird auch der Eingang der Schlucht geschildert; er erscheint wie ein Trichter, der die Menschen aufsaugt.

Mit wenigen Worten wird ein Raum entworfen, der sinnlich erfahrbar ist und Stimmungen bzw. Empfindungen aufbaut: zunächst der Bedrohung, dann der Hoffnung auf Befreiung aus der bedrohlichen Enge. Zugleich wird er unter dem funktionalen Aspekt, als Handlungsraum, vorgeführt.

"Ich habe hinaus gemußt in die Wildnis wie ein Falke, dem die Geier die Alten zerrissen haben, und der nun um die blutige Stätte kreisen muß, bis es ihm gelingt, auf die Mörder zu stoßen. Sein scharfes Auge muß und wird sie entdecken."

(S. 14)

Der Vergleich des Bloody-Fox mit dem kreisenden Falken evoziert im Leser ein Raumgefühl. Der Falke kreist in der Höhe, seine Bewegung entwirft eine in Breite und Tiefe reichende, kreisförmige Fläche; alle drei Dimensionen werden zusätzlich mit dem Blick des Vogels


- 59 -

in die Runde und nach unten assoziiert. Bewegung wird als räumlicher Verlauf in der Zeit erfahren, schließt die vierte Dimension ein. Der Zeitverlauf erscheint abstrakt im Motiv des Wartens auf Rache wieder, dies wiederum bindet diesen Raum an die Abenteuerhandlung.

Und jetzt richteten sich plötzlich alle auf, es war ein Ton erklungen, ein ganz eigenartiger Ton, wie von einer Glocke, welche hoch, hoch über ihnen angeschlagen worden sei. Er hielt wohl eine halbe Minute nach, senkte sich, immer mehr anschwellend, auf die Büsche nieder und war dann über dem Wasser verklungen.

(S. 252f.)

Auch Klänge können in unserer Erzählung einen Raum entwerfen. Der glockenähnliche Ton vollführt eine ganz eigenartige Bewegung, er kommt aus bedeutender Höhe, senkt sich wie ein Vogel (oder eine Feder) auf die Büsche und weht dann, verklingend, über die Wasserfläche hin. Dabei wird die geheimnisvolle Erscheinung des Klangs noch dadurch unterstrichen, daß die Bewegung von den Büschen zum Wasser ausgespart wird. Der Bewegungsablauf markiert Höhe sowie eine im Unbestimmten bleibende Breite und Tiefe, betont dabei aber die Höhendimension.

Wir dürfen also im folgenden die Landschaft, in der sich die Handlung der Erzählung vollzieht, mit Recht als einen echten Raum bezeichnen.(47)

Bedrohlich - diese allgemeine Kennzeichnung von Wesen und Wirkung einer Landschaft trifft in unserer Erzählung auf die Handlungsorte im ganzen wie auf ihre einzelnen Elemente gewiß zu. Es stellt sich eine inhaltsbezogene Frage: Wie reagieren die Menschen auf diese Bedrohung? Sind sie ihr ausgeliefert, unterliegen sie ihr? Machen sie sich die Landschaft zunutze? Zum Guten oder zum Bösen? Die erzähltechnische Fragestellung lautet: Wie wird die jeweilige Landschaft dem Leser vermittelt, wie und durch wen kommt sie in den Blick?

Über zwei Regionen größerer Ausdehnung erfahren wir Näheres, über den Llano und das dieser Wüste benachbarte Grenzgebiet des südöstlichen Neu-Mexiko und Texas, den gefährlichsten Winkel des Fernen Westens [...], "The shears" genannt (S. 215).

Über das letztere Gebiet werden wir durch einen zusammenhängenden Bericht, den einzigen über eine Landschaft in dieser Erzählung, am Beginn des 7. Kapitels (S. 215-217) informiert, dessen Hauptteil


- 60 -

ersichtlich von einem auktorialen Erzähler stammt, welcher aus räumlicher und zeitlicher Distanz die Gegend beschreibt. Diese Beschreibung ist so trocken und stilistisch unbefriedigend, daß man annehmen kann, sie sei nicht aus der inneren Anschauung unseres Erzählers geflossen, sondern stelle ein typisches Produkt von Schreibtischarbeit dar (darum halte ich sie auch nicht für zitierenswert).

Schon die mehrfach wiederholte adverbielle Bestimmung da, wo (insgesamt viermal; davon zweimal in nur drei Sätzen) deutet in ihrer Umständlichkeit darauf hin. Weitere Merkmale des trockenen Beschreibungsstils sind das Präsens, die abstrakte Umständlichkeit (ein Umstand, welcher), die unnötige Verstärkung banaler Feststellungen und ein unpassendes Bismarck-Zitat. Mit einem Wort, die ganze Stelle ist ziemlich langweilig, eine zum Überschlagen geradezu herausfordernde Passage, vielleicht irgendwo abgeschrieben, jedenfalls kaum dazu geeignet, dem Leser etwas von der Gefährlichkeit dieser Gegend anschaulich zu vermitteln.

Auch syntaktisch fällt dieser trockene Abschnitt unangenehm auf; es sind überwiegend Hauptsätze; wenn Satzgefüge, dann fast ausschließlich mit einfach benennenden oder beschreibenden Relativ-, Lokal- und Temporalsätzen; die Satzpläne sind simpel.

Wie anders aber ist der letzte Abschnitt dieses geographischen Überblicks gestaltet (S. 216f.):

Es ging sogar die Sage, daß es in der Mitte des Llano eine starke Quelle köstlichen Trinkwassers gebe, welches tief aus dem Erdinnern emporsteige und eine kleine, seeartige Fläche bilde, deren Ufer mit schattengebendem Baum- und Buschwerke eingefaßt sei. Alte Jäger hatten davon gesprochen, die Quelle und den See aber niemals selbst gesehen! Gelehrte Leute, welche davon gehört hatten, waren der Ansicht gewesen, daß das Vorhandensein von Wasser mitten in dem Llano keineswegs als eine hydrographische Unmöglichkeit zu bezeichnen sei.

Viel persönlicher, ansprechender, weil im Erzählstil gehalten, werden die letzten Informationen vermittelt. Man spürt, unser Geist der Erzählung ist wieder am Werk. Jetzt wird der Gegenstand durch das Präteritum in den Rang historischen Geschehens gehoben, klare Kontrastierung (in der Mitte des Llano [= Wüste] - starke Quelle köstlichen Trinkwassers) zeichnet das unmittelbar einprägsame Bild eines idyllischen Fleckchens Erde, wo man es am allerwenigsten erwartet. Die zeitliche Ausweitung (Plusquamperfekt) hebt diese Schilderung an einer Stelle ins Sagenhaft-Geheimnisvolle.


- 61 -

Und noch einen bis in die sprachliche Form reichenden Kontrast gibt es: Sage/ Alter Jäger/ gesprochen/ niemals gesehen - Gelehrte Leute/ Ansicht (abstrakt, nicht auf persönlichem Augenschein beruhend)/ als eine hydrographische Unmöglichkeit zu bezeichnen: trockener und umständlicher kann man nicht über einen sagenhaften Ort sprechen, was aber zu dieser Stelle paßt (Jäger - Gelehrte). Der Erzähler, der diese Informationen über den Llano in anschaulich-lebendiger Form gibt, fährt dann auch mit der eigentlichen Handlung fort und schildert das verwahrloste Aussehen der vier Yankees, das so gut zur Umgebung paßt.

Der Inhalt der zitierten Textstelle spielt für die ganze Erzählung eine wichtige Rolle, sie bildet sozusagen den Hintergrund aller Geschehnisse, auch wenn sich erst am Ende erweist, daß es diese Idylle tatsächlich gibt, und klar wird, welche Bedeutung sie für die Handlung hat.

In wiederum anderer Weise wird die erstgenannte Region, der Llano estakado des Titels der Erzählung, eingeführt und vorgestellt.

[Frank erkundigt sich nach der Bedeutung des Namens Bloody-Fox:]

"Bloody-Fox? Das deutet auf ein blutiges Ereignis."

"Ja, meine Eltern wurden mit der ganzen Familie und der sämtlichen Gesellschaft ermordet, drin im Llano estakado; nur ich allein bin übriggeblieben. Man fand mich mit klaffendem Schädel. Ich war ungefähr acht Jahre alt."

"[...] Man überfiel euch, um euch auszurauben?"

"Ja, natürlich. "

"So rettetest du nichts als das Leben, deinen Namen und die schreckliche Erinnerung!"

"Nicht einmal das. Helmers fand mich im Kaktus liegen, nahm mich auf das Pferd und brachte mich heim zu sich. [...] Nur der Augenblick des Überfalls ist mir klar im Gedächtnisse geblieben. Ich wäre glücklicher, wenn auch das mir entschwunden wäre, denn dann würde nicht das heiße Verlangen nach Rache mich wieder und immer wieder durch die schreckliche Wüste peitschen."

[...]

"Helmers ist mir wie ein Vater gewesen. Er wohnte damals noch nicht in seinem jetzigen Settlement. Aber es hat mich nicht bei ihm gelitten. Ich habe hinaus gemußt in die Wildnis [...]" (S. 13f.)

[Helmers begrüßt Bloody-Fox:]

"Welcome, Bloody-Fox! Lässest du dich endlich wieder einmal sehen? Es gibt Neuigkeiten."

"Von woher?" fragte der Jüngling.

"Von da drüben."

Er deutete mit der Hand nach Westen.

"Was für welche? Gute?"

"Leider nicht. Es hat wahrscheinlich wieder einmal Hyänen in den Plains gegeben."


- 62 -

Der Llano estakado wird nämlich von dem englisch sprechenden Amerikaner Staked Plains genannt. Beide Bezeichnungen haben aber ganz denselben wörtlichen Sinn.

(S. 17f.)

[Etwas später:]

"Halt!" unterbrach Bloody-Fox den Farmer, indem er ihn, der forteilen wollte, am Arme festhielt, "erst will ich hören, was sich dort auf den Plains begeben hat!"

"Ein Verbrechen natürlich", antwortete Helmers, indem er sich wieder zu ihm wandte. "Wie lange warst du nicht bei mir?"

"Fast zwei Wochen."

"So hast du auch die vier Familien nicht bei mir gesehen, welche über den Llano wollten. Sie sind seit über eine Woche fort von hier, aber nicht drüben angekommen. Wallace, der Trader, ist von drüben herüber. Sie müßten ihm begegnet sein."

"Sind die Pfähle in Ordnung gewesen?"

"Eben nicht. Hätte er die Wüste nicht seit zwanzig Jahren so genau kennengelernt, so wäre er verloren."

"Wo ist er hin?"

"Er liegt oben in der kleinen Stube, um sich auszuruhen, Er war bei seiner Ankunft halb verschmachtet, hat aber trotzdem nichts genossen, um nur gleich schlafen zu können."

"Ich muß zu ihm. Ich muß ihn trotz seiner Müdigkeit wecken. Er muß mir erzählen!"

(S. 19f.)

[Noch später erkundigt sich Hobbel-Frank bei Fox:]

"Menschen sind ermordet worden? In dem Llano? Wann denn?"

"Das weiß man nicht. Sie sind vor über acht Tagen von hier fort, aber nicht jenseits der Wüste angekommen. Folglich sind sie zugrunde gegangen."

"Vielleicht doch nicht. Sie werden wohl in anderer Richtung geritten sein, als sie ursprünglich beabsichtigt haben."

"Eben das ist es ja, was ich befürchte. Von hier aus ist es nur in einer einzigen Richtung möglich, über die Plains zu gelangen. Diese Strecke ist ebenso gefährlich wie zum Beispiel die Sahara oder die Wüste Gobi. Es gibt in dem Llano estakado keine Brunnen, keine Oasen und auch keine Kamele, welche viele Tage lang zu dürsten vermögen. Das macht diese Strecke so fürchterlich, obgleich sie kleiner ist als die große afrikanische oder asiatische Wüste. Es gibt keinen gebahnten Weg. Darum hat man die Richtung, in welcher der Ritt allein möglich ist, mit Pfählen abgesteckt, wovon die Wüste ihren Namen erhalten hat. Wer über diese Pfähle hinausgerät, der ist verloren; er muß den Tod des Verschmachtens sterben. Hitze und Durst verzehren ihm das Hirn; er verliert die Fähigkeit des

Denkens und reitet so lange im Kreise herum, bis sein Pferd unter ihm zusammenbricht und er dann nicht weiter kann."

"So darf er nicht den abgesteckten Weg verlassen, meinst du wohl?" fragte Helmers, welcher sah, daß Frank den Kopf schüttelte.

"Ja, das wollte ich sagen", antwortete dieser. [Gemeint ist Fox. Nun fährt Helmers fort:]

"Diese Vorsicht beachtet auch jedermann. Es gibt nur sehr, sehr wenige, welche den Llano so genau kennen, daß sie sich auch ohne Pfähle zurechtzufinden vermögen. Aber wie nun, wenn von schlechten Menschen die Pfähle falsch gesteckt werden?"

"Das wäre ja teuflisch!" [Das wirft Frank ein.]


- 63 -

"Gewiß, aber dennoch kommt es vor. Es gibt Verbrecherbanden, deren Mitglieder die Pfähle aus der Erde ziehen und in falscher Richtung wieder befestigen. Wer ihnen nun folgt, der ist verloren. Die Pfähle hören plötzlich auf; er befindet sich inmitten des Verderbens und kann keine Rettung mehr finden."

"So reitet er längs der Pfähle zurück!"

"Dazu ist's zu spät, denn er befindet sich bereits so tief in dem Estakado, daß er das Grasland nicht mehr zu erreichen vermag, bevor er verschmachtet. Die Räuber brauchen ihn gar nicht zu töten, Sie warten einfach, bis er verschmachtet ist, und rauben dann seinen Leichnam aus. So ist es bereits oft geschehen. "

"Aber kann man sie denn nicht unschädlich machen?"

[Bevor Helmers diese Frage Franks beantworten kann, tritt der angebliche Mormone auf und unterbricht die Unterhaltung über den Llano.]

(S. 27f.)

In Dialogform wird eine szenische Darstellung präsentiert, die eine Menge von Informationen über die Wüste und ihre Gefahren gibt, zugleich aber auch das Thema der Erzählung anschlägt. Der Llano wird in vierfachem Anlauf vorgestellt. Was erfahren wir jeweils? Im ersten Gespräch, zwischen Frank und Fox, erscheint er als er eine Wüste, in der es Kaktus gibt; sie wird als Wildnis und schrecklich charakterisiert; in ihr geschehen grauenhafte Verbrechen, deren einem der Sprecher nur knapp entkommen ist. Die Furchtbarkeit des Llano wird deutlicher als seine genaue Topographie, über die wir noch fast gar nichts erfahren. Kontraste und blutiges Geschehen charakterisieren ihn: Er steht im Gegensatz zu Helmers' Settlement, also menschlicher Siedlung, besitzt größere Attraktivität für Fox als das Heim des Farmers; er verleitet Fox zu seinem Rächerhandwerk, das im Gegensatz zum normalen Verhalten eines Jugendlichen steht; er übt eine gewaltige Anziehungskraft auf Fox aus, der er nicht widerstehen kann, obwohl er es möchte. Das heiße Verlangen nach Rache gefällt ihm nicht, er leidet darunter. Lieber hätte er es, jegliche Erinnerung an die Vergangenheit wäre ihm abgeschnitten.

Das zweite Gespräch führt das Thema des ersten, die Verbrechen im Llano, fort, ohne es zu präzisieren oder weitere Informationen zu geben. Es zeigt nur, daß auch jetzt noch Verbrecher am Werk sind. Daß mit den Hyänen Banditen gemeint sein müssen, kombiniert der Leser aus dem Zusammenhang mit der Aufregung des Fox und dem ersten Gespräch. Die einzige Zusatzinformation, die zwei Bezeichnungen für die Wüste, ist wenig ergiebig, da die Ausdrücke nicht er-


- 64 -

klärt werden. Bevor nähere Erläuterungen gegeben werden können, wird das Gespräch auf ein anderes Thema gelenkt; die Spannung, was denn nun passiert ist und was dies mit Fox zu tun hat, bleibt erhalten.

Wenig später aber erhält der Leser weiteren Aufschluß. Zum einen wird mitgeteilt, was wahrscheinlich geschehen ist: offenbar sind mehrere Menschen ermordet worden; bewiesen ist das allerdings noch nicht. Außerdem erfährt der Leser, daß bestimmte Pfähle eine wichtige Funktion haben müssen, sonst würde Bloody-Fox nicht ausdrücklich nach ihnen fragen; und diese ihre Funktion ist offenbar außer Kraft gesetzt worden. Sodann werden die Lebensfeindlichkeit der Wüste und die große Bedeutung der Pfähle mit der Information betont, daß sogar jemand, der den Llano seit Jahrzehnten kennt, fast in ihm umgekommen wäre. Vermutlich dienen die Pfähle der Richtungsweisung und sind in eine falsche Richtung gesteckt worden; aus Versehen? mit Absicht? Genaueres weiß der Leser noch nicht, vermutet aber, daß es auf das Konto der Banditen zu schreiben ist. Aber über die Topographie des Llano erfährt er noch etwas, wenn auch ganz indirekt. Es kann sich nicht um eine völlig plane Ebene handeln, sondern eher um hügeliges Gelände, mit irgendwelchen markanten Punkten, an denen sich jedenfalls ein Kenner der Verhältnisse, wie der Trader Wallace, orientieren kann.

Vieles ist bisher angedeutet worden, nur weniges ist eindeutig fixierbar. Mit Recht kann vermutet werden, daß vier Familien im höchst gefährlichen Llano ermordet wurden, indem Banditen die Leitpfähle in eine falsche Richtung steckten, worauf die Reisenden verdursteten und verhungerten oder sogleich umgebracht wurden.

Es könnten Banditen von der Art sein, wie sie die Familie des Fox ermordet haben und an denen sich dieser rächen will. Das geht aus dem Eifer hervor, mit dem er sich nach den Vorfällen erkundigt, und der Hektik, mit der er zu dem Trader eilt (dreimaliges muß!). Aber: all das bleibt in der unsicheren Sphäre des Ahnens und Vermutens.

Auffällig ist, daß die meisten Informationen, die der Leser über den Llano erhält, weniger dem Aussehen der Landschaft gelten als vielmehr ihrer Bedeutung für die Menschen. Diese sind stark von ihr abhängig, eine Berührung mit ihr bedeutet unbedingte Lebensgefahr, auch für den, der um ihre Gefahren weiß. Noch größer wird die Gefährdung, da Verbrecher in dieser Region ihr Unwesen trei-


- 65 -

ben, sie sich für ihre schurkischen Zwecke verfügbar machen, indem sie die einzigen Richtpunkte, die Pfähle, versetzen, also die Zeichen der Hilfe zu Mordmitteln pervertieren. All das bleibt aber noch, wie das Bild der Wüste selbst, weitgehend im Geheimnisvollen, vergleichbar der geheimnisvollen Person Bloody-Fox und ihrer Beziehung zu dieser Landschaft. Schreckliche Wüste, das bedeutet: schrecklich als lebensfeindliches Gebiet und fast noch schrecklicher als Tummelplatz einer skrupellosen Mörderbande.

Erst mehrere Seiten später erfährt der Leser endlich Genaueres über den Llano und die Vorgänge in ihm.

Genauere geographische Angaben werden gemacht; die Funktion der Pfähle wird exakt bestimmt; die Folgen des Verirrens werden anschaulich, ja drastisch geschildert; ebenso das Treiben der Banditen.

Was macht diese in Form eines Dialogs gegebene Schilderung nun so viel lebendiger, packender als die vergleichbare Beschreibung dershears? Auch Fox beschreibt doch in einem langen Abschnitt die Wüste.

Mehrere Unterschiede sind festzustellen. Zum einen haben wir einen spannungsaufbauenden Anlaß für die Informationen: der Tod von Menschen. Dabei werden zwei Versionen angeboten: Ermordung oder Zugrundegehen (wobei man sicher an Verhungern oder Verdursten ohne Einwirkung anderer denkt). Letzteres meint Frank, der vermutet, die Leute hätten nur ihre Richtung geändert. Es bleibt also offen, ob die Annahme von Helmers und Fox das Richtige trifft. Dieser Einwand Franks gibt Fox Anlaß zu einer ausführlichen Erklärung.

Auch sie steht unter einem leitenden Aspekt, der das Interesse des Lesers fesselt: Fox hegt Befürchtungen, er fühlt also mit anderen Menschen, die ihm nicht gleichgültig sind. Darum überträgt der Leser die Verhältnisse im Llano, wie sie schreckensvoller nicht sein können, ebenfalls auf diese Menschen und erkennt sie als akut Bedrohte. Der Leser weiß auch, daß Fox immer wieder allein in diesen Llano gezogen, daß er also von dessen Gefahren selbst bedroht wird, und wenn ein Händler, der den Llano seit zwanzig Jahren kennt, beinahe in ihm umgekommen wäre, dann könnte das dem jungen Mann ebenfalls zustoßen.


- 66 -

Zum anderen ist die Gesprächsführung sehr geschickt. Helmers greift ein, stellt die nächste, weiterführende Frage und übernimmt die weitere Gesprächsführung. Franks Skepsis gegenüber den Ausführungen des Fox begründet, warum weitere Informationen gegeben werden müssen. Die abschließende Frage Franks schlägt dann das Hauptthema an, das die Handlung der ganzen Erzählung bestimmt: die Vernichtung der Banditen. Diese Frage wird jetzt noch nicht beantwortet, weil der Mormone auftaucht. Die Spannung, ob und wie solch schlimmen Verbrechern das Handwerk gelegt werden kann, bleibt also erhalten.

Die Wüste wird streng personenbezogen geschildert; was für Informationen der Leser über sie auch erhält, stets haben sie Bedeutung für Menschen. Damit wird die Landschaft zu einem lebendigen Mit- und Gegenspieler des Personals der Erzählung. Sie erscheint als Verbündeter der Banditen, als Gegner der friedlichen Menschen, die sie durchwandern, als Gegner auch des Bloody-Fox, der aber magisch von ihr angezogen wird.

Auf der einen Seite erscheinen die Banditen, die - bis jetzt jedenfalls - die lebensfeindliche Region beherrschen und für ihre Zwecke einsetzen. Sie machen aus dem einzigen Hilfsmittel, das der Unwegsamkeit der Wüste abhelfen kann, eine Falle, die in Verderben und Tod führt, und zwar so vollkommen, daß sie sich nicht einmal die Mühe machen müssen, die Verirrten eigenhändig zu töten. Auf der anderen Seite stehen die Helden, die ausziehen, den Mördern das Handwerk zu legen und den Schrecken des Llano zu verringern. Sie müssen sich unter Einsatz ihres Lebens mit ihm auseinandersetzen. Thema der weiteren Handlung, auf die Landschaft bezogen, wird sein, dieses Verhältnis umzukehren, die Wüste zu erobern, den eigenen Zielen dienstbar zu machen und sie damit der Verfügungsgewalt der Geier zu entziehen. Daß diese allerdings von Anfang an nicht unumschränkte Herren des Llano sind, erfährt der Leser bald, wenn er hört, daß ein geheimnisvoller Geist immer wieder einzelne Banditen erschießt.(48)

Wir haben bisher zwei ganz verschiedene Verfahren, Landschaft darzustellen, kennengelernt: die Außensicht eines auktorialen Erzählers in Form einer trockenen Beschreibung (mit einem kurzen Anhang anschaulicher Schilderung) sowie eine Vermittlung durch Personen der Handlung im Dialog, wodurch der Raum verlebendigt und für das Geschehen funktionalisiert wird. Die Überlegenheit der zweiten


- 67 -

Methode über die erste ist evident.

Auf welche andere Weise wird der Raum behandelt und ins Blickfeld des Lesers gebracht? Das folgende Beispiel soll uns eine weitere szenische Darstellung vorführen, in der der Erzähler fast ohne Dialog auskommt. Zu ihr gehört die Stelle, die uns als Ausgangspunkt der Raumanalyse diente (s.o. S. 58).

[Die vier Yankees und die beiden Mexikaner reiten los:]

So ging es am rechten Ufer des Toyah hinab. Von der Nähe des Llano estakado war nichts zu spüren. Gras, Sträucher und Bäume gab es genug; ja, gegen Abend traten die Bäume sogar so eng zusammen, daß sie einen Wald bildeten, durch welchen der Fluß seine Wasser in den Rio Pecos sandte.

Der Toyah führte viel erdige und sandige Bestandteile mit sich, welche er in der Weise in den Rio Pecos, der jetzt nicht viel Wasser besaß, abgelagert hatte, daß sich eine Barre quer und schief abwärts über den letzteren zog. Diese Barre wurde nur an wenigen schmalen Stellen, welche dem Wasser den Abfluß gestatteten, unterbrochen. Sie bildete eine Furt, auf welcher man den Übergang unschwer bewerkstelligen konnte, da nur die erwähnten schmalen Stellen zu überschwimmen waren.

Es war noch nicht spät am Nachmittage, und so wurde beschlossen, den Übergang noch heute zu bewerkstelligen und dann das Nachtlager drüben im Yuavh-kal aufzuschlagen. Die Pferde schwammen ausgezeichnet, und so kamen die Männer wohlbehalten, wenn auch mit durchnäßten Beinkleidern hinüber. Von da aus wurde nach Norden geritten und die Stelle berührt, an welcher die Texaspacificbahn jetzt über den Rio Pecos geht. Dann hielt die kleine Gesellschaft auf einen Höhenstrich zu, dessen Fuß mit grünem Gebüsch bestanden war, während die Kuppen nackt und kahl erschienen.

Dort öffnete sich eine enge Schlucht, in welcher ein schmales, seichtes Wasser floß. Die beiden Mexikaner lenkten hinein und sagten den anderen, daß dies das Singende Tal sei, welches weiter aufwärts bedeutend breiter werde.

Dieses Tal war sehr tief eingeschnitten. Es stieg nicht steil an, und das Wasser hatte wenig Fall. Der Boden war grasig, doch zu beiden seiten hatten sich Beifußarten am Felsen angesiedelt, ein sicheres Zeichen, daß man sich einer pflanzenfeindlichen Region nähere. Später traten die Seitenwände des Tales weiter zurück; die Sohle war mit lockerem Geröll bedeckt, und nur in unmittelbarer Nähe des Wassers gab es einen spärlichen, dünnen Rasen.

[...]

Nach der [...] Zeit [von einer Viertelstunde] wurde das Tal plötzlich breiter und bildete einen beinahe kreisrunden Kessel, welcher einen Durchmesser von vielleicht tausend Fuß hatte. Er war von steilen Felswänden umschlossen, welche keinen Ausgang offenzulassen schienen. Bald aber sahen die Yankees, daß es gerade ihnen gegenüber eine schmale, tiefe Ritze gab, durch welche man wohl weiter gelangen konnte.

Hier in diesem Kessel entsprang der Bach. Die Stelle, an welcher der Quell aus der Erde trat, lag tiefer als die Umgebung, und darum bildete das Wasser einen kleinen Weiher, welcher von einer dichten Hecke von Gesträuch eingefaßt wurde. Jenseits dieses Teiches, ganz in der Nähe des Felsenhintergrundes, erblickte man eine fremdartige Pflanzengruppe. Dort standen zwei bis drei Meter hohe Gebilde, welche riesigen Kandelabern glichen; einige derselben


- 68 -

waren sogar noch einmal so hoch. Sie schienen weder Zweige noch Blätter zu haben, und ihre gerade emporgerichteten Arme trugen zahlreiche feigenartige Knollen. Das war eine Ansiedelung des Säulenkaktus, dessen feigenähnliche Früchte gegessen werden können. Emilio Cortejo deutete dorthin und sagte:

"Dort pflücken wir unser Abendmahl, und am Weiher gibt es genug Gras und grüne Blätter für unsere Pferde. Ich denke, ihr werdet zufrieden sein. Kommt, Senores!"

Er setzte sein Pferd in Trab und ritt auf das Wasser zu; die anderen folgten ihm. Sie befanden sich ungefähr noch sechs Pferdelängen von den Büschen, da tönte ihnen ein lautes "Halt" entgegen. Natürlich hielten sie ihre Pferde an.

(S. 226-228)

Der Raum kommt in dieser szenischen Darstellung - mit geringfügigen Ausnahmen - nur soweit in den Blick, als er von den handelnden Personen "erritten" wird; der Leser nimmt wahr, was die Personen wahrnehmen, aber erst dann, wenn es in ihr Blickfeld gerät, und was sie empfinden. Der Llano ist ganz in der Nähe, aber die Männer spüren seine Nähe nicht. Der Erzähler ist stark engagiert, macht besonders darauf aufmerksam, daß sich die Bäume zum Wald verdichten. Der Zustand des Flusses wird beschrieben, weil er eine erzähltechnische Funktion hat: er muß die Überquerung noch vor Einbruch der Nacht ermöglichen, weil nur so die Männer ins Singende Tal gelangen, wo der nächste wichtige Handlungsabschnitt spielen soll, und dazu muß es Nacht sein. Ganz kurz bemerkt der Leser den allwissenden Erzähler, der eine Information über den Zustand der Gegend zum Zeitpunkt des Erzählens gibt. Gleich darauf nimmt er wieder die Perspektive der Reiter ein: Erst wenn sie auf den Höhenzug zureiten, wird auch dem Leser dessen Beschaffenheit mitgeteilt. Und so geht es weiter: Auch diese Stelle bestätigt, was wir schon mehrfach festgestellt haben; der Erzähler reitet sozusagen mit den Personen und schildert den Weg aus ihrer Sicht. Besonders deutlich wird dies in dem folgenden Fall. In dem Kessel, der sich vor den Männern auftut, scheint es den Yankees so, als gebe es keinen weiteren Ausgang; erst später stellen s i e (nicht die Mexikaner, die wissen das schon längst!) fest, daß es eine Ritze gibt, und sie vermuten, man könne da hindurch. Bedenken wir, was es bedeutet, wenn die Yankees mit den Mexikanern reiten, die von Ben New-Moon mit Mißtrauen beobachtet werden und von denen der Leser inzwischen weiß, daß sie nicht so harmlos sind, wie sie sich geben. Diese haben die Führung übernommen, sie kennen die Gegend, und sie haben offenbar vor, die Yankees zu berauben. Den vier Ame-


- 69 -

rikanern dagegen ist die Gegend unbekannt, und sie sehen nur das, was in ihren beschränkten Blickwinkel gelangt. Der Leser betrachtet die Landschaft mit ihren Augen, weiß aber gleichzeitig mehr als sie, sieht irgendein Unheil voraus. Für ihn erhält die Landschaft den Anstrich des Bedrohlichen, sie weist topographische Gegebenheiten auf, die den Charakter einer Falle haben, und die Yankees reiten einfach mit, sind kaum einer Gefahr gewärtig. Ob Ben New-Moon mit seinem ganz unbestimmten Mißtrauen so geistesgegenwärtig ist, daß er einer plötzlich auftauchenden Gefahr begegnen wird, kann man mit Fug und Recht bezweifeln. Verstärkt wird das Gefühl der Bedrohung, das die Landschaft dem Leser vermittelt, durch weitere Einzelheiten. Der Wald schränkt die Sichtweite ein und begrenzt das Blickfeld; beim Überqueren eines Flusses ist man einem Angreifer vom Flußufer aus schutzlos ausgeliefert; das Gebüsch am Fuße des Höhenstrichs verbirgt den, der sich eventuell in feindlicher Absicht in oder hinter ihm befindet; die enge Schlucht gewährt kaum Verteidigungsraum - das alles sind topographische Elemente, die für einen Hinterhalt sehr geeignet sind. Dann auch der Kessel mit dem Weiher, der wieder von Gebüsch, diesmal von einer dichten Hecke von Gesträuch eingefaßt wird; dahinter erscheint eine fremdartige Pflanzengruppe, die das Gefühl des Unbekannten und dadurch Bedrohlichen noch verstärkt. Daran ändert auch die kurze Erklärung des Erzählers über die Eßbarkeit der Früchte nichts. Wie gesagt, all das sieht der Leser erst, wenn er ganz in der Nähe ist, keine Vorbereitung ist möglich. Und tatsächlich trifft die lange gehegte Befürchtung ein. In diesem Gebüsch sind Menschen verborgen, die den sechs Männern Halt gebieten. Da sie unsichtbar sind, weiß man nicht, wer sie sind, wieviele sie sind, ob sie Gutes oder Böses im Schilde führen, ob sie vielleicht Komplizen der Mexikaner sind. Bald erfährt der Leser, daß zwei Männer ihre Gewehre auf die Reiter gerichtet haben, sie also ohne weiteres erschießen könnten.

Die Landschaft insgesamt und ihre einzelnen Elemente haben die Qualität von Bedrohung und Gefährdung. Immer wieder tauchen Hindernisse für die freie Fortbewegung oder für den freien Blick auf. Der Kessel hat den Charakter eines Gefängnisses; auch die Ritze, die einen Ausgang bietet, kann von wenigen Feinden oder gar einem einzigen versperrt werden. Das alles findet im Großraum der shears


- 70 -

statt, einer höchst unsicheren und gefährlichen Gegend, auf die der Leser (wenn auch stilistisch schlecht) eingestimmt wurde. Und doch wirkt die Bedrohlichkeit weniger stark, wenn man sie mit der des Llano estakado vergleicht. Wir erfahren mehr Einzelheiten, es gibt mehr Signale, die auf Leben deuten: Wasser, Bäume, Büsche, Pflanzen; all das scheint es im Llano nicht zu geben (von der Oase weiß der Leser ja noch nichts). Außerdem gibt es natürliche Wege: eine Furt durch den Fluß, grasigen Boden in der Schlucht, ebene Flächen, über die man gut reiten kann. Diese natürlichen Wegzeichen sind kaum zu beseitigen bzw. zu manipulieren, ganz anders als die Pfähle im Llano. In der Wüste treiben viele Banditen, die meist kleine Gruppen von Reisenden überfallen, ihr Unwesen; hier aber haben es vier Yankees mit nur zwei Mexikanern zu tun - wenn diese nicht Helfershelfer hinter irgendeinem Gebüsch haben oder oberhalb einer Schlucht, von wo aus sie, hinter Felsblöcken verborgen, auf die Reisenden schießen können. Diese Reisenden werden aber bald Verstärkung erhalten in Baumann, dessen Sohn und Winnetou. Dieser verminderten Bedrohung entsprechend wird geradlinig geritten; die Hindernisse und Sichtbeschränkungen sind nicht so total, daß sie den Weg der Reisenden stoppen könnten.

Ein weiterer Unterschied besteht darin, wie die Bedrohungsmacht der beiden Gegenden vermittelt wird. Über den Llano wird mit allen Ausdrücken des Schreckens gesprochen: ermordet, schreckliche Wüste, Wildnis, Hyänen in den Plains, Verbrechen, halb verschmachtet. Die Gegend, durch die im 7. Kapitel geritten wird, erscheint ganz anders, zwar etwas trostlos, aber nicht lebensfeindlich, nicht so unmittelbar bedrohend: nackt und kahl, pflanzenfeindliche Region, steile Felswände usw. Während die Schrecken des Llano direkt beim Namen genannt werden, wird die Gefährlichkeit der Toyah-Gegend eher durch die Erzählweise und die Stimmung, die sie evoziert, beschworen. Der Schrecken ist hier zu ahnen, zu spüren, aber er wird nicht leibhaftig wie in den Berichten von Mord und Totschlag im Llano.

Auch der Grad der Beherrschung des Raumes durch Menschen erscheint anders. Im ersten Fall, dem Llano estakado, so hatten wir gesehen, sind die Geier zunächst fast gänzlich Herren der Wüste, die Reisenden sind ihnen so gut wie schutzlos ausgeliefert. Im zweiten Fall sind die Mexikaner, die ja zu den Geiern gehören, zwar auch Herren des Weges, den sie kennen und auf den sie die Yankees füh-


- 71 -

ren. Aber der Westmann Ben New-Moon hat immerhin schon Mißtrauen gefaßt, wird sich also vorsehen. Vor allem aber stößt die Gruppe, bevor die Mexikaner etwas unternehmen können, auf den Bärenjäger mitsamt Sohn; Baumann durchschaut sie sogleich, und gegen ihn können sie nicht aufkommen; selbst wenn sie einen Anschlag versuchten, wäre er ihnen überlegen. Und vollends wenn Winnetou dazustößt, haben die Geier keine Chance mehr. Winnetou wird den Raum im Singenden Tal weit besser für seine Zwecke nutzen als die beiden Bösewichte. Schließlich wird einer der Komanchen sie als Angehörige der Bande erkennen und dadurch zur Flucht zwingen; dabei führen sie die Helden aber gerade zu ihrem Versteck, der Murding-bowl. H. Schmiedt hat gezeigt(49), welcher übergeordnete Zusammenhang solche Veränderungen in den Fähigkeiten zur Raummanipulation begründet: In diesem Stadium der Erzählung sind die Bemühungen der Helden schon so weit gediehen und die Geier so weit ins Hintertreffen geraten, daß sich der Sieg der ersteren über die letzteren immer deutlicher abzeichnet.

Wenn wir weitere Beispiele für die Schilderung des Raumes und der Landschaft betrachten, stoßen wir auf zwei Stellen, die einen reizvollen Anschauungsunterricht darüber erteilen, auf welch vielfältige Weise man dem Leser fiktive Räume präsentieren kann. Die beiden Snuffles leisten dies; einmal, indem sie aus Spuren am Boden räumliche Bewegungen herauslesen; zum anderen gelingt es ihnen, sich, dem Gesprächspartner und dem Leser aus der Analyse von Gesten das Bild eines Raumes zu vermitteln und ihn aus eigener Kenntnis zu vervollständigen. Fangen wir mit dem zweiten Beispiel an. Jim erklärt Stewart, daß er ihn durchschaut hat:

"[...] Ihr zeigtet mit der Linken nach Süden und machtet dann mit der Rechten eine Bewegung, als ob Ihr die Umrisse eines Berges zeichnen wolltet. Dann schobt Ihr wieder die Linke so geradehin von Euch ab, was natürlich eine Ebene bedeutete. Später dann deutetet Ihr nach Osten zurück und von da nach Süden hinab. Das war alles so deutlich, daß ich Euch die ganze Geschichte erzählen will. "

"So tut es doch!"

"Sehr gern! Die Boys sind nach Osten zurück und wenden sich jetzt, da ich sie nicht mehr sehen kann, dem Mittag zu. Dort steht rechts ein Berg, an welchen zur linken Hand eine Ebene stößt, nach welcher die Boys reiten sollen. Da sie hier unbekannt sind und Ihr sie trotz der nahenden Dunkelheit hinweiset, kann diese Ebene nicht sehr weit von hier entfernt sein. Ich kenne so einen kleinen, sandigen Plan dort unten. Es fließt ein Wasser vom Berge herab und verschwindet dann im Sande. Man kann von hier aus binnen


- 72 -

drei Viertelstunden hinkommen, und ich habe große Lust, für diese Nacht dort mein Lager aufzuschlagen."

(S. 127f.)

Fürwahr ein kleines Kabinettstück, und offensichtlich nur um dessentwillen erzählt! Zur Information des Lesers ist es völlig unnötig, die geographischen Angaben hier zu wiederholen, die Stewart kurz vorher den Diamond-boys bereits gemacht hat, was der Leser mitbekommen hat. Und um Stewart zu zeigen, daß er ihn durchschaut hat, braucht Jim Snuffle nicht so viele Worte zu machen. Auch ihre Drohung, dorthin zu reiten, machen die Snuffles dann nicht wahr. Sinn der Stelle ist ganz offenbar nur, zu zeigen, wie originell man eine Landschaft vor die Augen des Lesers stellen kann, wobei es allerdings noch wirkungsvoller gewesen wäre, hätte der Leser das Ganze nicht schon vorher aus Stewarts Worten erfahren. Sinn hat die Stelle aber noch dadurch, daß sie wieder das Spiel mit Täuschungsversuch und Entlarvung variiert (vgl. oben S. 24-29). Armbewegungen unterstützen die Beschreibung einer Gegend und die Anweisungen, eine bestimmte Bewegungsrichtung einzuhalten. Stewart beabsichtigt, die Diamond-boys zu täuschen und ins Verderben zu führen. Diese fallen auch darauf herein. Genau das Gegenteil. wird aber bei den Snuffles erreicht. Sie erkennen die wahren Absichten Stewarts, indem sie dessen Gesten mit einer ihnen bekannten Gegend vergleichen und so identifizieren. Darum können sie dem Banditen wenigstens etwas Angst einjagen, indem sie andeuten, sie wollten sein Vorhaben durchkreuzen. So weit ist im 4.Kapitel, aus dem die Stelle stammt, die Handlung schon gediehen, daß eine der wichtigsten Voraussetzungen für die erfolgreiche Durchführung von Verbrechen, nämlich Irreführung durch Tarnung oder Betrug, nicht mehr nur durch Übertreibung und Fehler erschwert oder gar zunichte gemacht wird (wie bei dem Mormonen und dem Fremden in Helmers Home), sondern direkt und geradezu von ihnen selbst aufgehoben wird. Stewart selbst verrät den Snuffles mit Hilfe eines Zeichensystems genau das, was er vor ihnen geheimhalten will. Auch dies ist eine Art szenischer Darstellung eines Raumes und der in ihm geplanten Taten, eine Darstellung, die ein wichtiger Bestandteil des Aufklärungs- und Enttarnungsspieles in unserer Erzählung ist.

Auch der Raum, in dem der Überfall auf die beiden Komanchen statt-


- 73 -

gefunden hat, wird vor Augen geführt, mitsamt den Bewegungen und Vorgängen, die in ihm abgelaufen sind. Nur daß diesmal nicht Gesten, sondern Spuren am Boden und an den Pflanzen den Hergang verraten. Dabei wird nicht nur eine Untat aufgedeckt, die eigentlich durch den Ort, an dem sie geschieht: der Wüste, wo weit und breit kein Zeuge war, verborgen bleiben sollte. Auch die schreckliche Tarnung, mit der die Banditen verhindern wollten, daß ihr getöteter Kumpan erkannt wird, nützt ihnen nichts. Trotz des mit Messerstichen unkenntlich gemachten Gesichts wissen die Snuffles, daß es sich um einen der Geier handeln muß. Infolgedessen können sie dem jungen Komanchen Eisenherz Hilfe bringen. Im vorigen Fall wird die Entlarvung des bösen Plans Stewarts den Diamond-boys nicht ausdrücklich zur Rettung gereichen. Sie bleiben in der Wildnis der Erzählung verschollen.

Allen bisher besprochenen Beispielen, mit Ausnahme der trockenen Einleitung zum 7.Kapitel, ist gemeinsam, daß sowohl die Details des geschilderten Raumes als auch die Art ihrer Vermittlung zum Leser einen Sinn in sich tragen, der mit dem Hauptthema der Erzählung zusammenhängt. Sie verweisen auf den Charakter der Landschaft als eines bedrohlichen Gefüges aus wasser- und weglosem Sand oder aus Schluchten und Wäldern mit vielerlei Arten von Hindernissen und Fallen, und sie verweisen auf den Versuch der Banditen, diesen Charakter der Landschaft für ihre bösen Zwecke zu mißbrauchen oder gar, wo möglich, zu manipulieren. Gleichzeitig aber verraten die faktischen Details den Stand der Auseinandersetzung zwischen Guten und Bösen und die Mittel und Fertigkeiten, über die die ersteren verfügen, um die letzteren schließlich niederzuringen. Abstraktes, wie Absichten, Existenzgefährdungen usw., wird so erfahrbar gemacht und findet seine Entsprechung im realen Zustand des Raumes. Dieser spiegelt damit den Zustand der menschlichen Existenz wider.

Kommen wir nun zum 6.Kapitel, der Geisterstunde mit ihren Himmelserscheinungen. (S. 187ff.)

[Old Shatterhand] bemerkte im Davonreiten, nach Westen deutend: "Mir scheint, von dorther kommt etwas, Sturm oder ähnliches. Das ist ein Wetterloch, welches aber dem Llano leider niemals Regen bringt."

[...]

Die anderen betrachteten, von ihm aufmerksam gemacht, den westli-


- 74 -

chen Himmel, an welchem sich über der Sonne ein leiches Gewölk zeigte, rötlichgrau gefärbt und eine Art Ring bildend, in dessen Mitte sich goldene Reflexe sammelten. Das sah gar nicht gefährlich aus, und Old Shatterhands Worte wurden als eine Bemerkung hingenommen, welche wohl keine weitere Bedeutung hatte. Nur der Komanche hielt den Blick bedenklich auf das Wölkchen gerichet und murmelte für sich hin:

"Temb metan, der Mund des Blitzes!"

(S. 186, Ende des 5.Kapitels)

[...] die Männer achteten nicht auf den Himmel, welcher jetzt eine ganz andere Färbung angenommen hatte. Nur der Komanche, welcher schweigend seitwärts saß, achtete genau auf diese Veränderung.

[Der Himmel wird nun beschrieben.]

[...] Da plötzlich sprang der Komanche auf und schrie, [...] in dem er nach der im Osten liegenden schwarzen Wand deutete:

"Haho-timb-yuavah - der Geist des Llano!"

Die anderen sprangen erschrocken auf. Sie bemerkten erst jetzt die Veränderung des Himmels; aber der Schreck erstarrte ihre Blicke, als sie dieselben dahin richteten, wohin Eisenherz zeigte.

[Nun wird die erste "Geister"-Erscheinung beschrieben, unterbrochen von der Feststellung des Erzählers:]

Es machte einen unbeschreiblichen grauenhaften Eindruck auf die Beschauer. Keiner von ihnen ließ ein Wort, einen Laut hören.

[Die Männer kommentieren das Gesehene:]

"[...] Und seht nur, wie schnell sich der Himmel verändert! Das ist ja noch nie dagewesen!"

[Die Veränderung des Himmels wird beschrieben. Dann kommt der Sandsturm. Anschließend besprechen die Männer den Sturm, es kommt zum Streit mit Hobbel-Frank, der zürnend weggeht.]

Die Sonne, welche vorhin vollständig verdunkelt worden war, warf jetzt wieder ihre Strahlen hernieder. Dieselben waren ganz eigentümlich gefärbt, fast safrangelb, hätte man sagen können. Der Horizont verschwamm in dieser Färbung, und die Erde schien gegen ihn hin sich rundum zu erheben. Das hatte ganz das Aussehen, als ob die fünf Männer sich am tiefsten Punkte des Innern einer großen Hohlkugel befänden.

[Ein Gespräch über den Geist des Llano estakado schließt sich an. Dann kehrt Frank zurück, und über die Frage möglicher Erklärungen der Naturerscheinungen entzweit er sich wieder mit den anderen. Diese unterhalten sich weiter, bis Frank wiederkommt.]

Darüber verging die Zeit, und die Nacht brach an.

[...]

Die Luft war mittlerweile rein geworden und ließ sich leichter atmen als vorher.

[...]

So verging Viertelstunde um Viertelstunde. Da plötzlich wurden die Schlafenden durch einen lauten Ausruf des Indianers geweckt. Sie fuhren in sitzende Stellung empor.

"Mava tuhschta - seht dorthin!" sagte er, nach Süden deutend. Sie sahen trotz der Dunkelheit seinen ausgestreckten Arm und blickten in die angegebene Richtung.


- 75 -

[Dort sehen sie einen hellen Schein und versuchen ihn zu erklären.]

"Meinst du, daß ein Geist sich ein Lagerfeuer anbrennt?"

"Warum nich? Bei so eenem kalten Winde, wie er jetzt weht?"

Die Luft wurde allerdings schärfer.

[...]

Das Ganze gewährte einen schaurig-prachtvollen Anblick. Die fünf Männer standen staunend. Sie wagten kaum zu sprechen.

[Es folgt wieder ein Gespräch der Männer über die Erscheinungen.]

"Herr Jemerschnee, habe ich nich recht gehabt? Guckt mal hin! Dort kommt er geritten!"

Er rief die letzteren Worte im Tone des Entsetzens aus.

[Zum zweiten Mal wird die Erscheinung eines Reiters am Himmel beschrieben.]

Den Zuschauern war es trotz der kalten Luft, welche sie umwehte, glühend heiß geworden. War da an Täuschung zu denken? [...]

Sie standen da und warteten, ob die Erscheinung sich vielleicht wiederholen werde - vergebens. Eine Zeitlang loderte der Halbkreis noch in gleicher Stärke fort; dann verlor sein Bogen die bisherige Schärfe und seine Lichter begannen zu verdunkeln.

[Old Shatterhand mit seinen Begleitern kommt. Man berichtet ihm das Erlebte:]

Der kleine Sachse gab eine [...] Beschreibung der zweimaligen Geistererscheinung. Old Shatterhand warf zuweilen eine Frage dazwischen.

Indessen sank im Süden der Lichtschein immer tiefer und erbleichte mehr und mehr.

[Dann breitet sich am Himmel ein Flammenmeer aus, das von Old Shatterhand als brennender Kaktus erklärt wird. Eine erneute Reitererscheinung kommt am Himmel, diesmal auf dem Kopf stehend. Daraufhin erfolgt der Ritt zu der Stelle, wo man auf die Geisterreiter zu treffen gedenkt.]

Mit einer Ausnahme kommen auch die Himmelserscheinungen immer über die Personen in den Blick des Lesers. Entweder erblicken die Männer die Veränderungen, die am Himmel vorgehen, und weisen gestisch oder mit Worten auf sie hin, oder der Erzähler beschreibt sie, ausgehend von dem Hinweis, daß die Männer sie nicht beachten; zumindest wird gesagt, daß sich während des Gesprächs (mittlerweile) etwas am Himmel tut. Hier wird schon deutlich, daß die Naturerscheinungen nicht Selbstzweck sind, sondern auf die Personen und damit auch auf die Handlung einwirken. Nur einmal wird die Perspektive abrupt gewechselt, von dem erzürnt weggehenden Frank auf den Himmel; dann wird aber sogleich durch einen Vergleich der Be-


- 76 -

zug zu den Männern hergestellt. Am Schluß der Passage erfährt der Leser teilweise aus den Worten der Männer, was am Himmel vorgeht. Beeindruckend ist der Rhythmus, in dem sich die Schilderung der Himmelserscheinungen und der Reaktion der Männer, die sich vor allem in Gesprächen kundtut, abwechseln.

Beim ersten Mal wird die Veränderung des Himmels sehr ausführlich geschildert, etwa zwei Reclam-Seiten lang. Darauf folgt ein kurzes (ca. eine halbe Seite langes) Gespräch (Verhältnis Naturerscheinung - Gespräch ca. 4:1). Dann wird das Verhältnis umgekehrt. Auf zwei kurze Himmelsbeschreibungen (eine Seite, dann eine halbe) folgen längere Gespräche (zweieinhalb, dann fünf Seiten; Verhältnis also ca. 1:2,5 bzw. 1:10!), dann wird der Anteil der Naturschilderung wieder größer (ca. 1:3; 1:2; 1:2;), er bleibt aber immer noch geringer als der der Gespräche; letztere nehmen bei der vorletzten Himmelserscheinung wieder sehr breiten Raum ein (eine viertel Seite gegen eineinhalb, also 1:6), um dann in die letzte Erscheinung mit den neu ankommenden Reitern zu münden, was teils im Erzählerbericht, teils durch die Männer selbst geschildert wird, und in die folgende Aktion, den Ritt an die Stelle im Llano, an der man voraussichtlich die Geister treffen wird, überzugehen.

Die erste ausführliche Schilderung der Veränderungen am Himmel baut die Grundstimmung auf, eine Mischung aus Verzauberung (goldene Reflexe) und Beklemmung, ja Furcht und Entsetzen. Danach liegt der Akzent der Erzählung auf den Gesprächen der Männer. Dabei geht es nicht um die Naturerscheinungen als solche, sondern um ihre Wirkung auf die Personen der Handlung. Sie versetzen die Männer und damit den Leser in einen Zustand der Erregung, der Ratlosigkeit, geben ihnen den Wunsch ein, die Rätsel zu lösen. Von einer bestimmten Stelle ab folgen die Erscheinungen immer schneller aufeinander, bis Old Shatterhand auftaucht und die Personen wie den Leser einigermaßen beruhigt, indem er rationale Erklärungen gibt. Der einzige, der die beklemmende Stimmung noch stützt, ist der Hobbel-Frank. Old Shatterhand ist auch der Mann, der die Natur- und Reitererscheinungen zum Anlaß nimmt, seine Aktion gegen die Banditen und zur Unterstützung des Geistes zu starten.

Natürlich hat die Stimmung, die in diesem Kapitel aufgebaut wird, auch einen gewissen Selbstzweck, ist nicht nur funktional auf die Handlung bezogen. Das gilt auch für die Naturerscheinungen im Singenden Tale. In beiden Fällen soll für den Leser eine fremdartige,


- 77 -

exotische Atmosphäre geschaffen werden, die ihn verzaubert. Aber der Leser soll sich nicht in eine solche Stimmung verlieren, er wird immer wieder auf die Ebene der Handlung zurückgeführt, nämlich durch die Unterhaltung der Männer. Darüberhinaus wird der Raum in seiner tatsächlichen Dreidimensionalität auch zum Handlungsraum. Die gewählte Perspektive, aus der die Vorgänge um Bloody-Fox geschildert werden, vermittelt dem Leser die Vorstellung, daß sich die Ereignisse tatsächlich in der Höhe, am Himmel abspielen. Natürlich bewegen sich die Reiter am Boden. Zunächst reitet der angebliche Dragoneroffizier, um den es sich bei dem ersten, als Indianer verkleideten Reiter, ja handelt, zu seinen Kumpanen. Wenig später reitet ihm Bloody-Fox in seinem Büffelfell nach. Beim dritten Mal reitet Fox, vor den Geiern fliehend, in die entgegengesetzte Richtung; hinter ihm Stewart mit seinen Komplizen. Da diese Ritte aber aus der Sicht der im Llano lagernden Helden geschildert werden, finden sie vermeintlich, aufgrund der Spiegelungen, am Himmel statt. Der erste Reiter bewegt sich drei scheinbare Mannshöhen über der Linie des Horizontes horizontal dahin. Der zweite Reiter jagte in runder Linie am Himmel aufwärts bis zum höchsten Punkte und dann auf der rechten Seite der glühenden Halbscheibe wieder herab (S. 200f.). Beim dritten Mal sieht man höher noch als diese Wolken [...] und frei schwebend im Luftraume eine spiegelverkehrte Landschaft, also eine Fata Morgana, in der mehrere Reiter dahinjagen. Auf diese Weise können nun Ereignisse, die von den Beobachtern weit entfernt stattfinden, betrachtet werden. Man denkt unwillkürlich an eine Filmleinwand, auf der ein Western abläuft. Die Zuschauer, hier Fred, Frank und die anderen, schließlich Old Shatterhand, befinden sich "unten" im Dunkeln, wie in einem Zuschauerraum, während "oben", auf der Leinwand, die Ritte zu sehen sind. Wir erinnern uns an die filmische Aufteilung der letzten Jagd auf Burton, die wir im Kapitel über den Erzähler vorgenommen haben (s.o. S. 32), und sehen wieder ein Beispiel für eine filmartige Darstellung von Geschehen vor uns, wie sie nicht anschaulicher aufbereitet werden kann, nur daß die Reiter auf der Filmleinwand natürlich nicht auf dem Kopf stehen. Schließlich schrumpft der gesamte dreidimensionale, weite Raum zusammen, wenn Old Shatterhand aus der dritten Reitererscheinung den Schluß zieht, wo man auf die Reiter treffen kann, und hinreitet. Ein Beweis, wie die räumliche Anordnung dieser Vorgänge die Handlung weiterführt!


- 78 -

Interessant übrigens, daß damit eine der beiden Stellen, an denen wir Bloody-Fox auf seinem geheimen Tun in der Wüste begleiten dürfen, diese Jagd an den Himmel, d.h. in die Höhe verlegt. Zweimal nur sind wir Zeuge dessen, was Fox als Geist im Llano estakado wirklich macht. Beim ersten Mal sehen wir ihn nur aus weiter Ferne in ganz unwirklicher Weise, als Luftspiegelung, sogar spiegelverkehrt. Erst im letzten Kapitel erlaubt uns der Erzähler, die jugendliche Heldengestalt selbst zu begleiten und ihr aus nächster Nähe zuzusehen. Das ist der Augenblick, in dem Fox kurz vor seiner Bekehrung vom Einzelgänger zum Mitstreiter der Heldengesellschaft wird.

Was sonst noch alles in der Spiegelung des Bloody-Fox verborgen ist, mögen Kenner autobiographischer und psychoanalytischer Verfahren ans Licht befördern. Grundsätzlich neu ist die Einbeziehung der dritten Dimension in die Abenteuerhandlung als handlungstreibendes Motiv in dieser Erzählung natürlich nicht. Auch an anderen Stellen kommt sie vor, beispielsweise zu Beginn des 3. Kapitels, wo die Snuffles in der Luft einen Raubvogel kreisen sehen, aus dessen schwerfälligem Flug sie erkennen, daß er sich mit Aas vollgefressen hat (S. 80f.). Sie wissen gleich, vorher schon durch das akustische Signal eines Schusses aufmerksam geworden, daß vor ihnen etwas im Gange ist, was sie untersuchen müssen.

In der Sklavenkarawane ersieht z.B. einer der Haupthelden an Vögeln, die weit entfernt in der Luft schweben, daß dort Menschen sind, die ihm gefährlich werden könnten.(50) Aber in der Geisterstunde unserer Erzählung ist es doch anders. Hier spielt sich scheinbar ein regelrechtes Drama am Himmel ab, Verfolgungsjagden, einer gegen viele, und dieses Drama steht stellvertretend für eine der zentralen Handlungen, die den Inhalt der ganzen Erzählung ausmachen, die Jagd des Bloody-Fox auf die Geier. Im Grunde genommen ist also das Tun des Bloody-Fox in der Wüste weithin sichtbar, darf es auch sein, weil es rechtens ist und human; die Untaten der Geier dürfen gesehen werden, damit sie vor aller Welt gebrandmarkt werden. Aber die Umstände, unter denen diese Vorgänge erscheinen, sind so geartet, daß sie keiner richtigen Deutung zugänglich sind, außer für Old Shatterhand. Aber auch diesem enthüllt sich die wahre Identität des Geistes noch nicht zweifelsfrei, weil der durch das Büffelfell unkenntlich ist. Unkenntlich gemacht war zwar auch das Gesicht des von Eisenherz im Kampf erschossenen Banditen, was


- 79 -

nicht verhindert hatte, daß die beiden Snuffles ihn als einen der Geier erkannten. Aber die beiden Situationen sind verschieden. Im 3. Kapitel ist heller Tag, das Wetter ist normal, kein Old Shatterhand ist in der Nähe der Snuffles. Im 6. Kapitel dagegen ist es dunkel, die Umstände sind geheimnisvoll, die Vorgänge am Himmel können nur mit Hilfe physikalischer Kenntnisse entschlüsselt werden, und über die verfügt eben nur Old Shatterhand. Was die Identifizierung des Bloody-Fox angeht, so vereitelt dieser sie selber, indem er auf Old Shatterhands Anruf nicht halten bleibt, sich also nicht zu erkennen gibt. Trotz der weiten Umsicht, auch nach oben, ist die Handlung der Erzählung noch nicht so weit gediehen, daß vollkommene Aufklärung am Platze wäre.

Der dreidimensionale Raum als Handlungsort, ohne Flugkörper, ohne alle technischen Errungenschaften, nur aufgrund naturgesetzlicher Gegebenheiten gestaltet - wahrhaft ein Kabinettstück!


- 80 -

4. Die Personen der Handlung

a) Erwachsene Helden als Vor- und Leitbilder

Die Gruppe der erwachsenen Helden bildet, je nach den Aspekten, unter denen man sie betrachtet, eine homogene, aber auch in sich differenziert gegliederte Gemeinschaft. Was die praktischen Fähigkeiten und das geistige Vermögen angeht, gibt es durchaus deutliche Unterschiede zwischen den Mitgliedern, die vor allem von Old Shatterhand und Winnetou überragt werden. Allerdings läßt sich keine eindeutige Rangfolge unter den Helden zweiter Klasse aufstellen, da ihre Qualitäten von der Nähe oder Ferne, in der sie sich zu Old Shatterhand befinden, abhängen.

Legt man den ethischen Wert als Maßstab an sowie die Rigorosität, mit der nach moralischen Normen gehandelt wird, so ist eine auffällige Geschlossenheit zu beobachten, die zur Folge hat, daß jedes Gruppenmitglied seine Funktion erhält, seine Rechte hat und sich seinen Fähigkeiten entsprechend entfalten kann. So werden selbst grundsätzliche Erwägungen, wie die, daß man Menschenblut nur im äußersten Notfall vergießen soll, auch von den zweitrangigen Helden, nicht nur von dem tonangebenden Humanitätsvorbild Old Shatterhand, geteilt, wenn auch nicht so ostentativ vertreten wie von diesem. Jeder wird von jedem anderen anerkannt, selbst wenn er - wie der Hobbel-Frank - beträchtliche Mängel erkennen läßt. Kritik wird in aller Regel von den zweitrangigen Helden aneinander nur in scherzhafter Form geübt, als freundschaftliche Frozzelei, und wenn sie mal etwas ernsthafter ausfällt, dann nur gegenüber den hochstaplerischen Tiraden des Hobble-Frank. Auch Old Shatterhand kritisiert in unserer Erzählung maßvoll und erscheint vor allem dem kleinen Sachsen gegenüber sehr nachsichtig. Somit ist die Gruppe der Erwachsenen eine erstrebenswerte Verkörperung einer echten Gemeinschaft von Individuen.

Zur genaueren Analyse des Beziehungsgefüges in dieser Gruppe seien Szenen in Helmers Home herangezogen.


- 81 -

Die drei Reiter waren jetzt herangekommen, hielten ihre Tiere an und stiegen ab. Sie trugen ganz dieselben Waffen und Anzüge, wie damals auf ihrem Ritte nach dem Nationalparke. Die Augen von Helmers und Fred waren besonders auf Old Shatterhand, diesen berühmtesten unter den Jägern, gerichtet. Er trat, ohne Frank nach den beiden Personen gefragt zu haben, zu Helmers, streckte ihm die Hand entgegen und sagte, und zwar gleich in deutscher Sprache:

"Ich darf annehmen, daß wir bei Ihnen angemeldet sind, Master Helmers. Hoffentlich sind wir Ihnen nicht unwillkommen."

Helmers schüttelte ihm die Hand und antwortete:

"Der Hobbel-Frank hat mir freilich gesagt, daß Sie kommen werden, Sir, und diese Nachricht hat mir unendliche Freude bereitet. Ich stelle Ihnen mein ganzes Haus zur Verfügung. Machen Sie es sich bequem, und bleiben Sie so lange wie möglich bei mir!"

"Nun, lange Zeit können wir uns nicht verweilen. Wir müssen über den alten Llano hinüber, um da drüben einen zu treffen, welcher uns erwartet."

"Wohl Winnetou?"

"Ja! Hat Frank es Ihnen gesagt?"

"Er sagte es, und ich wollte, ich könnte mit Ihnen hinüber, um den Häuptling der Apachen zu sehen. Aber, sagen Sie einmal, Sir, woher Sie mich kennen! Sie haben mich sofort bei meinem Namen genannt."

"Meinen Sie etwa, daß ein so außerordentlicher Scharfsinn dazu gehört, Sie für den Besitzer von Helmers Home zu halten? Sie tragen den Hausanzug und gleichen ganz genau dem Bilde, welches man mir von Ihnen gemacht hat."

"So haben Sie sich nach mir erkundigt?"

"Natürlich! Im Fernen Westen ist es ratsam, die Leute, welche man aufsucht, möglichst vorher kennenzulernen. Ich erfuhr, daß Sie ein Deutscher sind, und habe Sie infolgedessen gleich in Ihrer Muttersprache angeredet. Darf ich vielleicht erfahren, wer der andere Master ist?"

"Man nennt mich gewöhnlich den Juggle-Fred", antwortete der einstige Taschenspieler. "Ich bin ein einfacher Prairieläufer, Sir, und darf nicht annehmen, daß mein Name Ihnen bekannt ist."

"Warum nicht? Wer sich so lange Zeit wie ich im Westen herumgetrieben hat, der wird doch wohl von dem Juggle-Fred gehört haben. Sie sind ein tüchtiger Fährtensucher und, was noch besser ist, ein braver Mann. Hier ist meine Hand. Wollen gute Kameradschaft halten, solange es uns erlaubt ist, beisammen zu bleiben. Oder nicht, Sir?"

Obgleich im Fernen Westen keine Rangesunterschiede gelten, ist man doch gewöhnt, hervorragenden Jägern mit besonderer Achtung zu begegnen. Auf dem glücklich lächelnden Gesichte Freds sprach sich der Stolz aus, welchen er empfand, von Old Shatterhand in dieser Weise ausgezeichnet zu werden. Er ergriff die dargebotene Hand, drückte sie herzlich und antwortete:

"Wenn Sie von Kameradschaft sprechen, so ist das eine Ehre für mich, welche ich erst verdienen muß. Ich wollte, ich könnte recht lange bei Ihnen sein, um von Ihnen lernen zu dürfen. Auch ich will über den Estakado. Wenn Sie mir erlauben wollten, mich Ihnen anzuschließen, so würde ich Ihnen außerordentlich dankbar sein."

"Warum nicht? Durch den Llano reitet man am liebsten so zahlreich wie möglich; darum ist es mir sehr lieb, daß sie sich uns anschließen wollen. Natürlich setze ich voraus, daß nicht der eine auf den Aufbruch des anderen zu warten hat. Wann wollen Sie reiten?"

"Ich bin von einer Gesellschaft von Diamond-boys als Führer engagiert. Diese Leute wollen heute hier eintreffen."


- 82 -

"So paßt es gut, denn ich will morgen von hier aufbrechen. Da Sie von Diamond-boys reden, so darf ich wohl annehmen, daß Sie hinüber ins Arizona wollen?"

"Allerdings, Sir!"

"Nun, so werden Sie wohl auch Winnetou sehen. Der Ort, an welchem ich mit ihm zusammentreffen werde, liegt in Ihrer Richtung. Jetzt aber will ich Ihnen meine beiden Begleiter vorstellen, damit Sie auch diese kennenlernen."

"Kenne sie bereits, denn ihre Gestalten sind die deutlichsten Visitenkarten, welche man sich denken kann. Übrigens hat Frank uns bereits ihre Namen genannt."

Indessen hatte Helmers auch Jemmy und Davy begrüßt. Der Neger Bob kam herbei, um die Pferde in seine Obhut zu nehmen; dann setzte man sich nieder, und Helmers ging in das Haus, um einen guten Imbiß für seine Gäste zu bestellen. Einen Trunk brachte er gleich selber mit, und dann saßen die Männer beisammen, um die Ereignisse

des gestrigen Tages zu besprechen, welche natürlich und vor allen Dingen erzählt werden mußten.

(S. 156-158)

Auf Helmers' Farm sind schon einige Personen versammelt: Helmers und seine Frau, der Hobbel-Frank, der Juggle-Fred und der Neger Bob. Die abgedruckte Szene setzt mit der Ankunft Old Shatterhands und seiner beiden Begleiter Jemmy und Davy ein, die schon in der vorhergehenden Erzählung Der Sohn des Bärenjägers eine Rolle spielten und deshalb nicht eingehender beschrieben werden müssen. Gleich zu Beginn wird Old Shatterhand herausgehoben über alle anderen Anwesenden (und natürlich auch Abwesenden) als der berühmteste unter den Westmännern. Und diesem Superlativ wird auch fleißig Genüge getan. Wie ein Potentat, dem man sein ganzes Haus zur Verfügung stellt, wird er von Helmers empfangen. Er beweist auch sogleich seine Tüchtigkeit, beeilt sich aber, die sichtbar werdenden Qualitäten, Beobachtungsgabe und Scharfsinn, mit ostentativer Bescheidenheit herunterzuspielen und als bloße Grundanforderungen des Wilden Westens hinzustellen. Danach wird der Blick auf den Juggle-Fred gelenkt und damit eine Folie geschaffen, vor der sich der Hauptheld Old Shatterhand - wenn auch nicht zu scharf - abheben kann. Fred stuft selbst seinen Wert noch bescheidener ein, was ihm Old Shatterhand sofort durch ein verbales Lob honoriert. Händedruck und Angebot guter Kameradschaft betonen die theoretische Gleichrangigkeit beider Westmänner. Will man das Angebot der Kameradschaft nicht für eine Drohung halten (wozu die Kenntnis des Old Surehand I z.B. allen Anlaß gäbe(51)), so bekräftigt sie diese Gleichrangigkeit, vor allem durch die Anrede Sir, die bei Karl May meist nur einem Menschen, dem man besondere Hochachtung zollt,


- 83 -

gegönnt wird. Sie gibt dem Erzähler Gelegenheit zu einer Bemerkung über die sozialen bzw. hierarchischen Beziehungen der Menschen in der Wildnis. Die im alten Lande, Europa, geltenden Standesunterschiede haben in der Neuen Welt keine Bedeutung, da es hier nicht auf Herkunft, Adelstitel usw. ankommt, sondern nur auf persönliche Tüchtigkeit, wie es sich in unserer Erzählung mehrfach bestätigen wird.

Aus dieser prinzipiellen Gleichrangigkeit und -wertigkeit der Westmänner entsteht aber eine neue Hierarchie, da die Menschen den extremen Anforderungen, die der Westen an sie stellt, mit unterschiedlich entwickelten Fähigkeiten und Fertigkeiten entgegentreten. Die Fertigkeit im Spurenlesen und die Deutung der Naturerscheinungen, die Kenntnisse in den Indianersprachen, außerdem Mut, Scharfsinn, aber auch praktisches Können, wie z.B. Regen in der Wüste herbeizuzaubern - alles, was man zur Bewältigung der Gefahren braucht, ist verschieden entwickelt, und das hat zur Konsequenz, daß sich weniger fähige Westläufer dem mit mehr Qualitäten ausgestatteten anvertrauen und sogar unterordnen.

Aber die so entstehende neue Rangordnung wird nicht mehr durch Konventionen und traditionelle Normen erzwungen, sie wird freiwillig anerkannt. Deshalb kann der Juggle-Fred glücklich lächeln, als er von Old Shatterhand ein Lob einheimst, und er kann mit Recht stolz sein, daß ihn der weitaus erfahrenere, tüchtigere und darum berühmtere Jäger vor allen anderen auszeichnet, mehr jedenfalls, als es seinem wirklichen Wert entspricht. Fred äußert denn auch den Wunsch, Old Shatterhands Schüler sein zu dürfen.

Prompt verbindet dieser in seiner Entgegnung die Anerkennung der prinzipiellen Gleichrangigkeit mit der Betonung seiner eigenen Überlegenheit, wenn er durchblicken läßt, daß er des Juggle-Fred wegen keinerlei Verzögerung seiner Reisepläne dulden wird. Positiv zu vermerken ist dabei, daß es in einer solchen Gesellschaft keiner Heuchelei bedarf, die die tatsächlichen Unterschiede in den Qualitäten ihrer Mitglieder überdecken müßte. Vielmehr kann jeder geradeheraus seinen Wert darstellen und für sein eigenes Verhalten daraus Konsequenzen ziehen, wie es Old Shatterhand tut. Offenheit kann nicht als Beleidigung aufgefaßt werden, da sie den anderen nicht in seinem Wert herabsetzt.

In dieses Bild paßt bruchlos die Wirkung, die der Name Winnetou auf die Anwesenden ausübt. Ohne daß der Häuptling näher charakte-


- 84 -

risiert wird, verzaubert allein die Namensnennung Romanpersonen wie Leser, die aufgrund der besonderen Fähigkeiten des Apachen, des berühmtesten und edelsten aller Indiander, seine Ausnahmestellung akzeptieren.

Ihren Abschluß findet die Begrüßungsszene mit dem gemeinsamen Mahl der Männer, die einfach als solche bezeichnet werden, was ihre gegenseitige Achtung und Anerkennung ausdrückt.

Nicht nur dieses Beziehungsgefüge unterscheidet die Gruppe der erwachsenen Helden von der der Gegenspieler, der Schurken und Banditen, aber auch der anderen, moralisch minderwertiger erscheinenden Menschen, z.B. der Diamond-boys. Unsere Helden haben auch anderen Rassen gegenüber eine besondere Einstellung, die die beiden anderen Gruppen nicht teilen. Die Helden Karl Mays werden nicht müde zu betonen, daß es zahlreiche Indianer gibt, die vielen Weißen moralisch weit überlegen sind; zumindest gibt es bei den Roten wenigstens ebenso viele Gute und Böse wie bei den Weißen. Im Geist machen z.B. die beiden Snuffles dies den Diamantensuchern, die sich den Roten weit überlegen dünken, unmißverständlich klar (S. 105f.). Und die schlimmsten Schurken sind in den Romanen Mays fast immer Weiße, oder aber Mischlinge(52) - was natürlich wieder einen Schatten auf diese propagierte Toleranz den verschiedenen Rassen gegenüber wirft. Nicht nur Old Shatterhand ist mit vielen Indianern befreundet; auch die Helden minderen Ranges haben mit bedeutenden Indianern, Häuptlingen gar, die Pfeife der Freundschaft geraucht, auch wenn dies in manchen Fällen eher etwas Skurriles, jedenfalls nicht unbedingt Verläßliches ist, wie die "Freundschaft" des Sam Hawkins mit dem Kiowa-Häuptling Tangua in Winnetou I beweist.(53)

Nach der Entlarvung des falschen Dragoneroffiziers beginnt ein lustiges Geplänkel zwischen Frank und Jemmy, das von Old Shatterhand in einer Weise beendet wird, die unauffällig dessen überlegene Autorität zeigt. Er beschwichtigt den schnell beleidigten Frank durch ein leicht ironisches Lob und unterbindet mit dem Hinweis auf den Ernst der Lage alle weiteren Tiraden des kleinen Mannes. Auf die Nachricht hin, daß der angebliche Offizier weggeritten ist, entspinnt sich eine Diskussion über die Richtung, die dieser eingeschlagen haben könnte.


- 85 -

"[...] Wo hinaus ist er denn?" [fragt Helmers]

"[...] dahin."

Beim letzten Worte deutete der Neger nach Norden.

"Das ist verdächtig. Man sollte ihm nachreiten. Er sagt, daß sie gewiß kommen werden, daß er sie hier erwarten soll, und reitet ihnen doch entgegen. Ich habe große Lust, ihn einzuholen, um ihn zu fragen, warum er es uns nicht vorher gesagt hat, daß er fort will. "

"Tut es immerhin", sprach lächelnd Old Shatterhand. "Ihr würdet nicht weit nach Norden kommen!"

"Warum? "

"Weil diese Richtung jedenfalls nur eine Finte von ihm ist. Der Mann ist kein Offizier und trägt doch die Uniform eines solchen. Er führt also nichts Gutes im Schilde. Da er sich durchschaut sah, so hielt er es für geraten zu verschwinden, und schlägt natürlich eine ganz andere Richtung ein, als diejenige ist, nach welcher er eigentlich will."

"[...] also bleibt nur der Norden übrig, wohin er auch geritten ist."

"Master Helmers, nehmt es mir nicht übel, wenn ich behaupte, daß Ihr Euch irrt. [...] Ich wette, wenn wir seiner Fährte folgen, so werden wir sehr bald bemerken, daß sie die Richtung in die entgegengesetzte ändert. Das, was er vom Militär erzählte, war Schwindel."

"Das glaube ich nun selbst auch. Aber warum habt Ihr ihn denn fortgelassen?"

"Weil ich ihm ganz und gar nichts zu befehlen habe, und weil ich ihm nichts Unrechtes beweisen kann."

"So sagt mir wenigstens, in welcher Absicht er zu mir gekommen ist."

"Ihr scheint mich für allwissend zu halten. Ich kann eben auch nichts anderes als nur Vermutungen hegen. Für mich steht so viel fest, daß er hierher gekommen ist, um sich über irgend etwas zu unterrichten, um irgend etwas zu erfahren. Was kann das sein? Euer Home ist für viele der Ausgangspunkt der Reise durch den Llano. Ich vermute, daß er hat nachschauen wollen, ob es gegenwärtig hier bei Euch Leute gibt, welche die Reise unternehmen wollen. Er muß ein Interesse für solche Leute haben, einen Nutzen von ihnen erwarten. Nun sagt einmal, welcher Art dieses Interesse, dieser Nutzen sein könnte."

"Hm!" brummte Helmers. "Ich weiß, Ihr haltet den Mann für einen Savannengeier."

"Allerdings tue ich das."

"So hätten wir ihn nicht fortlassen, sondern unschädlich machen sollen. Aber freilich war das ohne Beweise gegen ihn unmöglich. Er hat erfahren, daß Juggle-Fred die Diamond-boys erwartet. Vielleicht ist er jetzt fort, um die Vorbereitungen zum Überfalle derselben zu treffen."

"Das erscheint mir nicht nur als wahrscheinlich, sondern als gewiß. Dieser Mann befindet sich nicht allein in dieser Gegend. Er hat jedenfalls noch andere bei sich, welche irgendwo auf seine Rückkehr warten. Wir haben ihm nichts tun dürfen; ich durfte ihn nicht halten, obgleich ich wußte, daß er sich fortschleichen werde. Nun er aber fort ist, werde ich mich wenigstens überzeugen, ob ich richtig oder falsch vermute. Ich werde jetzt einmal seiner Spur folgen."

(S. 167f.)


- 86 -

Die Auseinandersetzung über die Richtung, die der Offizier genommen hat, und über seine Motive offenbart Überraschendes. Zunächst äußert Old Shatterhand die - allerdings naheliegende - Vermutung, daß die zunächst eingeschlagene Richtung eine Finte sei. Im weiteren Verlauf des Gesprächs aber bemerkt der Leser - wenn er aufmerksam ist; fast muß er "zwischen den Zeilen lesen" -, daß der berühmte Jäger wohl eine Dummheit begangen hat. Zweimal stellt ihm Helmers die offensichtlich vorwurfsvolle Frage, warum er den durchschauten Llanogeier laufen gelassen habe. Zwar kann Old Shatterhand darauf entgegnen, er habe kein Recht gehabt, ihn festzuhalten. Aber daß er den Verbrecher seinen Argwohn so deutlich fühlen ließ, daß er ihn also indirekt warnte, ihn durchschaut zu haben; daß er außerdem keinerlei Vorkehrungen getroffen hat, den Verbrecher an der Flucht zu hindern oder sie wenigstens zu erschweren, ohne Gewalt anzuwenden - das war nicht nur unnötig, sondern ganz unklug. Genau das wirft ihm Helmers, wenn auch nur verbrämt in Frageform, vor. Erzähltechnisch ließe sich das Verhalten Old Shatterhands wohl rechtfertigen, weil man so dem Banditen folgen und das Versteck im Llano entdecken kann. Aber so, wie es in anderen Erzählungen Mays geschieht, daß man Bösewichte absichtlich, zum Schein, entfliehen läßt, damit sie die Guten dahin führen, wohin diese wollen - so hat es Old Shatterhand in diesem Fall gewiß nicht geplant, sonst würde er es sagen. Nicht leicht zu entscheiden ist, ob der Erzähler diese indirekte Kritik an seinem erwachsenen Haupthelden bewußt so angelegt hat. Dafür sprechen jedenfalls einmal die oben vorgetragenen Ergebnisse der Analyse der Erzählerrolle; außerdem die gleich darauf erfolgende weitere Relativierung der Fähigkeiten des berühmten Jägers. Auf die Frage von Helmers nach den Absichten, die der Geier in Helmers Home verfolgt habe, gibt Old Shatterhand an, daß er dies nur vermuten könne. Wenn man aber als Leser anderer May-Erzählungen weiß, daß dieser Old Shatterhand oft die abenteuerlichsten Kombinationen über Pläne und Absichten der Gegner anstellt, die sich dann prompt als völlig zutreffend erweisen und seinen immensen Scharfsinn dokumentieren, wird man dieser Antwort etwas skeptisch gegenüberstehen.

Offensichtlich soll hier eine differenziert gestaltete Vor- und Leitbildfunktion des erwachsenen Haupthelden für den jugendlichen Leser herausgestellt werden. Old Shatterhand ist als eine Person gezeichnet, die auch Fehler macht, nicht alles weiß, letzteres


- 87 -

auch zugibt, damit für den Leser erreichbar erscheint und nicht in eine Sphäre staunenswerter Bewunderung entrückt ist. Vor diesem Hintergrund wird sich die überzogene Bescheidenheit der beiden Snuffles gegenüber Old Shatterhand als unangemessen erweisen, wenn Jim auf die Frage, ob er einen Vorschlag machen könne, antwortet: "Ich Euch! Hm! Jim Snuffle soll Old Shatterhand einen Vorschlag machen! Das ist wirklich das höchste der Gefühle! Wir haben uns nur nach Euch zu richten, Sir, nicht wahr, alter Tim?" Richtiger verhält sich da der Juggle-Fred, der sich zwar auch nicht gerade für kompetent hält, Vorschläge zu machen, aber doch überzeugt ist: "Aber eine Meinung darf man haben." (S. 185) Und eine solche äußert er dann auch, womit er zeigt, daß Old Shatterhands Gefährten keine Befehlsempfänger sind.

Man möchte als Leser zu gerne wissen, wie sich bei der eben analysierten Diskussion die anderen Männer verhalten. Bemerken sie den Faux-pas, den der berühmteste unter den Jägern begangen hat, und wie denken sie darüber? Der Erzähler zeigt nicht das geringste Interesse daran, Meinungen und Einschätzungen dieser Art mitzuteilen (ganz zu schweigen von der sich an solchen Stellen zeigenden mangelnden Fähigkeit Karl Mays, differenzierte Diskussionsszenen zu gestalten); möglicherweise will er aber auch keinen zu großen Schatten auf das Vorbild Old Shatterhand fallen lassen. (Nicht zu vergleichen ist die Szene auch mit ähnlichen in den Ich-Erzählungen, in denen das Ich erkennbar mit seinem Gegenüber spielt, ihn bewußt seinen Argwohn fühlen läßt oder ihm zeigt, daß er ihn durchschaut hat, woraufhin die Durchschauten regelmäßig keine richtigen Konsequenzen ziehen. Das ist sicher in erster Linie produktionstechnisch motiviert und hat etwas mit dem Veröffentlichungsort der meisten Ich-Erzählungen zu tun, dem Deutschen Hausschatz, wo diese "Zeilenschinderei" das Honorar erhöhte, aber die Leser offenbar nicht abschreckte. Anders in der Jugendzeitzeitschrift Der Gute Kamerad, für den May sich viel mehr Mühe mit seinen Texten gab.)

Trotz allem ist natürlich an der faktischen Überlegenheit Old Shatterhands nicht zu deuteln, darum darf er sich seine Begleiter für die Verfolgung des Geiers aussuchen. Der Juggle-Fred hat sich einer Prüfung zu unterwerfen, ist auch schnell mit seinem Latein am Ende, aber auch Old Shatterhand gesteht ein, nicht mehr zu wissen, weshalb er der Spur noch weiter folgen will.


- 88 -

Fassen wir zusammen. Old Shatterhand, der tüchtigste von allen erwachsenen Helden, kann die Leitung der Aktionen übernehmen. Dabei haben alle Begleiter prinzipiell das Recht und die Möglichkeit, ihre Meinung zu äußern, womit sich theoretisch eine andere Ansicht als die Old Shatterhands durchsetzen kann, wenn sie sich nur als die bessere erweist. Da nun aber Old Shatterhand fast immer die beste Ansicht von einer Sache hat, so ist es nur legitim, daß sie sich auch durchsetzt. Kluge Beschränkung aufgrund der Einsicht in die eigene Zweitrangigkeit charakterisiert denn auch die anderen Helden als vernünftige Menschen, die auf diese Weise ebenfalls Vorbildfunktion für den Leser erhalten. Eine Ausnahme ist nur der Hobbel-Frank, der seine Besserwisserei oft hervorkehrt. Die versteckte Andeutung, daß auch Old Shatterhand einmal etwas falsch gemacht hat, wird jedenfalls nicht weiter ausgeführt.

Nach Ingrid Bröning(54) muß der Held, soll er eine Wunsch- bzw. Leitbildfunktion haben, die folgenden Bedingungen erfüllen: Er muß vollkommen ausgestattet sein, so daß er alle Abenteuer vorbildlich bestehen kann; er muß in dem Kind gemäßen Gruppen- und Freundschaftsbeziehungen leben und an Idealen orientiert sein; er muß so gefährlichen Abenteuern ausgesetzt werden, daß er in existentielle Not gerät, in der die äußerste Anstrengung gefordert wird, um zu überleben; dies muß der jugendliche Leser nachvollziehen.

Entsprechend der ersten Bedingung sind alle erwachsenen Helden ausgestattet. Der Erzähler hebt bei deren Vorstellung ausdrücklich die gute Bewaffnung und das tüchtige Reittier hervor. Überragend ist beides natürlich bei Old Shatterhand und Winnetou, die über die drei berühmtesten Gewehre des Wilden Westens verfügen und die zwei prächtigsten und schnellsten Pferde reiten. Aber auch die anderen Westmänner in der Begleitung der beiden Protagonisten besitzen gute Waffen und Pferde, wobei sich letztere nicht nur durch Schnelligkeit und Ausdauer, sondern oft auch durch Anhänglichkeit und Klugheit auszeichnen. So werden die Tiere der beiden Snuffles gewürdigt, wenn der Anführer der fünf Geier, mit denen es die Brüder zu tun bekommen, erklärt: "Ja, sie halten ihre Tiere Schritt um Schritt so genau zwischen sich und uns, daß wir nur die Bestien treffen würden, wenn wir schössen. [...] Das sind teufelsschlaue Kerls. Und ihre Maultiere haben ebenso hundert Satans im Leibe. Es ist, als ob die Tiere es wüßten, daß sie die Aufgabe haben, ihre


- 89 -

Herren zu decken. Sie halten ganz von selbst gleichen Schritt mit ihnen und lassen uns keinen Augenblick aus ihren boshaften Augen." (S. 125) Die äußere Häßlichkeit, die die Reittiere der Helden manchmal auszeichnet (Sam Hawkins' Mary!), unterstreicht nur den wahren Wert der Tiere. Selbstverständlich können unsere Helden mit ihrem Schießzeug auch hervorragend umgehen, was beispielsweise der Juggle-Fred mit seinem Kunstschuß auf ein armes Hühnchen unter Beweis stellt. Schließlich gehört auch der fünffach geflochtene Lasso Old Shatterhands zu den vollkommenen Ausstattungsstücken.

Unsere Helden sind Mitglieder von teils formellen, teils informellen Gruppen, die alle die gleichen Ideale verfolgen, nämlich dem Recht zum Sieg zu verhelfen, die Schwachen vor den Bösen zu schützen; außerdem verfügen sie in gleicher Weise über die Werte Hilfsbereitschaft und Toleranz, erfüllen also auch die zweite Bedingung vollkommen. Was die Toleranz angeht, so bildet der Hobbel-Frank gewissermaßen eine Ausnahme, die sich aber aus seiner besonderen Funktion als lustige Figur ergibt; seine Intoleranz bezieht sich auch bezeichnenderweise nur auf seine vermeintliche Überlegenheit in Bildungsfragen, nicht etwa auf Fragen der Humanität. Formell sind meist die Zweiergruppen, Paare, die immer und überall zusammen auftreten und an allen Lagerfeuern als unzertrennlich gepriesen werden: Jemmy und Davy, die beiden Snuffles, auch Vater und Sohn Baumann. Ein informelles Paar bilden Old Shatterhand und Winnetou, die aber gedanklich ebenfalls immer zusammengesehen werden: Wo Old Shatterhand ist, da ist Winnetou nicht weit, heißt es immer wieder. Darüber hinaus gehören sie auch durch ihre Blutsbrüderschaft ideell und emotional eng zusammen.

Informell ist dann die ganze Heldengesellschaft, die sich im Llano trifft und für eine kurze Zeit zusammen agiert, um dann wieder auseinanderzugehen. Aus der Tatsache, daß die meisten Deutsche bzw. Deutschstämmige, ja überwiegend Sachsen sind, resultiert von vorne herein eine enge Bindung, ein regelrechtes Wir-Gefühl. Entsprechend freundschaftlich halten auch alle Mitglieder der Gruppe zusammen, freundschaftlich ist der Umgangston; auch kleinere Kabbeleien zwischen dem Hobbel-Frank und dem Dicken Jemmy oder dem Juggle-Fred ändern daran nichts.

Die dritte Bedingung, die Helden müßten in existentielle Not geraten, wird von unseren erwachsenen Helden nur an einer Stelle er-


- 90 -

füllt. Old Shatterhand und Winnetou beherrschen die Situation jeweils so vollkommen, daß auch vor dem Hintergrund der allgemeinen Bedrohung, die ein Kampf gegen eine skrupellose Verbrecherbande in der lebensfeindlichen Wüste des Llano estakado mit sich bringt, der Leser keinen Augenblick der Lektüre um diese beiden Helden zu bangen braucht. Für die zweitrangigen Helden besteht nur einmal wirklich Lebensgefahr; ein Gefühl echter Bedrohung stellt sich für den Leser bloß im 6. Kapitel ein, als die Männer von einem Sandsturm überrascht werden, wenn auch nur ganz kurz. Äußerste Anstrengung wird da von den Bedrohten gefordert, schnellstes Reaktionsvermögen, sich gleich auf den Boden zu werfen mitsamt den Pferden, dann ist die Gefahr auch schon vorbei. Anders ist das z.B. in Der Schatz im Silbersee, wo Old Shatterhand, Frank, Jemmy und Davy von Indianern gefangengenommen werden und schwere Zweikämpfe unter für sie nachteiligen Bedingungen bestehen müssen, um ihr Leben zu retten(55). Aber auch da verhindert die ganze Anlage der Szene und ihre burleske Durchführung, daß sich der Eindruck echter existentieller Not einstellt. Aber äußerste geistige Anstrengung, ist von Frank, Jemmy und Davy gefordert, damit sie trotz der Kampfbedingungen, die ihren körperlichen Fähigkeiten stracks zuwiderlaufen, die Kämpfe siegreich für sich entscheiden können. In Der Geist des Llano estakado trifft diese dritte Bedingung eigentlich nur auf die beiden jugendlichen Helden, Eisenherz und Bloody-Fox, zu, auf diesen ganz besonders. Dies gibt uns Gelegenheit, die jugendlichen Helden zu betrachten, natürlich vorzugsweise den "Blutigen Fuchs".

b) Jugendliche als Spiegelfiguren

Über wichtige Ausstattungsstücke hervorragender Qualität zur Bewältigung seiner Aufgaben verfügt Bloody-Fox zweifellos. Allem voran ist die Oase zu nennen, der geheime Stützpunkt mitten in der Wüste, wo Fox Lebensmittel, Waffen und Munition gelagert hat, über Wasser verfügt, für sich und andere, denen er Rettung vor dem Verschmachten bringt, außerdem Reservepferde. Das erlaubt ihm, sich unabhängig durch die Wüste zu bewegen und die Geier zu bekämpfen. Weiter hilft ihm das Büffelfell, den Geist zu spielen, wodurch er in die Sphäre geheimnisvoller Magie erhoben wird; damit ver-


- 91 -

breitet er Angst und Schrecken unter den Banditen, was ihm zustatten kommt, um ihre zahlenmäßige Überlegeneheit etwas auszugleichen. Schließlich ist ihm die Oase eine neue Heimstätte geworden, neben Helmers Home; dort hat er in Helmers einen Vaterersatz, hier in der Negerin Sanna einen Mutterersatz gefunden. Der Negerin wird er dann auch passenderweise ihren richtigen Sohn, Bob, zuführen. Selbstverständlich hat Fox ein ausgezeichnetes Gewehr, mit dem er fabelhaft umgehen kann; der Schuß in die Stirn beweist es eindringlich.

In gewisser Weise ist Fox trotz seiner Einzelgängermentalität auch in die Freundschaftsgruppe der Erwachsenen integriert. Zunächst zwar nur ideell: sein Ziel, die Vernichtung der Geier, machen sie zu ihrem eigenen Ziel; außerdem teilen sie alle seine Ideale: Sieg der Gerechtigkeit, Nächstenliebe, Bekämpfung des Bösen. Dann aber wird er auch faktisch in die Gruppe aufgenommen und besteht gemeinsam mit ihr den Endkampf gegen die Geier.

Auch die dritte Bedingung Brönings erfüllt Bloody-Fox: Häufig genug gerät er in existentielle Not und muß um sein Leben kämpfen. Immer wieder wagt er sich allein in die Wüste, nimmt es mit zahlenmäßig weit überlegenen und skrupellosen Banditen auf, gerät in Lebensgefahr. Wenn er dem als Mörder verdächtigten (entlarvten?) Fremden in Helmers Home im fairen Zweikampf gegenübersteht, wobei er genauso getötet werden kann wie der Gegner, kann er nur überleben, weil er über äußerste Ruhe, Kaltblütigkeit und Zielsicherheit verfügt, zumal er noch von dem aufgeregt die Laterne schwenkenden Bob gestört wird; d.h. er muß nicht nur auf den Gegner achten, sondern noch seinen eigenen Verbündeten im Auge behalten. Auch seine Vergangenheit ist durch den Aspekt Lebensgefahr geprägt. Bei dem Überfall auf seine Eltern ist er offenbar nur um Haaresbreite dem Tod entgangen, und hätte man ihn nicht gefunden, wäre er verblutet.

Auch der junge Indianer hat ein gutes Pferd, ein zielsicheres Gewehr; er wird in die Gruppe der Weißen aufgenommen; auch er gerät in gefährliche Situationen, beispielsweise bei dem nächtlichen Zweikampf mit einem der Geier in der Wüste; vorher schon beim Überfall durch die fünf Banditen auf ihn und seinen Vater.

Wir sehen, daß die besonderen Merkmale der eine Leitbildfunktion erfüllenden erwachsenen Helden auch auf die jugendlichen Heldenge-


- 92 -

stalten zutreffen, das dritte, die existentielle Bedrohung, fast ausschließlich auf sie. Eine weitere, besonders wichtige Funktion der Jugendlichen in unserer Erzählung wollen wir nun untersuchen: Inwieweit sind sie als Spiegelbilder des jungen Lesers aufzufassen, in denen sich dieser mit seinen positiven und negativen Eigenschaften wiedererkennt? Dabei beschränken wir uns weitgehend auf Bloody-Fox, da der junge Indianer doch sehr im Hintergrund bleibt.

Bloody-Fox erscheint als eine Figur, die recht differenziert gestaltet ist, jedenfalls was ihre moralischen Qualitäten angeht. Mit Bloody-Fox muß sich der Leser wirklich auseinandersetzen, weil sein Verhalten eindeutig negative Züge aufweist, die der junge Leser auch an sich wahrnehmen kann und die er im Prozeß des Erwachsenwerdens mildern und nach Möglichkeit ablegen soll. Dabei erfährt er durch die Art, wie Bloody-Fox von den Erwachsenen behandelt wird, selbst wiederum in seiner Eigenart eine Bestätigung; denn gerade dieser Fox wird in seiner moralischen Rigorosität, die manchmal ins Gegenteil, den reinen Lynchmord, umschlägt, als Vertreter einer bestimmten Alters- und Entwicklungsstufe anerkannt, gleichberechtigt mit der Stufe des Erwachsenenalters. Jede Altersstufe, auch die Jugend mit ihrer Arroganz, Verschlossenheit, Härte, ja Rachsucht, scheint "unmittelbar zu Gott" zu sein, d.h. sie ist notwendigerweise so und stellt für sich einen Wert dar, darf nicht aus der Perspektive des Älteren verurteilt werden, auch wenn sie nur Durchgangsstadium zum Erwachsensein bedeutet. Genau das besagen die Urteile Old Shatterhands und Helmers', die wir schon früher zitiert haben.

Auf diese Weise gelingt diesem Jugendlichen das Hineinwachsen in die Welt der Erwachsenen, ohne daß er dressiert worden wäre. In welchen Handlungen offenbaren sich nun die positiven und negativen Seiten seines Charakters, die ihn zur wichtigsten Spiegelfigur des Lesers machen? Untersuchen wir dazu die Szene, in der es zum Zweikampf zwischen Fox und dem Fremden, der sich in Helmers Home eingefunden hat, kommt (S. 64ff.).

Bloody-Fox hatte diesem Manne weniger Aufmerksamkeit geschenkt als dessen Gewehre. Als der Fremde sich erhoben hatte und dem Baume nun den Rücken zukehrte, stand der Jüngling auf und trat an den Stamm, um das Gewehr genau zu betrachten. Sein bisher gleichgültiges Gesicht nahm einen ganz anderen Ausdruck an. Seine Augen


- 93 -

leuchteten, und ein Zug eiserner, gnadenloser Entschlossenheit legte sich um seinen Mund. Er wendete sich zu dem Fremden und legte demselben, ihn in der Rede unterbrechend, die Hand auf die Achsel.

"Was willst du, Junge?" fragte der Mann.

"Ich will dir an Helmers' Stelle Antwort geben", antwortete Bloody-Fox in ruhigem Tone. "Ja, du bist ein Bravo, ein Räuber, ein Mörder. Nimm dich vor dem Geiste des Llano in acht, den wir den Avenging-ghost nennen, weil er jeden Mord mit einer Kugel durch die Stirn an dem Mörder zu rächen pflegt. "

Der Riese trat mehrere Schritte zurück, maß den Jüngling mit einem erstaunt verächtlichen Blicke und lachte dann höhnisch auf: "Knabe, Bursche, Junge, bist du toll? Ich zerdrücke dich doch mit einem einzigen Griffe meiner Hände zu Brei!"

"Das wirst du bleiben lassen! Bloody-Fox ist nicht so leicht zu zermalmen. Du hast geglaubt, Männern gegenüber unverschämt sein zu können. Nun kommt ein Knabe, um dir zu beweisen, daß du gerade so wenig zu fürchten bist wie ein toter Mensch. Betrachte dich von diesem Augenblicke an als Leiche! Die Mörder des Llano werden vom Avenging-ghost mit dem Tode bestraft, Du bist ein Mörder, und da der Geist nicht anwesend ist, werde ich seine Stelle vertreten. Bete deine letzten drei Paternoster und Ave Marias; du hast vor dem ewigen Richter zu erscheinen!"

Diese Worte des jungen Mannes, welcher noch ein halber Knabe war, machten einen außerordentlichen Eindruck auf die Anwesenden. Er kam ihnen ganz anders vor als vorher. Sein Auftreten war noch mehr als dasjenige eines erwachsenen Mannes. Er stand da, stolz aufgerichtet, mit drohend erhobenem Arme, blitzenden Augen und einem unerschütterlichen Entschluß in den festen Zügen - ein Bote der Gerechtigkeit, ein Vollstrecker des gerechten Strafgerichtes.

(S. 64f.)

Daraufhin beweist Bloody-Fox, daß das Gewehr des Fremden einem befreundeten Haciendero gehörte, der zwei Jahre vorher im Llano ermordet worden ist. Den Beweis führt er, indem er auf eine kleine Silberplatte am Gewehrkolben drückt, unter der der Name des Ermordeten sichtbar wird. Dann sagt er, zu den anderen gewandt

(S. 66f.):

"[...] Ich will euch nicht fragen, ob ihr diesen Mann für den Mörder haltet. Ich selbst, ich halte ihn für denselben, und das genügt. Seine Augenblicke sind gezählt."

"Die deinigen auch!" schrie der Fremde, indem er auf ihn einsprang, ihm das Gewehr zu entreißen.

Aber Bloody-Fox trat blitzschnell einige Schritte zurück, schlug die Büchse auf ihn an und gebot:

"Stehenbleiben, sonst trifft dich die Kugel. Ich weiß genau, wie man mit solchen Leuten umzuspringen hat. Hobbel-Frank, Juggle-Fred, 1egt auf ihn an, und wenn er sich bewegt, so schießt ihr ihn sofort nieder!"

Die beiden Genannten hatten im Nu ihre Gewehre erhoben und auf den Fremden gerichtet. Es handelte sich hier um das Prairiegesetz, weiches nur einen einzigen, aber vollständig genügenden Paragraphen hat; da gibt es für einen braven Westmann kein Zaudern. Der Fremde sah, daß Ernst gemacht wurde. Es handelte sich um sein Leben; darum stand er bewegungslos.


- 94 -

Bloody-Fox senkte jetzt das Gewehr, da die beiden anderen Büchsen den Mann auf seiner Stelle hielten, und sagte:

"Ich habe dir dein Urteil gesprochen, und es wird sofort vollstreckt werden."

"Mit welchem Rechte?" fragte der Fremde mit vor Grimm bebender Stimme. "Ich bin unschuldig. Und selbst wenn ich schuldig wäre, brauche ich es mir nicht gefallen zu lassen, von solchen hergelaufenen Leuten gelyncht zu werden, am allerwenigsten aber von einem Kinde, wie du bist."

"Ich werde dir zeigen, daß ich kein Kind bin. Ich will dich nicht töten, wie ein Henker den Delinquenten tötet. Du sollst Auge in Auge mir gegenüberstehen, jeder mit seinem Gewehre in der Hand. Deine Kugel soll ebensogut mich treffen können, wie dich die meinige treffen wird. Es soll kein Mord, sondern ein ehrlicher Kugelwechsel sein. Wir setzen Leben gegen Leben, obgleich ich dich sofort niederschießen könnte, da du dich in meiner Hand befindest." Der junge Mann stand in aufrechter, selbstbewußter Haltung vor dem Fremden.

Fox imponiert den Anwesenden. Er nennt die Bedingungen des Kampfes, läßt sich durch keine Proteste beeindrucken und besteht darauf, daß der Fremde gehen kann, wohin er will, wenn er Bloody-Fox töten sollte. Begründet wird dies damit, daß der Fremde ihm gehöre und nur ihm verfallen sei.

Der Zweikampf wird vorbereitet und durchgeführt. Fox trifft den Fremden genau in die Stirn. Während alle den Toten betrachten, kann der angebliche Mormone entfliehen. Alle rennen ihm nach, außer Bloody-Fox, der weiß, daß eine Verfolgung in der Dunkelheit sinnlos ist. Als sie ergebnislos zurückkommen, sagt er (S. 75f.):

"Well, dachte es mir!" nickte er. "Wir sind dumm gewesen. Vielleicht ist dieser fromme Mormone ein noch viel gefährlicherer Mensch, als der Tote hier jemals gewesen ist. Ich habe ihn gesehen, weiß aber nicht wo, werde aber dafür sorgen, daß ich ihn wiedersehe, und zwar sehr bald. Good evening, Mesch'schurs!"

Er hob das Gewehr auf, welches dem Toten entfallen war, und schritt zu seinem Pferde.

"Willst du fort?" fragte Helmers.

"Yes. [...]"

"Wann sehe ich dich wieder?"

"Wann es nötig ist. Nicht eher und nicht später."

Er stieg auf und trabte davon, ohne jemand die Hand gereicht zu haben.

"Ein sonderbarer junger Mensch", meinte der Juggle-Fred, indem er den Kopf schüttelte.

"Lassen wir ihn!" antwortete Helmers. "Er weiß stets, was er tut. Ja, er ist jung, aber er nimmt es mit manchem Alten auf, und ich bin überzeugt, daß er über kurz oder lang diesen Master Tobias Preisegott Burton und vielleicht auch noch andere beim Kragen hat!"

Zu allererst fallen zwei hochinteressante Parallelen(56) zur erwach-


- 95 -

senen Hauptfigur, Old Shatterhand, in die Augen; sie bestehen in einer Geste sowie einem Eingeständnis.

Zunächst die Geste: Fox geht auf den Fremden zu und legt ihm seine Hand auf die Achsel! Das macht sonst Old Shatterhand, z.B. in der Geisternacht: "Ich weiß von keiner Schuld!" knirschte der Gefangene. Da legte Old Shatterhand ihm die Hand schwer auf die Schulter [...] (S. 212)(57) Und im Anschluß daran machen beide ihrem jeweiligen Gegenüber klar, daß sie eine Institution sind, der sich der andere zu beugen, ja zu unterwerfen hat. Old Shatterhand: "Ihr seht, wie es steht, und ich nehme an, daß man mich Euch als einen Mann geschildert hat, mit welchem nicht zu scherzen ist."

Bloody-Fox macht in unserer zitierten Szene dem Fremden ebenso unmißverständlich deutlich, daß er, obwohl noch jung, ihm gegenüber den Racheengel spielen wird, dem der Verbrecher nicht entgehen kann.

Dann folgt das Eingeständnis des Fox: Es war eine Dummheit, daß sie nicht besser auf den Mormonen geachtet haben, weil der wahrscheinlich ein noch schlimmerer Verbrecher ist als der soeben getötete. Ihn hätte man keineswegs entkommen lassen dürfen. Wir erinnern uns an Helmers' Diskussion mit Old Shatterhand über den entflohenen Dragoneroffizier. Nur hatte da der Held kein Fehlverhalten zugeben mögen, aber der Leser weiß, daß es auch eine Dummheit war, den mutmaßlichen Banditen fortzulassen.

Das ist eine auffällige Parallelisierung der Protagonisten der jeweiligen Heldengruppe, der erwachsenen und der jugendlichen; ja mehr noch: Was die Einsicht in eigenes Fehlverhalten bzw. die Offenheit, es zuzugeben, angeht, hat Bloody-Fox dem Erwachsenen sogar noch etwas voraus!

Gleich zu Beginn der abgedruckten Szene wird das Hauptthema, das alle Handlungen und Ereignisse um Bloody-Fox bestimmt, angesprochen: sein Einsatz für die Gerechtigkeit. Was befähigt ihn zu der Rolle des Vollstrecker[s] des gerechten Strafgerichtes? Genaue Beobachtung (in der Dunkelheit, von zwei dürftigen Petroleumfunseln kaum erhellt, erkennt er ein kleines Silberplättchen am Gewehrkolben!); gutes Gedächtnis, Kaltblütigkeit und Besonnenheit, rechtliches Denken, gepaart m it Edelmut. Da kann er sogar den Erwachsenen Befehle erteilen, die umgehend ausgeführt werden.

Besonders wirkungsvoll ist das großmütige Verhalten des Bloody-Fox, ethischer und didaktischer Zentralpunkt der Szene: Auch der


- 96 -

schlimmste Verbrecher hat Anspruch auf Chancengleichheit im Kampf, wenn er schon nicht einem ordentlichen Gerichtsverfahren unterworfen werden kann. Das verdanken wir natürlich dem Erzähler, der seinen jungen Helden bzw. diese Szene so angelegt hat; erzähltechnisch hat solche Großmut des Fox zur Folge, daß die Spannung gesteigert wird, da sich die Gelegenheit ergibt, einen aufregenden Zweikampf unter besonders abenteuerlichen äußeren Bedingungen zu schildern; auch lustige Einlagen lassen sich einbauen. Schließlich erhält auch der Mormone dadurch die (erzähltechnisch notwendige) Möglichkeit zur Flucht: was sonst sollte der Erzähler mit ihm anfangen?

Allen Erwachsenen, sogar dem Verbrecher (wenn der das auch nicht zugibt), imponiert das Verhalten des jungen Mannes in seiner Mischung aus Bestimmtheit und Gelassenheit des Auftretens. Die großmütige Geste, auf eine einfache Hinrichtung zu verzichten, entspringt nicht irgendwelchen sozialen Normen, sondern ganz dem eigenen Antrieb des Fox. Der Grad seiner Selbstbestimmung wird sogar noch gesteigert, wenn Helmers Einspruch gegen dieses eigenmächtige Unterfangen erhebt, weil er um Fox' Leben besorgt ist und meint, dieser setze es unnötig aufs Spiel. Auf dessen strikte Weigerung hin gibt er aber nach und läßt ihn gewähren. So kann Bloody-Fox, seiner Auffassung von persönlicher Würde entsprechend, auf die Rolle des Henkers verzichten und nach dem von ihm selbst gesetzten Wertesystem handeln.

Aber der junge Mann übersteigert sein selbständiges Verhalten doch sehr, wenn er den Fremden allein für sich reklamiert, nicht einmal nach dem Urteil der anderen fragt, sondern rundheraus sagt, daß es ihm egal ist, wie diese über die Sache denken. Das widerspricht sogar der Handhabung der Savannengerichte, wie sie in May-Erzählungen immer wieder abgehalten werden und auf die hier ausdrücklich verwiesen wird. Da ist es üblicherweise die Gemeinschaft der anwesenden Westmänner, die zu Gericht sitzt und ein Urteil fällt, nicht aber ein einzelner, der das Richteramt an sich reißt. Damit geht Fox jedenfalls weit über seine Kompetenzen hinaus. Dazu paßt das recht rüde Verhalten, wenn er Helmers grob unterbricht, als der - um Fox' Leben besorgt - einzugreifen versucht; damit mißachtet er ostentativ die Gesetze der Höflichkeit im Umgang mit anderen (Helmers vertritt ja sogar Vaterstelle an ihm!). Hier waltet blanke Rücksichtslosigkeit im Verhalten des Bloody-Fox. Im Vergleich dazu ist es fast unerheblich zu fragen, ob wirklich ein


- 97 -

Recht besteht, den Fremden zu töten, da der angebliche Beweis für dessen Schuld doch auf wackligen Füßen steht.

Schließlich macht Fox das Maß der auftrumpfenden Rücksichtslosigkeit voll, indem er auf Helmers' Frage nach dem Zeitpunkt seiner Rückkehr eine mehr als patzige Antwort gibt und grußlos davonreitet, als wären die anderen Luft für ihn. Arroganz - das trifft wohl am ehesten die Verhaltensweise des verschlossenen Einzelgängers an dieser Stelle.

Aufschlußreich vor diesem Hintergrund ist dann die Entschuldigung dieses Verhaltens durch Helmers selbst, die schon gewürdigt worden ist.

In zweifacher Hinsicht erweist sich Bloody-Fox als Spiegelfigur und Identifikationsobjekt des jugendlichen Lesers.

Er ist der unerbittliche Rächer, der die von den Geiern in Unordnung gebrachte Welt wieder in Ordnung bringt, der Gerechtigkeit damit zum Sieg verhilft und keinerlei Kompromisse eingeht; aber er ist auch der ritterliche Gegner, der sogar dem Verbrecher gleiche Chancen einräumt. Bloody-Fox ist von Anfang an eine Ausnahmegestalt, deren Gelassenheit, Gerechtigkeitsgefühl, Ritterlichkeit und konsequentem Handeln es nachzueifern gilt, wobei das einem Jugendlichen an sich nicht angemessene, übersteigert erscheinende harte und abweisende Auftreten einerseits erklärbar ist als Folge seines besonderen Schicksals, andererseits die kritische Haltung des Lesers gegenüber dieser Figur geradezu herausfordert. Das stellt hohe Anforderungen an den Intellekt des jugendlichen Lesers, an seine Fähigkeit, immer wieder Distanz zum Gelesenen zu suchen, immer wieder zu prüfen, ob das Handeln der Personen richtig oder falsch ist. Die Figur des Bloody-Fox bietet nicht Härte und Durchsetzungsvermögen als absolut geltende Werte an, sondern nur das Handeln im Einklang mit der Persönlichkeit des Handelnden und den selbstgesetzten Idealen. Das alles wird in spannende Aktionen integriert, die aber in so klar gerasterten Bahnen ablaufen, daß sie Distanz zum Geschehen zulassen und zur Stellungnahme einladen. Anstrengung des Lesers ist allerdings erforderlich, will er die Spiegelfigur Bloody-Fox richtig einordnen und bewerten. Die positiven Eigenschaften, Klugheit und Umsicht, Mut und Tapferkeit, Gerechtigkeitsliebe und Fairneß, dürfen den Leser beeindrucken; die eher negativen Eigenschaften, Verschlossenheit und Überheb-


- 98 -

lichkeit, Rachedurst und übersteigerter ethischer Rigorismus, der leicht zu Selbstgerechtigkeit und Pharisäertum führen kann, muß der Leser in den Kontext des Schicksals dieser Figur einordnen und damit als eine Ausnahmeerscheinung erkennen. Gerade das Einzelgängertum des Fox, der glaubt, die Unterstützung der Erwachsenen nicht nötig zu haben, nicht einmal zur Urteilsfindung in einer Situation, in der es um Leben und Tod geht, wird sich im Laufe der Handlung als falsch und gefährlich erweisen, auch aufs Ganze gesehen nutzlos, denn er wird die Hilfe der Erwachsenen selber erbitten, um seine Ziele zu erreichen. Mit der Eingliederung in die Gemeinschaft wird sich auch sein früheres Schicksal wenigstens teilweise aufklären, indem er im Anführer der Geier den Mörder seiner Eltern erkennt, der auch ihn lebensgefährlich verletzt hatte. Damit ist die Begründung für seine Ausnahmestellung zumindest abgeschwächt, der Grund für seine Unrast in der Wüste, den Mörder zu finden, aufgehoben, und die soziale Einbindung kann erfolgen: Bloody-Fox ist sozusagen erwachsen geworden.

Erziehung durch Mitmenschen und Fox' Selbsterkenntnis sind die beiden treibenden Kräfte, die schließlich dazu führen. Für die Erziehung soll noch ein unscheinbares Beispiel folgen, das in unserem Zusammenhang aber sehr aufschlußreich ist.

Fox hat gerade erfahren, daß die Geier offenbar wieder eine Mordtat begangen haben (S. 18):

Diese Nachricht schien den jungen Mann förmlich zu elektrisieren. Er schwang sich aus dem Sattel, trat schnell auf den Mann [d.i. Helmers] zu und sagte:

"Das mußt du mir sofort erzählen!"

"Es ist wenig genug und läßt sich sehr bald sagen. Vorher aber wirst du doch so höflich sein, diesen beiden Gentlemen mitzuteilen, wer ich bin."

"Das ist ebenso bald gesagt. Du bist Master Helmers, der Besitzer dieser Farm, und diese Herren sind gute Freunde von mir, Master Hobbel-Frank und Masser Sliding-Bob, die dich aufsuchen wollen, um vielleicht etwas von dir zu kaufen."

Die Unruhe des jungen Mannes, seine Neugier auf die Erzählung von der Mordtat und die daraus resultierende Unhöflichkeit sind zwar verständlich. Trotzdem wird er mit Recht aufgefordert, die Anwesenheit anderer Menschen zu berücksichtigen und ihre Bedürfnisse zu respektieren, statt nur an sein Augenblicksinteresse zu denken. Helmers versucht ihm Beherrschung und Besonnenheit auch in Alltagssituationen beizubringen, d.h. ganz einfache Höflichkeitsre-


- 99 -

geln. Deren soziale Bedeutung besteht darin, mit ihrer Befolgung den Mitmenschen zu signalisieren, daß man sie beachtet und - wenigstens vom ganz allgemeinen menschlichen Standpunkt aus - als gleichberechtigt anerkennt; damit zeigt man, daß man selbst auch ein Kollektivwesen ist, das von anderen abhängig ist. Unterstrichen wird die Anerkennung der grundsätzlichen Gleichrangigkeit der positiven Helden hier durch Helmers, wenn er den Weißen wie auch den Schwarzen als Gentlemen bezeichnet und später auch dem Neger (S. 18) die Hand reicht.(58) Genau das muß Bloody-Fox alles noch lernen.

Die Wichtigkeit von Höflichkeitsregeln wird auch an anderen Stellen dieser Erzählung betont, besonders bei Vorstellungsszenen. Immer, wenn positive Helden einander begegnen, egal ob erst-, zweit- oder drittrangige, von denen einer den anderen bekannt ist, werden sie einander vorgestellt und einzeln begrüßt. So z.B. bei der Ankunft Old Shatterhands, Jemmys und Davys in Helmers Home (S. 156ff.): "Darf ich vielleicht erfahren, wer der andere Master ist?". So erkundigt sich Old Shatterhand nach dem Juggle-Fred, als ihm selbst offenbar deucht, daß sich Helmers schon zu lange mit ihm unterhalten hat und den anderen Anwesenden vernachlässigt. Vielleicht ist es daher eine kleine Spitze gegen Helmers, wenn Juggle-Fred selber seine Vorstellung übernimmt. Ich bin überzeugt, daß man eine so differenzierte Gestaltung dieser kleinen Szene unterstellen darf. Wenig später heißt es dann: Indessen hatte Helmers auch Jemmy und Davy begrüßt. Sie waren ihm vorher schon durch den Hobbel-Frank angekündigt worden, brauchen also nicht eigens vorgestellt zu werden.

Oder mitten im Llano bei der Begegnung Old Shatterhands und seiner Begleiter mit den Snuffles und Eisenherz (S. 174f.): Zunächst begrüßen sich der Juggle-Fred und die Snuffles überschwenglich, dann aber fragt Jim, bevor er die Gründe für seine Anwesenheit an diesem entlegenen Ort, die gewiß wichtig sind, darlegt: "Davon später. Jetzt möchten wir vor allen Dingen wissen, wer die beiden Masters sind, welche du bei dir hast." Die Formulierung deutet darauf hin, daß Achtung vor den Begleitern Freds diesen Wunsch veranlaßt. Nun stellt Fred den Hobbel-Frank vor, während Old Shatterhands Name von dem Komanchen genannt wird; dieser wiederum wird von Old Shatterhand einer ausdrücklichen Ansprache gewürdigt. Dann erst werden die Ereignisse der letzten Zeit rekapituliert. Zwar ist es im Wilden Westen immer wichtig zu wissen, mit wem man es zu


- 100 -

tun hat; aber wenn Fremde in der Begleitung von Freunden sind, kann diese Vorsichtsmaßregel nicht im Vordergrund stehen. In solchen Begrüßungs- und Vorstellungsritualen manifestieren sich gegenseitige Achtung und Anerkennung. Wie anders verläuft dagegen die Begegnung der Snuffles mit den Diamond-boys (S. 83f.)! Die machen sich gleich über die Nasen der beiden Brüder lustig, keinerlei Vorstellung hat es gegeben. Jims Aufforderung: "Wollt Ihr mir nicht vorher einmal Euern Namen nennen, Sir?" wird als Zurechtweisung gar nicht bemerkt, gedankenlos entgegnet der Gefragte: "Warum nicht! Ich nenne mich Gibson." Bloody-Fox hatte seinen Fehler dagegen sofort gut gemacht und seine Begleiter ordentlich vorgestellt.

Zusammenfassende Deutung:

Aus der Zeichnung der erwachsenen und jugendlichen Helden erkennt man, welche große Bedeutung diese für den Leser im Abenteueralter von etwa 10 bis 15 Jahren, darüber hinaus aber auch für das Konzept einer utopischen Gesellschaftsordnung in einem Jugendroman haben. Im Nachvollzug ihrer Handlungen und Gespräche kann der Leser den Prozeß des Erwachsenwerdens in seinen zwei Aspekten durchspielen: als Entfaltung der eigenen Kräfte und als Eingliederung in die Umwelt und Erwachsenenwelt. Diese beiden Aspekte stehen in einem Konfliktverhältnis zueinander, das am Beispiel des Bloody-Fox dargestellt und am Ende gelöst wird, indem die Selbstbehauptung des jungen Mannes und seine Einbindung in die Gruppe zusammenfallen. So kann der Leser den Konflikt und seine Lösung bewußt miterleben und in seiner Phantasie bewältigen.

Nach Bröning(59) muß der Kampf zwischen der Entwicklung seines Selbst und der Anpassung an die gesellschaftlichen Erfordernisse angstfrei ausgefochten werden. Dies kann geschehen, indem das Kind einerseits in seiner realen Situation bestätigt wird, ihm andererseits Bilder der nächsten Entwicklungsstufe gezeigt werden, die es sich aneignen kann. Bloody-Fox vertritt die Entwicklungsstufe des jungen Lesers. Wie dieser wünscht er sich völlig frei zu entfalten, indem er rastlos unterwegs ist, sich selbst Leistungsziele setzt, jede häusliche Beengung meidet, sich so eine Eigenwelt schafft, die sich zunächst nur durch das soziale Engagement sowie die Strafaktionen mit der Erwachsenenwelt berührt. Ausdruck dieser Eigenwelt sind vor allem die Geheimnisse, die Fox vor den Erwachsenen hat: Er reitet verkleidet als Der Geist des Llano estakado


- 101 -

in der Wüste umher und hat einen Stützpunkt, die von ihm entdeckte und ausgebaute Oase, die wiederum aufgrund der sagenhaften Erzählungen, die unter den Westmännern umlaufen, eine indirekte Beziehung zur Erwachsenenwelt aufweist.

Fox glüht vor unbändigem Leistunswillen, aber in einem Bereich, den er sich selbst ausgesucht und abgesteckt hat, und bewältigt Aufgaben, die er allein sich gestellt hat. Dabei zeigt er sich im Reden und Handeln vielen Erwachsenen überlegen.

Bloody-Fox antizipiert damit das Erwachsensein schon als Jugendlicher und spiegelt so den Wunsch des jungen Lesers, es den Erwachsenen gleichzutun, bzw. sie gar zu übertreffen.

Wie die bruch- und problemlose Einbindung in die Gemeinschaft der Erwachsenen erfolgt, ist im Kapitel über den Erzähler gezeigt worden. Fox ist der Inbegriff des sich selbst bestimmenden Individuums, das sich aus eigener Einsicht und freier Entscheidung schließlich äußeren Notwendigkeiten beugt und sich der Gemeinschaft anschließt.

Hierin liegt ein bedeutender Unterschied zu dem anderen jugendlichen Helden dieser Erzählung, dem Indianer Eisenherz, der stark von den sozialen und ethischen Auffassungen seines Volkes abhängig ist und deshalb weit weniger als Spiegelfigur für den Leser taugt, als es bei Bloody-Fox der Fall ist (vergl. dazu unten S. 114-116).

Die wichtigste Gegenfigur zu Bloody-Fox stellt Old Shatterhand dar. Sie zeigt, daß man das Ziel individueller Selbstverwirklichung mit der sozialen Einbindung in eine Gemeinschaft von vorne herein verbinden kann. Old Shatterhand reitet von Anfang an mit Gefährten zusammen, akzeptiert weitere als Begleiter, will sich mit noch anderen Personen treffen, und das, obwohl er in jeder Szene beweist, daß er die Abenteuer aufgrund seiner überragenden Fähigkeiten ganz alleine bestehen könnte. Er führt zwar die Gefährten an, aber er verteilt und koordiniert die Aufgaben, ist also Erster in einer Gesellschaft, die gemeinschaftlich agiert und schließlich auch den Einzelgänger aufnimmt. Old Shatterhand ist prinzipiell Erster unter Gleichen, der aber auch nicht auf seine persönlichen Vorstellungen und Absichten verzichten muß.

Diese Gemeinschaft hängt den gleichen Wertvorstellungen und Idealen an wie Bloody-Fox. Dieser wie auch der Leser spüren, daß man zwar ein gewisses Maß an Selbständigkeit und Unabhängigkeit aufgeben muß, dafür aber die Geborgenheit in der Gruppe und deren


- 102 -

Solidarität gewinnt, ohne daß die innere Freiheit der Einzelpersönlichkeit grundsätzlich eingeschränkt oder gar vernichtet wird. Gerade der scheinbar unlösbare Zwiespalt, den der Jugendliche so oft erlebt: zwischen Kraftgefühl, Unabhängigkeitsdrang, mit eigenen Zielen versehenem Leistungswillen einerseits und Nichtanerkennung durch die Erwachsenen andererseits - dieser Zwiespalt wird mit den anerkennenden Worten Old Shatterhands aufgehoben. Die Aufforderung, er möge später seine Erlebnisse ausführlich erzählen (S. 287), signalisiert das Interesse des Älteren an den Erlebnissen und Problemen des jungen Mannes und hebt ihn als gleichberechtigten Partner in den Kreis der Erwachsenen.

c) Hobbel-Frank

Über die Figur des kleinen Sachsen und seine Reden ist schon viel geschrieben worden.(60) Dabei wurde seine doppelte Funktion herausgestellt. Er vermittelt auf witzige Weise Bildungsgut und sorgt für die Entspannung des Lesers nach aufregenden Szenen.

Die letztgenannte Aufgabe dieser Figur im Ablauf der Geschehnisse soll hier am Beispiel einer Stelle noch etwas genauer erfaßt werden (S. 190ff.). Es handelt sich um die einzige Situation, in der die Erwachsenen in echte Lebensgefahr kommen. Es ist die Geisterstunde, in der Hobbel-Frank, Juggle-Fred, die Snuffles und Eisenherz von einem Tornado überrascht werden, dem sie nur deshalb nicht zum Opfer fallen, weil sie nur von seinem Rand gestreift werden. Die eigentliche Gefahrensituation wird zwar sehr erregend, aber nur kurz geschildert. Die besondere Bedeutung der Szene liegt denn auch darin, daß die Spannung, in die sie den Leser versetzt, auf eine bestimmte Art, nämlich in klar erkennbaren Schritten, gelöst wird.(61) In diesem Zusammenhang erhält der Hobbel-Frank mit seinen Reden eine wichtige erzähltechnische und leserpsychologische Funktion.

[Der Tornado ist vorbei.]

Sie waren von einer fußhohen Schicht kalten Sandes bedeckt. Das war die Decke, welche der Tornado über sie geworfen hatte.

Ja, ein Tornado war es gewesen, einer jener mittelamerikanischen Zyklone, welche von einer Kraftentwicklung sind, die kaum anders-


- 103 -

wo ein Seitenstück findet.

[Nun werden Informationen über Tornados im Vergleich zu Orkanen in anderen Weltgegenden gegeben.]

Die fünf Männer erhoben sich und schüttelten den Sand von ihren Gewändern. Das Gesträuch hatte dem Flugsande ein Hindernis geboten, so daß er wie eine zwei Ellen hohe Sandwehe vor demselben aufgeschichtet lag.

"Gott sei Dank, daß es so gnädig vorübergegangen ist!" sagte Jim. "Wehe denen, welche sich während dieses Tornado in dem offenen Llano befunden haben! Sie sind verloren."

"Nicht so unbedingt, wie Ihr meint", entgegnete Fred. "Diese schrecklichen Winde haben zum Glücke oft nur eine Breite von einer halben englischen Heile; um so größer aber ist ihre Gewalt. Dieser wütende Luftstrom hat uns nur mit seinen Seitenwellen überflutet. Hätten wir uns in seiner Mitte befunden, so wären wir mitsamt den Pferden wer weiß wie weit mit fortgerissen und irgendwo zerschellt worden."

"Ganz richtig!" nickte Tim, "Ich kenne das. Habe drüben am Rio Conchos mal die Verwüstungen angesehen, welche so ein Tornado dort anrichtete. Er hatte sich so von außen herum in einen Urwald hin eingeschlängelt [...].

[Er schildert nun diese Verwüstungen ausführlich.]

"Schrecklich genug war's!" meinte der Hobbel-Frank. "Der Atem war mir so vollschtändig ausgegangen, daß meine Klarinette beinahe nur noch off dem letzten Loche pfiff. Wir haben in Sachsen doch ooch zuweilen unsere Schtürme gehabt, aber so wilde und unkultiviert wie hier, sind sie nich. So een sächsischer Hauptorkan is gegen eenen amerikanischen Tormenado das reene Kinderschpiel, das reene Mailüftchen, grad zureichend, den heeßen Kaffee kalt zu blasen. Und dazu haben mich eure Maulesel halb tot geschtrampelt. Sie wollten zuletzt nich mehr liegen bleiben und hielten meine edle Geschtalt sonderbarerweise für ---"

"Maultiere, wollen Sie wohl sagen", unterbrach ihn Jim.

"Nee, Maulesel sage ich! Wenn sie so in dieser Weise off mir her umschtampfen, sind sie eben die größten Esel, die es nur geben kann. Sie haben mir die ganze künstlerische Konschtruktion meines ostgotischen Körperbaues auseenander getreten. Ich sollte euch eegentlich off Schadenersatz verklagen; aber wer so eenzig in der Welt daschteht wie ich, der is doch gar nich zu ersetzen. Deshalb will ich dieses Mal Gnade für Recht ergehen lassen, muß mir aberst für das zukünftige Futurum solche Mauleselei off das allerschtrengste verbitten. Fixi et salvavi animal!"

"'Dixi' heißt es, und 'animam'!" rief Fred.

"Schweigste schtille! Wenn ich arabisch schpreche, so is mir deine Meenung vollschtändig schnuppe", schrie Frank ihn zornig an. "Das fehlte grade noch, daß so een verflossener Taschenschpieler, wie du bist, sich solche Randbemerkungen erlooben dürfte! Lerne was, so kannste was! Ich will ja gerne alle Freundschaft mit dir halten; aber wennste mich in dieser Weise offbläsest, so zerplatze ich und werfe dich ins Weltall hinaus, daß du in alle Ewigkeet als Lichtputze unter den Schternschnuppen herumfliegst! Fixi und noch dreimal Fix!, das heeßt: Ich hab's gesagt, ich, der Hobbel-Frank. Merk dir's!"

Er warf sein Gewehr über und schritt würdevoll von dannen - ein zürnender Achilleus. Die anderen nickten sich lächelnd zu und sagten kein Wort, ihn zu versöhnen. Fred wußte, daß der kleine Sachse sehr bald wiederkommen werde.


- 104 -

Wie wird die Spannung, in die der Leser versetzt worden ist, gelöst? Denkbar sind verschiedene Verfahren. Der Erzähler könnte gleich den nächsten aufregenden Höhepunkt anschließen. Er könnte auch sogleich zu einer heiteren Episode übergehen. Im ersten Falle würde die Anspannung des Lesers erneut aufgebaut statt entlastet, im zweiten gäbe es einen zu abrupten, daher unbefriedigenden Einschnitt. Unser Erzähler entlastet den Leser stufenweise von der angestauten Hochspannung. Zunächst gibt er in einem langen Abschnitt sachliche Erklärungen zu dem soeben geschilderten Phänomen. Sie machen nochmals klar, welcher großen Gefahr die Männer entronnen sind. Sodann besprechen diese das Erlebnis und verarbeiten die Todesangst, die sie zweifellos ausgestanden haben, indem sie einander ihre Erfahrungen mit solchen Stürmen mitteilen. Zu Beginn dieses Gesprächs wird eine neue kleine Spannungskurve aufgebaut, indem darauf verwiesen wird, wie gefährdet die Menschen sind, welche sich in der offenen Wüste befinden. Der Leser weiß, daß dies Old Shatterhand sein kann. Dafür bietet der Bericht des Snuffle eine erste kurze komische Einlage mit seiner hier unpassenden stehenden Redensart vom "Hineinschlängeln". Jetzt erst, im dritten Schritt, kommt der Hobbel-Frank zu Wort und führt - unabsichtlich natürlich - die ganze Episode ins Heitere hinüber. Er bewerkstelligt das durch meist unangemessene Vergleiche und vor allem durch seine sachlichen und verbalen Verdrehungen. Dabei reizt ihn der Widerspruch bzw. die Verbesserung durch seine Gesprächspartner so sehr, daß er sich schmollend zurückzieht, was der Erzähler mit einem ironischen Vergleich kommentiert.

Wenn ich gesagt habe, die Vergleiche, welche Frank benutzt, seien unangemessen, dann gilt das nur unter sachlichen Gesichtspunkten. Situativ gesehen, passen die Vergleiche sehr wohl hierher. Daß der sächsische Hauptorkan nur den Kaffee kaltblasen kann, verweist auf die Kälte, die der Tornado soeben verbreitet hat. Die Drohung, er werde Fred beim nächsten Mal ins Weltall hinauswerfen, entspricht der Aussage Freds, daß ein Tornado Menschen und Pferde in die Luft reißen, forttragen und irgendwo zerschellen lassen kann.

Die Männer sprechen nun weiter über das Erlebte und diskutieren über die Natur des "Geistes", dessen Erscheinung die Männer vor dem Tornado gesehen haben. Der Hobbel-Frank schaltet sich wieder in die Unterhaltung ein und gibt seine merkwürdigen naturwissen-


- 105 -

schaftlichen Ansichten zum besten, was die anderen so zum Lachen reizt, daß Frank noch wütender wird als beim ersten Mal und erneut abzieht. Damit aber ist die Erregung bei den Männern wie beim Leser so weit abgeklungen, daß wieder ernstere Geschehnisse erzählt werden können: Die Natur gewährt einen schaurig-prachtvollen Anblick (S. 199), und der Geist erscheint erneut.

Psychische Entlastung des Lesers von den Spannungen, die die Abenteuerhandlung aufgebaut hat, ist also die eine Funktion der komischen Verballhornungen des kleinen Sachsen. Daneben haben sie die Aufgabe, den Leser auf witzige Art zu belehren. Dieser ist, will er die Verdrehungen verstehen und vor allem genießen, gezwungen, sie zu entschlüsseln, denn nur selten werden sie - wie an der zitierten Stelle - durch eine Person der Erzählung richtiggestellt; der Erzähler selbst tut das nie. Aber auch dann wird nicht erläutert, inwiefern Frank sich irrt. Dem falschen Ausdruck Maulesel z.B. wird nur der richtige: Maultiere gegenübergestellt; worin der Unterschied besteht, wird nicht gesagt, das weiß der Leser, oder er muß sich darüber informieren. Auch die lateinische Redensart, die Frank falsch zitiert, wird nur durch die richtige ersetzt; übersetzt wird diese nicht. Es darf angenommen werden, daß sehr viele jugendliche Leser das zu Mays Zeiten konnten.(62) Die Forderung, Unbekanntes zu entschlüsseln, stellt Frank selbst an den Leser, wenn er sagt: "Lerne was, so kannste was!" Allerdings wendet er diese Weisheit nicht auf sich selbst an, obwohl er das bitter nötig hätte; aber er bildet sich ja ein, er wüßte alles besser als die anderen.

Die große Bedeutung, die dieser komischen Person und ihrer entspannenden wie belehrenden Funktion zugewiesen wird, zeigt sich einmal in dem breiten Raum, der ihr in der Erzählung zugemessen wird - an manchen Stellen überwuchern ihr Reden alles andere. Sie wird auch deutlich in der Sorgfalt, mit der die betreffenden Stellen gestaltet sind, was das Thema, die Struktur und das Ende der jeweiligen Passage angeht.

Frank läßt sich praktisch über alle Themen aus, die das damalige humanistische Gymnasium in seinen Unterrichtsfächern zu bieten hatte: deutsche Dichtung, lateinische Sprache, antike Mythologie, Geschichte, Geographie, die Bibel, Naturwissenschaften mit physikalischen und chemischen, hier besonders optischen und akustischen Phänomenen. Die Länge reicht von kurzen Einwürfen bis über fünf


- 106 -

Seiten Reclam-Text. Das Ende der jeweiligen Rede wird vielfältig variiert. Dreimal wird Frank durch die Ankunft neuer Personen unterbrochen (S. 144, 154, 285); dreimal wird er durch den Hinweis auf Wichtigeres gestört (S. 27, 166, 288); zweimal geht er beleidigt fort, bricht also selbst seine Rede ab (S. 192, 196); einmal gehen Frank und seine Gesprächspartner in eine ganz vernünftige Unterredung über (S. 50ff.); dabei produziert er eine Mischung aus wissenschaftlichem Unsinn und vernünftiger Lebenseinstellung (S. 53-55), dazu Näheres weiter unten. Schließlich behält er das letzte Wort der ganzen Erzählung, nachdem er zum ersten und einzigen Mal zugegeben hat, daß er im Irrtum war; da kann er aber auch gar nicht anders, denn er ist vom Augenschein widerlegt worden: Der Geist, den er als echtes Gespenst deklariert hatte, entpuppte sich als Bloody-Fox.

Auch die Reaktionen der anderen Westmänner auf Franks Verdrehungen sind verschieden. Mal wird ihm offen widersprochen, mal wird er ausgelacht. Einmal wischt Old Shatterhand einen Einwand Franks einfach beiseite, ein anderes Mal wird er von dem Westmann durch ein ironisches Lob zum Schweigen gebracht.

Hobbel-Frank steht dem Leser als warnendes Beispiel vor Augen, zu welcher Lächerlichkeit es führt, wenn ein Mensch mit eingebildeten Kenntnissen prahlt und allen Richtigstellungen und vernünftigen Einwänden gegenüber uneinsichtig bleibt, statt daß er danach strebt, sich genaues und umfassendes Wissen anzueignen. So blamiert sich ein Mensch wie Frank trotz gewisser Vorzüge, über die er ja durchaus verfügt, auf Schritt und Tritt und wird dann von den anderen nicht recht ernst genommen. Und gerade d a s will der jugendliche Leser: von Altersgenossen und Erwachsenen ernst genommen werden!

Nun ist aber Frank keineswegs ein Hanswurst, der nur lächerlich wirkt. Neben gewissen Fähigkeiten als Westmann, die er am Ende der Erzählung Der Sohn des Bärenjägers bewiesen hat - in der Geist-Erzählung hat er leider keine Gelegenheit dazu -, besitzt er auch menschliche Züge, die ihn sympathisch machen.

Dazu gehört einmal das vernünftige Gespräch mit dem Juggle-Fred, in dem er diesem den Rat gibt, noch einmal mit dem Lernen anzufangen (S. 51); vor allem aber beeindruckt die folgende Stelle (S. 53ff.), an der Frank über wahre und falsche Werte, denen der Mensch nachstrebt, räsoniert:


- 107 -

[Fred fragt ihn ironisch nach seiner Meinung über die Diamantenfunde, die angeblich in Arizona gemacht worden sind.]

Hobbel-Frank antwortete geschmeichelt:

"Es freut mich, daß Sie sich vertrauensvoll an mich wenden, denn bei mir sind sie an die eegentlich richtige Schmiede gekommen. Bei dieser Gelegenheet könnte ich prächtig mit meinen mineralogisch idealen Kenntnissen glänzen. Ich könnte Ihnen entwickeln, wie der Diamant aus Luft, Kreide, Kochsalz und Glas entschteht, wodurch er nämlich durchsichtig wird, aber ich weeß, daß Sie zu wenig Vorschtudien gemacht haben, um meinen eleganten provisorischen Konschtruktionen folgen zu können [...]."

[In diesem Stil geht es noch weiter. Dann aber:]

"Ich bin nämlich der Ansicht, daß es um den Diamant freilich eene ganz schöne Sache is; aber es gibt außer ihm noch andere Sachen, die ebenso hübsch sind. Im Oogenblicke des Heißhungers is mir eene geräucherte Thüringer Servelatwurscht lieber als der größte Diamant. Und habe ich Durscht, so kann ich ihn mit keenem Brillanten löschen. Und kann der Mensch etwa mehr, als sich satt essen und satt trinken? Ich bin mit mir und meinem Schicksale leidlich gut zufrieden. Ich brauche keene Edelsteene nich. Oder sollte ich sie etwan zum Schtaate an meinen Amazonenhut hängen? Da habe ich eene Feder droff, und die genügt vollschtändig. [...] Also eenen, welcher drei Zentner wiegt, oder gar nichts; das is so meine unmaßgebliche Meenung, und jeder vernünftige Mensch wird mir da freudig beistimmen. Wir sind Deutsche und brauchen keene Diamanten, denn een jeder von uns hat eenen Edelsteen in seiner Brust, nämlich das treue, deutsche Herz, von welchem der Dichter sagt:

'Kein Demant ist, der diesem gleicht,
So weit der liebe Himmel reicht.'

Und wer von Ihnen mir da widerschprechen will, der mag es doch mal versuchen, ich aber rate ihm nich dazu, weil er seine Gliedmaßen hier in der Gegend hübsch langsam zusammenlesen müßte."

"Brav gesprochen!" rief Helmers, indem er dem kleinen Sachsen die Hand reichte.

Dem Leser wird an dieser Stelle eine wichtige Einsicht vermittelt. Man soll sich mit nützlichen Dingen abgeben und für deren Erwerb sorgen, nicht aber nach zu großen materiellen Schätzen streben. Daß damit nicht falsche Selbstbescheidung, bloße Zufriedenheit mit dem, was man hat, der pure Verzicht gepredigt wird, ersieht man schon aus der witzigen Redeweise und dem Vergleich - Servelatwurscht statt Diamanten -; und wenn der Sprecher ganz zwanglos zum Lob des treuen, deutschen Herzens übergeht, dann verhindert der Schluß der Rede mit der lustigen Drohung Franks das Aufkommen von Sentimentalität oder gar Chauvinismus, auch wenn Helmers in ein impulsives Lob ausbricht.

In gewisser Weise hat also sogar der Hobbel-Frank eine echte Leitfigurqualität, und darum darf die ganze Erzählung mit seiner reichlich lächerlichen Anmaßung schließen (S. 302):


- 108 -

"[...]eegentlich habt ihr mir alles zu verdanken, denn wenn ich nich da droben bei Helmers Home mit Bloody-Fox zusammengetroffen wäre, so hättet ihr den Geist des Llano niemals entdeckt. Diese Anerkennung muß ich unbedingt schon jetzt verlangen. Schpäteren Geschlechtern bleibt's dann vorbehalten, mich und den Geist in Eisen zu gießen oder in Marmor zu hauen, damit mein Name hier ebenso in goldenen Lettern schtrahlt wie droben im Nationalparke, wo hoffentlich bald die Welt mein Monument beschtaunt!"

Nachdem der Leser von den atemberaubenden Ereignissen, die diese Erzählung bietet und die hohe Anforderungen an seine Einbildungskraft stellen, ziemlich mitgenommen wurde, zumal die Abenteuerhandlung mit dem Todessturz des Hauptschurken einen schauerlichen, mitreißend gestalteten Höhepunkt erklommen hat, klingt sie in Gelassenheit und Heiterkeit aus.

Aber die Figur des Hobbel-Frank hat noch eine dritte Bedeutung in dieser Erzählung, eine, die in Mays Romanen ziemlich einmalig ist: An seiner Person wird der einzige Mythos, der nicht mit Old Shatterhand und Winnetou verbunden ist, festgemacht; aber dieser Mythos betreibt mit den Mitteln der Travestie gleich seine eigene Demontage!

Dazu müssen wir ausnahmsweise einmal Auszüge aus einer anderen Jugenderzählung Mays, nämlich aus Der Sohn des Bärenjägers heranziehen.(63)

[Die Gefangenen der Ogallalla werden befreit, aber der Häuptling kann mit Baumann als Geisel fliehen. Hobbel-Frank verfolgt ihn, nur mit einem Tomahawk bewaffnet.]

Das Pferd des kleinen Sachsen war kein edler Renner; aber Frank brüllte so entsetzlich und bearbeitete es mit dem Stiele seines Tomahawk in der Weise, daß es dahinraste, als ob es Flügel habe. Lange konnte es das freilich nicht aushalten; das war vorauszusehen.

Es gelang ihm, den Häuptling der Sioux Ogallalla einzuholen.

[...]

[Der Häuptling] wendete sich zu Frank herüber und parierte dessen Hieb mit der bloßen Faust in der Weise, daß er mit derselben von unten herauf gegen die Faust des Sachsen schlug, wodurch die Waffe aus Franks Hand geprellt wurde, Dann riß er das Messer aus dem Gürtel, um den einstigen "Forschtbeamten" vom Pferde zu stechen.

[...]

[Frank] hielt sein Pferd um einen Schritt zurück, so daß er nicht getroffen wurde, und schnellte sich dann mit einem kühnen Schwunge aus dem Sattel und hinüber auf das Pferd des Ogallalla, den er sofort umschlang, um ihm die Arme an den Leib zu drücken.

Der Häuptling brüllte laut auf vor Wut. Er suchte seine Arme zu befreien, aber es gelang ihm nicht, denn Frank hielt aus Leibeskräften fest.

[Da versucht Winnetou, Frank zu Hilfe zu kommen.]

Er sah, daß derselbe, noch immer fest hinter dem Häuptlinge sit-


- 109 -

zend und diesen mit beiden Armen umklammernd, von dem erschreckten Pferde dem Flusse entgegengetragen wurde, und zwar so rasenden Laufes, daß es für einen rettenden Helfer wohl kaum möglich war, vor der Katastrophe am Ufer anzukommen.

[...]

Der Häuptling der Sioux erkannte, daß die Gefahr, in welche er durch die Umschlingung des kleinen Sachsen gebracht worden war, jetzt ihren höchsten Grad erreicht hatte. Wut und Angst verdoppelten seine Kräfte. Er zog seine Arme unter denen Franks hoch empor, ein gewaltiger Ellenbogenstoß nach beiden Seiten, und der Sachse mußte ihn freigeben.

"Stirb!" brüllte der Rote und holte mit dem Messer aus, um, von vorn nach hinten stoßend, dem wackern Kleinen die Klinge in den Leib zu bohren.

Dieser aber bog sich schnell so weit zur Seite, daß der Stoß fehl ging. Frank hatte keine Waffe mehr. Er dachte an den Fausthieb Old Shatterhands. Mit der linken Hand den Feind an der Kehle packend, holte er mit der geballten Rechten aus und traf mit ihr die Schläfe des Ogallalla mit solcher Gewalt, daß er selbst das Gefühl hatte, als ob seine eigene Faust zerschmettert sei. Der Getroffene sank mit dem Körper nach vorn.

[Das Pferd schießt nun mit den beiden Reitern in den Fluß hinein.]

Zunächst war von beiden nichts zu sehen. Nur Franks Amazonenhut trieb in der Nähe des Ufers. Ein Schoschone holte ihn mit Hilfe der Lanze heraus. Dann kam ein Stück weiter unten, aber ziemlich entfernt vom Ufer, der mit Federn geschmückte Schopf des Indianers zum Vorscheine. Dann tauchte in einiger Entfernung davon Frank auf. Er. sah sich um, erblickte den Kopf des Wilden und schwamm in schnellen Stößen auf denselben zu. Der Rote war nicht leblos, sondern wohl nur halb betäubt. Er wollte fliehen; aber der kleine Sachse stieß wie ein raubgieriger Hecht schnell auf ihn zu, schnellte sich ihm auf den Rücken, ergriff ihn mit der Linken bei den Haaren und begann, ihm mit der rechten Faust die Seite der Stirn zu hämmern. Der Ogallalla verschwand und Frank mit ihm. Ein Strudel bildete sich über ihnen; Blasen stiegen auf, ein Arm des Sioux ließ sich sehen, um sofort wieder zu verschwinden; dann wurden die beiden Beine des "Forschtbeamten" und die Schöße seines Frackes für einen Augenblick sichtbar - es fand ein jedenfalls entsetzliches Ringen unter dem Wasser statt.

[...]

Da aber tauchte der Hobble-Frank empor, sah sich hustend und pustend nach allen Seiten um und rief:

"Ist er noch unten?"

[Dann aber zieht er den Besiegten ans Land.]

Er wurde mit lautem Jubel empfangen, schrie aber noch lauter als die andern:

"Seien Sie nur schtille! Mir ist der Hut schpurlos in die Wicken gegangen. Gibt's vielleicht unter den geehrten Anwesenden eenen, der ihn hat schwimmen sehen?"

"Nein", wurde ihm geantwortet.

"Das ist schtark! Soll ich etwa wegen dem Ogallalla hier meinen Schtraußfederschapoh einbüßen? Das is doch die Geschichte gar nich wert! [...]"

[Er holt sich seinen Hut wieder, heimst von allen Seiten Glückwünsche ein und bekommt ein besonders dickes Lob von Old Shatterhand, das in den Worten gipfelt:]

"[...] hier, lieber Frank, haben Sie meine Hand. Sie sind ein prächtiger Kerl!"


- 110 -

[Der zu Tränen gerührte Frank erwähnt dann auch den Marmorstein, der ihm zu Ehren errichtet werden soll, von dem er am Ende der Geist-Erzählung spricht.]

Hier wird rasantestes Geschehen in mehrfach wechselnder Perspektive geschildert, mal nahe an den Personen, mal einen größeren Überblick gewährend; unter Beteiligung vieler Personen an dem Kampf mit dem Häuptling, die - wo sie nicht eingreifen können - die Vorgänge in atemloser Spannung verfolgen. Und wie gebrochen erscheint trotzdem die Schilderung durch ihre parodistischen Elemente! Allein schon der Hobbel-Frank als Hauptkämpfer gegen einen gefürchteten Indianerhäuptling, waffenlos. Wenn man daran denkt, wie Old Shatterhand und Winnetou solche Situationen meistern, besonders ersterer: ein Sprung hinter den Feind auf dessen Pferd, ein Hieb gegen die Schläfe, und schon sinkt der Feind besiegt herab. Frank ahmt dies nach: den Sprung aufs Pferd des Fliehenden, aber dann hat er seine Hände und Arme nicht frei; schließlich in höchster Gefahr ein Hieb an die Schläfe, man hört es regelrecht krachen und fühlt den Schmerz in Franks Faust (bei Shatterhand sicher nie); dann die Hilflosigkeit beim Sprung des Pferdes in den Fluß; das einzige, was oben bleibt, ist der Amazonenhut; dann die geringe Wirkung des Fausthiebs und vor allem das Behämmern der Häuptlingsstirn; und mehrmals die ironische Bezeichnung Franks als "Forschtbeamter" in seinem Frack, was darauf hindeutet, daß der kleine Sachse eigentlich alles eher machen sollte, nur nicht gegen einen Indianer kämpfen! Die Vermutung des Erzählers, das Ringen unter Wasser müsse entsetzlich sein, kann man in diesem Augenblick fast nur schmunzelnd quittieren. Und wenn Old Shatterhand aus dem Wasser emportauchte, würde er das dann hustend und pustend tun? Aber der Kleine ist natürlich wirklich außer Atem. Und fast noch wichtiger ist ihm sein Hut, dessen Verlust wäre doch die Geschichte gar nich wert. Die ganze Schilderung wirkt wie eine Travestie - aber worauf? Auf die Kämpfe, die Old Shatterhand absolviert? Das mag man nicht glauben, obwohl man es so auffassen kann. Aber jedenfalls auf das Verhalten so kleinbürgerlicher Typen wie des kleinen Sachsen, der sich erkühnt, Old Shatterhand nachzuahmen. Der Kampf ist ein durch und durch spannendes Ereignis mit eindeutigen burlesken Elementen.

Nun zurück zum Geist des Llano estakado. Helmers stellt dem soeben angekommenen Juggle-Fred den Hobbel-Frank vor (S. 44f.):


- 111 -

"Ebenso wird es dich freuen, wenn du erfährst, daß dieser Sir ein Deutscher ist. Er heißt Frank und ist ein Kollege von ---"

"Frank?" unterbrach ihn der Zauberkünstler. "Etwa gar der Hobbel-Frank?"

"Sapperment!" rief da der kleine Sachse. "Sie kennen also meinen Namen? Wie is das eegentlich die Möglichkeet?"

Er hatte deutsch gesprochen; darum antwortete der Juggle-Fred in derselben Sprache:

"Darüber brauchen Sie sich gar nicht zu wundern. Früher waren andere Zeiten; da geschahen gute und schlimme Heldentaten in Menge hier im Fernen Westen, und bei den mangelhaften Verbindungen, welche es gab, kam die Kunde davon nur sehr langsam vorwärts. Aber jetzt, wenn einmal etwas Hervorragendes geleistet wird, fliegt die Nachricht davon im Nu von den Seen bis Mexiko und vom alten Frisco bis nach New-York. Ihr kühner Zug nach dem Yellowstonepark ist bereits weit bekannt, und Ihre Namen sind es natürlich auch. In jedem Fort, in jedem Settlement, an jedem Lagerfeuer, an welchem wenigstens zwei beieinander saßen, wurde von Ihrem Ritte und den einzelnen Personen, welche an demselben teilnahmen, erzählt, und so dürfen Sie sich nicht wundern, daß ich Ihren Namen kenne. Ein Fallensteller , welcher hoch droben am Spotted-Tail-Wasser mit Mohaw, dem Sohne Tokvi-teys, gesprochen hatte und jetzt tief herab nach Fort Arbukle gekommen war, hat allen, die er traf, und zuletzt auch mir die Geschichte so ausführlich erzählt, wie er sie selbst gehört hatte."

"Hören Sie", meinte Hobbel-Frank, "wer weeß, was da alles vom Spotted-Tail-Wasser bis zum Fort Arbukle an die Geschichte gehängt worden is. Da wird aus eener Maus een Eisbär, aus eenem Regenwurm eene Riesenschlange und aus eenem bescheidenen Biberjäger zuletzt gar een hoch berühmter Hobbel-Frank. Ich will's ja gern zugeben, daß mir die reenen Herkulesse und Minotaurusse gewesen sind, aberst mehr als wahr is, das laß ich mir nich gern nachsagen. Den Helden ziert die Tugend der rückhaltlosesten Bescheidenheet.

[...]"

Und dann geht's noch etwas in diesem Stil weiter, so daß Fred ganz verblüfft ist. So hat er sich den Helden vom Yellowstone-Park denn doch nicht vorgestellt.

Später wird Frank den beiden Snuffles vorgestellt (S. 174f.):

"[...]Dieser berühmte Sir mit dem Amazonenhute auf dem Kopfe heißt Hobbel-Frank und ist ---"

"Doch nicht etwa der große deutsche Gelehrte, welcher sich mit Winnetou und Old Shatterhand damals um den Yellowstonepark herumgeschlängelt hat?" fiel Tim ihm in die Rede. "Der hat doch wohl Hobbel-Frank geheißen."

Der "große deutsche Gelehrte", das hatte Tim scherzhaft gemeint; aber Frank nahm es sehr ernst und antwortete infolgedessen selbst:

"Ja, der Hobbel-Frank bin ich, Sir. Woher kennt ihr mich denn?"

"Wir haben droben am Blackbird-River von Euren Erlebnissen gehört, Sir, und Eure Taten sehr bewundert. [...]"


- 112 -

Diese Stellen aus dem Geist gehören zu den ganz wenigen Fällen, in denen Handlungszusammenhänge zwischen den einzelnen Erzählungen festgestellt werden, wo also bestimmte Ereignisse eines Romans in einem anderen Folgen zeitigen. Hier werden solche Zusammenhänge gleich zwischen drei Romanen gestiftet: dem Sohn des Bärenjägers, dem Geist des Llano estakado und (sieben Jahre später) dem Old Surehand I. Es ist auch der einzige Fall, in dem eine Reiseerzählung in der Ich-Form ausdrücklich Bezug nimmt auf konkrete Ereignisse in einer Jugenderzählung; Old Surehand I wird als eine Fortsetzung des Geist-Romans ausgegeben.(64) Sonst bleiben die Ereignisse und Taten merkwürdig folgenlos, sieht man davon ab, daß sie in allgemeiner Form natürlich zum Ruhme der beiden Haupthelden in Nordamerika, Old Shatterhand und Winnetou, beitragen. In dieses eigenartige Bild paßt das Eintreten angeblich berühmter Westmänner in die Welt der Mayschen Erzählungen, wie Old Surehand und Old Wabble, von denen der Ich-Erzähler angeblich schon viel gehört hat(65), die aber in den davor geschriebenen Romanen noch keiner Erwähnung für würdig befunden wurden.

In Der Geist des Llano estakado wird also gleich zweimal auf den Zug in den Yellowstone-Park Bezug genommen. Die entstehungsgeschichtliche Seite dieses Befundes sowie die Frage, ob die Stiftung eines Zusammenhangs zwischen diesen beiden ersten für den Guten Kameraden verfaßten Erzählungen den Absatz der Zeitschrift fördern sollte, indem der Geist als Fortsetzung des Bärenjägers erscheinen sollte, was er nicht ist, bleibe dahingestellt.

Das Leben der Helden in den Erzählungen Mays ist handlungsorientiert, das Handeln begründet, ja definiert ihre Existenz. Und zwar ist es ein Handeln, das in exotischen Welten stattfindet und seinen Sinn vor allem in der dort möglichen Selbstverwirklichung u n d in der Hilfeleistung für andere bzw. dem Kampf gegen Ungerechtigkeit und Verbrechertum findet. Innerhalb der Fiktion wird gezeigt, daß in einem gesellschaftlichen System der Freiheit und Freizügigkeit individuelles und soziales Handeln in eins fallen; der auf sich gestellte, unabhängige, selbstbestimmte Mensch lebt so, wie er es für richtig hält und verhilft gleichzeitig anderen Menschen zur gleichen Lebensform. Nun handelt Hobbel-Frank in Der Geist des Llano estakado überhaupt nicht, er redet nur! Aber gerade über seine Person wird das Geschehen der Bärenjäger-Erzählung


- 113 -

in die neue Erzählung eingebracht; über mehrere Berichterstatter ist das Heldenstück über den ganzen Westen verbreitet worden und bis in den Llano gelangt. Auf dem Zug in den Yellowstone-Park hat auch Frank dazu beigetragen, daß die feindlichen Indianer besiegt und die Gefährten befreit wurden; einem - Baumann - hat er sogar persönlich das Leben gerettet; dann hat er den feindlichen Häuptling besiegt.

Wie wird nun in den zwei Begrüßungsszenen auf die Heldentat Franks Bezug genommen? Im ersten Fall spricht der Juggle-Fred nur allgemein von dem Zug, der unternommen worden ist, aber im ernsthaften Ton echter Bewunderung. Das ersieht man z.B. daraus, daß er ganz verblüfft und ratlos reagiert, als Frank gleich eine seiner Tiraden auf ihn losläßt. Frank kommt ihm also anders vor, als er ihn sich vorgestellt hat. Im zweiten Fall wird das sozusagen spiegelverkehrt gestaltet. Da spricht Tim Snuffle von den Taten des Hobbel-Frank (Eure Taten), die er sehr bewundert habe, aber zugleich benutzt er eindeutige Ironiesignale, zu denen unter anderem die wahre Inflation der Anrede "Sir", die hier ganz offensichtlich nicht Ausdruck von Hochachtung ist, gehört. Schon der Ausdruck der große deutsche Gelehrte wird vom Erzähler ausdrücklich als Scherz deklariert. Die Bewunderung der Heldentat kann also nur ebenso scherzhaft gemeint sein.

In beiden Fällen wird also die persönliche Leistung Franks am Ende der Bärenjäger-Geschichte nicht ernsthaft gewürdigt. Legendär verklärt erscheint nur der Zug im allgemeinen und die Gesamtheit seiner Teilnehmer. Festgemacht wird der Mythos am eigentlich schwächsten Glied der Gruppe, die zum Yellowstone gezogen war, der witzigen Figur in den beiden Erzählungen. Dadurch wird aber die Mythologisierung wieder rückgängig gemacht, denn eine Person, die so harlekinesk beim Kampf mit einem Indianer geschildert wurde, kann kein echter Mythenträger sein.

Im Grunde bestätigt Frank selbst diese Bewertung, wenn er auf die Erwähnung von Fred hin den ganzen Zug selbst relativiert, weil beider Kolportierung dieser Vorgänge wohl vieles hinzugedichtet worden sei. Gleichzeitig nimmt er das wieder zurück, wenn er sich und seine damaligen Begleiter als die reenen Herkulesse und Minotaurusse bezeichnet. Aber der gewiefte Leser weiß, was er davon zu halten hat. Die Relativierung des Erzählten bezieht sich somit auch auf den Erzählvorgang im vorliegenden Roman, auf das Erzählen selbst!


- 114 -

5. Das Exemplarische und die Liebe zum Detail

Exemplarisch vorgehen heißt(66), aus der Fülle der Erscheinungen auswählen und sich auf Wesentliches beschränken; das Besondere anschaulich aufzeigen und von daher zum Allgemeinen vorstoßen, d.h. abstrahieren; mustergültige, auf ähnliche Bereiche bzw. Phänomene übertragbare Fälle vorführen, ethisch hochstehendes Verhalten, das nachahmenswert ist, schildern. All das erfordert auch Genauigkeit in den Details, damit die Vorstellungskraft des Lesers angeregt und das Gezeigte als wahr erlebt werden kann.

Heinz Stolte hat aufgezeigt(67), daß ein entscheidender Aspekt in Karl Mays Sklavenkarawane die ethisch begründete Entscheidung des Menschen im Konflikt zwischen Effektivität und Integrität ist, d.h. zwischen dem Nutzen, den eine Handlung bringt, und der Unterwerfung unter allgemeingültige Werte und Normen.

Auch in Der Geist des Llano estakado spielt dieser Aspekt eine Rolle, allerdings keine so beherrschende wie in Die Sklavenkarawane, Zwei Beispiele seien angeführt.

Als Bloody-Fox den Fremden in Helmers Home als Mörder eines befreundeten Hacienderos entlarvt zu haben glaubt, behauptet er, er dürfe ihn einfach niederschießen (S. 65-69), tut es aber nicht, sondern fällt den Verbrecher in einem ehrlichen Zweikampf, weil er kein Henker sein will. Die Szene ist schon in anderem Zusammenhang analysiert worden. Darum soll hier eine weitere Situation vorgestellt werden (S. 213f.):

[Old Shatterhand hat den vordersten Verfolger des Bloody-Fox in der Geisterstunde gefangengenommen und verhört. Er wendet sich an den jungen Komanchen Eisenherz:]

"[...] Jetzt mag mein junger roter Bruder sagen, wessen er diesen Mann anzuklagen hat."

"Dieses Bleichgesicht hat den Häuptling Feuerstern, meinen Vater, in den Leib geschossen, woran er gestorben ist. Howgh!"

"Ich glaube dir. Darum gehört der Mörder von diesem Augenblicke an dir. Tue mit ihm, was dir gefällt!"

"Donnerwetter!" rief der Gefangene. "Das ist kein großes Heldenstück von Euch. Ich bin vom Lasso zusammengeschnürt; da wird es dem Halunken freilich ein leichtes sein, mich auszulöschen!"

Der Komanche erhob den Arm zu einer verächtlichen Bewegung und sagte:

"Eisenherz nimmt keinen Skalp geschenkt. Er wird den Mörder richten; aber er wird dabei so handeln, wie es sich für einen tapferen Krieger geziemt. Meine Brüder mögen eine kleine Zeit verweilen!"

Er eilte fort, in das Dunkel der Nacht hinein, und kehrte bald darauf mit dem Pferde Stewarts zurück.


- 115 -

[Der Indianer] legte all seine Waffen ab und behielt nur das Messer bei. Dann bestieg er sein Pferd und sagte:

"Meine Brüder mögen diesen Mann losbinden und ihm auch sein Messer geben. Dann mag er sich auf sein Pferd setzen und davonreiten, wohin es ihm beliebt. Eisenherz wird ihm folgen und mit ihm kämpfen. Die Waffen sind gleich: Messer gegen Messer, Leben gegen Leben. Ist Eisenherz nach einer Stunde noch nicht zurückgekehrt, so liegt er tot im Sande des Llano estakado."

Der tapfere Jüngling wollte es so, und also mußte man ihm den Willen tun. Stewart erhielt sein Messer, wurde vom Lasso befreit und sprang in den Sattel. Er jagte mit den Worten davon:

"Hallo! Die Dummen werden nicht alle. Meinen Plänen könnt ihr nun nichts anhaben. Wir sehen uns wieder, und dann genade euch allen Gott!"

Eisenherz stieß den schrillen Kampfesruf der Komanchen aus und schoß auf seinem Pferde wie ein Pfeil hinter ihm drein. Die anderen blieben schweigend halten. Zwar wurden, als sie sich niedergesetzt hatten, einige Bemerkungen ausgesprochen, aber die Situation bedrückte jeden so, daß man lieber schwieg.

Unnötig zu sagen, daß Eisenherz bald darauf mit dem Skalp des Banditen zurückkehrt.

Zunächst ist auffällig, daß Old Shatterhand nicht den geringsten Versuch macht, Stewart, bei dem es sich immerhin um einen Menschen handelt, das Leben zu erhalten. Er überläßt ihn auf das Augenzeugnis des Komanchen hin diesem zur Exekution. Kurz vorher noch hatte er auf Helmers' Frage, ob man die Verfolger des "Geistes" niederschießen solle, geantwortet: "Nein, sie haben uns nichts getan, und ich vergieße Menschenblut nur dann, wenn ich gerechte Ursache dazu habe." (S. 208) Schon das steht nicht ganz im Einklang mit Old Shatterhands sonstiger Einstellung, einen Menschen nur dann zu töten, wenn sein eigenes Leben unmittelbar bedroht ist; dazu paßt, daß er im allgemeinen nicht zuläßt, daß irgend jemand anders einen Menschen tötet, wenn er, Old Shatterhand, dabei ist und es verhindern kann. Hier hat ein Augenzeuge ausgesagt, daß er den Banditen

als Mörder seines Vaters erkennt, daß Stewart dem jungen Komanchen also durchaus etwas "getan" hat, und Old Shatterhand hat nichts dagegen, wenn der Indianer ihn tötet; anderes kann die Aufforderung "Tue mit ihm, was dir gefällt!" ja nicht bedeuten. Wieder ein Beispiel, daß die Figur des erwachsenen Haupthelden nicht so "verteufelt human" gezeichnet ist wie in anderen May-Romanen, daß er jugendlicher Denkweise eher entgegenkommt; die Szene ist Vorläufer der späteren, in der Old Shatterhand den Befehl gibt, auf die Banditen zu schießen statt auf die Pferde.

Jetzt wäre es nur effektiv, wenn Eisenherz den Banditen sogleich


- 116 -

töten würde. Der hat auch überraschenderweise gar nichts Grundsätzliches dagegen einzuwenden; das einzige, was er moniert, ist die Tatsache, daß ihn der Indianer jetzt einfach über den Haufen schießen kann, da er ja gefesselt ist. Der Indianer aber hat das gar nicht vor, sondern läßt es auf einen Zweikampf in der Nacht ankommen. Unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit ist das abzulehnen. Im Dunkel der Nacht kann der Mörder leicht seinem Verfolger entgehen und weitere Untaten verüben, was er selbst ankündigt; es dauert auch immerhin eine halbe Stunde, bis Eisenherz mit dem Skalp zurückkehrt; so einfach und schnell ging es also nicht, den Banditen unschädlich zu machen. Trotzdem handelt der Rote nach den sittlichen Werten, die es dem Indianer gebieten, auch seinem ärgsten Feind im fairen Kampf gegenüberzutreten, statt ihn einfach abzuschlachten; nur so nämlich verdient er das Prädikat Tapferkeit.

Niemand macht den Versuch, das Vorhaben des Indianers zu verhindern. Statt dessen konstatiert der Erzähler lakonisch, daß man ihm seinen Willen lassen mußte. Der Versuch wäre wohl auch problematisch, weil er sich gegen wichtige soziale bzw. ethische Normen der Indianer richten würde, deren Gültigkeit nicht in Frage gestellt werden darf. Nicht wie Bloody-Fox in Helmers Home, der aus einem individuellen Ehrbegriff heraus den Zweikampf aufnimmt, argumentiert der Indianer. Er beruft sich auf seine Bindung an ethische Kollektivnormen. Die kleine Szene zeigt einen deutlichen Unterschied zwischen den beiden jugendlichen Helden. Deren unterschiedliche Motivierung des Zweikampfs scheint auch die Art der Darstellung der Kämpfe zu bestimmen. Der aus persönlicher Würde, nach selbstgesetztem Wertesystem handelnde Bloody-Fox wird beim Zweikampf gezeigt, er darf den Verbrecher bei künstlicher Beleuchtung vor den Augen der anderen Personen sowie des Erzählers und des Lesers töten, während der von kollektiven Normen abhängige Indianer Eisenherz den Verbrecher außerhalb des Gesichtskreises aller, im Dunkel der Nacht tötet.

Darf man einen symbolischen Gehalt in diesen Szenen sehen? Beide Zweikämpfe finden nachts statt, im einen Fall erhellen zwei Lampen die Szene, aber sie bieten nur ein dürftiges Licht (mit rußigrotem, flackerndem Scheine, S. 71), im anderen Fall leuchtet kein Licht. Die zweite Szene ist den Augen der Zuschauer gänzlich entzogen, die erste nur unscharf, düster, im Halbdunkel zu verfolgen Das planvolle Töten, auch aus gerechter Ursache, findet im weitge-


- 117 -

henden oder ganz Finsteren statt, nicht am Tage, nicht im hellen Licht. Auch Ordnung wiederherstellendes, deren Störung bestrafendes Tun gehört nicht eigentlich ins Licht.

Allzu weit darf man diese Symbolik natürlich nicht treiben; andere Tötungsaktionen finden durchaus am hellichten Tag statt. Fox erschießt zwei Geier, als die Sonne glühend brennt (S. 283); der Endkampf findet am Morgen statt (S. 294f.). Allerdings handelt es sich dabei um drängende Kampfsituationen, nicht um sorgfältig arrangierte Tötungsszenen, die letztlich "dunkles" Tun darstellen und darum vom Erzähler im (Halb-)Dunkel gelassen werden.

Insgesamt spielt der Konflikt zwischen Effektivität und Integrität in unserer Erzählung keine ausgeprägte Rolle, wenn er auch grundsätzlich überall den Hintergrund bildet.

Was das exemplarische Verfahren angeht, scheint mir ein anderer Gesichtspunkt von Bedeutung zu sein, nämlich die vielfache Veranschaulichung des Sprichworts: Non scholae sed vitae discimus. Dieser Satz wird an positiven und negativen Beispielen demonstriert, die alle in gleicher Weise zeigen, daß nur umfassendes und präzises Wissen Nutzen für das praktische Leben bringt. Am Beispiel der Sklavenkarawane hat H. Stolte gezeigt, daß diese Demonstration nicht trocken dozierend erfolgt, sondern in spannende Abenteuerhandlung integriert wird. Einige Stellen sollen belegen, daß dies in hohem Maße auch für die Geist-Erzählung gilt.

Das zentrale Kapitel, in dem dieser Aspekt vorgeführt wird, ist die Geisterstunde, sicher eines der fesselndsten, die Karl May überhaupt geschrieben hat, nicht nur wegen seiner spannenden Handlung und der packenden Schilderung außergewöhnlicher Naturerscheinungen; wir hatten schon zweimal Gelegenheit, darauf einzugehen (oben S. 73ff. und S. 102ff.). Hier nun ein dritter Aspekt. Dieses Kapitel enthält in einer mitreißenden Verpackung ein ausgezeichnetes didaktisches Lehrstück. Schon die Überschrift stimmt auf die kommende Handlung ein und verhüllt gleichzeitig ihre handfeste Didaktik.

Ganz detailliert und eindringlich wird die Wirkung des Tornados geschildert: Alle Öffnungen, Augen, Nase, Mund und Ohren wurden ihnen wie mit erstarrendem Wasser geschlossen. Sie vermochten nicht zu atmen, sie waren dem Ersticken nahe. (S. 189) Die Aufzählung der einzelnen Öffnungen verstärkt den Eindruck von der Gewalt des Sandsturms. Ähnlich eindrücklich wird die Befreiung von


- 118 -
/

der Gefahr geschildert: Man konnte den Mund öffnen; man vermochte wieder zu atmen. Die fünf Gestalten begannen sich zu bewegen. Sie befreiten ihre Augen von dem hindernden Sande und sahen um sich. (S. 190)

Die nun folgenden allgemeinen Erklärungen über die Auswirkungen eines Tornados dienen der notwendigen Information des Lesers über das Phänomen, stellen es in einen größeren Zusammenhang.

Die Männer erörtern das Erlebte, indem sie auf ihre Erfahrungen mit anderen Stürmen zurückgreifen. Eisenherz berichtet von der Begegnung mit dem angeblichen Geist, worauf Frank und Fred dessen Natur erörtern. Auf Franks Geständnis, daß er eine Gänsehaut bekommen hat, antwortet Fred (S. 194ff.):

"So groß braucht dein Entsetzen nicht zu sein. Die Erscheinung, welche wir hatten, läßt sich vielleicht auf ganz natürlichem Wege erklären. Denke doch nur an das Brockengespenst, dessen Entstehung der Brockenwirt Nehse so überzeugend nachgewiesen hat!"

"Nehse? Den kenne ich ooch. [...] Er hatte die Ehre, [...] mir grad über das Brockengeschpenst seinen achtungsvollsten Vortrag zu halten. Das ist eene harzreiche Lufterscheinung, halb Ozon und halb Sauerschtoff, die sich in der Atmosphäre niederschlägt und dann vom Nebel in glühende Hagelkörner offgelöst wird. Hier aber in dem Llano haben wir es mit eenem wirklichen Geiste zu tun. Wir sahen ihn am Himmel hinreiten; es war keene Luft, es war ooch keen Nebel, sondern es war die greifbare Gestalt eenes wirklichen übernatürlichen Wesens. Wie kann da eene optische Täuschung vorliegen?"

"Hm! Ich selbst habe früher als Taschenspieler künstliche Gespenster produziert."

"[...] Off welche Weise hast du das denn fertiggebracht?"

"Entweder durch eine schiefliegende Glasscheibe oder durch die Camera."

[Frank äußert dann eine seiner komischen Ansichten, wird kräftig ausgelacht und geht erbost beiseite.]

Dann kam die Rede natürlich wieder auf den Tornado und die demselben vorhergehende Erscheinung des Geistes des Llano. Die drei waren keineswegs ungebildete Männer; besonders besaß Fred mehr als gewöhnliche naturwissenschaftliche Kenntnisse; sie waren überzeugt, es nur mit einer optischen Erscheinung zu tun zu haben, aber sie verstanden es nicht, dieselbe wissenschaftlich genau zu erklären.

Hier sitzen immerhin drei verständige Weiße zusammen, Fred und die beiden Snuffles, die - anders als der Hobbel-Frank - von vorneherein ahnen (vielleicht), daß sie es mit ganz natürlichen Phänomenen zu tun haben. Als Beleg führt Fred das Brockengespenst an, das bei bestimmten Wetterverhältnissen durch Luftspiegelungen entsteht. Die abwegige Erklärung des Hobbel-Frank wird von Fred zunächst nicht ausdrücklich berichtigt; die Frage nach der Möglichkeit ei-


- 119 -

ner optischen Täuschung beantwortet er vorsichtig ausweichend mit dem Verweis auf optische Tricks, die er selber früher praktiziert hat, die aber die Erscheinung am Himmel nicht zu erklären vermögen.

Immerhin hat der Austausch verschiedener Ansichten über die Natur des Geistes ein Ergebnis gebracht. Die vorher von Fred und den Snuffles geäußerte Vermutung, daß sie es mit physikalisch erklärbaren Vorgängen zu tun haben, ist ihnen zur Gewißheit geworden (sie waren überzeugt), aber sie können das Problem nicht wirklich lösen, weil ihnen die dafür nötigen genaueren naturwissenschaftlichen Kenntnisse fehlen. Sie erkennen nicht einmal, daß es sich bei dem Reiter, den sie am Himmel gesehen haben, nicht um den berühmten Geist des Llano estakado handelt, sondern um eine ganz andere Person, nämlich - wie ihnen Old Shatterhand später (S. 204) darlegen wird - um den angeblichen Dragoneroffizier. Faktische Folge dieses Unvermögens ist es zunächst, daß sie einfach sitzen bleiben und schließlich tatenlos den weiteren Ereignissen entgegenschlafen.

Nun gibt es eine neue Erscheinung am Horizont (S. 197f.):

Dort, wo der Himmel am Horizonte auflag, zeigte sich in Gestalt eines schmalen, langen Kreisabschnittes eine dämmernd helle Stelle. Sie machte gar nicht den Eindruck von etwas Außergewöhnlichen, erregte aber doch die volle Aufmerksamkeit der Männer.

"Hm!" brummte Jim. "Wenn das im Osten wäre, so würde ich glauben, wir hätten so lange geschlafen, daß dort der Tag zu grauen beginne. "

"Nein", meinte sein Bruder Tim. "Das Tagesgrauen ist ganz anders. Die Grenzlinien dieser hellen Stelle sind zu scharf."

"Eben weil es dunkle Nacht ist."

"Aber eben weil es dunkle Nacht ist, kann der Morgen noch nicht grauen. Tag und Nacht fließen ineinander; dort aber gibt es feste Konturen."

"Es müßte ein Feuer sein?"

"Ein Feuer in dem Llano, in welchem es kein Holz gibt? Hm! Was sollte da brennen? Der Sand etwa? Das wäre etwas mir ganz Neues."

"Das ist freilich wahr. Wenn nun gar noch der Sand zu brennen an fangen wollte, das wäre für uns freilich das höchste der Gefühle. Da könnten wir uns nur schleunigst aufsetzen und davonreiten. Aber wie willst du dir die Sache sonst erklären?"

"Weiß es auch nicht. übrigens wird die helle Stelle immer größer. Und dabei dreht sich der Wind. Er kam aus Südwest. Jetzt kommt er gerade aus West und wird stärker und kälter. Was hat das zu bedeuten?"

"Ein Nordlicht ist's auf keinen Fall", sagte Fred. "Und von Südlichtern hat man hier ja wohl noch nichts wahrgenommen."


- 120 -

In einem diskursiven Dialog werden verschiedene Wege, das merkwürdige Leuchten zu erklären, durchgesprochen und verworfen, darunter auch die nächstliegende Deutung, die sich auch bald als die zutreffende erweisen wird, daß es sich um ein Feuer handelt. Dabei beweisen die Männer höchst mangelhafte Kenntnisse des Llano, sonst wüßten sie, daß es sich um in Brand geratene Kaktusfelder handeln kann. Zumindest Fred, der den Scout für die Diamond-boys abgeben soll, müßte das wissen. Die richtige Methode zur Entschleierung eines solchen Rätsels, der auf dem Horizont liegenden dämmernd hellen Stelle, bei der es sich nicht um das Tagesgrauen handeln kann, wenden die Männer durchaus an. Sie gehen nacheinander verschiedene Erklärungsmodelle durch und prüfen deren Tragfähigkeit. Da ihnen aber die nötigen Kenntnisse fehlen, in diesem Fall einfach über die Topographie des Llano, können sie zu keinem richtigen Ergebnis kommen. Das einzige, was ihnen zu tun bleibt, ist zu staunen und schweigen.

Dann erscheint wieder eine Reitergestalt, diesmal als Büffel, der einen scheinbaren Kreisbogen am Himmel zurücklegt. Als die Erscheinung vorüber ist, kommt Old Shatterhand mit mehreren Männern, darunter Helmers, Jemmy und Davy, zurück. Fred berichtet das Erlebte. Frank gibt mal wieder seine Gespenster-Deutung zum besten und bietet dem skeptischen Old Shatterhand an, ihm auf eene kleene, bescheidene Frage [...] den gewünschten Aufschluß [...] zu erteilen. Darauf erwidert Old Shatterhand (S. 202ff.):

"Einen Aufschluß fordere ich nicht von Ihnen. Daß die Erscheinung das zweite Mal in der Mitternachtsstunde stattgefunden hat, ist kein Beweis ihres überirdischen Ursprungs, denn vorher war sie ja am hellen Tage zu sehen. Wollen Sie mir eine ausführliche Beschreibung des ganzen Vorganges geben, so bin ich überzeugt, ihn zur Genüge erklären zu können."

[Nach der Beschreibung durch Frank breitet sich ein Flammenmeer über dem halben Himmel aus.]

"Alle Teufel!" rief Frank aus. "Da geht die Geschichte schon wieder los! So eene Geisterschtunde habe ich noch nich erlebt. Diese Feuer sind übernatürlichen Urschprunges, denn ---"

"Unsinn!" unterbrach ihn Old Shatterhand. "Die Sache ist sehr leicht zu erklären. Das Feuer dort ist ein ganz natürliches."

"Was sollte denn da brennen?"

"Verdorrter Kaktus. Es gibt bekanntlich in dem Llano meilenweite Strecken, welche so dicht mit Kaktus bedeckt sind, daß kein Reiter hindurchkommen kann. Sind die Pflanzen vertrocknet, so genügt ein einziger unvorsichtiger Funke, um in wenigen Augenblicken ein wahres Feuermeer zu erzeugen."

"Das ist wahr", stimmte Helmers bei, "und ich weiß ganz gewiß, daß im Süden und Westen von hier sehr bedeutende Kaktusstrecken liegen."


- 121 -

"Nun, so haben wir also zunächst eine Erklärung für das Feuer, und die beiden vermeintlichen Gespenster werden wir auch bald beim Kragen nehmen!"

"Oho!" fiel der Hobbel-Frank ein. "Vermeintliche Geschpenster? Es waren wirkliche. Und wie kommen Sie off die Idee, daß es zwee Geister waren?"

"Das ist aus den Gestalten zu ersehen. Das erste Gespenst, welches am Tage erschien, war vielleicht der sogenannte Dragoneroffizier in anderer Vermummung; nun, werden ja sehen. Wer das zweite gewesen ist, kann ich freilich noch nicht sagen. Ich kenne niemand, der ein weißes Büffelfell trägt."

"[...] Keen Mensch kann da oben am Himmel hinreiten, und das is doch geschehen, wie wir fünf mit deutlichen Oogen gesehen haben."

"Ja, die Bilder haben sich in der Luft bewegt; die Originale aber sind unten auf der Erde geritten."

"Die Bilder? [...] Wie sollen denn diese Bilder eegentlich entschtanden sein?"

"Durch mehrere verschieden erwärmte Luftströmungen, wie sie zum Beispiel dort bei dem Feuer entstehen."

[...]

"Nun, die Luft wirkt unter Umständen gerade so wie ein Spiegel."

"So! Ja, das leuchtet mir eher ein, [...]"

"Schön! dann werden Sie auch zugeben, daß Ihre Geister nur Luftspiegelungen waren, gerade so, wie ---"

[Eine solche Luftspiegelung kommt jetzt wie gerufen, mit einem Reiter im Büffelfell, auf dem Kopf stehend.]

"Herrjemineh!" schrie der Hobbel-Frank. "Das is doch der von heute nachmittag, der beim Tormenado offtauchte!"

"So! Ist er es?" antwortete Old Shatterhand. 'Sie werden mir nun recht geben, daß es sich um zwei ganz verschiedene Erscheinungen handelte. Und da kommen auch noch mehrere!"

Hinter der letzterwähnten Gestalt folgten jetzt noch fünf oder sechs Reiter, alle im Galopp, aber verkehrt, mit den Köpfen nach unten.

"[...] daß sie nun gleich gar alle off den Köppen reiten, das is mir denn doch zu bunt."

"Das ist gar nichts so Schreckhaftes. Die vorigen Bilder wurden mehrere Male, das jetzige aber nur einmal gebrochen. Übrigens werden wir sofort die Bekanntschaft dieser Geister machen. Schnell auf die Pferde , Mesch'schurs! Ganz gewiß ist der vorderste Reiter der sogenannte Geist des Llano estakado. Er wird von den anderen verfolgt, und da er ein braver Kerl ist, wollen wir uns seiner ein wenig annehmen."

"Sind Sie toll!" rief Frank. [...]

Aber die anderen hörten nicht auf ihn; sie gehorchten der Aufforderung Old Shatterhands. Ihr Vertrauen zu diesem Manne sagte ihnen, daß er weder etwas Gefährliches noch etwas Lächerliches von ihnen verlangen werde.

Gleich die erste Äußerung Old Shatterhands zeigt, daß er die wahre Natur des Geistes durchschaut, denn er widerlegt schlagend das Geschwätz des Hobbel-Frank von dem angeblichen Gespenst. Diese geistige Überlegenheit hat, wie man gleich darauf sieht, ihren Grund in dem Wissen, über das Old Shatterhand verfügt, welches ihn zu klarem Denken befähigt, wo andere sich bloßem Staunen oder gar


- 122 -

Schaudern überlassen müssen. Die Erklärung des Flammenmeers am Himmel als brennende Kaktusfelder fällt ihm sehr leicht. Bekanntlich gibt es solche Kaktusstrecken im Llano, und man sollte meinen, daß das auch den anderen Westmännern bekannt ist. Aber weit gefehlt; allein Helmers kann die Existenz solcher Felder bestätigen, während die anderen Männer sich bisher offensichtlich nicht die Mühe gemacht haben, sich irgendwie darüber kundig zu machen. Woher hat Old Shatterhand diese Kenntnisse? Entweder kennt er die Verhältnisse aus eigenem Augenschein, weil er viel herumgekommen ist, und/oder er hat Einheimische befragt und/oder er hat sich in Büchern über diese Gegend informiert. Bekanntlich - das bedeutet in erster Linie, daß man etwas in Büchern nachlesen kann; vom Ich der Reiseerzählungen wissen wir, daß er sich vor jeder Reise genau über Land und Leute informiert(68) und auch auf seinen Reisestationen immer wieder Erkundigungen einzieht, die ihm in brenzligen Situationen zustatten kommen.

Auch die Lufterscheinungen mit den Reitern kann er erklären, weil er in seiner Jugend in der Schule z.B. genügend Physik getrieben hat; dabei begründet er auch, warum die Reiter mal richtig, mal auf dem Kopf stehend erschienen sind. Außerdem weiß er, daß es sich um verschiedene Reiter gehandelt hat.

Zu all dem paßt die ruhige Art und Weise, wie Old Shatterhand auf die Vorgänge reagiert, seine Gelassenheit ergibt sich aus seinem Wissen und Kombinationsvermögen, weshalb nicht der geringste Grund zur Aufregung vorhanden ist. Er weiß auch, mit was für Menschen er es zu tun bekommen wird.

Nach der Theorie kommt die Praxis! Old Shatterhand zeigt jetzt, welchen Nutzen die soeben bewiesenen Kenntnisse haben: Sie ermöglichen richtiges Handeln. Fassen wir zunächst die Voraussetzungen dafür noch einmal zusammen:

Aufgrund seiner Informationen über die Topographie der Gegend w e i ß Old Shatterhand, daß im Süden und Westen dürre Kaktusfelder liegen, die brennen können. Er hat darüber hinaus die physikalischen K e n n t n i s s e, die ihn in die Lage versetzen, nicht nur die Naturerscheinungen richtig zu deuten, sondern auch die beiden Reiter voneinander zu unterscheiden. Außerdem f o l g e r t er aus der Beschreibung der beiden Reiter richtig, daß der vordere, fliehende, der gute Geist des Llano estakado und der Verfolger ein Verbrecher sein muß. Schließlich verfügt er über die rechte G e 1 a s s e n h e i t und gleichzeitig V e r -


- 123 -

s t a n d e s s c h ä r f e, um b e r e c h n e n zu können, wo man auf die Reiter treffen wird.

Darauf baut nun das, notwendige richtige H a n d e 1 n auf. Unsere Helden können unter Old Shatterhands Führung zu der Stelle reiten, an der sie vermutlich auf die Reiter treffen werden, damit können sie dem braven Kerl Hilfe bringen und den Bösewicht unschädlich machen. Die anderen Männer hätten Bloody-Fox, um den es sich bei der Gestalt im Büffelfell natürlich handelt, nicht zu Hilfe kommen können, weil sie aufgrund ihrer Unwissenheit wie gelähmt waren und nicht die geforderte Aktivität entwickeln konnten. Also wird deutlich, daß auch soziales Handeln des positiven Wissens bedarf. Und bei allem wird Old Shatterhand noch h u m a n genug sein, den Verbrecher nicht zu töten, nicht unnötig sein Blut zu vergießen, sondern ihn lebendig zu fangen.

Das 6. Kapitel weist alle wesentlichen Elemente des Exemplarischen auf. Es beschränkt sich auf die Zeit von einer Stunde vor Sonnenuntergang bis kurz nach Mitternacht und auf einen begrenzten Raum, wobei mehrere Himmels- bzw. Lufterscheinungen erlebt werden und eine spannende Handlung abläuft. Es schildert anschaulich, genau und detailliert Naturvorgänge sowie fesselnde Ereignisse. Mustergültig ist schließlich das Handeln des Haupthelden, ein soziales und humanes Handeln, welches in einem kleinen Bereich die gestörte Ordnung wiederherstellt.

Ein reizvolles Beispiel für genaues und detailliertes Erzählen ist die Schilderung, wie Old Shatterhand mit dem Lasso umgeht (S.208). Zunächst trifft er Vorbereitungen zu dem Fangwurf, wobei der Leser über Stärke und Länge des Lassos informiert wird, so daß er Reichweite und voraussichtliche Wirkung abschätzen kann. Die Handhabung wird so genau beschrieben, daß der Leser sie nachahmen kann (und welcher May-Leser hat das in seiner Jugend nicht getan, auch wenn er nicht über einen fünffach geflochtenen Riemen verfügte). Aber nicht nur wissenswert ist der Vorgang, sondern auch für die Handlung insofern wichtig, als nur die vollendete Beherrschung der Technik des Lassowurfs gewährleistet, daß der Flüchtling wirklich gefangen statt getötet wird, aber auch nicht entkommen kann. Es geht bei der Schilderung dieser Vorgänge also um angewandtes Wissen. Theoretische Bildung und praktische Kenntnisse sind sinn-


- 124 -

voll, soweit sie im Leben genutzt werden können. Umgekehrt ist praktisches, vor allem erfolgreiches Handeln nur möglich, wenn man über ausreichende Kenntnisse verfügt. Dies alles wird in der Gestalt Old Shatterhands beispielhaft vorgeführt, dabei aber in recht zurückhaltender Weise. Seine Erklärungen nehmen nie den Ton der Unterweisung an, sondern sind sachlich-nüchtern, dabei freundlich und gehen sogleich in praktisches Handeln über. Trotz seiner Überlegenheit erscheint er nicht als übermächtige Figur, die alle anderen erdrückt. Im Vordergrund stehen Rede und Handlung als solche, die vom jugendlichen Leser nachvollzogen werden können. Eigentlicher Widerpart Old Shatterhands in solchen Situationen ist der Hobbel-Frank, und dieser vertritt so krause Ideen, daß sich der jugendliche Leser ihm - einem Erwachsenen - überlegen weiß und eher in Old Shatterhand einen Menschen sieht, dem er sich - wenn nicht gleichrangig, so doch geistesverwandt fühlen kann.

Einen handlungsmäßigen Effekt hat dies noch: An wenigen Stellen der Erzählungen Mays erscheint es so überzeugend und glaubwürdig, daß sich Gefährten in rückhaltlosem Vertrauen der Führung Old Shatterhands überlassen, wie es hier der Fall ist, der in Reden und Tun bewiesen hat, daß er weder etwas Gefährliches noch etwas Lächerliches von ihnen verlangen werde. Hier wird er nicht einfach von einem Erzähler bzw. Autor als der in allem überlegene hingestellt, sondern seine Argumentation ist objektiv so richtig und überzeugend, daß man ihm seine Bestimmung zum Anführer der Aktion wirklich abnimmt.

Ein negatives Beispiel, welches zeigt, wohin es führt, wenn man seine Begabung und die entsprechende Schulbildung nicht nutzt, stellt der Juggle-Fred dar, der zugeben muß, daß er die Naturerscheinungen in der Geisterstunde nicht erklären kann, obwohl er selbst vergleichbare Tricks in seinem Repertoire hat. Es sei ein Ausschnitt aus dem Gespräch zwischen ihm und dem Hobbel-Frank auf Helmers Home wiedergegeben (S. 50f.). Der kleine Sachse fragt:

"Und was sind Sie denn gewesen?"

"Erst besuchte ich das Gymnasium, wo ich ---"

"O weh! Das is keene Empfehlung für Sie."

"Warum?"

"Weil ich eene schtarke Idiosympathie gegen alles habe, was Gymnasiast gewesen is. Diese Leute überheben sich. Sie glooben nich, daß een Forschtbeamter ooch een Koryphäus werden kann. Ich habe das schon wiederholt erfahren. Natürlich aberst is es mir schtets kinderleicht geworden, diese Leute zu überzeugen, daß ich der Mann bin, mit Gigantenschritten über sie hinwegzuschteigen. Also so ee-


- 125 -

ne kleene Art von Schtudium haben Sie ooch durchgemacht?"

"Ja. Vom Gymnasium weg widmete ich mich auf den Rat meiner Gönner hin der Malerei und besuchte die Akademie. Ich hatte recht gute Anlagen, aber leider keine Ausdauer. Ich ermüdete und stieg von der wirklichen Kunst zu einer sogenannten herab - ich wurde Kunstreiter."

"O wehe! Da können Sie mir freilich leid tun!"

"Ja, ja", nickte der Juggle-Fred ernst. "Ich war ein flotter Kerl, aber ohne Kraft und inneren Halt. Mit einem Worte, ich war leichtsinnig. Tausend und tausend Male habe ich es bereut. Was könnte ich heute sein, wenn ich es fest gewollt hätte!"

"Nun, die Begabung haben Sie wohl noch heute. Fangen Sie wieder an!"

"Jetzt? Wo die jugendliche Elastizität verlorengegangen ist? Übrigens habe ich hier eine Aufgabe zu lösen, welche mich im Westen festhält."

Nachen wir uns zunächst die Situation klar, in der dieses merkwürdige und bemerkenswerte Gespräch stattfindet. Da sitzen zwei Westmänner im fernen Westen, in einer Farm am Rande des gefürchteten Llano estakado; in der vergangenen Nacht hat hier ein Zweikampf stattgefunden, in dem ein Bandit erschossen worden ist. Abenteuerliche Geschehnisse voller Gefahren haben sich angekündigt. Und die zwei Männer unterhalten sich über die Schulzeit des einen und was der daraus fürs Leben mitbekommen hat. Das Gymnasium hat der Mann besucht, und die meisten Leser dieser Geschichte waren und viele sind auch heute noch Gymnasiasten. Und denen allen sagt der Hobbel-Frank offen, daß er gegen jeden Gymnasiasten eine starke Abneigung hat, weil sie sich überheben, d.h. sich auf ihre Schulbildung etwas einbilden. Die Natürlichkeit, mit der die beiden Männer auf dieses Thema gekommen sind in der Ausnahmesituation, in der sie sich befinden, nimmt der Szene jede Unglaubwürdigkeit, läßt sie lebensecht erscheinen, läßt den Leser sie voller Ernst aufnehmen. Und diesem Leser wird klargemacht, daß er sich weder etwas darauf zugute halten darf, daß er aufs Gymnasium geht, noch daß er die Pfunde, die ihm die Schule mit auf den Lebensweg gibt, verkommen lassen, sozusagen vergraben darf, weil dann nie etwas Richtiges aus ihm wird. Der Juggle-Fred hat versäumt, die in der Schule vermittelten Grundlagen aus- und weiterzubilden, darum ist aus ihm ein Gaukler und mittelmäßiger Westmann geworden; die Physikkenntnisse aus der Schulzeit kann er nur noch zu billigen Taschenspielertricks verwenden, was ihm aber in der Geisterstunde nichts nützen wird. Infolgedessen kann auch er bei der Hilfsaktion für Bloody-Fox nur als Statist mitwirken. Seine Reue kommt zu spät;


- 126 -

was man in der Jugend versäumt hat, läßt sich im Alter nicht mehr nachholen.

Ein exemplarisches Beispiel für die Sorgfalt, mit der die Anwendung physikalischer Kenntnisse geschildert und gleichzeitig in spannendes Erzählen verwoben wird, sind die folgenden Passagen (S. 287f., 293 und 297f.):

Eben als die Sonne unterging, erreichte man die Wagenfährte, der man nun gerade nach Süden zu folgte. Das war nicht schwer, da bald die dünne Sichel des Mondes sich erhob, welche einen genügenden Schein verbreitete. Dann, als man ungefähr noch eine Stunde geritten war, hielt Old Shatterhand plötzlich sein Pferd an, deutete nach vorn und sagte:

"Da sind die Auswanderer. Man sieht ihre Wagenburg. Bleibt hier halten. Ich werde mich einmal anschleichen und euch dann Nachricht bringen."

Er stieg vom Pferde und huschte fort. Es währte wohl eine halbe Stunde, bevor er zurückkehrte. Dann meldete er:

"Es sind zwölf große Ochsenwagen zu einem Vierecke zusammengeschoben, inmitten dessen die Leute sitzen. Sie haben weder etwas zu essen und zu trinken, noch Material zu einem Feuer. Sie sind von ihrem Führer verraten, sonst müßten sie das alles haben. Die Ochsen liegen stöhnend am Boden; sie sind dem Verschmachten nahe und können morgen früh jedenfalls nicht auf. Das wenige Wasser, welches wir bei uns haben, reicht nicht einmal für die Menschen aus. Um die Tiere zu retten, müssen wir ihnen unbedingt Regen schaffen."

"Regen?" fragte Hobbel-Frank. "Meenen Sie etwa, daß Sie es hier mitten im Llano regnen lassen können?"

"Jawohl !"

"Wie? Was? Wirklich? Das geht mir doch fast über die Hutschnur. [...] Wer is denn Ihr Wolkenschieber?"

"Die Elektrizität. Ich habe keine Zeit, Ihnen das jetzt zu erklären. Um Wasser zu machen, brauche ich Feuer, eine möglichst große, brennende Fläche. Bloody-Fox spricht von einem sehr ausgedehnten Kaktusfelde, welches nahe von hier im Süden liegt. Da darf ich hoffen, Ihnen in ganz kurzer Zeit einen gehörigen Platzregen zu fabrizieren. Jetzt aber kommen Sie!"

Er stieg wieder auf und ritt nach der Wagenburg. Die anderen folgten ihm, kopfschüttelnd über den verheißenen Regen und neugierig bezüglich der armen Menschen, zu deren Rettung sie gekommen waren.

[...]

Ganz besonders interessierte es ihn [d.i. Old Shatterhand], zu hören, daß neben der großen südlichen Kaktusstrecke ostwärts noch eine zweite liege, welche zwar weit schmäler, aber noch viel länger als die erstere sei. Fox sagte, daß sich zwischen beiden ein ziemlich schmaler Sandstreifen südwärts ziehe, auf welchem man nach seinem "Geisterneste" gelangen könne.

"Gut!" sagte Old Shatterhand. "So kann kein einziger dieser Halunken entkommen. Sollten sie unsere Überzahl ja zu früh bemerken, oder sollten sie nach dem ersten Angriffe fliehen, so jagen wir sie zwischen diese beiden Kaktusstrecken hinein und brennen dieselben an. Dadurch erhalten wir zugleich Wasser für die Zugtiere, welche nicht verschmachten dürfen."

[Der Plan wird ausgeführt, die Geier überfallen die Wagenburg der


- 127 -

Auswanderer, werden blutig zurückgeschlagen, das Kaktusfeld wird in Brand gesetzt. Die Geier werden gezwungen, zwischen die beiden oben genannten Kaktusfelder zu reiten, um sich vor dem Feuer zu retten.]

Wohl hatte Carlos Cortejo recht gehabt, vor dem Feuer zu warnen. Es kam herbei, erst zwar langsam, dann aber immer schneller und schneller.

Jahrhundertelang hatten die papierdünnen Kaktusreste da gelegen, von Zeit zu Zeit neue Pflanzen treibend. Das gab einen Stoff wie Zunder. Die Flammen leckten erst leise um sich her; dann begannen sie zu laufen, zu springen und schlugen haushoch empor. Bald stand die ganze breite, breite Fläche in hellem, lückenlosem Feuer, dessen Prasseln von weitem wie ein ferner Donner zu hören war. Die aufsteigende Hitze erzeugte einen Luftstrom, welcher immer stärker wurde und sich gar zum Winde erhob. Je mehr das Feuer um sich griff, je weiter es nach Süden schritt und da eine Fläche von verschiedenen englischen Quadratmeilen bedeckte, desto sichtlicher trat das ein, was Old Shatterhand erwartet hatte. Der Himmel verlor sein Blau, wurde erst fahlgelb, dann grau, dunkler und dunkler, und wirklich, da zogen sich schwere, dunkle Massen zusammen, welche nicht aus Rauch bestanden. Der jetzt sehr starke Wind ballte sie zu dichten Wolken, welche nach und nach den ganzen Himmel zu bedecken schienen.

Die Atmosphäre war glühend heiß; der Sand schien zu brennen. Droben begannen Blitze durch die Wolken zu zucken; einzelne Tropfen fielen, mehrere, immer mehr; jetzt, wahrhaftig, jetzt regnete es wirklich, stärker, immer stärker, bis es schließlich buchstäblich goß wie bei einem tropischen Gewitter.

Die Emigranten hatten ihre schwer verwundeten Feinde einfach erschossen, die Habseligkeiten der Toten zu sich genommen und dann die Pferde derselben zusammengetrieben. Nun sollten sie bis zur Rückkehr ihrer Freunde warten, aber -- ohne Wasser! Da sahen sie das Feuer. Sie bemerkten die Wolkenbildung. Sie fühlten die fallenden Tropfen. Sie standen endlich im erquickenden Regen, im Gewittergusse und holten alle vorhandenen Gefäße herbei, um dieselben sich füllen zu lassen. Die fast verschmachteten Stiere bekamen wieder Leben. Sie brüllten vor Freude; sie wälzten sich im Regen; sie erhielten zu saufen; sie waren gerettet, und mit ihnen ihre Herren, welche ohne diese Tiere nicht mit den Wagen weiter gekonnt hätten --- ein Werk Old Shatterhands.-

So einfach ist das! Den anderen Personen bleibt nur staunendes Kopfschütteln. Man fragt sich unwillkürlich, wie diese Männer unter den extremen Bedingungen des Wilden Westens auch nur eine Woche überleben können. Interessanterweise kommt auch Bloody-Fox, der hilfreiche Samariter der Wüste, nicht auf den Gedanken, auf so natürliche Weise Regen herbeizuzaubern; er weiß eben auch nicht, wie man das bewerkstelligt, hat er doch nie eine regelrechte Schulbildung genossen.

Die Bedeutung der Stelle liegt vor allem in der Art, wie hier exakte Naturbeobachtung und aufregendes Abenteuergeschehen miteinander verwoben werden. Die Handlung nähert sich dem Höhepunkt, der Endkampf gegen die Geier steht bevor. Da wird zunächst einmal in


- 128 -

allen Einzelheiten die Lage der Auswanderer geschildert, in Old Shatterhands Bericht. Hunger, Durst, Kälte bedrohen sie; die Zugtiere sind dem Tode nahe. Die Aufzählung macht die bedrohliche Lage, in der sich Menschen und Tiere befinden, ganz anschaulich. Vor diesem Hintergrunde wird das Vorhaben Old Shatterhands, Regen zu erzeugen, doppelt wichtig und zugleich bewundernswert.

Die Rettung wird aber erzählerisch hinausgeschoben, indem von anderen Vorgängen berichtet wird. Erst dann wird auf die Gruppe Old Shatterhands bei den Auswanderern zurückgeblendet. Dieser verknüpft nun die beiden Vorhaben, die Bande auszulöschen und Wasser zu schaffen, miteinander. Dann wird das Feuer gelegt.

Seine Entstehung und Ausbreitung werden detailliert geschildert, zu den visuellen Eindrücken kommen akustische und sensitive (ferner Donner; Luftstrom und Wind).

Jetzt nimmt sich der Erzähler Zeit, die Veränderung der Farbe des Himmels zu schildern, mit genauen Farbangaben. Und dann folgt die Schilderung des Regens in genauer Abstufung bzw. Steigerung, und zwar mehrfach (einzelne Tropfen - mehrere - immer mehr; [es] regnete - stärker - immer stärker; Tropfen fielen - regnete - goß). Dann erfolgt eine winzige Rückblende zu den Emigranten (die - ganz nebenbei gesagt - so einen Riesenhunger gehabt haben müssen, daß sie sogar die Habseligkeiten der Toten zu sich genommen hatten!), und aus ihrer Sicht wird der Regen in seinen verschiedenen Phasen zum zweiten Mal geschildert (Wolkenbildung; Tropfen - Regen - Gewitterguß). Genauso detailliert erfolgt dann die Schilderung der Zugtiere (brüllten - wälzten sich - erhielten zu saufen; das Ergebnis: waren gerettet).

Aber wer dann erwartet, daß jetzt endlich die Abenteuerhandlung zum Gipfel geführt wird, indem die Jagd auf den Hauptverbrecher weitergeht, sieht sich getäuscht. Es gibt noch eine Rückblende, und zwar Szene, in der Bloody-Fox in der Oase ankommt und die Feuerwand erblickt. Dann erst wird die spannende Handlung zu Ende geführt.

Das ist ein Musterbeispiel für die Integration von Informationen über den Ablauf eines Naturereignisses, das man so in unseren Breiten wohl nie erleben kann, in eine aufregende Kampfhandlung, wobei beide sich bedingen: der Stand der Auseinandersetzung mit den Geiern erfordert es, die Naturgewalten zu Hilfe zu nehmen, gibt also Anlaß zur Schilderung des künstlichen Regens und seiner Begleiterscheinungen; andererseits ermöglicht der künstliche Regen


- 129 -

die Weiterführung der Kampfhandlung im Sinne der Helden: das Feuer treibt die letzten verbliebenen Geier auf die Oase zu und damit in eine Falle, der sie nicht entrinnen können. Diese enge Verzahnung geht bis in Einzelheiten. Wie kann sich z.B. der Erzähler der nur verwundeten Banditen entledigen, wenn er nicht ihre Gefangennahme, Unterbringung, Verpflegung und ihr weiteres Schicksal umständlich schildern will, was die Zuspitzung der Handlung stören und das jetzt fällige Ende der Erzählung hinauszögern würde? Er muß sie loswerden, aber nicht durch ihre Flucht, sondern ihren Tod. Und der wird plausibel begründet und gewissermaßen gerechtfertigt (ohne daß dies explizit festgestellt werden muß), indem er durch die am Rande des Verschmachtens befindlichen, von dem verbrecherischen Führer schmählich verratenen Auswanderer, die dadurch in eine verständliche, Verbitterung geraten sind, herbeigeführt wird.

An vielen Stellen dieser Erzählung können sich die Personen aufgrund der ihnen vorliegenden Informationen richtig, d.h. der jeweiligen Situation angemessen, verhalten; Informiertsein ist unter Umständen für einen selbst lebensrettend! Die beiden Snuffles z.B., die durchaus klug und kenntnisreich sind, solange sie Old Shatterhand nicht mit seiner Gegenwart daran hindert, finden den Kopf einer Friedenspfeife, deren eingeschnittenes Totem ihnen verrät, daß die beiden verfolgten Indianer Komanchen sind. Das können sie jedenfalls aufgrund ihrer völkerkundlichen Kenntnisse annehmen. Da sie nun die Sprache dieses Stammes verstehen, machen sie sich bei ihrer Annäherung in der Dunkelheit durch Rufe bemerkbar und vermeiden damit, von einigen Kugeln begrüßt zu werden. Wenig später bewahren sie aufgrund ihrer Kenntnis der Totenbräuche der Indianer den gebotenen Takt gegenüber dem jungen Komanchen, der den Tod seines Vaters beklagt (S. 138).

Noch eine besonders wichtige Funktion von Sachkenntnissen offenbart die Erzählung: Sie bewahren vor Aberglauben und unbegründeter Furcht und stehen somit im Dienste aufgeklärten Selbstbewußtseins und begründeten Handelns.

Dies sei an der Erzählung von den Geschehnissen im Singenden Tal demonstriert, die alle Merkmale des Exemplarischen in beeindruckender Weise vereinigt: Beschränkung, Anschaulichkeit und Genauigkeit, Mustergültigkeit.

Die Episode wird aus dem Gang der Abenteuerhandlung herausgehoben,


- 130 -

indem zwei Himmelserscheinungen geschildert und im diskursiven Gespräch zwischen dem Bärenjäger Baumann und den Yankees analysiert werden. Daß auch diese Naturereignisse und Gespräche in die äußere Handlung integriert werden, versteht sich von selbst. Die Erscheinung des Elmsfeuers auf den Kaktusspitzen ermöglicht es Winnetou, sich unbemerkt zu nähern; da Martin Baumann dann vergißt, neue Kaktusfeigen zu sammeln, können die beiden Mexikaner dies nachholen, was wiederum ihre Belauschung durch Winnetou möglich macht; schließlich gibt das Gespräch über die in den Weiher gestürzte Feuerkugel Winnetou den Vorwand, sich zu entfernen, angeblich um die Spur des Meteorits im Wasser zu suchen, in Wahrheit, um einen Indianer, der sich angeschlichen hat, gefangenzunehmen. Das Gespräch, das uns hier in erster Linie interessiert, dreht sich um die Frage, welcher Natur die Erscheinungen sind, die man beobachten konnte, und welche Erklärungen es dafür gibt. Dabei werden zwei grundsätzlich mögliche Deutungen klar gegeneinander abgegrenzt: die rationale, auf naturwissenschaftlicher Erkenntnis beruhende und die abergläubische, auf Unwissenheit basierende. Diese beiden Positionen, aber auch eine Übergangsstufe, werden sehr anschaulich, mit Beispielen und drastischen Vergleichen, vorgeführt. Mustergültig sind die Anschauungen, die der Bärenjäger vertritt, weil sie auf viele ähnliche Situationen übertragen werden können und alle auf die von Kant so einprägsam formulierte Essenz hinauslaufen: Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen.

Der Bärenjäger und sein Sohn Martin, Ben New-Moon, drei weitere Yankees und zwei angebliche Mexikaner sitzen im Singenden Tal, das mit seinen geheimnisvollen Luftströmungen und Tönen eine abergläubische Stimmung durchaus hervorzubringen vermag (S. 235ff.).

Die Kaktusfeigen waren alle geworden, und Martin Baumann ging, um neue zu holen. Kaum hatte er die Sträucher hinter sich, so hörten die anderen seine Stimme:

"Was ist das? Kommt einmal her, Mesch'schurs! So etwas habe ich noch nie gesehen!"

Sie folgten seiner Aufforderung. Als sie zwischen dem Wasser und dem Gebüsch hindurch waren, bot sich ihnen ein höchst überraschender Anblick dar. Der ganze Talkessel lag in tiefem Dunkel, denn der Schein des Feuers, welches nur klein war, drang nicht durch die Büsche; aber dort, wo die Kaktusse standen, sah man zahlreiche

Flammenbüschel, welche in eigentümlich bleichem, farblosem Lichte erglänzten. Jeder dieser Pflanzenkandelaber trug mehrere solcher


- 131 -

Büschel; jeder Leuchterarm schien ein solches Flämmchen auf seiner Spitze zu haben. Es war eine wunderbare, fast geisterhafte Erscheinung.

"Was mag das sein?" fragte Porter.

"Ich habe es nie gesehen!" antwortete Falser. "Man möchte sich beinahe fürchten."

Da ließ sich hinter ihnen eine tiefe, klare Stimme hören, hinter ihnen, innerhalb der Sträucher, also am Feuer, wo sie soeben gewesen waren und wo außer ihnen sich doch kein Mensch befinden konnte:

"Das ist Ko-harstesele-yato, die Flämmchen des Großen Geistes, welche er anbrennt, wenn er seine Kinder warnen will."

[Der Sprecher ist Winnetou.]

[...] Er stieg vom Pferde, ohne auf die bewundernd auf ihn gerichteten Blicke zu achten, trat aus dem Gebüsche hinaus, deutete auf die Flämmchen und sagte:

"Weil die Bleichgesichter sich in diesem abgeschlossenen Tale befanden, haben sie nicht bemerkt, was außerhalb desselben vorgegangen ist. Damit sie es erfahren, sendet der große Manitou ihnen dieses feurige Totem. Winnetou weiß nicht, ob sie es lesen können.

"Was ist denn geschehen?" fragte Blount.

"Der 'ntch-kha-n'gul ist über den Llano gegangen. Winnetou sah den schwarzen Leib desselben im Norden. Wehe denen, welche ihm begegnet sind; der Tod hat sie gefressen!"

Hier werden zwei verschiedene Einstellungen gegenüber dem Naturgeschehen deutlich, eine von Ratlosigkeit und Furcht gekennzeichnete, die die beiden Yankees Porter und Falser zeigen, und eine Zwischenstufe zwischen Unwissenheit und naturwissenschaftlicher Bildung, die Winnetou vertritt. Zwar gesteht selbst der Erzähler, daß die Flämmchen des Elmsfeuers fast geisterhaft wirken, aber das rechtfertigt doch nicht den Anflug von Furcht, den Falser verspürt. Der Naturmensch Winnetou erkennt immerhin auf einer halbrationalen Stufe den Zusammenhang zwischen den Flämmchen und dem Tornado, ohne allerdings die richtige Erklärung dafür zu finden. Dabei gewinnt er aber aus seiner religiösen Überzeugung Sicherheit und weiß, daß man sich jedenfalls nicht zu fürchten braucht.

Das Gespräch verlagert sich dann auf Gegenstände, die in der augenblicklichen Lage wichtiger sind, bis sich Baumann und Porter wieder über die Flammenbüschel unterhalten können (S. 247f.). Porter sagt:

"[...] Mir scheint, es sind Dinge im Anzuge, welche uns höchst fatal werden können. Die gespenstigen Flammen dort auf den Kaktussen sind mir auch nicht recht geheuer. Ich bin nicht abergläubisch; aber solche Erscheinungen kommen nicht von ungefähr; sie haben stets etwas zu bedeuten."


- 132 -

"Natürlich haben sie etwas zu bedeuten", meinte der Bärenjäger lächelnd.

"Was denn aber?"

"Daß die Atmosphäre sich in elektrischer Spannung befindet."

"Elektrisch? Spannung? Das verstehe ich nicht. Das ist mir zu gelehrt. Ich weiß zwar, daß man sich elektrisieren lassen kann; aber Feuer, Flammen, noch dazu auf Kaktuspflanzen? Wollt Ihr das wirklich der Elektrizität in die Schuhe schieben?"

"Allerdings, Master Porter."

"Oh, die ist jedenfalls höchst unschuldig daran!"

"Ist der Blitz etwa nicht auch eine feurige Erscheinung?"

"Jedenfalls, und was für eine!"

"Nun, die Ursache des Blitzes ist die Elektrizität, wie man wohl nicht zu erklären braucht. Was die Flämmchen betrifft, welche wir vorhin sahen, so werden dieselben sehr oft von Seeleuten an den Masten, Rahen und Stengen der Schiffe bemerkt; man sieht sie an Kirchturmspitzen, an den Wipfeln der Bäume, an den Spitzen der Blitzableiter. Man nennt diese Lichtbüschel Sankt-Elms-Feuer oder auch Kastor und Pollux. Sie entstehen durch ausströmende Elektrizität. Ihr habt doch wohl vom Geiste des Llano estakado gehört?"

"Mehr als mir lieb ist."

"Hat man Euch auch erzählt, daß des Nachts die Gestalt dieses geheimnisvollen Wesens zuweilen mit feurigen Flammen erscheint?"

"Ja, aber ich glaube es nicht."

"Das könnt Ihr getrost glauben. Es ist mir einmal droben in Montana passiert, daß ich mich auf einer weiten Ebene befand, und zwar des Nachts. Es wetterleuchtete rundum, kam aber nicht zum wirklichen Gewitter. Da erschienen plötzlich an den Ohrenspitzen meines Pferdes kleine Flämmchen. Ich hielt die Hände empor, und siehe da, an meinen Fingerspitzen zeigten sich ähnliche Flämmchen, wobei ich ein ganz merkwürdiges Gefühl in denselben hatte, Ganz dasselbe ist es mit dem Avenging-ghost. Wenn er durch den Llano reitet, bildet sein Körper den höchsten Punkt desselben. Ist es Nacht und ist da bei eine bedeutende elektrische Spannung vorhanden, so zeigt sich das Sankt-Elms-Feuer an seinem Körper."

"Ihr glaubt also wirklich an die Existenz dieses Geistes des Estakado?"

"Ja. "

"Und haltet ihn für einen Menschen?"

"Für was anderes sonst?"

"Hm! Ich habe viel über ihn gehört, aber mir keine Mühe gegeben, darüber nachzudenken. Nun ich aber gegenwärtig den Llano vor mir habe, möchte ich freilich sehr gern wissen, was ich von ihm zu halten habe. Es ist ja sogar möglich, daß er einem während des Rittes erscheint. Was hat man da zu tun?"

"Wenn er mir begegnete, würde ich ihm die Hand geben und ihn als einen ganz vortrefflichen Kerl behandeln. Es ist nämlich ---"

Er wurde unterbrochen.

Porter nennt das Problem, um das es jetzt geht, beim Namen: den Aberglauben und seine Folgen. Zwar behauptet er, selbst nicht abergläubisch zu sein, aber die rationale Erklärung des Bärenjägers akzeptiert er trotzdem nicht, einmal aus Unverständnis, dann aber auch, weil er sich, gegen eine vernünftige Erklärung


- 133 -

sträubt. Eine solche mißdeutet er als zu große Gelehrsamkeit. Durch den Vergleich mit dem Blitz und mit Beispielen versucht Baumann nun, dem Yankee die Erscheinung zu veranschaulichen, und gibt schließlich die sachliche Erklärung. Ein weiteres Vergleichsbeispiel führt auf den Geist des Llano estakado und ein Erlebnis, das Baumann selbst mit dem Elmsfeuer hatte. Aber auch dem Augenzeugen, der ja jetzt lebendig vor ihm sitzt, also keinen Schaden genommen hat, glaubt Porter nicht, daß es sich um eigentlich harmlose atmosphärische Phänomene handeln muß. Auch was die Natur des Geistes angeht, weigert sich Porter, seinen Verstand zu gebrauchen, es ist ihm zu mühsam, über solche Dinge nachzudenken. Das Gespräch wird durch Winnetou unterbrochen, die Auseinandersetzung darüber, ob rationale oder irrationale Erklärungen angemessen sind, bleibt ohne Ergebnis, das Problem bleibt in der Schwebe. Deutlich wird in diesem Gespräch die große Skepsis, die Porter allen Versuchen einer vernünftigen Erklärung entgegenbringt. Er will einfach nicht aufgeklärt werden. Das didaktische Gespräch, das Baumann mit ihm zu führen versucht, scheitert vorläufig; Porter ist nicht einmal dazu zu bewegen, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen.

Es folgt nun die zweite Naturerscheinung, eine Feuerkugel stürzt in das Wasser. Daraufhin macht Baumann einen erneuten Anlauf, um bei dem Yankee Unwissenheit durch Wissen, Aberglaube durch Ratio zu ersetzen (S. 256ff.).

[Zunächst kommentiert Winnetou das Ereignis:]

"Ku-begay, die Feuerkugel", sagte er. "Der große Manitou hat sie vom Himmel geworfen und auf die Erde geschmettert."

"Eine Feuerkugel?" fragte Blount. "ja, es sah wie eine Kugel aus. Aber habt Ihr den Schwanz gesehen? Es war ein Drache; es war der Teufel, der böse Geist, welcher um Mitternacht sein Wesen treibt."

"Pshaw!" antwortete der Apache, indem er sich von dem abergläubischen Manne abwandte.

"Ja, das war der Drache!" stimmte Porter seinem Gefährten bei. "Ich habe ihn noch nie gesehen, aber ich hörte andere von ihm erzählen. Meine Großmutter hat ihn in die Feueresse des Nachbars fahren sehen, welcher den Teufel hatte und ihm für Geld seine Seele verschrieb."

"Laßt Euch nicht auslachen, Sir!" sagte der Bärenjäger. "Wir leben doch nicht mehr im dunklen Mittelalter, in welchem man noch an Drachen oder Gespenster glaubte, oder in welchem vielmehr den Dummen dieser Glaube beigebracht wurde, damit die Klugen ihre Ernte dabei fänden."

"Was es damals gegeben hat, gibt es auch jetzt noch! Oder wollt Ihr klüger sein als ich?" fragte Porter scharf.


- 134 -

"Pah! Ich bilde mir auf meine Klugheit gar nichts ein. Früher hielt man alle die Erscheinungen, welche man sich nicht zu erklären vermochte, für Teufelswerk. Jetzt aber ist, gottlob, die Wissenschaft so weit vorgeschritten, daß sie des Beelzebubs und seiner berühmten Großmutter sehr wohl entbehren kann."

"Ach so! Ihr gehört wohl auch zu diesen Aufgeklärten und sogenannten Gelehrten?"

"Ich bin nicht gelehrt; aber daß eine Feuerkugel kein Teufel ist, das weiß ich doch."

"Nun, was ist sie denn sonst?"

"Nichts als ein kleiner, brennender, entweder im Entstehen oder im Vergehen begriffener Himmelskörper, welcher auf seiner Bahn der Erde so nahe gekommen ist, daß er von derselben angezogen und auf sie herabgerissen wird."

"Ein Himmelskörper? Also ein Stern?"

"Ja."

"Welcher Dummkopf hat Euch das denn weisgemacht?"

"Einer, dem das Wort Dummkopf in das Gesicht zu werfen Ihr wohl nicht wagen würdet, nämlich Old Shatterhand."

"Der? Ist das wahr?"

"Jawohl! Wenn wir des Abends am Lagerfeuer saßen, haben wir uns sehr oft über solche scheinbar unerklärliche Dinge und Erscheinungen unterhalten, und er hat für alles eine ganz natürliche Erläuterung gehabt. Wenn Ihr klüger sein wollt als dieser Mann, so habe ich nichts dagegen. Habt Ihr denn nicht gehört, daß hier etwas in das Wasser gefallen ist?"

"Gehört, gesehen und auch gefühlt. Wir sind ja alle naß geworden."

"So ist also, wenn Eure Ansicht richtig wäre, der Teufel hier in den Teich gestürzt, und da wir vergessen haben, ihn herauszuziehen, so ist er jedenfalls ertrunken."

"Der ersäuft natürlich nicht. Er ist gleich hinunter in die Hölle gefahren."

So kann er sich dort am Feuer trocknen, nachdem er hier naß geworden ist, damit er sich nicht gar erkältet und einen Schnupfen bekommt. Könnten wir das Wasser entfernen, so würden wir ein Loch im Boden sehen, in welchem der Aerolith steckt, ein Stück des Meteorsteines, aus welchem die Feuerkugel bestanden hat."

"Ein Stein? Hm! Der hätte uns ja erschlagen können!"

"Allerdings. Es ist ein Glück für uns, daß er ins Wasser fiel."

"Ich will nicht mit Euch streiten; aber hat Euch Old Shatterhand vielleicht auch die Töne erklärt, welche wir vorhin hörten?"

"Vom Yuavh-kai haben wir nicht gesprochen; aber ich entsinne mich jetzt, daß er von dem bekannten Sackbut-Paß gesprochen hat, welcher droben in den Rattlesnake-Bergen liegt. Wenn der Wind in gerader Richtung durch die so enge, tief eingeschnittene Schlucht bläst, so sind Töne zu hören, welche wie von einer Posaune klingen. Der Hohlweg ist das Instrument und der Wind der Musikant."

"Windig genug klingt diese Erklärung freilich; aber ich will auch da nicht mit Euch streiten. Glaubt Ihr, was Ihr wollt, und ich denke auch, was mir beliebt."

Winnetou kann abergläubische Menschen wie Blount und Porter nur mit Verachtung strafen. Aber in dem Gespräch zwischen Baumann und Porter prallen nun die beiden gegensätzlichen Anschauungen hart aufeinander. Verfolgen wir kurz die Argumentation der beiden. Porter gibt abergläubische Vorstellungen wieder, die ihm zu Ohren ge-


- 135 -

kommen sind, z.B. von seiner Großmutter. Auf die Äußerungen Baumanns reagiert er dann gereizt und mit einer Beschimpfung, und schließlich weicht er zweimal einer Diskussion aus und beharrt, wie ein unvernünftiges Kind, auf seiner vorgefaßten Meinung. Ganz anders Baumann. Er argumentiert zunächst grundsätzlich mit der Überlegung, wozu den Menschen solche Ammenmärchen erzählt werden, nämlich um sie zu beherrschen. Dann bezieht er sich auf die Wissenschaften der Neuzeit und gibt eine rationale Erklärung. Dann beruft er sich auf einen Gewährsmann, Old Shatterhand, dann versucht er es mit Spott, schließlich wieder mit einer rationalen Erklärung. Wir werden sehen, daß auch diese Argumentationsweise nicht hieb- und stichfest ist.

Den Versuchen Baumanns, rationale Erklärungsmodelle anzubieten und den Yankee damit zur Einsicht zu bringen, setzt dieser in erster Linie seine Halsstarrigkeit entgegen: Er beharrt auf seiner feindseligen Einstellung gegenüber jeder Belehrung und Aufklärung und bestätigt damit ungewollt genau Baumanns Vorwurf der Dummheit. Geistesgeschichtlich gesehen ist Baumanns Überzeugungsversuch etwas merkwürdig. Einerseits vertritt er die Position der historischen Aufklärung, zumal diejenige Kants, die nicht nur an den Gebrauch des Verstandes appelliert hat, sondern auch einen wichtigen Grund dafür erkannte, weshalb bestimmte Menschen ein Interesse an der Verbreitung und Aufrechterhaltung abergläubischer Vorstellungen hatten (und haben): Dummköpfe können besser beherrscht und ausgenutzt werden als Menschen, die ihren eigenen Verstand gebrauchen. Andererseits beruft er sich im Anschluß daran auf einen Gewährsmann, eine Autorität, Old Shatterhand, führt ihn regelrecht für sich ins Feld als einen, dem Porter sicher nicht widersprechen könne. Nun hat ihm gegenüber dieser Old Shatterhand aber die gleichen Argumente und Erklärungen gebraucht wie Baumann dem Yankee gegenüber. Das bedeutet, daß Baumann der Meinung zu sein scheint, weniger sein Wissen und seine vernünftigen Einsichten als die bloße Autorität der Persönlichkeit Old Shatterhands sei in der Lage, den Ungläubigen von der Richtigkeit der rational begründeten Anschauung zu überzeugen. Aber auch das verfängt bei Porter nicht; dieser bleibt hartnäckig bei seiner Weigerung, die Beweisführung Baumanns zu akzeptieren.

Das didaktische Gespräch ist endgültig gescheitert, die auf einer vorrationalen Stufe stehengebliebenen Menschen sind einfach nicht


- 136 -

zu überzeugen, hauptsächlich deshalb, weil sie gar nicht überzeugt werden wollen!

Bei einem anderen aber sollen die Bemühungen des Bärenjägers Erfolg haben, beim Leser. Ihm soll klar werden, wie notwendig die Beschäftigung mit den exakten Wissenschaften ist, weil diese vor Lächerlichkeit und Dummheit bewahren und - was das Handeln angeht - vor Mittelmaß oder gar Ohnmacht. Die Yankees jedenfalls erscheinen an keiner Stelle der weiteren Erzählung als handlungsbestimmend. Aktiv sind Männer, die auf Wissen beruhende Fertigkeiten entwickeln, geistige wie praktische, und da ist in erster Linie Old Shatterhand zu nennen, aber auch - mit den gebührenden Abstrichen - die Westmänner, die durch den Umgang mit ihm gelernt haben, wie hier der Bärenjäger. Aber auch Old Shatterhand sagt von sich selber, er sei nicht allwissend. Das vom Leser exemplarisch Begriffene zeigt auch die Grenzen auf, die menschlichem Intellekt gesetzt sind; es erzeugt einerseits Bescheidenheit, provoziert andererseits den Wunsch, durch stetiges Bemühen über Grenzen hinauszudrängen.

Das Gegenbeispiel unter den positiven Helden stellt Hobbel-Frank dar, der gerade die beiden letztgenannten Forderungen nicht erfüllt. Er ist nicht bescheiden, im Gegenteil, er hält sich auf allen Gebieten für eine Koryphäe und verspürt darum auch kein Bedürfnis, sein Wissen zu erweitern; er zieht sich beleidigt zurück, wenn er nicht anerkannt wird.

Der weitere Verlauf der Ereignisse bringt wieder ein schönes Beispiel für die Genauigkeit und Detailliertheit des Erzählens, das Informationsfülle, Spannungssteigerung und Aufklärung miteinander verbindet.

Es kommt eine Schar Komanchen hinzu, die zunächst von den Weißen freundlich empfangen wird. Als einer der Indianer aber einen der angeblichen Mexikaner erblickt, spitzt sich die Szene gefährlich zu (S. 262f.):

"Uff! Aletehlkua ekkvan mava - welche Hunde sitzen da!"

Da der Kreis noch nicht geordnet und jeder noch mit seinem Sitze beschäftigt war, so wurde dieser Ausruf nicht von allen gehört. Der Anführer der Komanchen aber hatte ihn vernommen. Er richtete sich rasch auf und fragte den Mann:

"Hang tuhschtaha-nal - wen siehst du?"

"He-ehlbak, enko-ola uah-tuhvua - sie, die Geier des Llano estakado."


- 137 -

"He-ehlbak hetetscha enuka - wo sind sie?"

"Mava he-ehlbak kenklah - dort sitzen sie!"

Bei diesen Worten deutete er auf die beiden angeblichen Mexikaner. Da diese Fragen und Antworten laut und im Tone zorniger Betroffenheit ausgesprochen worden waren, so hatten sie die Aufmerksamkeit aller Anwesenden erregt. Bei den Worten "enko-ola uah-tuhvua - die Geier des Llano estakado" waren die Komanchen alle wieder aufgesprungen. Sie griffen drohend nach ihren Messern. Die Szene sah gar nicht mehr so friedlich aus wie vorher.

Die Weißen hatten die Worte nicht verstanden, da sie weder des Komanche - noch des Tonkawah- oder Moquidialektes mächtig waren; da sie aber die drohenden Mienen der Roten sahen, erhoben auch sie sich und griffen zu ihren Waffen.

Nur Winnetou blieb ruhig sitzen. Er sagte in gebietendem Tone:

"Meine Brüder mögen sich nicht erregen. Sehen die roten Männer zwei ihrer Feinde unter uns, so versichere ich, daß wir mit diesen Männern nichts zu schaffen haben. Es soll wegen derselben kein einziger Tropfen Blutes unter uns vergossen werden. Was hat der Krieger der Komanchen gegen sie vorzubringen?"

Er sprach in dem in jener Gegend gebräuchlichen Jargon, welcher aus Spanisch, Englisch und Indianisch zusammengesetzt ist.

[Da nun alle Anwesenden das Gesprochene verstehen, beruhigt sich die Szene wieder.]

Die Verwendung und genaue Charakterisierung der verschiedenen Sprachen, des Komanche-Dialekts und des an der Grenze gebräuchlichen Jargons, dient erstens der Information des Lesers. Sie werden in die Handlung integriert, denn da die Weißen den Indianerdialekt nicht verstehen, durchschauen sie den ganzen Vorgang nicht, geraten in Verwirrung und gefährden dadurch sich selbst. Erst der von allen verstandene Grenz-Jargon ermöglicht ruhige Überlegung und führt zur vorläufigen Klärung der Situation, wobei dies natürlich besonders der Umsicht Winnetous zu verdanken ist. Zweitens steigert die Wiedergabe der indianischen Ausdrücke die Spannung des Lesers, weil die sich jäh zuspitzende Handlung im Akt des Lesens verzögert wird, es sei denn, der Leser beachtet die fremdsprachlichen Elemente überhaupt nicht. Eine dritte Wirkung der genauen Wiedergabe ist das, was H. Stolte als Zauber bezeichnet hat, der im Detail liege(69): Gerade über die Sprachbrocken kann sich der Leser in die fremdartige Welt mit ihren exotischen Menschen hineinversetzen, er spricht beim Lesen sozusagen selbst indianisch und wird so ganz in die Situation hineingezogen.

Versuchen wir ein Fazit:

Hauptziel des Erzählens in Der Geist des Llano estakado ist es, neben dem Angebot einer spannenden Handlung natürlich, für Ratio-


- 138 -

nalismus und Aufklärung zu werben. Dazu gehört Menschenkenntnis, und die wiederum verlangt, daß man sich in andere Menschen hineinversetzt, sie in ihrer Eigenart erkennt und akzeptiert. Das bedeutet, anderen Völkern und ihren Angehörigen gegenüber tolerant zu sein. Diese Toleranz wird von den positiven Helden dieser Erzählung in vielfältiger Weise geübt: gegenüber dem Indianer Eisenherz, dessen - aus Sicht der Weißen - abergläubische Vorstellungen über den Geist nicht verlacht (S. 193f.) und dessen Totenbräuche geachtet werden (S. 138); dazu paßt Tims flammende Rede über die Vorzüge der Indianer (S. 105ff.); Toleranz gegenüber Menschen mit körperlichen Gebrechen, z.B. dem buckligen Juggle-Fred, der trotzdem ein ganz tüchtiger Westmann ist (S. 41); auch über das Hinken Hobbel-Franks, über die riesigen Nasen der Snuffles, über die Beleibtheit Jemmys und die dürre Gestalt Davys macht sich kein verständiger Mensch lustig. Nur die bornierten und daher intoleranten Diamantensucher und die Verbrecher machen über solche Menschen Witze, weil sie den wahren Wert eines Menschen nicht erkennen; sonst würden die einen nicht dem Diamantenfieber erliegen, die anderen nicht gewissenlos Menschenleben auslöschen, nur um sich selbst zu bereichern. Sie erscheinen aber in ihrer Dummheit viel lächerlicher als jeder Langnasige. Auch die Versponnenheit des kleinen Sachsen, wenn er deutsch spricht, wird im allgemeinen hingenommen; nur wenn er es gar zu toll treibt, reizt er andere zum Lachen. Hinter allem steht unausgesprochen, aber deutlich die Mahnung: Nimm jeden Menschen in seiner Individualität ernst, toleriere ihn, solange er dir keinen Schaden zufügt.

Zu dieser Toleranz gehört gewissermaßen auch die Erzählweise, die detailliert und genau ist und so jeder Einzelheit im gesamten Erzählkomplex zu ihrem Recht verhilft, sie bedeutsam werden läßt und jedes Detail der in der Erzählung entworfenen Welt wichtig nimmt. So wie ein kleiner Pfeifenkopf lebenserhaltend sein kann, so trägt jede Kleinigkeit zum Gelingen der Erzählung bei.


- 139 -

6. Leitmotive

Ein erzähltechnisches Mittel, das eine längere Erzählung strukturiert, ist das Leitmotiv(70). Es erleichtert dem Leser die Orientierung im langen Strom des Erzählens und hält sein Interesse wach, indem es auf Bekanntes, weil schon Gelesenes verweist und neue Handlungsepisoden in das Gesamtkunstwerk einbindet. Darüber hinaus kann es von großer inhaltlicher Bedeutung sein und den tieferen Sinn des Geschehens verdeutlichen.

In Der Geist des Llano estakado gibt es viele Leitmotive. Inhaltlich zentral ist das Leitmotiv des Verbergens und Erkennens. Ein weiteres stoffliches ist das Reiten durch weite Räume auf ein Ziel hin. Weitere, nicht so dominierende Leitmotive sind die stehenden Redewendungen der Snuffles: ... ist das höchste der Gefühle und sich an etwas heranschlängeln, von denen vor allem die zweite in allen möglichen, oft auch unmöglichen Zusammenhängen und Varianten eingesetzt wird; außerdem die Erscheinungen des Geistes, die vor allem das Kapitel Geisterstunde strukturieren, sowie der Schuß in die Stirn. Leitmotivisch wird auch das genaue Beobachten und Schlüsseziehen eingesetzt; es wird von verschiedenen Personen praktiziert, ersteres gerade auch von Jugendlichen, Blooody-Fox und Martin Baumann.

Wir wollen zwei Leitmotive etwas genauer auf ihre Form und Funktion hin untersuchen.

a) Auffallendstes Motiv ist das des Verbergens und Entdeckens, das nicht nur die Erzählung strukturiert, sondern handlungsbestimmend und sinntragend ist. Es bestimmt schon den Titel der Erzählung und entfaltet sich vom Anfang bis zum Ende in verschiedenen Ausprägungen: als Täuschungsversuch und Enttarnung, als ein Unerkannt-Bleiben und (Er-)Kennen, als Geheimnis und Enthüllung. Das wichtigste - doppelte - Geheimnis rankt sich um den Geist und damit um Bloody-Fox. Wer ist dieser Geist, was ist er überhaupt (Gespenst oder Mensch); woher kommt er, wohin verschwindet er immer, wo hat er seinen Stützpunkt, wie kann er innerhalb kürzester Zeit an weit auseinanderliegenden Stellen des Llano auftauchen? Die beiden ersten Fragen richten sich auf die Person, also Fox, der sich als dieser Geist entpuppen wird; die vier weiteren kreisen um die Oase, den geheimen Stützpunkt des Fox mitten im Llano.


- 140 -

Diese Oase ist ein Versteck; ihr Zugang ist verbarrikadiert bzw. kaschiert, nämlich durch den schmalen Streifen Sandes zwischen zwei Kaktusstrecken (S. 293). Ja, mehr noch: Ihre Existenz ist nur als Sage überliefert, kaum geahnt, so daß niemand auf den Gedanken kommt, sie gezielt zu suchen und damit das Geheimnis zu entschleiern.

Am häufigsten wird die Tarnung einer Person und ihre Identifizierung leitmotivisch abgewandelt. Betrachten wir zunächst die Variante "Erkennen". Gleich zu Beginn der Erzählung erkennt Fox in den beiden Reitern, die sich aber auch gar nicht verstellen, Frank und Bob, weil er von ihnen gehört und sie beschrieben bekommen hat (S. 15f.). Bob erkennt dann in dem Fremden, der sich als Mormone ausgibt, den Dieb Weller; da er das aber nicht beweisen kann, erfolgt nichts weiter, als daß er ein scharfes Auge auf ihn hat (S. 35 und später). Bloody-Fox erkennt das Gewehr des Fremden als das eines ermordeten Bekannten; es kommt zum Duell, in dem er den mutmaßlichen Mörder erschießt (S. 64 und später). Die Snuffles erkennen in den vier Weißen mit fünf Pferden, denen sie begegnen, sofort die Banditen, die die beiden Indianer überfallen haben (S. 112). Infolgedessen verhalten sie sich so, daß ihnen von den Verbrechern keine Gefahr drohen kann. Eisenherz erkennt den angeblichen Dragoneroffizier an der Stimme als einen der Mörder seines Vaters (S. 210); darauf tötet er ihn im nächtlichen Zweikampf. Ein Komanche erkennt in den beiden Mexikanern zwei der Geier wieder (S. 262ff.). Da Winnetou aber ein Interesse daran hat, die beiden vorerst noch unbehelligt zu lassen, weil sie ihn zum Versteck der Geier im Llano führen sollen, bleibt das zunächst ohne negative Folgen. Old Shatterhand erkennt Blooody-Fox, obwohl er ihn bis dahin noch nie gesehen hat. Im Kapitel über den Erzähler wurde das als Ausdruck des situativen Erzählens erklärt; man kann es aber auch im höheren Sinne als visionäre Einleitung des allgemeinen Aufdeckens der personenbezogenen Geheimnisse deuten, zumal derselbe Old Shatterhand wenig später auch Burton, den er auch noch nicht zu Gesicht bekommen hat, beim ersten Ansichtigwerden erkennt. Schließlich kulminiert das Teilmotiv des Erkennens in dem Aufeinandertreffen der beiden Gegenspieler Fox und Burton. Nacheinander erkennen alle Fox als den Geist, dieser erkennt in Burton den Mörder seiner Eltern, Ben New-Moon in ihm den Stealing-Fox; Sanna erkennt in Bob ihren Sohn (S. 298, 300f.).


- 141 -

Eine Abwandlung des Teilmotivs "Erkennen" stellt das Durchschauen eines sich verstellenden Menschen dar. Dabei gelangt die Vermutung, daß jemand etwas anderes ist, als er scheinen will, nicht zum Stadium des Wissens, oder aber man läßt den anderen nicht merken, daß man ihn durchschaut hat.

Helmers merkt, daß der Mormone und der Fremde nicht das sind, wofür sie sich ausgeben, erkennt aber nicht, daß sie Mitglieder der Geierbande sind, der Mormone sogar deren Anführer (S. 30ff. und 61ff.). Old Shatterhand durchschaut den angeblichen Offizier (S. 160 ff., 167f.), läßt ihn auch seinen Argwohn fühlen, woraus der Bandit aber keine Konsequenzen zieht. Deshalb kann man ihm nachreiten und das Versteck im Llano finden. Baumann durchschaut die Mexikaner halb (S. 231ff., 245), Winnetou ganz (S. 244, 249). Letzteres hat zur Folge, daß man von ihnen - natürlich tun sie's unfreiwillig - zur Murding-bowl geführt wird.

Eine dritte Variante ist die Ahnung, man kenne jemanden, ohne daß man sich genau erinnern kann. So geht es Bloody-Fox, der weiß, daß er den Mormonen schon einmal irgendwo gesehen hat, sich aber nicht auf Zeit, Ort und Umstände besinnen kann (S. 33). Folglich kann der Mormone entkommen und weiter sein Unwesen treiben; sonst wäre die Erzählung auch schnell zu Ende.

In einem weiteren Sinne gibt es als vierte Variante dieses Teilmotivs das Spurenlesen. Die Snuffles lesen aus den Spuren des Kampfes zwischen den zwei Indianern und den fünf Weißen den genauen Hergang heraus (S. 99ff.); das Unkenntlichmachen des getöteten Weißen ist also ein untauglicher Verdunkelungsversuch. Genaue Betrachtung des Bodens führt Old Shatterhand zur Entdeckung des Verstecks der Geier mit Waffen, Munition, Verkleidungsutensilien (Uniform) und einem verräterischen Zettel (S. 181ff.), der nun, da die Tarnung beseitigt ist, seinerseits wahre Informationen über die Absichten der Geier gibt, die nur dem Hobbel-Frank unverständlich sind.

Eine Umkehrung des Motivs stellt das Nicht-Erkennen dar. Die Diamantensucher verkennen den wahren Wert der Snuffles (S. 84ff.), halten sie sogar lächerlicherweise für die Mörder des Weißen (S. 88f.). Sich selbst verkennen sie ebenfalls; Gibson z.B. meint, weil er Advokat sei, tauge er für die Wildnis und könne sogar die Snuffles kommandieren (S. 87). Stewart erkennt die Snuffles zu nächst nicht, obwohl er viel von ihnen gehört hat (S. 115). Die Diamantensucher bemerken nicht, daß Stewart einer der Geier ist


- 142 -

(s. 118ff.), vertrauen sich ihm, nicht den Snuffles an und lassen sich von ihm den Weg zum Lager der Auswanderer zeigen, wobei sie Gefahr laufen, mit diesen zusammen ermordet zu werden (S.123). Die Auswanderer hegen gegenüber dem frommen Tobias Preisegott Burton keinen Verdacht.

Auch auf der Seite der positiven Helden kommt es vor, daß sich jemand in der Beurteilung eines anderen Menschen irrt. Helmers hält Stewart wirklich für den Offizier, als der dieser sich ausgibt (S. 145). Old Shatterhand erkennt bei der Begegnung in der Geisterstunde in dem Geist noch nicht Bloody-Fox, jedenfalls wird das nicht gesagt (S, 209); aus Gründen der erzählerischen Ökonomie darf er das natürlich noch nicht; der Leser kann aber vermuten, daß Old Shatterhand zumindest ahnt, wer sich unter dem Büffelfell verbirgt. Die Yankees durchschauen die Mexikaner nicht (S. 222ff.), aber vielleicht muß man sie moralisch auch eher der Gruppe der Diamantensucher zurechnen: Beide stehen in dieser Hinsicht zwischen den Helden und den Bösewichtern. Der anschleichende Komanche erkennt Winnetou nicht (S. 259), ein kurioser Fall, der nur beweist, wie unbedarft dieser junge Krieger noch ist.

Aufgedeckt wird in dieser Erzählung vieles, was vorher verborgen war. Verborgen durch ein Geschick (Herkunft und Schicksal des Fox) oder mit Absicht verborgen, um ungesetzliches Treiben möglich zu machen und der Bestrafung zu entgehen. Am häufigsten maskieren sich die Verbrecher: Burton als Mormone, Stewart als Offizier; dann auch als Indianer(71); die möglicherweise verräterische Hasenscharte wird durch den heruntergekämmten Schnurrbart verdeckt; Verkleidungsutensilien werden verborgen, geheime Nachrichten hinterlassen. Die Helden, die dem Recht zur Geltung verhelfen wollen, müssen das Verborgene aufdecken, Masken abziehen. Genaues Beobachten, gesunder Menschenverstand, logisches Folgern sind dazu nötig.

Nicht immer aber führt die Aufklärung gleich zur Unschädlichmachung der Schuldigen (Mormone/Bob; Geier/Snuffles; Stewart/Old Shatterhand; Mexikaner/Winnetou). Entweder werden absichtlich noch keine Konsequenzen gezogen, weil man die Bösen noch in ihrem Glauben lassen will, ihre Täuschung hätte Erfolg, weshalb sie den Guten unwissentlich helfen (Mexikaner, indirekt auch Stewart), oder aber die Beweise fehlen, bzw. die eigentlich Betroffenen sind nicht da (die von Weller Bestohlenen; die Snuffles selbst sind von


- 143 -

den Mördern Feuersterns nicht geschädigt worden). In diesen Fällen entkommen die Bösewichte und können weitere Untaten planen oder verrichten, auf jeden Fall geht die Erzählung weiter.

Am Schluß aber sind alle Rätsel, bis auf eines (Fox' Herkunft), gelöst, alle Identitäten zweifelsfrei geklärt. Alle Schurken finden irgendwann den Tod, alle Täuschungsmanöver haben ihnen nichts genützt. Einzig Burton wird erst nach seinem Tod als Mörder der Eltern des Bloody-Fox erkannt; das verweist darauf, daß die Herkunft des jungen Mannes ungeklärt bleiben wird. Der Leser ist aufgrund der Erzählweise, seltener mit Hilfe konkreter Angaben, in der Lage, das Versteckspiel der Bösen zu durchschauen, darum kann er die Aufklärung der Geheimnisse und Täuschungsmanöver genüßlich verfolgen. Auch das wichtigste Geheimnis, wer sich hinter der Maske des Geistes verbirgt, ahnt er frühzeitig - nein, jeder aufgeweckte Leser weiß spätestens nach dem nächtlichen Zweikampf in Helmers Home mit dem Schuß in die Stirn des Banditen, wer dieser Geist in Wahrheit ist. Keiner der Geier gibt seine Tarnung freiwillig auf; bestenfalls trägt er durch fehlerhaftes oder auffälliges Verhalten dazu bei. Dagegen lüftet Fox die beiden Geheimnisse, die ihn umgeben, in eigener Entscheidung, wenn auch der Anstoß dazu von außen kommt. Die Umstände nötigen ihn dazu, Hilfe zu holen; dadurch muß er den anderen den Weg zu seiner Oase zeigen, und damit wird natürlich auch seine Maskerade hinfällig. Aber er offenbart sich doch freiwillig, weil das Versteckspiel, welches er geführt hat, jetzt unnötig geworden ist: Die Geierbande steht unmittelbar vor ihrer völligen Vernichtung. Das Geheimnis des Fox hat keine bösen Absichten verdeckt, war nicht Mittel zu Verbrechen, sondern es hatte zum Ziel, Recht und Ordnung wiederherzustellen und in Not Geratenen Hilfe zu bringen. Solange Fox auf sich allein gestellt war, war die Tarnung notwendige Bedingung seines sozialen Handelns. Als diese Bedingung entfällt, gibt sich Fox selbst zu erkennen.

Ein letztes, hübsches Beispiel für diese Variante: das Sich-zu-erkennen-Geben, sei noch kurz angeführt (S. 134). Die beiden Snuffles reiten dem jungen Indianer Eisenherz nach, um ihm beizustehen. In der Dunkelheit kommen sie bei seinem Versteck an, klimmen einen Hang hinauf und machen dabei absichtlich Geräusche, damit ihre Annäherung bemerkt wird. Eisenherz spricht sie an, behandelt sie zunächst mit Mißtrauen, da er in ihnen die Mörder seines Vaters vermutet. Auf seine Fragen antworten die Snuffles ehrlich und rück-


- 144 -

haltlos, legen alles offen, was für ihre ehrlichen Absichten spricht. Dann aber überprüft der Indianer ihre Aussagen noch, stellt sie auf die Probe. Als er erkennt, daß sie es ehrlich meinen, bittet er sie, ihm in sein Versteck zu seinem toten Vater zu folgen. In dieser Szene wird also die Aufklärung der wahren Identität von beiden Seiten durchgeführt, wobei die Snuffles den größten Anteil daran haben; aber auch der Indianer tut das Seine dazu. Die Folge ist, daß sich die drei Personen verbünden und gemeinsam das Werk der Bestrafung der Mörder weiterführen.

Die Bösen setzen trügerische Zeichen aller Art. Zeichen haben eigentlich die Funktion, wahre Informationen über Zustände und Absichten zu vermitteln, Handlungsanweisungen zu geben, den Menschen zu helfen, daß sie zu einem gewünschten Ziel gelangen. Solche Zeichen sind in unserer Erzählung vor allem die Stangen, die den Weg durch die gefährliche Wüste weisen sollen. Aber auch Kleidung, Mimik, Gestik, selbstverständlich das gesprochene oder geschriebene Wort sind solche Zeichen, Die Geier nun pervertieren diese Zeichen und funktionieren sie in irreführende Male um. Sie stecken die Stangen in eine falsche Richtung, so daß die Reisenden, die ihnen folgen, in die Irre gehen und qualvoll verdursten oder ermordet werden. Sie tragen falsche Kleidung, Priestergewand oder Uniform, machen täuschende Gesten und Gesichter, um ihr Gegenüber irrezuführen. Natürlich lügen sie auch offen und direkt, Mißtrauen wird gesät, allem und jedem gegenüber (Eisenherz mißtraut sogar den Snuffles), die Helden müssen auf der Hut sein. Manchmal muß man den Wohlmeinenden auf die Probe stellen, um sich zu vergewissern, daß man ihm trauen darf. Die Helden ihrerseits scheuen davor zurück, sich zu maskieren und ihre Gegner über ihre wahre Gesinnung zu täuschen. Abgesehen von Bloody-Fox, verbergen sie höchstens, daß sie den Verdächtigen scharf beobachten (Old Shatterhand/Offizier). Die Snuffles zeigen den vier Mördern deutlich, was sie von ihnen halten, sogar Old Shatterhand macht gegenüber Stewart aus seinem Argwohn keinen Hehl. Jetzt wird uns klar, daß der "Fehler", den der Westmann begangen hat, in einem höheren Sinne Ausdruck seiner Ehrlichkeit, seiner hochstehenden ethischen Gesinnung ist! Auch Baumann und Winnetou machen aus ihrem Herzen keine Mördergrube und lassen die angeblichen Mexikaner deutlich ihr Mißtrauen fühlen. Diesen Männern ist es sogar zuwider, sich für einen guten Zweck zu verstellen. Zum Glück sind die Banditen dumm oder bor-


- 145 -

niert oder einfach so schlecht, daß sie trotz all den ihnen zuteil werdenden Warnungen ihre Pläne nicht ändern (können) und daher doch immer in ihr Verderben reiten. Sie wissen sogar, wer ihr größter und ärgster Gegner ist, der immer und ewig unerreichbare Bloody-Fox (S. 124f.), haben aber trotzdem nie versucht, ihm in Helmers Home aufzulauern und ihn zu beseitigen. Der einzige Gute, der eindeutige Täuschungsmanöver durchführt, ist Bloody-Fox. Erst als er in die Gemeinschaft der Erwachsenen aufgenommen wird, kann er die Maske fallen lassen, die der Einzelgänger nötig hatte. Aber noch jetzt, als er das Geheimnis um die Oase und den Geist preisgegeben hat, erweist es sich als nötig, die Geier gewissermaßen mit ihren eigenen Waffen zu schlagen: Der Weg, der zwischen den Kaktusstrecken zur Oase führt, der eigentlich ein Un-Weg sein, den Zugang zur Oase für Unbefugte geradezu unmöglich machen soll, erweist sich als scheinbare Einladung an die Banditen, ihm zu folgen; in Wirklichkeit führt er sie ins Verderben, jedenfalls die letzten Überlebenden der Bande, vor allem ihren Anführer, der so viele Menschen betrogen und ins Verderben geführt hat; er selbst erliegt am Ende einer Täuschung und reitet einen Irrweg. Der einzige, scheinbar offen gebliebene Fluchtweg entpuppt sich als Weg in den Tod, der den Verbrecher am Ort der Rettung und des Lebens (Wasser!) ereilt. Zum Schluß also ein trügerisches Zeichen, das den Betrüger zum Betrogenen werden läßt.

b) Das zweite wichtige Leitmotiv ist das Reiten durch weite Räume auf ein Ziel hin.

Geritten wird hauptsächlich durch die Wüste, die sich trotz ihrer äußeren Begrenztheit als quasi unendlicher Raum erweist, in dem durch in den Boden gerammte Stangen notdürftig ein Weg markiert ist. Die Tatsache, daß diese Stangen von den Geiern in falsche Richtungen gesteckt werden, wodurch ahnungslose Reisende in die Irre gehen, verschmachten und ausgeraubt werden, unterstreicht den Anschein der Unendlichkeit, in der der Mensch sein Ziel gerade nicht erreicht. Unsere Helden haben sich nun bestimmte Ziele gesetzt, bzw. sie setzen sich im Laufe der Erzählung neue, auf die hin sie ihren Ritt ausrichten. Zunächst ist es Helmers Home, noch am Rande der Zivilisation gelegen, dann eine bestimmte Stelle, an der sie sich vereinigen wollen. Zwischendurch ändern sie ihre Pläne und bewegen sich auf ein sozusagen ideelles Ziel hin, die Vernichtung der Geier und die Wiederherstellung einer gerechten Ord-


- 146 -

nung, in der sich jeder sicher seinem Bestimmungsort nähern kann. Damit ist ein neues geographisches Ziel verbunden, die Oase des Bloody-Fox mitten im Llano, wenn auch dieses Ziel nicht intendiert ist, da außer Fox niemand von der Oase weiß.

Auch die Geier visieren Ziele an, geographische und "ideelle". Diese sind in allen Fällen negativ bestimmt; es sind Orte, an denen Verbrechen begangen oder geplant und vorbereitet werden; es sind Verstecke, wie die Murding-bowl, oder Orte, die für weitere Untaten ausbaldowert werden. Allerdings spielt in diesen Fällen das Leitmotiv "Reiten" keine große Rolle; meist nähern sich die Geier zu Fuß, was auch eine Art Tarnung ist (der Mormone, der Fremde in Helmers Home). Diese Stellen können also für unsere Untersuchung ausscheiden.

Leitmotivisch wird erzählt, wie die Personen nacheinander aus einem meist nicht genau bestimmbaren Raum in den Raum der Romanhandlung hineinreiten, wobei dies bis in den Wortlaut hinein parallelisiert wird.

Zunächst reiten Frank und Bob in die Erzählung hinein: Zwei Männer k a m e n am Wasser daher g e r i t t e n (S. 7). Bloody-Fox stößt zu den beiden: Der R e i t e r k a m in scharfem Trabe herbei (S. 9).

Der Juggle-Fred nähert sich Helmers Home: "Dort k o m m t schon wieder ein H o r s e m a n ", sagt Frank (S. 39).

Die beiden Snuffles werden eingeführt: k a m e n zwei Männer aus der Richtung von Coleman City g e r i t t e n (S. 76).

Auch der als Offizier verkleidete Geier Stewart wird so eingeführt: ... denn er (d.i. Frank) sah einen R e i t e r k o m m e n (S.144).

Die Ankunft Old Shatterhands mit zwei Gefährten: ... sahen sie drei R e i t e r, welche sich langsam n ä h e r t e n (S. 155).

Der Standpunkt, den der Erzähler einnimmt, ist entweder ein imaginärer oder ein Ort, an dem sich schon Personen der Handlung befinden. Jedesmal ist die Bewegung der Ankömmlinge auf diesen Punkt ausgerichtet. Die Verben kommen und sich nähern geben in diesen Fällen die gleiche Perspektive und Bewegungsrichtung an. Ungeach-


- 147 -

tet der verschiedenen Örtlichkeiten, auch ungeachtet möglicher Sehhindernisse in Form von Bäumen, Büschen oder Gebäuden, wird die Annäherung in jedem Falle von weitem bemerkt, entweder vom Erzähler oder von einer der anwesenden Personen. Offensichtlich ist noch eine freie Umschau möglich, jeder kann sich auf die Begegnung vorbereiten.

Im letzten Drittel der Erzählung wird die Schilderung der Ankunft neuer Personen in einem bezeichnenden Detail verändert. Die beiden Mexikaner nähern sich den vier Yankees: Man h ö r t e H u f t r i t t e nahen (S. 221).

Die Komanchen kommen: Bald v e r n a h m man den H u f s c h l a g von Pferden (S. 261).

Werden in den zuerst genannten Fällen die Neuankömmlinge g e s e h e n, so werden sie nun g e h ö r t. Der Grund dafür liegt in der veränderten Situation. Waren zunächst die reitenden und auch die in Helmers Home weilenden Helden noch nicht direkt gefährdet, da sie sich noch im Umkreis der Zivilisation befanden, außerdem weit über Grasland und Wüste zu schauen vermochten, befinden sich die zuletzt genannten Personen in einem sehr gefahrenträchtigen Gebiet, da, wo die Jagdgründe der Apachen und Komanchen zusammenstoßen (in den shears, wie sie nach Auskunft des Erzählers genannt werden). Da hängt das Leben eines Menschen jeden Augenblick am seidenen Faden. Deshalb lagert man im Gebüsch, was den Vorteil hat, daß man nicht gesehen wird, aber auch den Nachteil, daß man selbst herannahende Menschen nur akustisch wahrnehmen kann, wenn man nicht bewußt Ausschau hält. Während die Ankunft der Komanchen erwartet wird, also keine Gefährdung darstellt, nähern sich zunächst mit den beiden Mexikanern tatsächlich zwei Angehörige der Geier, die für die Yankees eine potentielle Gefahr darstellen. Deutlich wird dies, wenn die Yankees das Geld, das sie bei sich haben, erwähnen und die Mexikaner einander einen befriedigten Blick zuwerfen. Aber sie selbst sind ebenfalls erschrocken, als sie von den Yankees angerufen werden. Ihr Ziel ist ja nicht die Gruppe der Yankees, ihr Ritt wird unerwartet unterbrochen. Dies und die Krise, in die die gemischte Gesellschaft aus Yankees, Geiern und Komanchen sowie einem Apachen gerät, als ein Komanche die beiden Geier erkennt, zeigt, daß der Zustand der Gefahr, in dem die Menschen im und um den Llano stecken, ungeheuer gewachsen ist. Die Variation des Leitmotivs macht das deutlich.


- 148 -

Man muß schon ein Winnetou sein, um sich in so gefahrenreicher Lage sicher zu bewegen; darum wird ihm eine weitere Variante dieses Leitmotivs vorbehalten. Seine Annäherung wird überhaupt nicht bemerkt, weder gesehen noch gehört, weil er es meisterhaft versteht, sich unbemerkt anzuschleichen (S. 236).

Im Schlußteil des Romans, dem letzten Kapitel, erscheint das Reiten auf ein Ziel hin in gehäufter Form und dadurch variiert, daß die verschiedenen Gruppen nun aufeinander zu reiten, genauer gesagt, auf die Geierbande, die schließlich gezwungen ist, soweit überhaupt noch etwas von ihr übrig geblieben ist, zu der Oase zu fliehen, wo auch der Hauptschurke den Tod findet. Der Erzähler wechselt in immer kleiner werdenden Abständen von einer Gruppe zur anderen.

Winnetou reitet mit seiner Schar, bestehend aus Weißen und Indianern, nach Nordosten (S. 273).

Fox reitet allein nach Norden (S. 281).

Old Shatterhand und seine Begleiter reiten nach Süden (S. 283).

Im Verlauf des Reitens werden die anfangs weiten Räume also immer enger, bis sie trichterförmig in die Oase des Bloody-Fox münden. Das erste Ziel, Helmers Home, ist nun abgelöst von dem eigentlichen, ethisch begründeten Ziel, das an einem idealen Ort erreicht wird: In der idyllischen Oase wird der letzte und schlimmste Bösewicht unschädlich gemacht.

Die aus verschiedenen Richtungen begonnenen Reisen der räumlich zunächst weit voneinander agierenden Helden sind an ihrem Endpunkt angekommen, an dem sich alle versammeln zu friedlichem Tun. Und wohlgemerkt - die Mehrzahl der Helden besteht aus Deutschen! Hier in zeigt sich die didaktische Großstruktur der Erzählung. Sie schildert die Reise vom Fernen zum Nahen(72). Sie spielt im fernen Westen, in der Wildnis, unter exotischen Menschen, aber geritten wird eigentlich immer nach Hause. Schon der Name der Niederlassung von Helmers wird deutlich in seiner emotionalen Qualität betont. Hobbel-Frank beschwört sie am Anfang der Erzählung (S. 12):

[Frank ruft aus:] "Ich bin ein Deutscher durch und durch [...]"

[Darauf Fox:] "[...] wenn es so ist, so wird der alte Helmers sich freuen, denn er stammt auch von drüben herüber und hält gar große Stücke auf sein Vaterland und seine Muttersprache."

"Das glaube ich! Ein Deutscher kann beide nie vergessen. Nun freue ich mich doppelt, nach Helmers' Home zu kommen. Eigentlich konnte ich mir denken, daß er ein Deutscher ist, Ein Yankee hätte sein


- 149 -

Settlement Helmers' Range oder so ähnlich genannt; aber Helmers' Home, dieses Namens wird sich nur ein Deutscher bedienen [...]"

Die vielen Helden, die sich dort treffen, k o m m e n also in ein H e i m, und das Kommen wird häufig von diesem Heim aus gesehen und geschildert. Es scheint, als hätte Helmers' Home eine geheime Anziehungskraft.

Mit noch größerer Berechtigung kann man die Oase des Bloody-Fox als Heim bezeichnen, was Fox selbst an einer Stelle auch tut: "Ich treffe mit Männern zusammen, denen ich mein H o m e gern zeigen werde, obgleich ich es bisher g e h e i m gehalten habe." (S, 172). Die ursprüngliche Bedeutung von geheim ist "zum Haus gehörig, vertraut"(73) . Die Oase ist ein idyllisches Fleckchen Erde inmitten einer lebensfeindlichen Umwelt, mit Blumen, Sträuchern, Pflanzen aller Art, Früchten, Wasser und Lebensmitteln, kurz: alIem, was Fox zum Bestehen der Gefahren in der Wüste braucht. Mehrfach wird die Hütte als Häuschen bezeichnet, wobei die Diminutivform den anheimelnden Charakter des Bauwerkes unterstreicht. Hier wie in Helmers' Home waltet eine weibliche Person ihres Amtes, Sanna ist sozusagen Hausfrau und gleichzeitig Mutterersatz für Fox, wie Helmers Vaterersatz ist.

Für die Helden ist die Oase die Stätte des endgültigen Triumphes über das Böse. Sie ist auch Ort der Wiederbegegnung der Negerin mit ihrem Sohn Bob nach langen Jahren der Trennung. Hier hat sie sich die Liebe zu ihrem Sohn bewahrt, die kleine Photographie ihres Bob ist ganz abgeschabt und verblichen von ihren Küssen und Tränen. Hier also erfüllt sich wahre Mutter- und Sohnesliebe! (S. 300f.)

Bob war natürlich auch da. Er achtete aber weder auf den Toten noch auf den jetzt entdeckten Geist des Estakado. Sein Auge war auf die Negerin gefallen und das ihrige auf ihn. Sie eilte zu ihm in und fragte hastig:

"Sein du etwa Neger Bob"' Und als er nickte, fuhr sie fort.

"Heißen deine Mutter Sanna? Haben du schon einmal sehen dieses Bild mit Sanna und ihr klein Smalling-Bob?"

Sie hielt ihm die alte Photographie entgegen. Er warf einen Blick auf' dieselbe und flog mit einem Jubelrufe vom Pferde, Sie hielten sich umschlungen und vermochten längere Zeit ihrem Entzücken nur durch unartikulierte Laute Ausdruck zu verleihen.


- 150 -

Hier, an diesem Ort spricht die Stimme des Blutes und des Herzens. Beide Menschen spüren, daß sie zusammengehören. Der kurze Blick, den Bob auf die vergilbte Photographie wirft, auf dem der Kopf des kleinen Negerjungen ganz weggeküßt worden ist, genügt, um ihn wissen zu lassen, daß er dieser kleine Junge gewesen und daß Sanna seine Mutter ist. Widersprüchlich(74), unmöglich gar? Der Erzähler sagt selbst (S. 268f.), daß nur ein sehr scharfes Auge noch zu erkennen vermochte, wen oder was das Bild vorgestellt hatte. Und ein liebender Sohn sollte nicht so scharfe Augen besitzen?

Außerdem ist die Szene wieder ein Beispiel für situatives Erzählen. Die Situation ist so drängend, daß nur ein Erkennen möglich ist.

Schließlich ist die Oase der Ort, an dem sich alle Deutschen, die den Llano bevölkern, versammeln. Sie sprechen deutsch miteinander, und worüber sprechen sie? Über Sachsen und Moritzburg, den Heimatort des Hobbel-Frank. Wenn die Geschichte auch nicht, wie mehrere andere Jugenderzählungen Mays, in Deutschland endet, geographisch jedenfalls nicht, so doch an einem Ort, der in der exotischen Umgebung die deutsche Heimat versinnbildlicht.

Und noch eine weitere Bedeutung signalisiert dieses Reiten auf das Ziel Oase hin, nämlich für die Bewertung des jugendlichen Helden Bloody-Fox, der auch in folgender Hinsicht eine Ausnahmestellung innehat. Wenn Urs Widmer schreibt(75): ... das ganze Werk Mays [ist] eine einzige Flucht. Es wird ja nur gereist, es gibt, soweit ich mich überhaupt erinnere, kein Buch in dem g e b 1 i e b e n wird. Immer ist der Held vor seinen Ängsten und hinter seinen Sehnsüchten her - dann gilt das wohl für die überragenden Verkörperungen Mays, Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, wohl auch für die meisten Nebenfiguren, aber bezeichnenderweise nicht für Bloody-Fox am Ende unserer Erzählung! Die anderen werden weiterreiten, neue Abenteuer bestehen müssen, aber Bloody-Fox entscheidet sich anders: ... sprach er den festen Entschluß aus, für immer hier zu bleiben, um den Llano von Geiern rein zu halten. Sanna und Bob erklärten, ihn nicht verlassen zu wollen (S. 301). Das bedeutet ja nicht, daß er die Oase nicht mehr verlassen wird für kurze Zeit; aber sie wird das Zentrum bleiben, von dem aus er in einem von ihm selbst abgesteckten Umkreis seine Unternehmungen durchführen und zu dem er immer wieder zurückkehren wird. Er setzt sich nicht zur


- 151 -

Ruhe, es ist kein "Verliegen", dessen sich die mit Fox vergleichbaren Ritter mittelalterlicher Epen schuldig machen. Er hat die Aufgabe, die er sich gesetzt hatte, erfüllt, er hat auch seine Ängste, die sich in der rastlosen Jagd auf die Geier äußerten und in dem heißen Wunsch, den Mörder seiner Eltern zu finden, überwunden. Im Einklang mit den Vorstellungen der anderen, vor allem Old Shatterhands, wird er in Zukunft in einem fest umrissenen Gebiet das Recht schützen. Auch das ist ein wichtiges didaktisches Ziel dieser Erzählung: Im selbstgewählten, überschaubaren Umkreis seine Lebensaufgabe, sozusagen seinen Beruf erfüllen!


- 152 -

7. Utopisches

"My dearling, my dearling
My love child much dear,
My joy and my smile
My pain and my tear!"

so klang das alte, liebe Tennessee-Wiegenlied in die stille Morgenluft hinaus.

Es schien, als ob die Zweige der nahen Mandel- und Lorbeerbäume sich dazu im Takte neigten, und Hunderte von Kolibris zuckten wie farbige Funken um die alte Negerin, welche ganz allein am Wasser saß.

Die Sonne hatte sich soeben über den niedrigen Horizont erhoben, und ihre Strahlen strichen wie glänzende Brillantsträhne über das klare Gewässer dahin, Ein Königsgeier zog hoch oben in der Luft seine Kreise; unten am Ufer naschten mehrere Pferde wie gesättigte Feinschmecker von besonders saftigen Halmen des Delicacy-Grases, und auf der Spitze einer Zypresse saß die Drossel Mocking-bird, lauschte mit schief gehaltenem Köpfchen dem Gesange der Negerin und ahmte, als derselbe zu Ende war, die letzten Worte der Strophe mit einem laut schallenden "Mittir - mittir - mittir" nach.

Über dem Gefieder niedriger Palmen, welche sich im Wasser spiegelten, breiteten hohe Zedern und Sykomoren ihre schützenden Wipfel, unter denen riesige, bunt schillernde Libellen nach Fliegen und anderen kleinen Insekten jagten, und hinter dem nahe am Wasser stehenden Häuschen zankte sich eine Schar von Zwergpapageien um die goldigen Körner des Maises.

Von außen konnte man nicht sehen, aus welchem Materiale das Häuschen erbaut worden war, denn sowohl seine vier Seiten als auch das Dach wurden vollständig überdeckt von dem dichten Gerank der weißen, rotfädigen Passionsblume, deren gelbe, süße, dem Hühnerei gleichende Früchte lebhaft aus der Fülle der gelappten Blätter hervorleuchteten. Das alles machte den Eindruck der Tropen. Man hätte meinen können, sich in einem Tale von Südmexiko oder des mittleren Boliviens zu befinden, und doch lag dieser kleine See mit seiner Passiflorenhütte und seiner südlich-üppigen Vegetation nirgends anderswo als --- inmitten des gefürchteten Llano estakado. Er war das geheimnisvolle Wasser, von welchem so viele gesprochen hatten, ohne es jemals gesehen zu haben.

(S. 267)

So beginnt das letzte Kapitel: Das Geisternest oder - wie es in der Kamerad-Fassung heißt: The home of the ghost.

Die geheimnisvolle Oase des Bloody-Fox inmitten der Wüste verfügt über alle äußeren Voraussetzungen eines paradiesischen Ortes Utopia(76). Der locus amoenus präsentiert sich als Einheit von Mensch, Tier und Pflanze, er erscheint dem Leser als Zusammenhang von Klang, Bewegung, Licht und Farben. Auch die Behausung des Menschen ist eng mit der Natur verbunden, ganz in pflanzlicher Fülle eingesponnen. Der Vergleich mit Gegenden, in denen üppiges tierisches und pflanzliches Leben gedeiht, mündet in die Benennung der fikti-


- 153 -

ven Realität: eine Oase inmitten des gefürchteten Llano estakado. Auch alle Dinge, die zum Überleben außerhalb dieses Leben spendenden und erhaltenden Ortes nötig sind, wie Wasser, Lebensmittel, Waffen und Munition, sind vorhanden.

Ein blühendes Paradies also, ein kleiner Garten Eden, abgeschirmt gegen die feindliche Außenwelt durch die undurchdringlichen Kaktusfelder, erreichbar nur durch einen schmalen Weg, der aber nur dem Eingeweihten auffindbar ist. Bloody-Fox hat sich hier ein Refugium ausgebaut. Der Ort hat für ihn Asylfunktion; hier kann er sich erholen, hier kann er sich mit allem versorgen, was er für sich und seine Hilfsaktionen in der öden Wüste braucht.

Am Ende der Geschichte herrscht an diesem Ort Frieden, ja hier wird er endgültig hergestellt, wenn der Anführer der Verbrecher, der schlimmste Bösewicht, den Tod findet. Der gänzlich Unbefugte hat keinen Zugang zum Ort des Friedens und der Humanität. An dieser Stelle gibt es für eine kurze Zeit eine ideale Gemeinschaft von Menschen. Angehörige verschiedener Rassen und Nationen sind versammelt, Indianer und Weiße; Deutsche und Amerikaner, Komanchen und ein Apache, alle geeint durch den Willen, die Geierbande zu vernichten, und das Bewußtsein, dies mit Anstrengung und unter Einsatz des eigenen Lebens erreicht zu haben.

Aber dieser paradiesische Ort erhält auf mehrfache Weise eine enge Verbindung mit der Außenwelt der Erzählung: Er verweist auf den desolaten Zustand der Welt. Er ist mit alle[n] Arten von Waffen, welche in dem Westen zu sehen und zu haben sind, versehen. (S. 271). Und er ist nicht Endziel, das sich selbst genügt, weder als Ort noch als gesellschaftlicher Idealzustand. Zielort ist die Oase für Bloody-Fox nicht, sondern geographische Voraussetzung, die er schon lange bei seinen Unternehmungen als Stützpunkt nutzt und auch weiter zu nutzen gedenkt; die anderen Helden ziehen ohnehin wieder weg. Auch ein Idealzustand herrscht hier nur für kurze Zeit, denn die Gemeinschaft der anwesenden Menschen erweist sich von vorneherein als brüchig und nur kurzfristig existent. Erstens werden die hier versammelten Menschen bald wieder auseinandergehen und neue Kämpfe zu bestehen haben; zweitens ist der Ort gefährdet, weil er jetzt Menschen bekannt ist, die in der fiktiven Abenteuerwelt die Rolle der Todfeinde der Weißen und vor allem der Apachen spielen; die Quasi-Fortsetzung Old Surehand I wird denn auch vom versuchten Überfall der Komanchen erzählen. Drittens sind am Schluß der ganzen Geschichte dem Erzähler nur noch vier Perso-


- 154 -

nen erwähnenswert: Frank, Jemmy, Jim und Tim Snuffle, die anderen werden vernachlässigt; sogar Old Shatterhand und Winnetou spielen an diesem utopischen Ort keine Rolle mehr. Und viertens wird die Einigkeit, die unter diesen vier letzten Deutschen herrscht, ironisch gebrochen und verfremdet durch das Schlußwort des großsprecherischen Hobbel-Frank, der sich allein das Verdienst zuschreibt, den Geist des Llano entdeckt zu haben (S. 302).

Damit erhält der Ausgang der Erzählung jenen humoristischen, ja satirischen Dreh, der seit Lukian in vielen Utopien als konstituierendes Element zu finden ist - und meiner Ansicht nach Utopie erst erträglich macht, da die bisherige Menschheitsgeschichte gezeigt hat, daß utopische Entwürfe letztlich Hirngespinste, bestenfalls fromme Wünsche sind.

Aber am wichtigsten ist ein anderer Gesichtspunkt. Der status optimus der Humanität(77) erfüllt sich gerade in einer Aufgabe, die den Menschen aus diesem Paradies hinausweist in die unvollkommene Außenwelt: Bloody-Fox wird von hier aus den Llano von Geiern rein halten (S. 301). Die Verbindung der Utopie mit der Realität besteht darin, daß der utopische Qualitäten besitzende Ort nur dazu dient und dienen kann, die vom Bösen dauernd gefährdete Welt punktuell zu erlösen und damit immer wieder zu retten. Frieden ist nicht als Endzustand, sondern nur als Aufgabe und immer wieder neu zu unternehmender Akt der sozialen Tat, also der Humanität, zu begreifen. Nicht in dem verschwommenen Sinne, der einen Abenteuerhelden wie Old Shatterhand stets von neuem in die Welt treibt, sondern in der ganz konkreten Weise, wie ihn Bloody-Fox versteht: in einem fest umrissenen Umkreis dafür zu sorgen, daß man unbehelligt leben kann. In diesem aber verwirklicht Fox das Ideal des freien, selbstbestimmten und gleichzeitig sozial handelnden Menschen: Seine Vorstellung vom rechten Leben erfüllt sich in der Bestrafung des Bösen und der Hilfeleistung für die Bedürftigen. Allein auf diese Weise sind utopische Zielsetzungen in die Realität des Lesers hinüberzuretten. Damit erscheint menschliches Dasein als unendliche Kette von Versuchen, einen letztlich nie zu erreichenden Dauerzustand des Glücks herbeizuführen. Glück ergibt sich aus seiner immerwährenden Erringung: Der WEG ist das ZIEL.


- 155 -

8. Innere Form

Der Stil der Erzählungen Mays ist gekennzeichnet durch die festen, immer wiederkehrenden Ausdrucksformen, z.B. die Wiederholung von Motiven, ganzen Handlungskomplexen, sprachlichen Formen und Formeln; dazu gehören aber auch spezifische Elemente der Erzählhaltung. Wo der Anspruch einer konkreten Situation oder der Stand der Handlung so zwingend ist, daß sie die beherrschende Kraft der standardisierten Wiederholung sprengen, da werden die Muster angepaßt. Nun handelt es sich dabei häufig gerade um solche Muster, die allgemein als typisch für trivialen Stil angesehen werden, angefangen von übergreifenden Handlungsmotiven, wie Flucht und Verfolgung, Gefangennahme und Befreiung, über situative Motive, wie Spurenlesen, Anschleichen und Belauschen, bis hin zu sprachlichen Formen, wie z.B. stehenden Redensarten. In Der Geist des Llano estakado haben wir aber auch Formen der Erzählhaltung gefunden, die in immer wieder variierender und der jeweiligen Situation angepaßter Weise die Beziehung des Lesers zum Geschehen bzw. zu den Handlungsträgern festlegen. Gerade dies trägt dazu bei, die jugendliche Hauptperson in einem entschieden positiven Licht erscheinen zu lassen, weit stärker und heller als in jeder anderen May-Erzählung für die Jugend. Das aber führt vom Trivialen weg und hebt die, Geist-Erzählung in den Rang des Besonderen.

Dürfen wir in diesen Erzählelementen die i n n e r e F o r m des Romans erkennen? Weist Der Geist des Llano estakado eine Struktur auf als das innere lebendige Gerüst der Dichtung, das jenseits der sinnlichen Erscheinungsfülle steht und diese trägt?(78) Vielleicht enthüllt sich uns diese innere Form endgültig, wenn wir ein letztes, bisher nicht beachtetes erzählerisches Element betrachten, die Vorausdeutung; sie kann sich als deutlichster Ausdruck der dem Roman zugrundeliegenden I d e e erweisen.

Zu Beginn der Geschichte reiten zwei Männer in eine Welt hinein, in der ein junger Mann, fast noch ein Kind, einer selbstgesetzten Lebensaufgabe nachjagt; dessen ganzes Dasein auf nichts anderes ausgerichtet ist, als den Mörder seiner Eltern zu fassen und zu töten. Dieser junge Mann sagt gleich in der ersten Begegnung mit den beiden Männern in einer prophetisch anmutenden, mehr an sich selbst als an die beiden Zuhörer gerichteten Rede, daß er dieses Ziel erreichen w i r d (S. 14):


- 156 -

"Ich habe hinausgemußt in die Wildnis wie der Falke, dem die Geier die Alten zerrissen haben, und der nun um die blutige Stätte kreisen muß, bis es ihm gelingt, auf die Mörder zu stoßen. Sein scharfes Auge muß und wird sie entdecken. Mögen sie hundertmal stärker sein als er, und mag er sein Leben geben müssen, er wird es gern verlieren, denn sein Tod wird auch der ihrige sein!"

Diese Worte stellen eine zukunftsungewisse Vorausdeutung dar(79); sie werden ausgesprochen von einer Romanperson in ihren Reden, was natürlich keine Gewähr bietet, daß das Vorausgesagte auch eintreten wird, im Unterschied zu der zukunftsgewissen Vorausdeutung durch den Erzähler, der ja den Ausgang der ganzen Geschichte kennt (zumindest kennen müßte). Zu fragen ist, wie weit die Wirkung solcher Vorausdeutungen reicht: Binden sie den Erzähler, zwingen sie ihn, das einmal (oder gar wiederholt) Vorhergesagte auch zu verwirklichen? Kann sich der Leser sicher fühlen, daß sich die Prophezeiung erfüllen wird?

Im Falle der zukunftsgewissen Vorausdeutung durch den Erzähler ist die Glaubwürdigkeit zweifellos sehr groß, entsprechend stark der Zwang, den dieser sich damit selbst auferlegt, und die Erwartung des Lesers, daß das Vorausgesagte eintrifft. Eine solche Art der Vorausdeutung kommt in Der Geist des Llano estakado nicht vor. Hier sind es ausschließlich die Personen der Handlung, die zukünftiges Geschehen antizipieren; was das Hauptthema angeht, die Rache des Fox an dem Mörder seiner Eltern, äußert sich der junge Mann mehrfach selbst sowie einmal Helmers. Nun können sich die Personen irren, ihre Vorausdeutung kann voreilig sein, da sie ja den weiteren Verlauf der Handlung und ihren Ausgang noch nicht kennen; sie verfügen nicht über die Sehergabe eines Kalchas oder Teiresias. Dementsprechend irritiert wird der aufmerksame Leser reagieren. Er wird nach Beglaubigungsformeln suchen, die zeigen, daß sich auch die zukunftsungewisse Vorausdeutung bewahrheiten wird; solche Beglaubigungsformeln sind sogar den Sprüchen antiker Seher beigegeben.

Im Fall der allerersten, also sehr langfristig angelegten, die ganze Handlung des Romans umspannenden Vorausdeutung, die in Fox' Worten liegt, dient der bildhafte Vergleich solcher Beglaubigung; durch ihn wird die Prophezeiung in eine feste Form gegossen, welche sehr anschaulich eine menschliche Erfahrung faßt: Raubvögel


- 157 -

sind ausdauernd und erreichen ihr Jagdwild (fast) immer. Damit kann sie Gewißheit - im wahrsten Wortsinne: - formulieren.

Wie steht es nun im einzelnen mit dem Wahrheitsgehalt der Vorausdeutung am Anfang unserer Erzählung? Genau betrachtet, ist sie zweiteilig. Der erste Teil bewahrheitet sich in der Tat fast wörtlich: Der Mörder wird von Fox gestellt und zu Tode gejagt. Fox muß allerdings nicht selbst Hand an ihn legen, da sich Burton beim Sturz vom Pferd den Hals bricht. Einen eigenhändigen Tötungsakt braucht Fox nicht mehr durchzuführen, ja - er darf es nicht, da er sich inzwischen vom Racheengel zum Mitglied der nach humanen Prinzipien handelnden Heldengemeinschaft gewandelt (gemausert) hat. Der zweite Teil der Vorausdeutung, obwohl hypothetisch formuliert, aber doch glaubwürdig, wird dagegen scheinbar gar nicht erfüllt: Fox selbst stirbt ja nicht. Aber in einem übertragenen, man möchte sagen: tieferen Sinn trifft auch er ein. Die Daseinsform, in der sich das Leben des jungen Mannes bisher ausprägte, die rastlose Jagd auf die Geier und der unstillbare Rachedurst, "stirbt" am Ende. Wenn die Rache erfüllt ist, kann Fox endlich so leben, wie es einem Menschen eigentlich zukommt, unbelastet von einem inneren Zwang zu Strafe und Rache. Der Racheengel Fox also erleidet den Tod - der wahre Mensch Fox wird neu geboren und kann erst jetzt frei leben(80). Die Aufgabe, die er weiter verfolgen will, ist eine Tätigkeit, die sich von seinem bisherigen Tun wesentlich unterscheidet.

Der bildhafte Vergleich mit dem Falken deutet zugleich formal an, daß die Vorausdeutung nicht wörtlich zu verstehen ist; man muß sie übersetzen. Fox ist eben ein moralischen Normen unterworfener Mensch und wird darum vom Erzähler davor bewahrt, am Schluß, nach erfolgreicher Sozialisation, noch eine Tat aus niederen Beweggründen zu begehen.

Mehrfach wird die erste Vorausdeutung im Laufe der Erzählung in unterschiedlicher Abwandlung wiederholt. Sie ist so bestimmend für den weiteren Gang der Handlung, daß sie immer, wenn Bloody-Fox auftritt, in irgendeiner Form aufgenommen wird. Fox ist sicher, daß er den von Helmers Home entkommenen Mormonen alias Burton bald wiedersehen wird, dafür wird er sorgen (S. 75). Helmers bestätigt das (S. 76): Dabei handelt es sich nun fast schon um eine zukunftsgewisse Vorausdeutung, deren Beglaubigungscharakter sehr


- 158 -

stark ist. Immerhin ist dieser weise Erwachsene, der an Fox Vaterstelle vertritt, vom Erfolg seines Schützlings überzeugt: Das wirkt wie Sehergabe. Gegen Ende der Erzählung äußert Fox dann eine zukunftsungewisse und gleich anschließend zukunftsgewisse Voraussage. In seinem Selbstgespräch in dem Oasenhäuschen hofft er zunächst nur noch, den Mörder seiner Eltern zu finden; war seine bisherige Zuversicht den anderen (und sich selbst) gegenüber nur gespielt? Dann aber drückt er in auffallender Klimax seine Überzeugung aus: "Mein Leben steht unter einem mächtigen Schutze." Es folgt die Beglaubigung: "Wäre das nicht der Fall, so lebte ich längst nicht mehr; das glaube mir!" (zu Sanna; S. 272). Gleichzeitig deutet dies an, daß der Mörder nicht von Fox' eigener Hand fallen wird; viel wichtiger ist, daß das Leben des jungen Mannes bewahrt wird.

Wir haben gesehen, daß die Idee des Romans: das freiwillige Hineinwachsen des Jugendlichen in die Welt der Erwachsenen, wesentlich in der Erzählhaltung manifest wird. Diese Idee nun kommt auch in der Vorausdeutungsstruktur zum Vorschein. In ihr scheint der tiefere Sinn der Geschehnisse auf. Nirgends spricht der Erzähler diese Idee mit eigenen Worten aus; er macht sie im Gerüst des Erzählens deutlich. Das zeigt sich auch in der Abfolge der Ereignisse, die nicht immer aus der Psychologie der Personen oder aus Erfordernissen der Handlung erklärbar ist, sondern dichterische Konsequenz ausdrückt. Darin liegt schließlich die einleuchtende Erklärung für das eigenartige Verschwinden der Diamantensucher aus der Erzählung. Die poetische Gerechtigkeit als Ausdruck der inneren Form der Erzählung verlangt zwar, daß die Guten siegen, die Bösen vernichtet und die Bedrängten gerettet werden, daß aber die einfach bornierten Menschen sich selbst überlassen bleiben und der Vergessenheit anheimfallen.

Die Form des Erzählens: Erzählhaltung und -perspektive, Wiederholungen und Vorausdeutungen, treten in den Dienst der Idee des Entwicklungsromans. Das sich selbst bestimmende Individuum wirft alle Schlacken des isolierten Einzelgängers ab und macht sich zum Gemeinschaftswesen, das gerade dadurch die Befähigung zu echter Selbstbestimmung behält - und dies zu Beginn der Erzählung auch schon vorhersagt. Damit hat der jugendliche Held die höhere Daseinsstufe erklommen, die von Anfang an in ihm angelegt war.


- 159 -

Anmerkungen

1) Erstdruck als Der Geist der Llano estakata. (Ab Heft 20:) Von K. May. In: Der Gute Kamerad. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 2.igg.(1888), Heft 19-52. - Reprint der Karl-May-Gesellschaft 1983. - Erste Buchausgabe: Die Helden des Westens ' Von Carl May. II. Der Geist des Llano estakado. Stuttgart, Berlin, Leipzig o.J. (1890). -

Neudruck, hg. v. Bernhard Kosciuszko. Stuttgart: Reclam (Universalbibliothek Nr. 8235) 1984. Dieser Neudruck folgt der ersten Buchausgabe. Die wenigen Textänderungen gegenüber der Kamerad-Fassung sind für diese Arbeit praktisch ohne Bedeutung (Vgl. Anm. 71). Ich z i t i e r e nach dieser Reclam-Ausgabe (Seitenzahlen in Klammern), die heute jedem Leser am leichtesten zugänglich sein dürfte. Alle Zitate sind kursiv gesetzt.

2) Der Sohn des Bärenjägers. Von K. May. In: Der Gute Kamerad. Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart, 1.Jgg.(1887), Heft 1-39, S. 138 (Reprint der KMG, 1983, S. 47)

3) Daniel Defoe, Robinson Crusoe. München: Hanser 1968, S. 191. - Die Szene in Der Sohn des Bärenjägers erscheint wie ein ferner Text-Reflex der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer häufiger werdenden Illustration der Robinson-Ausgaben mit der Unterwerfungsszene; vgl. A. Schug (Hg.), Die Bilderwelt im Kinderbuch. Köln 1988, S. 80

4) So im Titel der Untersuchung von Heinz Stolte: Ein Literaturpädagoge. Untersuchungen zur didaktischen Struktur in Karl Mays Jugendbuch Die Sklavenkarawane. In: Jb-KMG 1972/3-1976

5) So Old Shatterhand in Winnetou I (l. Buchausgabe bei Fehsenfeld, 1893, S. 153), wenn auch nicht speziell auf Jugendliche bezogen; dafür vgl. die weiter unten zitierte Stelle aus Mein Leben und Streben (vgl. Anm. 15).

6) Merkwürdig, daß noch heutzutage in einem Aufsatz mit dem (nicht einmal ironisch gemeinten) Titel Der rote Schulmeister von J. Biermann (In: Karl Mays Winnetou, hg. v. D. Sudhoff und H. Vollmer, Frankfurt: Suhrkamp-Tb. Nr. 2102, 1989, S. 401ff.) die pädagogische Schulmeisterei gerade an dieser zitierten Stelle in Der Sohn des Bärenjägers gefeiert wird (auf S. 406)!

7) Ich möchte den Erzähler an dieser Stelle im Anschluß an Dieter Arendt: Der Erzähler im Jugendbuch. In: Die Diskussion um das Jugendbuch, hg. v. J. Becker. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WdF Bd. 457) 1986, S. 419ff. als Gouvernante bezeichnen, allerdings mit dem peinlichen Gehabe eines Schulmeisters der Wilhelminischen Ära.

8) Hier kommt uns die Unterscheidung zwischen Autor und Erzähler zupaß! Sicherlich war Karl May kein Rassist, wenn auch in seinen Romanen manche Vorurteile gegenüber anderen Rassen deutlich werden. Hier aber spricht der Erzähler als eigenständige Figur! Vgl . zum Problem der Vorurteile Mays vom erzähltechnischen Standpunkt aus: H. Schmiedt. Der Jude Baruch. In: Karl Mays Orientzyklus, hg. v. D. Sudhoff und H. Vollmer. Paderborn 1991, S. 185ff.

9) Zum Beispiel Der Ölprinz. In: Der Gute Kamerad, 8. Jgg.(1893/4), S. 368 (Reprint der KMG, 1990, S. 181)

10) Vgl. Anm. 1, S. 326ff.


- 160 -

11) Ingrid Bröning: Die Reiseerzählungen Karl Mays als literaturpädagogisches Problem. Ratingen, Kastellaun, Düsseldorf: Henn, 1973, S. 72ff. Näheres dazu unten, S. 88ff.

12) Karl-May-Handbuch, hg. v. G. Ueding. Stuttgart: Kröner, 1987, S. 330

13) Nachwort (Reclam-Ausgabe), S. 344. - Erich Heinemann urteilt in der Einleitung zum Kamerad-Reprint, S. 5, schon etwas vorsichtiger: Die Gestalt des Bloody-Fox steht im Zwielicht. Die darauf folgenden Überlegungen lassen aber erkennen, daß auch er dieser Figur sehr reserviert gegenübersteht.

14) Ausführlich dazu H. Stolte im Jb-KMG 1972/3, S. 171ff.

15) Reprint. Hildesheim: Olms, 1982, S, 33f.

16) Gertrud Oel-Willenborg: Von deutschen Helden. Eine Inhaltsanalyse der Karl-May-Romane. Weinheim und Basel: Beltz, 1973, S. 36 bzw. 75: Fox töte nicht als Mensch, sondern als rächender Geist, womit sein Tun entschuldigt werden könne.

17) Heinemann im Reprint, S. 5

18) Vgl. Martin Lowsky: Karl May. Sammlung Metzler Bd. 231. Stuttgart 1987. Die dort (S. 141) getroffene Feststellung: Relativ wenige Erörterungen gibt es über Mays Erzähltechnik und vor allem über Mays Stil scheint mir eher noch untertrieben. Die Literaturliste, die auf S. 67 zu diesem Aspekt gegeben wird, ist mit 12 Titeln, davon 9 nach 1945, für einen der größten deutschen Erzähler (Bloch) äußerst dürftig. - Aus diesem Grunde erscheint mir auch eine eigene Bibliographie entbehrlich.

19) Als noch nicht bei Lowsky (Anm. 18) angeführter Titel sei genannt: Günter Scholdt: Und ist es wirklich wahr, Sihdi, daß du ein Giaur bleiben willst? Vorläufiges über Erzählanfänge bei Karl May. In: Text+Kritik. Sonderband Karl May, hg. v. H.L. Arnold. München 1987, S. 101ff. Dieser Aufsatz beschäftigt sich aber nur mit den Reiseerzählungen in Ich-Form.

Das Karl-May-Handbuch (vgl. Anm. 12), in dem man zum Thema Erzähltechnik am ehesten etwas Ausführliches erwarten dürfte, enttäuscht in dieser Hinsicht. Der entsprechende Artikel von H. Schmiedt (S. 147ff.) beschäftigt sich eingehend mit Handlungsführung, Personenkonstruktion, Motivgestaltung und Sprache, aber nicht mit der Erzählerrolle und den damit zusammenhängenden Aspekten. Auch die Einzelartikel zu den Werken Mays lassen die Erzählerrolle, von einzelnen Generalisierungen abgesehen, fast gänzlich außer acht. In den Artikeln über die Jugenderzählungen wird nur mehrfach konstatiert, daß der Ich Erzähler durch den Er-Erzähler abgelöst worden ist, ohne daß mehr als Allgemeinplätze formuliert werden. Am ergiebigsten ist bis heute noch der Abschnitt über die erzähltechnische Realisation in: Helmut Schmiedt: Karl May. Studien zu Leben, Werk und Wirkung eines Erfolgsschriftstellers. Königstein/Ts.: Hain, 1979, S. 187ff.

Die neuerdings in dem Sammelband über Karl Mays Orientzyklus (Anm. 8), S. 113ff. erschienenen Ausführungen von H. Wiegmann sind trotz des vielversprechenden Titels Stil und Erzähltechnik in den Orientbänden Karl Mays leider unerheblich, ganz im Gegensatz zu dem in Anm. 8 schon zitierten Beitrag über den Juden Baruch von H. Schmiedt!

Speziell mit der Erzählung Der Geist des Llano estakado be-


- 161 -

schäftigt sich das Sonderheft Nr. 42 (1980) der KMG von B. Kosciuszko, das Vorschläge zu einer (sc. biographischen und psychoanalytischen) Interpretation der Helden des Westens enthält - Die Rolle der Mormonen in Der Geist des Llano estakado und in anderen Romanen Mays untersucht H. Wiedenroth im Jb-KMG 1980, S. 125ff.

20) In: Jb-KMG 1982, S. 60ff.

21) Vgl. Anm. 4

22) Vgl. Anm. 7, S. 422 (ohne daß ich mich für einen Literaturwissenschaftler halte).

23) Zitate aus: Fritz J. Raddatz (Hg.): Die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher. Frankfurt- Suhrkamp-Tb. Nr. 645, 41982, S. 5

24) Vgl. z.B. Handbuch (Anm. 12), S. 147ff.

25) Die Bezeichnung ist uneinheitlich. Der Erzähler nennt sie meist wie hier Mexikaner (z.B. S. 246, 264, 290), auf S. 290 aber auch angebliche Mexikaner.

26) Käte Friedemann: Die Rolle des Erzählers in der Epik. Berlin 1910; nach 1945 z.B. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 1955. - Franz K. Stanzel: Die typischen Erzählsituationen im Roman. Wien, Stuttgart 1955. Wichtige Aufsätze zu diesem Thema enthält der Band von Bruno Hillebrand (Hg.): Zur Struktur des Romans. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WdF Bd, 488) 1978.

Grundlegend für die Frage nach dem Erzähler im Jugendbuch ist der in Anm. 7 zitierte Aufsatz von Dieter Arendt.

27) Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans. Göttingen 1964

28) Bei einer kreisförmigen Darstellung der grundsätzlich zu unterscheidenden Erzählhaltungen wird je ein Drittel des Kreisumfangs von der auktorialen, der Ich- und der personalen Erzählhaltung eingenommen. Die Kreisform veranschaulicht am besten, daß die drei Formen des Erzählens ineinander übergehen bzw. breite Mischformen bilden können.

29) Vgl. Scholdt (Anm. 19), S. 103 mit Verweisen auf weitere Literatur.

30) Old Surehand III, Freiburg 1896, z.B. S. 150ff., 329, 342

31) Vgl. z.B. die im Handbuch (Anm. 12) erschienenen Artikel zu den Jugenderzählungen.

32) Thomas Mann: Der Erwählte. In: Moderne Klassiker - Fischer-Bücherei (MK 102). Frankfurt 1967, S. 281

33) Der Ölprinz (Anm. 9), S. 269; Reprint S. 134

34) Hier eine kurze Erläuterung der Einstellungsgrößen:

Total: Die Einstellung erfaßt die ganze Szenerie im Bild.

Halbtotal: Sie zeigt eine oder mehrere Personen in ihrem Umfeld.

Halbnah: Eine oder mehrere Personen erscheinen in voller Größe.

Amerikanisch: Die Personen sind etwa vom Knie oder Oberschenkel bis zum Scheitel zu sehen.

Nah: Kopf und Oberkörper sind sichtbar.

Groß: Diese Einstellung zeigt nur den Kopf der Person(en).

Selbstverständlich lassen sich aus dem Text keine eindeutigen


- 162 -

Einstellungsgrößen erschließen; so sind die Grenzen zwischen Amerikanisch und Nah, Halbtotal und Halbnah usw. fließend. Aber in unserem Zusammenhang kommt es auf den Rhythmus an, in dem Nähe und Ferne des Erzählers bzw. Lesers zum Geschehen variiert werden.

35) Der Erzähler erweist sich als Freund nicht nur des Lesers, sondern auch der jugendlichen Hauptperson. Das geht über die Erzählerrolle hinaus, die Arendt (Anm. 7), S. 433ff. zeichnet.

36) Vgl. Handbuch (Anm. 12), S. 330

37) Heinemann in der Einleitung zum Reprint (Anm. 1), S. 6 hält die Bezeichnung nicht für sonderlich treffend; betrachtet man die Geist-Stelle isoliert, möchte man ihm recht geben.

38) Der Sohn des Bärenjägers (Anm. 2), S. 459; Reprint S. 111

39) ebda. S. 466 bzw. 114

40) ebda. S. 586 bzw. 136

41) Umfassend behandelt von Günther Müller: Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. In: WdF 488 (Anm. 26), S. 64ff.

42) ebda. S. 73

43) ebda. S. 73

44) ebda. S. 74

45) ebda. S. 77

46) Zu einer bedeutenden Ausnahme von der räumlichen Begrenzung siehe weiter unten, S. 78.

47) Aufsätze zu diesem Thema enthält der Band von Alexander Ritter (Hg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WdF Bd. 418), 1975

48) Das Thema der Raum-Manipulation hat H. Schmiedt im Jb-KMG 1982, S. 60ff. ausführlich behandelt; hier können wir es uns daher sparen.

49) ebda. S. 72.

Wie vorsichtig man allerdings bei der Feststellung solcher raum-zeitlicher Mikrostrukturen und ihrer Interpretation bei May-Texten sein muß, zeigt die Analyse Schmiedts an mehreren Stellen. Es steht zu befürchten, daß auch ich der Gefahr nicht entgangen bin, eine erzählerische Konsequenz in der Gestaltung von Einzelzügen zu sehen, die man bei May nicht erwarten darf. Als Beispiel aus Schmiedts Aufsatz, S. 66: Schmiedt deutet das Auftauchen Burtons aus dem weiten Raum und das Verschwinden in ihm im Anfangsstadium der Erzählung als Zeichen für die Beherrschung des Raums durch die Geier. Aber gerade dieses Teilindiz: Auftauchen aus dem weiten, offenen Raum, trifft am Beginn des 1. und 3.Kapitels auch auf die positiven Helden zu: Frank und Bob, dann Fox, schließlich die Snuffles; ja, man kann sagen, eigentlich kommen alle Helden aus der Ferne in den Raum der Erzählung. Dieses räumliche Strukturelement darf man also nicht zu eng deuten.

Gleiches gilt für Schmiedt, S. 64: Die Differenzierung der Art, wie sich Frank und Burton auf Helmers Home zu bewegen. Bei Frank finden wir eine offene, geradlinige Bewegung - wenn dieser um die Ecke des Hauses auf Helmers zu kommt? In diesem Detail werden die beiden Personen gerade nicht unterschieden,


- 163 -

denn auch Burton tritt um die Ecke des Hauses.

50) Der Gute Kamerad, 4. Jgg. (1889/90), S. 17f.; Reprint KMG S. 22f.

51) Old Wabble erkennt sofort, wie bedenklich es ist, wenn man sich Old Shatterhand anschließt: "Das heißt also folgendermaßen: Old Shatterhand denkt niemals dumm; es muß also stets nach seinem Willen gehen, und wenn das nicht geschieht, so läuft er davon?" Des Ich-Erzählers Antwort lautet auch prompt: "So ungefähr, wenn auch nicht gar so schroff." (l. Buchausgabe bei Fehsenfeld, 1894, S. 87)

52) Ik Senanda in Der Schwarze Mustang; in dieser Erzählung tritt aber mit dem Komanchenhäuptling Tokvi Kava, der Titelfigur, einer der wenigen Indianer als grimmiger Bösewicht auf.

53) Winnetou I (Freiburg 1893), S. 200ff.

54) Bröning (Anm. 11), S. 67

55) Der Gute Kamerad, 5. Jgg. (1890/1), S. 479ff., Reprint KMG S. 225ff.

56) Das Duell läßt zwei weitere Parallelen, die zwischen Fox und Old Shatterhand bestehen, erkennen. Der Zweikampf ist ebenso wenig unbedingt nötig wie der zwischen Old Shatterhand und Intschu-tschuna in Winnetou I; im Unterschied zu diesem inszeniert Fox seinen Kampf allerdings nicht als Spiel, wenn auch durch das Verhalten Bobs ein unernstes, spielerisches Element hineinkommt. Außerdem erscheint Fox in dieser Szene ähnlich "incognito", d.h. unerkannt bzw. verkannt, wie Old Shatterhand in Winnetou I, indem er von seinem Gegner als Knabe verhöhnt wird und damit seine Rolle als Geist verborgen bleibt; entsprechende Verblüffung stellt sich ein, als er seinen Gegner mitten in die Stirn trifft. (Vgl. zu beiden Aspekten Schmiedt: "Einer der besten deutschen Erzähler-"? Karl Mays 'Winnetou'-Roman unter dem Aspekt der Form. In: Jb-KMG 1986, S. 38f.)

57) Als ein Beispiel aus anderen Jugenderzählungen sei verwiesen auf Die Sklavenkarawane (Anm. 50), S. 73; Reprint S. 42.

58) auch dem Neger klingt bedeutend selbstverständlicher als sogar dem Neger in Der Sohn des Bärenjägers (Anm. 2)!

59) Bröning (Anm. 11), S. 60

60) Zum Beispiel Einleitung zum Kamerad-Reprint Bärenjäger/Geist (Anm. 1/2), S. 5; Kosciuszko im Sonderheft (Anm. 19), S. 29ff.

61) Vgl. Viktor Böhm: Karl May und das Geheimnis seines Erfolges. Gütersloh 21979, S. 200. Die Lösung der Spannung vollzieht sich aber komplexer, als von Böhm beschrieben.

62) Belege dafür sind die Witzraketen unter dem Motto Von unseren Übersetzungskünstlern am Ende der Kamerad-Lieferungshefte; sie sind in gleicher Weise gestaltet: falsche Übersetzung ohne Angabe der richtigen Lösung.

63) Der Gute Kamerad, S. 571 und 585f.; Reprint S. 134ff.

64) Old Surehand I (Freiburg 1894), S. 151ff.

65) ebda. S. 31f. und 171

66) Stolte (Anm. 4), Jb-KMG 1976, S. 69f.


- 164 -

67) ebda. S. 71ff.

68) Eine besonders interessante Stelle, an der der Ich-Erzähler das Gelesene kritisch kommentiert, ist der Anfang von Am Rio de la Plata (Fehsenfeld 1894), S. lff.

69) Stolte (Anm. 4), Jb-KMG 1974, S. 185

70) Ausführlich dazu Stolte im Jb-KMG 1975, S. 106ff.

71) In der Buch-Fassung tauchen beide später als Indianer verkleidet auf, was auf die Handlung keinerlei Einfluß hat. Kurios ist denn auch der Grund: Fehlerhafte Illustrationen für die Buch-Ausgabe veranlaßten die Redaktion dazu, eigenmächtig den Text zu ändern bzw. zu ergänzen (vgl. dazu Kamerad-Reprint S. 8). In der Kamerad-Fassung ist von dieser Verkleidung noch keine Rede (Stewart: Kamerad S, 666, Reprint S. 225; dagegen Reclam S. 211; Burton: Kamerad S. 794 und 811, Reprint S. 253 und 257; dagegen Reclam S. 279 und 289).

72) Vgl. Stolte (Anm. 4), Jb-KMG 1974, S. 178: didaktisches Grundmuster der Sklavenkarawane.

73) Laut Etymologie-Duden.

74) So Kosciuszko im Sonderheft (Anm. 19), S. 24.

75) Zitiert in Schmiedt, Helmers Home und zurück (Anm. 20), S. 60

76) Vgl. Bernd Steinbrink: Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Tübingen 1983, S. 83ff.; zur Oase als sinnfälligem Handlungsort allgemein: Volker Klotz: Durch die Wüste und so weiter. In: Karl May, hg. v. H. Schmiedt. Frankfurt: Suhrkamp-Materialien (Tb.-Nr. 2025), 1983, S. 79f.

77) Das Fischer-Lexikon. Literatur 11/2, hg. v. W.-H. Friedrich und W. Killy. Frankfurt 1965, S. 587.

78) W. Schadewaldt: Neue Kriterien zur Odyssee-Analyse. 1959. Wieder abgedruckt in: Homer. Die Dichtung und ihre Deutung. Hg. v. J. Latacz. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft (WdF Band 634) 1991, S. 342.

79) Vgl. dazu E. Lämmert: Bauformen (Anm. 26), S. 139ff., bes. 175ff.; zu Karl May, hauptsächlich den Ich-Romanen: Schmiedt, Studien (Anm. 19), S. 192-196.

80) Das Motiv "Tod und Wiedergeburt", das für Bloody-Fox aus der Analyse der Erzählstruktur gewonnen worden ist, stützt die Deutung, die B. Kosciuszko gibt, wenn er Fox mit dem Autor Karl May gleichsetzt: Bloody-Fox steht für den Schriftsteller, Karl May im Sonderheft (Anm. 19), S. 18-20. Das bestätigt sich tatsächlich, vergleicht man dieses Motiv in Der Geist des Llano estakado mit den Beispielen in anderen Romanen Mays, so mehrfach schon in Durch die Wüste vorkommend, welche zeigen, daß das Motiv in Mays Leben und Schreiben eine hervorragende Rolle spielt. Vgl. dazu neuerdings Claus Roxin: Bemerkungen zu Karl Mays Orientroman. In: Karl Mays Orientzyklus (Anm. 19), S. 83ff., hier S. 87f.


[- 165 -]


[- 166 -]


[- 167 -]


Übersicht Sekundärliteratur

Titelseite Karl-May-Gesellschaft

Impressum Datenschutz