//80//

III. Betrachtungen zu Einzelproblemen und zu Mays Leben und Werk allgemein


Vorbemerkung

Die Aufsätze dieser III. Abteilung sind höchst unterschiedlicher Qualität und Länge; kleine Skizzen stehen neben Abhandlungen, die schon fast monographischen Charakter haben. Dabei ist es oft nicht einfach, zu unterscheiden, ob ein Aufsatz in Abteilung I gehört oder in Abteilung III; manche Texte gehen von einem Werk Karl Mays aus und haben doch allgemeingültigen Charakter. Sie werden besser in Abteilung I behandelt (und so wurde hier auch verfahren); andererseits findet sich in Abteilung III mancher Aufsatz, der unter einem hochtrabenden Titel (z. B. Wilhelm Heß "Die Glaubwürdigkeit der Erzählungen Karl Mays" in: KMJB 1930) nichts anderes bringt, als die anspruchslose Nacherzählung einiger durch May entfernt inspirierter Schülerstreiche. Manchen Text, den ich hier behandele, hätte man vielleicht besser unerwähnt gelassen, aber der Leser urteile selber.

Dann finden sich in Abteilung III besonders häufig Abhandlungen, die interessant zu werden versprechen, aber dann doch enttäuschen, weil der Verfasser zwar eine Fülle an Material vorlegt, aber daraus nicht die zu erwartenden Erkenntnisse zieht. Otto Eicke liefert in seinem Aufsatz "Die Frauengestalten Karl Mays" (KMJB 1922) beispielsweise eine interessante Zusammenstellung von Zitaten zu den wichtigsten Frauengestalten Mays, bleibt aber eine Kommentierung weitgehend schuldig. Dahingegen hat Amand von Ozoroczy mit seinen Aufsätzen "Karl May und sein Orient" (KMJB 1918) und vor allem mit "Karl May und der Friede" (KMJB 1928) zwei Untersuchungen von bleibendem Wert vorgelegt. Besonders der Friedensaufsatz ist oft gelobt und zu Recht im "Karl-May-Jahrbuch 1978" (Graff/KMG) neugedruckt worden.

Ein beliebtes Thema in den Jahrbüchern war "Karl May und die Waffen". E. A. Schmid, Benno Wandolleck und Max Casella sowie Gustav Urban und der Tscheche Josef Fanta untersuchten Mays Waffen bzw. die Beschreibungen von Waffen und Schießkünsten in Mays Werk. Während Wandolleck und Schmid an die unbezweifelbare Echtheit der Mayschen Waffen glaubten, entdeckte der Tscheche Fanta, von der intensiven "May-Legende" wenig beeindruckt, an Mays Gewehren Dinge, die auf eine europäische Herkunft der "Wunderwaffen" hindeuteten. Den endgültigen Nachweis erbrachte Jahrzehnte später Klaus Hoffmann, wovon noch die Rede sein wird.

Ein weiteres problematisches Thema der frühen May-Forschung ist


//81//

die Datierung der Handlungen in Karl Mays Büchern. Franz Kandolf (KMJB 1925), Gustav Urban (KMJB 1926) und Fritz Maschke (KMJB 1933) legten Datierungsversuche und chronologische Tabellen vor, die allesamt fehlerhaft sind, weil sie teilweise von falschen Prämissen (Gleichsetzung des Ich-Erzählers in Mays Werken mit dem Schriftsteller selber, Annahme von Frühreisen Mays nach Amerika) ausgehen und May unterstellen, er habe nach einem festen Zeitplan gearbeitet (was May z. B. für die "Winnetou"-Tetralogie sicher nicht gemacht hat). Hierüber hat neuerlich Walther Ilmer Untersuchungen angestellt, über die noch berichtet wird.

Überaus problematisch ist auch Otto Eickes "Bruch im Bau"-Aufsatzserie (KMJB 1930 – KMJB 1933). Eicke versucht sich als "Weiterdichter" der Amerika- und Orientromane Karl Mays, gerät aber bei allem Scharfsinn ins Abwegig-Spekulative und beweist unbewußt, wie gefährlich die selbstherrliche Haltung der KMV-Bearbeiter dem Mayschen Ouvre gegenüber war. Bei aller Skepsis muß man doch allein der physischen Leistung Eickes Bewunderung zollen, der auch auf kleinste Details eingeht und seine Ergebnisse auf insgesamt ca. 250 Seiten akribisch ausbreitet. Es ist bei der Länge der Eicke-Texte unmöglich, auch nur eine ungefähr genügende Inhaltsangabe zu geben, ohne den Rahmen dieser Kurzkommentare zu sprengen; der Benutzer sei darum auf die Lektüre der Aufsätze selbst verwiesen, wenn er Genaueres erfahren will.


Karl-May-Jahrbuch 1918

M a x  G e i ß l e r :  Randbemerkungen zu Karl Mays Dichten (S. 72–80)

In diesen sehr allgemein gehaltenen "Bemerkungen" lassen sich gewisse Strömungen der frühen May-Rezeption deutlich erkennen. Geißler ist bemüht, zur vorgeblichen "Rettung" von Mays Ruf ihn nur als "Reiseromantiker" gelten zu lassen. Scharf polemisiert er gegen Mays späteren Versuch, auch die früheren Werke als "bildhaft" und "symbolisch" auszugeben: "Aber seine Poeteneitelkeit gebot es ihm anders. Darüber entfiel ihm der Maßstab für die Art seiner Begabung noch mehr. Ja, es macht den Eindruck, als habe sich dieser im Grunde frohmütige Fabulierer zeitweise selber belogen. Zum mindesten: er war ungerecht gegen sich selber, indem er – mit seinen Feinden – seine eigenen und guten Werte herabsetzte: er erklärte sie für naturalistisch oder symbolistisch" (S. 75). Diese Sichtweise ist doch wohl zu oberflächlich; auch wenn Geißler May in die Reihe der Reiseromantiker einordnen will, bleiben seine Vergleiche


//82//

schematisch und unbefriedigend: "Karl May war der letzte, fruchtbarste und geschickteste volksmäßige Erzähler aus jener Reihe, die durch den Namen Cooper am sichersten gekennzeichnet wird" (S. 79). Was Geißler unter "volksmäßiger Erzähler" versteht, bleibt genauso unklar wie seine Behauptung, May habe seine Bücher später als "naturalistisch" bezeichnet. Wann und wo soll er das getan haben? Insgesamt sind Geißlers Ausführungen wenig ertragreich und unbefriedigend.

W i l h e l m  K o c h :  Karl Mays Baukunst und ihre Symbolik (S. 113–125)

Weitaus kenntnisreicher als Geißler versucht sich Wilhelm Koch, der laut Wollschläger (Karl May, Zürich 1976, S. 199, Anm. 209) auch das Kapitel "Der Schlüssel" im Anhang des Radebeuler Bandes 'Ich' verfaßt hat, in der Analyse von Mays Erzählkunst. Koch beschäftigt sich vor allem mit den Landschafts- und Ortsbeschreibungen in 'Ardistan und Dschinnistan'. "Fünf gewaltige Bauwerke sind es, die uns Karl May näher beschreibt: die beiden Ussultürme, der Brunnenengel in der Wüste, das Tempelschloß des Mirs in Ard, das ungeheure Rund des Maha-Lama-Sees und in dessen nächster Nähe der Spiralentempel"(S. 124). Es folgt eine Analyse dieser Textstellen. Schon bei den Ussultürmen weist Koch mit Recht auf die gewaltigen Größenverhältnisse bei Mays "Bauwerken" hin. "Eine wahrhaft gewaltige Halle ist der Innenraum dieses Ussultempels, der für May das Symbol der primitiven Religionsstufe, des einfachen Kultus (...) der Jäger- und Sammelvölker bedeutet" (S. 116). Koch weist darauf hin, daß May gewisse bautechnische Einzelheiten vernachlässigt, da es ihm um das Geistige zu tun ist. Beim Tempelschloß in Ard arbeitet Koch fein heraus, wie genau May die Aufmerksamkeit der Leser unter den vielen Gebäuden der Stadt Ard gerade auf dieses Schloß lenkt. Es folgt eine Deutung der Symbolik, die mit der Beschreibung des Tempelschlosses verbunden ist. "Symbolisch versteht May unter dem Tempelpalast die Beziehungen der Menschen zu Gott, die durch das Christentum noch nicht ihre höchste Weihe empfangen haben" (S. 120). Das ist eine doch recht unbefriedigende Deutung; besser kommt Koch mit dem Maha-Lama-See und dem Spiralentempel zurecht. "Bildlich bedeutet der Maha-Lama-See die im Menschenherzen wohnenden Triebe und Fähigkeiten zum Guten und Edlen; ihr Mittelpunkt – der Engel – ist der feste Glaube an jene unbegreifliche, ewige Macht, an Gott (...)" (123). Zum Spiralentempel vermerkt Koch, daß er nichts anderes bedeute als "das Aufwärtssteigen zu den Höhen des freien Menschentums, zu einer alle Tiefen überwindenden Weltanschauung (...)" (S. 125).


//83//

Koch bietet Deutungsversuche an, seine Darlegungen sind schlicht, aber nicht anspruchslos. Damit kommt Koch der Forderung Mays in seiner Selbstanzeige zu "Ardistan und Dschinnistan" nach, wo davon die Rede ist, daß May "gewaltige, zentnerschwere Blöcke aus dem Gestein" breche, und sie "den Zukünftigen zur feineren Ausmeißelung und künstlerischen Vollendung" zurolle (vgl. Jb-KMB 1977, S. 66f). Denn May meint hier ja nicht nur, daß die Nachwelt seine Ideen aufzugreifen und zu verfeinern habe, sondern er weist auch selber darauf hin, daß den "Kolossalgedanken" in den Spätwerken ebenso kolossale Bauwerke und Bilder entsprechen. Diese Bilder zu entschlüsseln und die Ideen "feiner aufzumeißeln" ist die Aufgabe des Exegeten, und Koch hat einen Beitrag dazu geleistet. Insofern und angesichts der Tatsache, daß die Forschung in der 'Ardistan und Dschinnistan'-Interpretation bisher über allgemeine Ansätze und Hinweise kaum hinausgelangt ist, hat Kochs Text bleibenden Wert für die May-Forschung.

A m a n d  v o n  O z o r o c z y :  Karl May und sein Orient (S. 164–180)

Ozoroczy zeichnet hier im ganzen ein überzeugendes Bild von Mays Auffassung des Orients. Der Anfang seines Aufsatzes, in dem er von der (damals als wahrscheinlich angenommenen) Frühreise Mays nach dem Süden und nach Afrika ausgeht, ist freilich durch den neuesten Forschungsstand völlig überholt. Der Verfasser gibt einen im wesentlichen zutreffenden Überblick über die Orient-Reiseerzählungen Mays (sehr summarisch und nicht an Einzelheiten der Handlung orientiert) und kommt dann auf die symbolischen Spätwerke zu sprechen, auf 'Babel und Bibel' und die Gestalt Marah Durimeh besonders. Nach einem kurzen Exkurs über Österreich-Ungarn und seine welthistorische Bedeutung geht Ozoroczy auch auf Mays große Orientreise und ihre literarischen Folgen in Mays Werk ein: "In diesem Leben ist die große Orientreise mit die markanteste Zäsur (...). Am deutlichsten zu verfolgen ist dies an dem vierbändigen Werk 'Im Reiche des silbernen Löwen', das, halb vor und halb nach der Reise geschrieben, sich in den abschließenden Teilen immer völliger mit dem üppigen Bilderreichtum einer apokalyptisch angeglimmten Gleichniswelt durchdringt. Kara Ben Nemsi wechselt die Pferde und besteigt Syrr, den mystischen Wunderrappen des Schah-in-Schah ..." (S. 179f). Dieses Zitat möge eine kleine Probe geben von Ozoroscys Stärke, dem "blumigen", aber fesselnden Stil. Sind seine Erkenntnisse auch nicht eigentlich wissenschaftlich zu nennen, so fasziniert doch die Schreibkunst Ozoroczys, seine Bildung und sein war-


//84//

mes [warmes] Verständnis für Karl May. Für die Forschung sind seine Texte nicht so sehr bedeutsam; aber wertvolle literarische Dokumente sind sie allemal.


Karl-May-Jahrbuch 1919

C h a r l o t t e  B ü h l e r :  Zur Psychologie der Volksliteratur (S. 314–328)

Der vorliegende Aufsatz ist interessant und auch heute noch anregend, hat aber einen völlig irreführenden Titel. Mit Psychologie hat er nichts zu tun, um so mehr mit dem, was man heute "Erzählstrategie" nennen würde, bezogen auf die "Volksliteratur", wobei die Verfasserin den durch die völkische Neuromantik geprägten Begriff der Volksschriftstellerei übernimmt. Aber auch sie vermag nicht überzeugend darzulegen, was denn eigentlich ein "Volksschriftsteller" sei; auch ihre Vergleiche zwischen Volks- und Kunstliteratur sind überaus problematisch. "Kunstdichtung gibt nicht das Zufällige, sie gibt das  T y p i s c h e  oder das  C h a r a k t e r i s t i s c h e ,  aber Volksdichtung will das noch nie Dagewesene, Einmalige, ganz Neue und an sich ganz Zufällige erfinden" (S. 318). Das ist leider keine ernstzunehmende Erkenntnis, sondern pure Ideologie. Wichtiger aber sind die Vergleiche, die Charlotte Bühler anstellt, besonders der Vergleich Mays mit Robert Kraft: "Auch  R o b e r t  K r a f t s  Romane, die ich als Volksromane in Parallele zu denen Karl Mays setze, sind in erster Linie Reiseromane, nicht immer mit originellen und nicht immer mit gleich glücklichen Erfindungen, aber im Stoffgebiet vielseitiger und mannigfaltiger als Karl May" (S. 319). "Bei Karl May erstreckt sich das Erfinden nicht so sehr auf Gesamtideen als vielmehr auf Einzelsituationen, Einzelhandlungen einzelner Menschen und dergleichen. Daher sich denn auch Karl May weit mehr als Robert Kraft auf die Beschreibung menschlicher Typen und des Milieus einläßt, in dem sie auftreten. Ich weiß nicht, ob in diesem Punkte Robert Kraft nicht vielleicht noch mehr den Geschmack seiner Leser trifft als Karl May (...)" (S. 321).

Wenig ergiebig sind die Ausführungen der Verfasserin über Gerstäcker und Alexandre Dumas père. Interessant nur, daß sie Dumas nicht als direkt zur Volksliteratur gehörig betrachtet, weil etwa sein "Graf von Monte Christo" im Aufbau geschlossen und konstruiert sei, während die "Volksromane" meist episodische Struktur aufweisen. Als Beispiel führt sie Mays Winnetou-Tetralogie an, wobei sie freilich


//85//

übersieht, daß diese Bände ja z. T. unter "Erfolgszwang" aus früheren Einzelerzählungen auf das Buchformat hin zusammengestellt wurden. Überhaupt hat die Trivialliteraturforschung ergeben, daß die Trivialliteratur (etwa die Kolportageromane) nicht per se "einfacher und leichter" gebaut ist als die sogenannte "Hochliteratur", sondern vielfach bewußt konstruiert und kompliziert in ihrer äußeren Struktur. Mays "Münchmeyer-Romane" sind zweifellos "trivial" (Charlotte Bühler würde positiv sagen "volkstümlich"). In der Handhabung der analytischen Erzähltechnik sind sie aber (besonders das "Waldröschen") teilweise geradezu haarsträubend kompliziert (was dazu führt, daß der Autor in der zweiten Hälfte des Romans dann schön alles der Reihe nach erzählt, um nicht den Überblick zu verlieren). Nein, die Mechanismen der populären Literatur lassen sich nicht von einem bloß imaginierten Begriff der "Volkstümlichkeit" und "Einfachheit" her erklären. Die hinter dem Aufsatz von Charlotte Bühler steckende Ideologie hat sich selbst überlebt; dennoch ist der Text als historisches Dokument aufschlußreich.


Karl-May-Jahrbuch 1920

E u g e n  B a r n i c k :  Der Edelmensch in Karl Mays Werken (S. 461–468)

Ausgehend von Mays Wiener Vortrag am 22. März 1912 versucht Barnick, Mays Idee vom Edelmenschen und ihre Ausprägung in seinem Werk darzulegen. Dabei stützt er sich vor allem auf Mays "Silberlöwen"-Tetralogie, aber auch auf die Winnetou-Bände. Der Aufsatz bringt wenig Bemerkenswertes. Zu Mays "Edelmenschen-Ideen" äußert sich kritisch Klaus Jeziorkowski, Empor ins Licht. Gnostizismus und Licht-Symbolik in Deutschland um 1900, in: The Turn of the Century. German Literature and Art, 1890–1915 (ed. by Gerald Chapple and Hans H. Schulte), Bonn 1981, S. 171–196. An anderer Stelle (in den Bemerkungen zu Abteilung I) findet sich eine Auseinandersetzung mit Jeziorkowskis Thesen.

A u g u s t  N i e m a n n :  Das Rätsel Karl May (S. 486–495)

Niemann setzt sich hier mit den vielen widerspruchsvollen Zügen in Mays Leben und Werk auseinander. Unter anderem meint er: "Ganz unverständlich bleibt der Widerspruch zwischen Karl May, dem Dichter, und der Persönlichkeit Karl May als Mensch, Staatsbürger und Ehemann" (S. 489). Daß Niemann deutlich trennt zwischen dem Menschen Karl May und der Ich-Fiktion in seinen Reiseerzählungen, ist berechtigt; er macht aber auch keinen Versuch, die erwähnten Wider-


//86//

sprüche [Widersprüche] aufzulösen. Dafür wird in Niemanns Aufsatz einfach zu wenig Konkretes über Mays Biographie mitgeteilt. Das Fazit muß also wieder einmal lauten: kaum befriedigend.


Karl-May-Jahrbuch 1921

F r a n z  K a n d o l f :  Karl May und das Deutschtum (S. 129-139)

Daß Karl May ein dezidiert deutscher Schriftsteller war, steht fest. Daß "Karl der Deutsche", wie ihn der "Spiegel" einmal nannte, aber auch Nationalist oder gar Chauvinist war, wie immer wieder behauptet wurde (besonders in den Jahren, als May nachgerade als "Lieblingsschriftsteller" Hitlers galt), wird zumindest derjenige, der die Spätwerke mit ihrer versöhnlich-pazifistischen Tendenz kennt, verneinen müssen. Franz Kandolf gibt sich in seinem ersten Aufsatz für die Karl-May-Jahrbücher betont vorsichtig, dem heiklen Thema entsprechend. 1921 war das Ansehen Deutschlands in der Welt nicht besonders gut, und Kandolf weist darauf hin, daß ein Teil von Mays Erzählungen in der Zeit vor 1870 spiele, in der der Name "deutsch" im Ausland keinen guten Klang hatte (vgl. KMJB 1921, S. 129). Das ist zwar nicht ganz falsch, doch würde man dann wohl auch bezweifeln müssen, daß der deutsche Name nach 1870/71 so einen besonders guten Klang hatte ... Immerhin geht Kandolf seinem Thema ohne falsches Pathos nach und beweist, daß Mays Helden zwar gute Deutsche, aber keine Chauvinisten sind, denn ihr Deutschtum richtet sich nicht gegen andere Nationalitäten: "Denn das ist ein weiterer Vorzug Mays, daß bei ihm das Deutschtum so ungezwungen und natürlich, so von innen heraus, zum Ausdruck kommt, ohne daß es gegen andere Nationalitäten ausfällig wird. Deshalb wurden auch die Werke Mays unbedenklich im Auslande verlegt, sogar in Frankreich, das doch sicher nach 1870 nichts für uns übrig hatte. Das einzige Land, gegen das May wiederholt scharfe Worte findet, ist England (...). Aber auch hier wirkt die Kritik Mays nicht verletzend, da ihre Schärfe sich nicht gegen die Rasse, sondern gegen ihre Politik richtet (...)" (S. 135f). Das alles ist unbestreitbar richtig, und man wird Kandolf, der am Ende betont auf 'Und Frieden auf Erden' hinweist, nicht vorwerfen können, daß er von der ideologischen Vereinnahmung Mays durch die Nazis noch nichts ahnen konnte. Zu dieser bedauernswerten "Episode" in der May-Rezeption hat sich jetzt zusammenfassend geäußert: Lothar Bembenek, Der "Marxist" Karl May, Hitlers Lieblingsschriftsteller und Vorbild der Jugend.


//87//

Die Karl-May-Rezeption im "Dritten Reich", in: Sammlung 4, Jahrbuch für antifaschistische Literatur und Kunst, Frankfurt/M 1981, S. 147–155. Vergleiche dazu auch Erich Heinemann, "Karl May paßt zum Nationalsozialismus wie die Faust aufs Auge". Der Kampf des Lehrers Wilhelm Fronemann, in: Jb-KMG 1982, S. 234–244.

K o n r a d  G u e n t h e r :  Die Naturliebe bei Karl May (S. 168–190)

Guenther untersucht als Naturforscher die Werke Karl Mays in Hinblick auf die darin zutage tretende Auffassung von der Natur. Bei dem Vergleich der Natur- und Landschaftsschilderungen in 'Am stillen Ozean' und 'Und Friede auf Erden', soweit sie sich auf Ceylon beziehen, entdeckt Guenther erwartungsgemäß, daß Mays Schilderungen in 'Am stillen Ozean', als er Ceylon noch nicht kannte, nicht so exakt sind wie die in 'Und Friede auf Erden'. "Und wenn die Pflanzen auch richtig genannt sind, so ist ihre Einpassung in die Landschaft doch nicht so, wie ein mit Ceylons Natur Vertrauter sie geben würde. Der charakteristische Baum der Gegend sei der Papawbaum, wird da auf Seite 419 gesagt. Die Papaya ist nun freilich in den Gärten überall häufig, wirkt aber nur wie ein großes Gemüse und verschwindet neben den Palmen, Brotfruchtbäumen und Mangos. Die Umgebung von Kandy wird als Naturparadies geschildert. Freilich gibt es alle die genannten Tiere auf Ceylon, aber man sieht eben nicht die Vögel, wie "glänzende Blüten im dichten Laubwerk" sitzen, geradesowenig, wie bei uns" (...) (S. 179). Des weiteren befaßt sich Guenther mit der Tierwelt in Mays Büchern, besonders mit den Tierkämpfen. Interessant ist Guenthers Hinweis auf Mays Beschäftigung mit dem Naturschutz: "Um so höher ist es zu bewerten, wenn Karl May doch das erste Frühlicht des Naturschutzgedankens, das in Amerika aufging, mit vollem Verständnis und wahrer Begeisterung begrüßte. Das fünfte Kapitel von Winnetou III beginnt nämlich mit der Wiedergabe der Verordnung über das Yellowstonegebiet als Nationalpark (...)" (S. 185f). Über den Yellowstone-Park und seine Bedeutung bei Karl May hat Bernhard Koscziuszko eine ausführliche Studie vorgelegt ("Eine gefährliche Gegend". Der Yellowstone Park bei Karl May, in: Jb-KMG 1982, S. 196–210); über den Naturschutzgedanken bei Karl May vgl. ferner: Ekkehard Bartsch, "Mensch und Tier" und Gedanken Karl Mays zum Natur- und Landschaftsschutz, in: Jb-KMG 1975, S. 90–98. In seinem Aufsatz kommt Guenther jedenfalls zu dem Schluß, daß May sich, wenn auch der Mensch im Mittelpunkt seiner Werke stehe, mit der ganzen Natur verbunden gefühlt habe. Insbesondere bezeichnet er May (aufgrund persönlicher Begegnungen


//88//

mit ihm) als echten Tierfreund.

M a x  F i s c h e r :  Karl Mays Kunst der Erzählung (S. 219–246)

In seinem kenntnisreichen und ausführlichen Aufsatz beschäftigt sich Fischer mit Mays Erzählkunst; er weist nach, daß gerade die Tatsache, daß May seine Werke, zumindest die frühen Erzählungen, ohne persönliche Kenntnis der Schauplätze habe schreiben können (Fischer glaubt zu Recht nicht an die "Frühreisen"-Theorie), für Mays erzählerische Fähigkeiten spreche. Besonders erwähnt Fischer die Landschaftsschilderungen Mays, etwa die Beschreibung des Geiserausbruchs im Yellowstone-Park im "Sohn des Bärenjägers" (siehe hierzu auch Kosciuszkos Aufsatz im Jb-KMB 1982, 204ff). Nun weist der Verfasser aber auch mit Recht darauf hin, daß "das Geographische bei Karl May niemals in aufdringlicher Weise die Oberhand" gewinne (S. 231). Im Zusammenhang mit den Angriffen des von Lebius "entdeckten" Zirkus-Indianers Ojijatheka Brant Sero auf Mays "Winnetou" verteidigt Fischer Mays künstlerische Leistung, behauptet aber auf der anderen Seite: "... im Verlauf seiner Reiseerzählungen verwebt sich ethnographisch Fundiertes mit ethnographisch Unwahrscheinlichem" (S. 233). Das ist ja auch zweifellos richtig.

Ferner wendet sich Fischer der Charakterschilderung in den Reiseerzählungen zu, wobei er besonderes Interesse an der Figur des Ich-Erzählers zeigt. Er fordert: "Es wäre eine dankenswerte Aufgabe des Verlages, statt der ziemlich willkürlichen Anordnung der Gesamtausgabe, die Ich-Erzählungen, soweit irgend möglich (...) in chronologischer Reihenfolge aneinanderzureihen, um so die Dichtung seiner erträumten Erlebnisse als einheitliches, fragmentarisches Werk wirken zu lassen" (S. 239). Fischer schwebt offenbar eine Anordnung der May-Erzählungen nach dem Motto "Von Ardistan nach Dschinnistan" oder "Vom Faustkämpfer zum Edelmenschen" vor, wobei ganz einfach zu bemerken ist, daß dieser Gedanke auch in der originalen Reihenfolge der 33 Freiburger Bände zu erkennen ist. Der KMV hat ohnehin schon in seinen Bearbeitungen recht fragwürdige Vereinheitlichungstendenzen offenbart, indem z. B. in die Radebeuler/Bamberger Fassung der "Deutschen Helden" Lord David Lindsay und Winnetou "hineinoperiert" wurden und ein so offenkundig "uneinheitlicher" Band wie 'Old Surehand II' in Einzelerzählungen aufgelöst wurde. Ein Werk wie das Karl Mays entzieht sich aber durchaus solchen von außen herangetragenen "Harmonisierungsversuchen".

Interessant ist Fischers vorsichtige Einschätzung des Spätwerks; weder wertet er es zugunsten der "Reiseerzählungen" ab, noch kann er


//89//

sich dazu entschließen, in den früheren Erzählungen auch schon symbolische Schilderungen zu erkennen. "Was mich selbst betrifft, so muß ich bekennen, daß es 'Im Reiche des silbernen Löwen' und im ersten Bande von 'Ardistan und Dschinnistan' Stellen gibt, wo die bewußte Absichtlichkeit, der Zwang, hinter der Erzählung den "eigentlichen" Sinn suchen zu müssen, einen rechten Genuß nicht aufkommen läßt. Wenn aber dann im Fortschreiten der Handlung Mays Freude am Fabulieren die Oberhand gewinnt, dann fühle ich mich nicht mehr von den intellektuellen Absichten bedrängt, sondern beflügelt von den zu sinnigen Märchen verdichteten Schauungen" (S. 241). Das ist ein Standpunkt, über den sich sicher streiten läßt, doch immerhin ist Fischer um eine gerechte Bewertung des Spätwerks bemüht. Insgesamt wird man sagen müssen, daß der Aufsatz – wie auch der folgende von Matthiessen – die Tendenz hat, den Kunstwert der Mayschen Werke gegenüber den Angriffen der May-Gegner zu verteidigen. Fischer ist es gelungen, dabei interessante Entdeckungen zu machen, die zwar vom heutigen Standpunkt aus nicht überwältigende Erkenntnisse bieten, aber doch anregend und bemerkenswert bleiben.

W i l h e l m  M a t t h i e s s e n :  Der Abenteuerroman als dichterischer Wert (S. 247–254)

Matthiessens Text läßt sich mit dem Aufsatz von Fischer durchaus vergleichen. Auch hier geht es darum, den Mayschen Romanen, aber auch dem Abenteuerroman überhaupt, einen besonderen Kunstwert zu bescheinigen. Dabei tritt die "Volkskunst"-Ideologie der damaligen Zeit in Matthiessens Aufsatz sehr deutlich zutage: der Abenteuerroman besitzt Kunstwert, weil er "ursprünglich", in einer natürlichen Weise poetisch und gleichzeitig volkstümlich ist. "Das Volk schuf sich den Abenteuerroman" (S. 249). Man wird heutzutage Matthiessens ideologische Prämissen sicher nicht mehr teilen können; dadurch wird der Aufsatz insgesamt fragwürdig.


Karl-May-Jahrbuch 1922

O t t o  E i c k e :  Die Frauengestalten Karl Mays (S. 55–88)

Eicke versucht hier, das Vorurteil vom "moralisch frisierten" Durchschnittsliteraten May (S. 55) zu widerlegen, indem er die wichtigsten Frauengestalten Karl Mays untersucht. Dabei läßt er die "Münchmeyer-Romane" als vorgeblich "gefälschte" und "interpolierte" Texte außer Acht. Es kann hier nicht alles wiedergegeben werden, was sich in Eickes umfangreichem Text findet; so will ich mich auf eine kurze Zusammenfassung beschränken. Eicke beschäftigt sich zunächst


//90//

mit den "karikierten" Frauengestalten bei May, wobei er mit Recht darauf hinweist, daß May ein Meister des liebenswürdigen Spotts ist und damit weder seine Männer- noch seine Frauengestalten verschont. Im einzelnen behandelt Eicke vor allem die Mersinah ('Durch die Wüste') (S. 58f), Frau Rosalie Ebersbach aus 'Der Ölprinz' (S. 59), die "Petersilie" aus Band 2 (S. 60) und Frau und Tochter des Wirtes in der Maison de Madrid in Guaymas in Sonora aus 'Satan und Ischariot I' (S. 61). Dann aber geht er zu den "eigentlichen Frauengestalten" in Mays Werk über (S. 62): Nscho-tschi (S. 62–65), Kakho-Oto (S. 65f), Aschta (S. 67f) und Unica (S. 69) sowie aus den Orientbänden Ingdscha (S. 69f), Hanneh (S. 70-74), Marah Durimeh (S. 75–79), Yin (S. 80), Schakara (S. 81) und Pekala (S. 81f). Eicke referiert hier weitgehend, reiht Zitate und kurze Interpretationen aneinander, wobei der Wert seiner Darlegungen vor allem in der Kompilation des umfangreichen Textmaterials liegt, nicht so sehr aber in der interpretatorischen Leistung des Verfassers. Interessant sind immerhin seine Darlegungen über Marah Durimeh; Eicke nennt Hanneh, Marah Durimeh, Schakara, usw. in Anschluß an die spätere Auffassung Mays "symbolistische Figuren" und führt mit Bezug auf 'Ardistan und Dschinnistan' aus: "Ebenso leicht löst sich nun die symbolische Grundlage des eben erwähnten Werkes. Marah Durimeh (die Menschheitsseele) sendet Kara Ben Nemsi (die Menschheitsfrage) aus nach Ardistan, dem Lande der Gewaltmenschen und weiter nach Dschinnistan, dem Lande der Edelmenschen (S. 77). Edler, erhabener, reiner als die Figur der Marah Durimeh, wie sie hier gezeichnet wird, ist nichts zu denken" (S. 78). Eicke zitiert im Anschluß daran aus Marah Durimehs großer Friedensrede, die sich gegen Ende von 'Ardistan und Dschinnistan' findet, und bemerkt: "Das sind Gedanken, sind Ideale, wie sie eine Berta von Suttner verkündet hat, wie sie in tausend Gehirnen als modernste Forderungen neu geboren wurden in den furchtbaren Nöten des Weltkrieges. Nur will mir scheinen, daß sie gerade bei Karl May Anspruch auf sachlichste Würdigung erheben können, eben weil sie ihm nicht die Not eingab, sondern weil sie ihm aus rein ethischer und religiöser Weltanschauung, umgesetzt in die künstlerische Tat, erwuchsen. Und solche Ideale zu verkünden erfand Karl May eine leuchtende, reine Frauengestalt, die geheimnisvolle alte Marah Durimeh" (S. 79). Dabei übersieht Eicke freilich, daß die Gestalt Marah Durimehs ursprünglich offenbar ganz anders konzipiert war: in den frühen Auflagen des Bandes 2 erscheint sie als furchteinflößende Greisin mit Totenkopfantlitz (Band 2, Freiburg 1892, S. 207). Schon im 46.–50. Tausend hat May diese Stellen geändert; mit Sicherheit haben sich die Ideen, die er mit Marah


//91//

Durimeh später verband, erst allmählich gebildet. (Vgl. hierzu W. Poppe: "Marah Durimeh", Sonderheft 1 des Graff-Anzeiger.)

Wenig präzise sind Eickes Ausführungen insgesamt ausgefallen. Es beeindruckt zwar die Materialfülle, doch die meisten seiner erläuternden Bemerkungen sind nur von geringem Interesse. Eicke führt gegen Ende seines Aufsatzes noch drei der "dämonischen" Frauenfiguren bei May an, Adele Treskow aus den "Brodnik"-Histörchen Mays, Maschka (aus der "Halbblut"-Bearbeitung der "Frohen Stunden"-Erstfassung des 'Brodnik') und Judith Silberstein (aus 'Satan und Ischariot'), ohne dabei wesentliche Erkenntnisse präsentieren zu können. Wenig ergiebig ist auch das Fazit, das Eicke am Ende zieht: "So sieht Karl May die Frau niemals im Lichte des Schundromans, meist als Idealgestalt, rein, gläubig, menschlich, treu, milde, Hüterin des Herdes und der Sitte unter Halbwilden, Retterin des Bedrängten, Gattin, Mutter und Schwester in des Wortes bestem Sinne" (S. 87). Diese harmonisierende Sichtweise wird dem Frauenbild Mays freilich nicht gerecht. (Zum Thema: vgl. Sonderheft KMG Nr. 29.)

F r a n z  C o r n a r o :  Theorie und Praxis in Karl Mays Schaffen (S. 180–196)

Cornaro geht aus von Mays bekanntem Versuch, seine "Reiseerzählungen" nach der Orientreise "symbolisch" verstehen zu wollen. Er untersucht, in welcher Weise May sein "Programm" – wenn überhaupt – habe verwirklichen können: "Das größte Hindernis auf dem Weg zum Gelingen seines Programms hat sich Karl May durch die Behauptung geschaffen, daß schon die älteren Bände der Reiseerzählungen den nachträglich verkündeten Absichten gedient hätten. Abgesehen davon, daß man es ihm nicht glaubte – er selbst war dadurch gebunden, konnte nicht mehr frei an die Verwirklichung seiner neuen Pläne gehen, die ja doch ein viel bedeutenderes Abweichen von dem Charakter seiner bisherigen Werke erfordert hätten, als wir es in den letzten Bänden tatsächlich bemerken. Denn der Charakter dieser Reiseerzählungen war für nichts weniger geeignet als für Symbolik" (S. 187). In diesen Sätzen ist Cornaros Grundthese enthalten, die er im folgenden nur näher ausführt: May sei die Lösung seines Anliegens, die Darstellung allgemeiner menschlicher und autobiographischer Probleme in symbolischer Form unter Beibehaltung der technischen und formalen Merkmale der Reiseerzählung, schlicht mißlungen, auch im Alterswerk. Cornaro spricht recht allgemein von der "Undurchsichtigkeit" der Allegorien Mays (S. 191). Die Mehrdeutigkeit der Allegorien und Bilder Mays stört Cornaro; auch in "Ardistan und Dschinni-


//92//

stan [Dschinnistan]" seien, so meint er, die Gleichnisse "keineswegs durchgehend festgehalten" (S. 194). In diesem Sinne empfiehlt er am Ende: "Die berufenen Hüter des Nachlasses Karl Mays mögen daher eine Bearbeitung dieser Werke vornehmen!" (S. 196). Die Verdienste Cornaros um die May-Forschung sind unumstritten; dieser Aufsatz muß allerdings als eher gefährlich bezeichnet werden. Cornaro geht wieder hinter Max Fischer zurück, der den Spätwerken ein Eigengewicht zusprach und sie nicht stets an den "Reiseerzählungen" messen wollte (und umgekehrt). Die Mehrschichtigkeit und Doppeldeutigkeit der Bilder im Spätwerk Mays ist nicht als Schwäche oder technisches Unvermögen auszulegen; sie macht es dem Exegeten schwer, ohne Zweifel. Man darf nun aber nicht in den Fehler verfallen, diese Schwierigkeiten wegdiskutieren oder gar durch Bearbeitung beseitigen zu wollen. Die Richtung, die Cornaro in seinem Aufsatz einschlägt, hatte verhängnisvolle Folgen insofern, als sich die meisten May-Forscher noch lange Zeit gar nicht um die Interpretation der Spätwerke bemühten. Entweder man faßte sie als so klar verständlich auf, daß man einer weiteren Exegese enthoben schien, oder man lehnte sie glatt ab, oder man bezeichnete sie als durchgehend dunkel und unverständlich. Daher muß Cornaros Aufsatz als bedauerlicher Irrtum eines bedeutenden May-Forschers angesehen werden, der allerdings zeigt, wie leicht Mays Spätwerke Mißverständnissen ausgesetzt werden konnten.

E m i l  S e h l i n g :  Der Film und Karl May (S. 24ß [240]–254)

Entgegen den Erwartungen, die der Titel des Aufsatzes weckt, geht es hier nicht um die grundsätzliche Problematik einer Verfilmung von Mays Bänden, sondern um juristische Fragen, die in Form einer Plauderei dargeboten werden. Für den modernen Forscher sind Sehlings Darlegungen daher weitgehend uninteressant, denn erstens hat sich die Rechtslage auf dem Gebiet des Urheberrechtsschutzes seit 1922 verändert und zweitens sind die Werke Karl Mays inzwischen längst urheberrechtlich frei (1982 ist die letzte Frist (70 Jahre) für schriftliche Nachlässe u. ä. abgelaufen). An Sehlings Ausführungen ist also lediglich ein Punkt bemerkenswert: nach altem Recht (von 1901) war das Schriftwerk zwar grundsätzlich gegen eine Verfilmung urheberrechtlich geschützt, aber nicht, "wenn dadurch eine eigentümliche Schöpfung hervorgebracht wird" (S. 249). Mit Recht wirft Sehling die Frage auf, wo hier die Grenzen zu ziehen sind zwischen bloßer Bearbeitung und "eigentümlicher Nachschöpfung" eines Buches. Sehling kommt zu dem Schluß: Hat die Autorentätigkeit des Bearbeiters nur eine geringe geistige Anstrengung erfordert und weicht sie im Aufbau, in der Gedankenführung, in der


//93//

Wiedergabe der Handlung nur wenig vom Original ab (und das wird beim Kino meistens der Fall sein), so liegt eine bloße "Bearbeitung" vor, die der Genehmigung der Erben Karl Mays bedarf" (S. 250). In diesem Zusammenhang entstehen aber noch ganz andere Probleme: wie weit darf und soll sich eine filmische Darstellung überhaupt vom Original entfernen? Es würde sich lohnen, einmal die diversen filmischen Gestaltungen der Werke Karl Mays auf diesen Aspekt hin zu untersuchen. Einen interessanten ersten Beitrag zum Thema lieferte Hansotto Hatzig mit seiner Filmographie "Die Karl-May-Filme" (M-KMG Nr. 9–13, 1971/72), siehe auch Chr. Unucka: "Karl May im Film".


Karl-May-Jahrbuch 1923

A r t u r  B u c h e n a u :  Karl Mays Friedensgedanken (S. 40–54)

Im Gegensatz zu Amand von Ozoroczys großer Abhandlung über das Friedensthema bei May im KMJB 1928 beschränkt sich Buchenau im wesentlichen auf 'Und Friede auf Erden'. Da es aber auch Buchenau gleichzeitig um einen generellen Blick auf die Behandlung des Friedens in Mays Werk geht, wurde sein Aufsatz der Abteilung III zugerechnet. Der Verfasser gibt in skizzenhafter Form einige Anhaltspunkte zur Interpretation von 'Und Friede auf Erden'. Die gehaltvollsten Bemerkungen finden sich dabei am Schluß: "Legt man das Maysche Buch zur Seite und denkt über Inhalt und Grundzweck nach, so kann man es als eine Art tätiger Völkerethik in volkstümlicher Form bezeichnen" (S. 53). Die besondere Betonung des "volkstümlichen" Charakters ist typisch für die in den Jahrbüchern vertretene Theorie vom Volksschriftsteller May; typisch ist auch die Tatsache, daß Buchenau ansonsten weitgehend Zitate und Inhaltsangaben recht anspruchslos aneinanderreiht.

E r i c h  W u l f f e n :  Der Läuterungsgedanke bei Karl May (S. 109–122)

"Zunächst ist Karl Mays ganzes Schrifttum überhaupt eine Hülle für seine eigene innere Läuterung; dessen wird man deutlich gewahr, wenn man es nicht in Einzelheiten zerpflückt, sondern in seiner Gesamtheit würdigt" (S. 114). Von diesem Gedanken ausgehend, zeigt Wulffen in seiner gründlichen Motivstudie, wie May in seinen Werken die Läuterung einzelner Personen immer wieder thematisiert. Er erwähnt unter anderem die Gestalt des Heinemann im "Teufelsbauer" (S. 116f), Murad Nassyr im "Lande des Mahdi" (S. 117) und die Läuterung des Ssali Ben Aquil in demselben Buch (S. 117ff). Dann geht Wulffen über zu 'Ardistan und Dschinnistan' und zieht schließlich


//94//

sein Fazit: "Man kann in allen Werken Mays solche Wandlungen und Läuterungen in Fülle unschwer erkennen. Er ist ein Bannerträger und Verherrlicher des Läuterungsgedankens, der den Kern und das Ideal seines Schrifttums bildet, um den alle seine Phantasien, Begebenheiten und Lehren zirkeln, ähnlich etwa wie Richard Wagner in seinen Dramen den Erlösungsgedanken abwandelt" (S. 121). Das sind große und nicht unberechtigte Worte, aber auch Wulffen begnügt sich im Grunde mit einer bloßen Materialsammlung, ohne viel Wert auf ausführliche Kommentierung zu legen.

E .  A .  S c h m i d :   Henrystutzen und Silberbüchse (S. 216–227)

B e n n o  W a n d o l l e c k :   Die Feuerwaffen des Romans "Winnetou" (S. 228–237)

Als ein Beweis für angebliche Frühreisen Mays wurden die Waffen angesehen, die sich bei Mays Tode in seinem Besitz befanden: Henrystutzen, Bärentöter und Silberbüchse. Über die Herkunft dieser Waffen konnte man lange Zeit nur Spekulationen anstellen. Die kuriosen Vermutungen, die sich an die Waffen knüpften, sind unzweifelbar ein Bestandteil der "May-Legende". Zwei interessante Beiträge zu diesem Thema wurden im KMJB 1923 veröffentlicht. Der Geschäftsführer des KMV, Dr. Euchar Albrecht Schmid, immer auf der Suche nach geeigneten Beweisen für die Frühreisen-Theorien der beiden Urbans, brachte den Henry-Stutzen in die Deutsche Versuchsanstalt für Handfeuerwaffen nach Berlin-Halensee. Dort wurde er von Major Bachelin, dem Leiter der Anstalt, untersucht, wobei der Major feststellte, daß es sich "um eine durchaus brauchbare Waffe handelt, die den Typus amerikanischer Präzisions-Fabrikarbeit darstellt. Der Lauf zeigt noch seine dunkelglänzende Brünierung. Der polierte Schaft weist kaum nennenswerte Schrammen oder Eindrücke auf; auch das gesamte aus Bronze gefertigte System des Gewehrs läßt noch die Originalpolitur erkennen" (S. 219). Also handelte es sich unzweifelbar um ein Original ... Bei Schußversuchen mit Patronen eines zu kleinen Kalibers mußte das Schloß demontiert werden (S. 222); auch dabei fiel den Waffenexperten nichts weiter auf. Das war am 8. März 1922; zur Ergänzung der bisherigen Erkenntnisse wandte sich Schmid an Prof. Dr. Benno Wandolleck, Dresden, den Besitzer der größten Revolversammlung Deutschlands. Sein Gutachten ist ebenfalls im KMJB 1923 abgedruckt. Wandolleck verwies mit Recht darauf, daß der Henry-Stutzen nicht mit dem originalen, von Benjamin Tyler Henry im Jahre 1860 als "Henry's Patent" angemeldeten Henry-Stutzen übereinstimmte. "Der Name Henry ist also mehr ein Sammelname, und zu der Zeit, als das


//95//

im Besitze Karl Mays befindliche Gewehr angefertigt wurde, noch nicht durch den jetzt über die ganze Welt verbreiteten Namen Winchester abgelöst" (S. 231). Bei Mays Gewehr handelt es sich laut Wandolleck um einen von Nelson King verbesserten "Henry": "Er trägt auch die Inschrift (B. Tyler) Henrys Patent, und (Nelson) Kings Patent" (S. 234). Das beweist nun freilich noch nicht, daß es sich um ein amerikanisches Originalgewehr handelt ... Auch beim Bärentöter war sich Wandolleck sicher, es mit einem aus dem Ausland stammenden Originalstück zu tun zu haben: "Es ist eine Elefanten-Doppelbüchse englischer Herkunft, wie sie in großen Mengen in England für die Jagd auf jene gefährlichen Dickhäuter gebaut wurden" (S. 229). Dennoch kamen Wandolleck gewisse Zweifel: "Das Gewehr ist zuletzt nicht in englischen Händen gewesen, da ihm die Einrichtung eines Tragriemens angefügt wurde" (S. 230). Schließlich die Silberbüchse: "Ohne Zweifel ist das Stück das seltsamste der May'schen Waffen (...)" (S. 237). Seltsam ist auch, was Wandolleck daran entdeckt: "Vielleicht war es (...) ein Mexikaner, der den Schaft schnitzte und ihn in indianischem Geschmack mit Silbernägeln beschlug. Der Kolben ist ungefügig groß, fast könnte man glauben, er wurde so groß gehalten, um viel Platz für die Ziernägel zu haben. Drei Arten von Nägeln wurden eingeschlagen: kleine runde, die gewissermaßen die Umrahmung einiger Felder hergeben, große rosettenartige und große Sternnägel (...). Auf der rechten Seite des Kolbens bilden sie die lateinischen Buchstaben NS, auf der linken Seite ein doppeltes V (...). Der, der diese Büchse verzierte, war des Schreibens kundig, spanischer Mundart und ein Christ! NS bedeutet unverkennbar Nuestra Senora – unsere Herrin – Maria ..." (S. 236). "Das Doppel-V, das wir ursprünglich für ein W oder M hielten, hat sich inzwischen als Zeichen für die Ergänzung Virgo Virginum herausgestellt" (S. 237). So weit, so gut; trotz Wandollecks Kenntnisreichtum und der Mühe, die er sich gab, stellt man doch einige Merkwürdigkeiten fest. Die Büchse, die auf der Abbildung neben S. 224 zu sehen ist, weist nur einfache runde Nägel auf, keine rosettenartigen und keine Sternnägel. Klaus Hoffmann, der Dresdner May-Experte, hat diesen und andere Widersprüche in glänzender Weise aufgelöst: Karl Mays Silberbüchse ist um 1920 "restauriert" worden; in dieser Zeit wurden die runden Silbernägel eingeschlagen. "Ganz offenbar stammte Wandollecks Gutachten noch aus der Zeit vor der "Restauration" der Waffe". (Klaus Hoffmann, Silberbüchse – Bärentöter – Henrystutzen, "das sind die drei berühmtesten Gewehre der Welt". Herkunft, Wirkung und Legende, in: Jb-KMG 1974, S. 74–107; das obige Zitat steht auf Seite 103). Hoffmann ist es darüber


//96//

hinaus gelungen, die Herkunft der Mayschen Waffen zweifelsfrei aufzuklären, und was er herausfand, ist eine kleine Sensation: Bärentöter, Henrystutzen und Silberbüchse wurden nach Mayschen Angaben, nach seinen Büchern und nach den Kenntnissen des Büchsenmachers angefertigt. Der Hersteller der Waffen war der Dresdener Büchsenmacher Max Fuchs, der sie zwischen 1896 und 1902 im Auftrag Mays anfertigte! Wandolleck und Schmid, so sorgfältig sie auch gearbeitet hatten, waren der "May-Legende" erlegen, die ihre Wirkung auch heute nicht verfehlt.

F r a n z  K a n d o l f :  Die Handlungszeit der May-Erzählungen (S. 238–258)

Franz Kandolf hat den Jahrbüchern, von denen hier die Rede ist, manche schönen Aufsätze geschenkt. Einmal allerdings irrte er sich ganz gewaltig, und das war in seinem hier zu besprechenden Text der Fall. Es ist ein faszinierender Gedanke, eine chronologische Reihenfolge der Handlungszeiten in Mays Erzählungen zu erstellen. Zweifellos aber geht er am Werk vorbei, denn May schrieb nicht nach einem genauen Zeitplan und lieferte selber oft sich widersprechende Angaben. Walther Ilmer hat in seinem Aufsatz "Auch Franz Kandolf irrte – wie wir alle ..." (M-KMG 52 1982, S. 36ff) mit Recht darauf hingewiesen, daß Kandolf schon von falschen Prämissen ausging. Er orientierte sich vor allem an zwei Daten: an Mays Geburtsdatum, wobei er der Mayschen Fiktion erlag, das "Ich" in den Reiseerzählungen mit dem 1842 geborenen Karl Friedrich May gleichzusetzen, und an dem von May gelegentlich genannten fiktiven Todesdatum Winnetous (2.9.1874). Mit Recht verweist Kandolfs Kritiker Ilmer darauf, daß May aber auch den 21.2. (ohne Jahresangabe) als Winnetous Todesdatum genannt habe, was die Angabe des 2.9. von vornherein entwertet (M-KMG 52/1982, S. 36). So kommt es, daß Kandolfs Zeitangaben, die er in Form einer Tabelle vorstellte, mit manchen im Text der betreffenden Bände zu findenden Hinweisen nicht übereinstimmten. Dennoch orientierte sich der KMV schon bei den in der Radebeuler Ausgabe genannten Angaben der Handlungszeit (und später bei der Bamberger Ausgabe) überwiegend an Kandolfs Forschungen. So sei Kandolfs Zeit-Tabelle, auch wenn sie fehlerhaft ist, hier noch einmal wiedergegeben:

Vor 1836: Der Pfahlmann, Der Kanada-Bill, 1. Kap.
1849: Der Kanada-Bill, 2. und 3. Kap.
1860: Spätherbst: Winnetou I.
1861–1863: Ehri. Brodnik. Kiang-lu. Saiwa tjalem.
1864: Unter Geiern. Weihnacht.
1865: Der Scout. Die Gum. Kapitän Kaiman.


//97//

1866: Der Schatz im Silbersee. Halbblut. Old Surehand I.
1867: Old Surehand II (früher Band III).
1868: Christus oder Mohammed. Der Krumir. Er Raml el Helahk. Von Mursuk bis Kairwan.
1869: Der Ölprinz. Gott läßt sich nicht spotten. Der Blizzard.
1870: Satan und Ischariot I und II, Kap. 1-2. Am Rio de la Plata. In den Cordilleren. Auferstehung.
1871-1872: Ges. Werke Bd. 1-6.
1873: Old Firehand. Deadly dust. Satan und Ischariot II, Kap. 4-6 und III.
1874: Winnetous Tod. Im Reiche des silbernen Löwen I, Kap. 1 und 2.
1875: Blutrache. Nur es Sema. Christi Blut und Gerechtigkeit. Mater dolorosa. Maria oder Fatima. Tuet wohl denen, die euch hassen!
1876: Der Boer van het Roer.
1879: Im Lande des Mahdi.
1880: Der Verfluchte. Anhang zum Schut.
1881: Der Kutb 1. Kap. Girl-Robber. An der Tigerbrücke.
1885: Der Kutb 2. Kap.
1887: Im Reiche des silbernen Löwen I und II.
1888: Der Kys-kaptschiji.
1892: Am Jenseits.
1899 und 1900: Und Friede auf Erden. Ardistan und Dschinnistan.
1908: Winnetous Erben. (S. 255f)."

Das ist eine imponierende Tabelle, leider mit kleineren und größeren Schönheitsfehlern. 'Weihnacht' spielt, wie Ilmer am Text belegt ersichtlich nicht im Jahre 1864, wie von Kandolf behauptet. Das 1. Kapitel von 'Weihnacht' spielt laut Ilmer um die Jahreswende 1858/1859, der zeitliche Abstand vom 1. Kapitel zum 2. bis 5. Kapitel beträgt mindestens 10 Jahre, denn u. a. benutzen Corner, Sheppard und Genossen die erst 1866/67 fertiggestellte Eisenbahn, obwohl Kandolf auf S. 243 das Gegenteil behauptet hatte. Kapitel 2-5 spielen also etwa um 1868/1869! "Der Sohn des Bärenjägers" kann erst nach dem 18.1.1871 spielen, denn der Hobble-Frank spricht in diesem Buch vom deutschen Kaiser. Wenn Kandolfs Angaben verifiziert wurden, indem in der Radebeuler 'Unter Geiern'-Fassung Textänderungen vorgenommen wurden, so stellte er sein System in grotesker Weise über Mays Originaltext, dem dieses System ja dienen soll. Auch 'Der Ölprinz' kann, wie Ilmer nachweist, erst nach 1871 spielen, denn es ist dort ebenfalls vom deutschen Kaiserreich die Rede. Die ersten beiden Bände des "Silberlöwen" spielen laut Kandolf (S. 252) im Jahre 1881, denn in den ersten Auflagen sei die Rede davon, daß Kara Ben Nemsi sich vor nicht ganz einem Jahr verheiratet habe. Das stimmt aber gar nicht, denn im "Hausschatz"-Frühabdruck steht die Angabe "seit fast zwei Jahren". Demnach spielen "Silberlöwe I und II" im Jahre 1882, es ergibt sich gleichzeitig aber auch 1878 als mögliches Handlungsjahr (alle Angaben nach Ilmer, a.a.O., S. 37f). Zudem widerspricht sich Kandolf selbst, indem er in seiner Tabelle als Handlungsjahr für den "Silberlöwen I und II" 1887 nennt (!!!). Geradezu lächerlich aber ist Kandolfs Versuch, 'Ardistan und


//98//

Dschinnistan', diesen utopischsten aller May-Texte, auf das Jahr 1899/1900 datieren zu wollen, nur weil die Orientreise dieser Jahre die Grundlage bildete für das Spätwerk Mays... Der Aufsatz "Die Handlungszeit der May-Erzählungen" ist also leider von vorne bis hinten mit Fehlern behaftet, kleineren und größeren. (Vgl. auch Gustav Urban: Zeitenfolge und Wahrheitsgehalt der amerikanischen Erzählungen im KMJB 1926.)


Karl-May-Jahrbuch 1924

F r i t z  B a r t h e l :  Der Wanderer (S. 36–42)

"Nur Wanderer kommen ans Ziel, und Karl May war ein Wanderer. Nur Wanderer lernen die Schönheiten und Höllen der Welt kennen, und Karl May war ein Wanderer. Nur Wanderer gehen sich am Elend der Erde und des Erdenseins die Füße wund, und Karl May war ein Wanderer" (S. 36). In diesem Stil geht es noch einige Seiten so weiter; Barthel reiht unverbindliche, wenn auch nicht unrichtige Bemerkungen über Karl May aneinander.

T o n o  K a i s e r :  May und "Faust" (S. 216–224)

Kaiser vergleicht Mays seelisches Ringen mit dem Fausts: "May sucht wie Faust nach letzten Antworten auf erste und ewig wiederkehrende Menschheitsfragen! Mays "Faust" ist sein  " I c h " ,  die letzte Menschheitsfrage selbst. Und in all seinen Werken verwandelt sich dieses "Ich" immer wieder zum großen lebendigen Sucher!" (S. 217). So geht es, zum Teil mit "Faust"-Zitaten, noch einige Seiten weiter. Sicher ist bei dem Vergleich von May mit "Faust" vor allem an eine Aufwertung Mays gedacht worden; aber darüber hinaus geben die Vergleiche wenig her für eine ernsthafte Beschäftigung mit Mays Leben und Werk.

F r i t z  P r ü f e r :  Wettlauf (S. 228–252)

Prüfers Aufsätze heben sich angenehm vom Gros der Jahrbuchtexte ab, da sie fast immer etwas ganz Besonderes bringen. Hier legt Prüfer dar, wie er in einer Volksschulklasse einen Vergleich anstellen ließ zwischen drei Geschichten über einen Wettlauf: den aus dem Märchen "Der kleine Muck", den aus dem Märchen vom Hasen und vom Igel und den Wettlauf zwischen dem Hobble-Frank und einem Indianer aus dem "Schatz im Silbersee". Dabei sind die Ergebnisse Prüfers gar nicht so wichtig; interessant und nachahmenswert ist die didaktische Auswertung von May-Texten in einer Unterrichtseinheit. Allerdings geht Prüfer weniger auf die didaktisch-methodischen Einzelheiten ein; ihm geht es vor allem um die Mitteilung der Ergeb-


//99//

nisse [Ergebnisse] seines Vergleichs: "Es kommt noch hinzu, daß bei May  Z w e c k  und  Z i e l  des Wettlaufs im höchsten Maße unserer Anschauung entspricht. Es geht um  F r e i h e i t  u n d  L e b e n .  Aus den Umständen heraus erfolgt mit eiserner Notwendigkeit der Wettlauf. Hier hängt das nicht von der Laune (Igel) oder von der Absicht auf Gewinn (Muck) ab. Der Zug des Willkürlichen, des Zufälligen, der den beiden Märchenwettläufen anhaftet, ist bei May in Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit verwandelt" (S. 233). Im folgenden zeichnet Prüfer auch Spannungskurven zum Vergleich der drei Texte (S. 243f).

M a x  F i n k e :  Karl Mays Schreibart (S. 267–289)

Mays Stil war immer großen Angriffen ausgesetzt. Gerne und häufig wurde er als "Sprachverderber" bezeichnet. Unter der Ägide Eduard Engels hat der KMV schon in der Radebeuler Ausgabe und ganz besonders in der Bamberger Ausgabe Mays Werke einer stilistischen "Reinigung" unterzogen, wobei besonders Fremdwörter "ausgetilgt" worden sind. Darum ist es von Interesse, daß in den frühen Jahrbüchern schon einmal ein Aufsatz veröffentlicht wurde, in dem Mays Stil zwar nicht überschwänglich gelobt, aber doch sachlich und gerecht beurteilt wurde. Finke, der im übrigen mehrfach auf die stilistischen Forschungswerke Eduard Engels verweist, hat sich in allgemeiner Form, aber durchaus zutreffend mit Mays Stil befaßt: "May baut seine Sprache nicht, er läßt sie wachsen (auch wuchern), er läßt sie strömen. Wenn Hermann Hesse Mays Sprache "als allzu schabloniert" rügt, so ist dieser Vorwurf berechtigt. Es darf aber der Zwang der Arbeitsüberbürdung bei May nicht übersehen werden" (S. 277). Finke gibt nun Beispiele, besonders für Mays Kunst des Vergleichs: "Ich unterscheide den aufsteigenden und den absteigenden Vergleich. Der aufsteigende Vergleich verbindet Totes mit Lebendigem; der absteigende Lebendiges mit Totem. Die erste Art zu vergleichen ist wuchshafter, die zweite Art mehr äußerlicher Natur. Die erste entspricht dem tiefen Sinn der Erhabenheit (...), die zweite hat oft etwas Gewöhnliches, Puppenhaftes, nicht selten erschütternd Drolliges. Wir finden bei May mehr Komik als Humor im eigentlichen tiefen Sinn. Komik ist das, was die Lachmuskeln reizen will (...). Da vergleicht er Lebendiges mit Totem, sich wuchshaft entfaltende Dinge mit Mechanischem oder Maschinellem. Letztere Art des Vergleichens schafft ganz besonders den Eindruck des Schnurrigen" (S. 279). Finke konkretisiert das an vielen Textbeispielen. Dann zieht er am Ende seines bemerkenswerten Aufsatzes, der einen Nachdruck und kritische Lektüre durchaus verdient hätte, ein Fazit: "Der


//100//

S p l i t t e r r i c h t e r  wird aus den zahlreichen Bänden Mays sogar Verstöße gegen die Sprachregeln herausklauben können" (S. 287). "Sprachschöpferisch war May allerdings nicht. Im Umkreis des Gegebenen bewegte er sich aber mit großer Gewandtheit" (S. 288).


Karl-May-Jahrbuch 1925

M a x  F i n k e :  Karl May und die Musik (S. 39–63)

Als Max Finke am 4. Januar 1924 ganz plötzlich im Alter von 35 Jahren verstarb, stand der Leiter des KMV Radebeul, E. A. Schmid, vor großen Problemen. Finke hatte 1921 zusammen mit E. A. Schmid die Herausgabe der Karl-May-Jahrbücher übernommen und war rasch einer der wichtigsten Mitarbeiter des KMV geworden. Sein früher Tod bedeutete für die Jahrbücher einen großen Verlust. Im KMJB 1925 wurde posthum sein Aufsatz "Karl May und die Musik" veröffentlicht, die bis heute einzige umfassendere Darstellung dieses interessanten Themas. Zu Beginn bezeichnet Finke May als "Vertreter des musikalischen Menschenschlags" (S. 39) und führt zum Beweis u. a. seinen Schädelbau an. Stichhaltiger freilich ist die Beweisführung des Verfassers, wenn er im folgenden eine ganze Reihe "musikalischer" Stellen aus Mays Werken zitiert und recht kenntnisreich kommentiert. Eine genaue Inhaltsangabe dieses Teils des Aufsatzes ist nicht möglich und auch nicht nötig; ein Nachdruck des gesamten Textes wäre zu empfehlen, solange keine neuere Arbeit über dieses Thema vorgelegt wird. Vorläufig verweise ich Interessenten auf die Seiten 41–52 des KMJB 1925. Hier erwähnt werden kann und muß aber das, was Finke über Mays frühe Berührung mit der Musik und über seinen Unterricht bei Kantor Straube in Hohenstein-Ernstthal zu berichten hat: "Dieser Kantor gab dem zweifellos musikalisch sehr begabten Jungen Orgel-, Klavier- und Violinunterricht. Den Violinbogen fertigte Vater May, der fleißige Weber, selbst an. Der Unterricht war unentgeltlich" (S. 53). "In der Seminar- und Lehrzeit hatte May reichlich Gelegenheit, seine Kenntnisse und sein Können in der Musik zu erweitern und zu vervollkommnen (...). Seine eigentliche musikalische Schulung erfuhr er aber erst in der Strafanstalt (...). May trat (...) in die Kapelle ein und bekam das gerade frei gewordene Althorn (?), das er bald wacker blies. Bald wurde er auch von dem Katecheten Kochta (...) in den Kirchenchor aufgenommen und erhielt den ehrenvollen Auftrag, die vorhandenen Musikstücke durchzusehen und für die zur Verfügung stehenden Kräfte durchzuarbeiten (...)" (S. 54). Offenbar sind jedoch die meisten der Mayschen Kom-


//101//

positionen, die sich im Nachlaß fanden, schon früher entstanden, in den anderthalb Jahren, die May nach seiner ersten Haftstrafe (in Chemnitz) in Hohenstein-Ernstthal verbrachte, und in dieser Zeit scheint er auch zeitweilig den Gesangverein "Lyra" geleitet zu haben (Wollschläger, Karl May, S. 32). Finke geht nun etwas näher ein auf die Kompositionen Mays; da sind zunächst die beiden einzigen zu Mays Lebzeiten veröffentlichten musikalischen Werke Mays zu nennen, das 'Ave Maria' für Männerchor in Es-Dur (1897 im "Deutschen Hausschatz" erstveröffentlicht) und das 'Vergiß mich nicht' in D-Dur für gemischten Chor. Beide Stücke wurden von Fehsenfeld als 'Ernste Klänge, Heft I' 1898 veröffentlicht; die spätere Auflage enthält den Zusatz "Heft I" nicht, dafür vom 'Ave Maria' aber noch zusätzlich eine Fassung für gemischten Chor in B-Dur (vgl. dazu Herbert Meier, Vorwort zum KMG-Reprint "Marienkalendergeschichten", S. 9, Hamburg 1979). Über den von Herbert Meier erwähnten Plan Mays, eine zweite Mappe 'Ernste Klänge' mit den Kompositionen 'Nun gehst du hin in Frieden' und 'Ich frage zu den Sternen' herauszugeben (Meier, a.a.O., S. 9), erfährt man bei Finke bedauerlicherweise überhaupt nichts. Finke, der "einige" der Vertonungen Mays aufzählt (S. 56ff), erwähnt auch keinen der beiden Titel. Überhaupt wäre ein genaues Verzeichnis der Mayschen Kompositionen mit Abdruck des Notentextes und Kommentar dringend erforderlich. Da momentan nichts Besseres vorliegt, folgt nun Finkes Verzeichnis:

"1. 'An die Sterne' (Nr. 13, 1864) für Männerchor, 4stimmig.
2. 'Notturne' (!) (Nr. 20) Soloquartett für 4 Männerstimmen, nach eignem Gedicht: 'Ich will dich auf den Händen tragen'.
3. 'Wanderlied' (Nr. 24, 1864), 4stimmig, zu einem Gedicht von Uffo Horn: 'Ei, wie geht so flink der Knabe usw.'
4. 'Serenade' (Nr. 25), 'Zieht im Herbst die Lerche fort'. 4stimmig.
5. 'Warnung' (Nr. 26), Motette, 4stimmig. 'O gräme nie ein Menschenherz, der Gram geht bis aufs Blut. Und all den Kummer, all den Schmerz machst du nie wieder gut usw.'.
6. 'Ständchen' (Nr. 29), für Männerchor mit Streichquartettbegleitung; 1. und 2. Violine, Viola und Cello. Von ihm auch gedichtet. 'Deine hellen klaren Augen strahlen eine ganze Liebeswelt usw.'
7. 'Weihnachtskantate', 4stimmig, 'Siehe, ich verkündige Euch große Freude!' (Bibeltext).
8. 'Osterkantate'.
9. 'Ein Allegretto', 'Immer forsch resolut', 'Hübsch muß er sein'.
10. 'Allegro', 'Nur nicht sitzen bleiben', ein Brettlsang.
11. 'Vaterunser' (für drei Chöre komponiert). Maestoso, mit der Einleitung. 'Herr, deinem Thron nahen anbetend wir. O neige deine Ohren in Liebe jetzt uns zu!' Anschließend das Vaterunser, durchkomponiert bis zum Amen.
12. 'Lob der Frauen', 'Was die Mädel treiben, ist nit zu beschreiben'. Der Text ziemlich seicht. Für 1 Stimme mit Gitarrebegleitung gesetzt. May hat auch eine Posse mit Gesang 'Pantoffelmühle' verfaßt und vertont. Unter anderem sind auch der Eingangschor und die Ouverture noch erhalten. Ebenso einige Einlagen" (S. 58).


//102//

Im folgenden gibt Finke den "Personalzettel" der "Pantoffelmühle" und die "Charakteristik" wieder, die May für die "Pantoffelmühle" aufgestellt hat. Beides ist wenig bedeutsam, so daß auf eine Wiedergabe verzichtet werden kann. Die Handlung kreist um den "unter dem Pantoffel" stehenden Müller Robert Simson; Mays Entwurf enthält nur eine allgemeine Charakteristik der Personen ohne nähere Angaben über den Gang der Handlung. Zur Musik schreibt Finke: "Von dieser Posse ist noch allerlei erhalten, so die Einlagen: Schnitterlied, Müllerlied, Duett, die alte Jungfer, der Frömmler und andres. Die Besetzung ist folgende: Soprani und Tenori, Alti und Bassi, Violini 1. und 2., Cornett, Clarini in Es, Trompi (!) in Es, Corni in B, Posaune und Violon, Baß und Tuba" (S. 59). Mays Instrumentenverzeichnis, ebenfalls von Finke wiedergegeben (S. 59f), enthält nichts Bemerkenswertes, außer der Glasharmonika. "Nach Mitteilung der Frau Klara May soll May aus seiner Posse einen Walzer am Klavier gespielt haben, wozu der Besuch tanzte. Sein Text war noch lange bekannt. Sehr lustig wurde dazu mit den Pantoffeln geklappert" (S. 60). Auch die "Pantoffelmühle" sollte einmal wiederveröffentlicht werden! Finke schreibt noch einiges über Mays Lieblingskomponisten: "Was die Stellung zu den Meistern der Tonkunst anlangt, so schätzte er neben  B a c h  und  B e e t h o v e n  besonders  M o z a r t  hoch, den er oft spielte" (S. 61). "Zu  W a g n e r  dagegen, dessen "Ring" er unter anderem besuchte, konnte er gar keine innere Beziehung gewinnen" (S. 62). Solche Vorlieben lassen sich natürlich weder eindeutig einschätzen noch genau belegen, da sie meist durch Berichte von Dritten (Klara May) bekannt wurden. Interessant ist Finkes Urteil über Mays Komposition: "Ein besondrer Wert kommt seinen Kompositionen nicht zu; sein Kontrapunkt ist unausgebildet, formale Fehler unterlaufen" (S. 63). Diese Meinung läßt sich aufgrund der veröffentlichten Kompositionen Mays nicht bestätigen; sie sind in harmonischer Hinsicht geschickt gearbeitet, obwohl sie stilistisch epigonal wirken, eine Mischung aus Schubert, Brahms, Bruckner und anderen Romantikern etwa Robert Franz –. Das 'Ave Maria' ist sogar ein ausgesprochen schönes, wenn auch kein ausgeprägt individuelles Stück. Eine ausführliche Untersuchung zum Thema "Karl May und die Musik" wäre auf jeden Fall notwendig. (Vgl. auch: H. Felsinger: "Karl Mays Kompositionen" in M-KMG 12, S. 14ff.)


//103//

E m i l  S e h l i n g :  Juristische Fragen bei Shakespeare und Karl May (S. 238–266)

Sehling greift hier im wesentlichen das Problem der Blutrache auf; die Rache des Shylock im "Merchant of Venice", die Rache Hamlets und das Motiv der Blutrache bei Karl May werden besprochen und verglichen. Dabei sind Sehlings Ausführungen über Shylocks Prozeß weitaus interessanter ausgefallen als die mageren Bemerkungen zum Motiv der Blutrache bei Karl May, die sich im Grunde genommen auf bloße Hinweise beschränken. Sehling erwähnt das Kapitel 'Der Löwe der Blutrache' aus dem "Silberlöwen I" (S. 260), das "Bluträcher"-Kapitel aus dem "Silberlöwen III" (wobei Sehling fälschlich vom "Silberlöwen II" spricht – S. 261) und die Erzählung "Blutrache" aus 'Auf fremden Pfaden'. Seine diesbezüglichen Bemerkungen geben aber nicht viel her.

E r i c h  W u l f f e n :  Kunst und Verbrechen (S. 267–318)

In diesem Aufsatz geht es um die Verbrechensdarstellung in der Dichtung sowie um die Grenzen zwischen Kunst und Verbrechen. Wulffen befaßt sich mit Schiller, Ibsen, Nietzsche usw., aber nicht mit Karl May. Es handelt sich um die Wiedergabe eines Vortrags, der erstmals 1924 in der "Literarischen Gesellschaft" in Dresden gehalten wurde. Durch den Abdruck dieses Textes sollte offenbar Karl May in "gute Gesellschaft" gebracht werden, denn Wulffens Beispiele entstammen sämtlich der Hochliteratur. Die Herausgeber vermerkten denn auch in einer Fußnote: "Im obigen Beitrag ist zwar der Name Mays nicht genannt, doch kann jeder Jahrbuchleser die entsprechenden Schlußfolgerungen mit leichter Mühe ziehen" (S. 267), was ja ausgesprochen salomonische Worte sind.

E d u a r d  E n g e l :  Spannung (S. 319–352)

Wie bei den meisten Jahrbuchaufsätzen Engels, so geht es auch hier nur am Rande um Karl May. Auch hier waren wohl eher "propagandistische" Gründe dafür ausschlaggebend, daß der Text als Vorabdruck aus Engels Buch "Was bleibt?" in das KMJB 1925 aufgenommen wurde. Was in der Literatur bleibt, sind für Engel z. B. jene Bücher, die den elementaren Bedürfnissen des Lesers nach spannender Handlung nachkommen; seltsamerweise "bleibt" Karl May nach Engel jedoch nicht, obwohl er feststellt: "Die wichtigste Eigenschaft der Erzählungen Karl Mays, der tiefste Grund ihrer noch immer fortdauernden, wohl gar anschwellenden Anziehungskraft für Hunderttausende meist jugendlicher Leser ist ihr behaupteter oder wirklicher Spannungsreiz" (S. 343). Ob sich für diese "Erkenntnis" die Lektüre von 32 Textseiten lohnt, ist allerdings fraglich ...


//104//

L u d w i g  G u r l i t t :  Karl May als Erzieher (S. 360–367)

Nach dem Tode von Max Finke übernahm Ludwig Gurlitt die Funktion eines Mitherausgebers bei den Jahrbüchern. Er war an Mays Werken weniger interessiert als an einer "Ehrenrettung" von Mays literarischem und menschlichen Ruf. Mit dieser grundsätzlichen Feststellung tut man Gurlitt sicherlich kein Unrecht. Der Pädagoge und engagierte "Schulreformer" betonte in seinen Schriften zum Thema May immer wieder die "erzieherische Wirkung" der Mayschen Werke, so auch in dem kurzen vorliegenden Text. Im Grunde genommen handelt es sich lediglich um eine Wiedergabe eines Gespräches, das Gurlitt in seiner Wahlheimat Capri mit zwölf deutschen Landsleuten führte. Er zieht das Fazit: "Von zwölf Deutschen verschiedener Herkunft stimmten alle darin überein, daß ihnen Karl May erzieherisch mehr geboten hätte als irgend ein sonstiger Jugenderzieher" (S. 364). Allerdings ist das ja schlechterdings noch kein Beweis für Karl Mays Bedeutung als "Erzieher".


Karl-May-Jahrbuch 1926

A l f r e d  B i e s e :  Die Kunst des Erzählens (S. 29–31)

In diesem kurzen Text des (damals) bekannten Literaturhistorikers wird neben Goethe, Gottfried Keller, Theodor Storm und Klaus Groth auch einmal der Name Karl May genannt. Für die Herausgeber war dies offenbar Grund genug, den Aufsatz nachzudrucken.

L i s a  B a r t h e l - W i n k l e r :  Mensch und Maske (S. 131–139)

Lisa Barthel-Winkler zeigt hier auf, wie sich in Mays Werken immer wieder Züge des Schauspiels, der Maskerade finden lassen. Als Beispiele führt sie eine Szene aus dem "Reiche des Mahdi I" an, in der Kara Ben Nemsi und Ben Nil in einer Art Stegreifszene die Sklavenhändler täuschen (S. 133ff). Neben anderen Beispielen erwähnt sie noch den "großen Traum" des "Silberlöwen IV": "Zuletzt greife ich aus anderen Beispielen noch den "Silbernen Löwen" heraus und erwähne den Traum – die grandiose Schattensymphonie im Innern der Felsen – denn auch hier ist sein Verhalten dem Schattenführer gegenüber, der ihn als den Ustad anspricht, das eines genialen Schauspielers, der am Ende seine Maske abreißt und sieghaft sein wahres Gesicht zeigt" (S. 136). Wie aber sind Mays "Masken" zu deuten? Die Verfasserin hat da einen interessanten Aspekt entdeckt: "O ja, der 'Schauspieler' May, den die Neidmeute überfallen hat, trägt Masken vor der Welt und wirft sie erst weg, wenn man sie ihm ganz oder halb


//105//

entreißt. Aber es ist nicht immer  S c h a m  – wie Karl Hans  S t r o b l  schreibt – die ihm solche Masken festhält. Diese Masken sind nicht künstlich, sondern künstlerisch, sie sind ein Teil seines Ich-Spiels, das ihm mehr ist als Spiel" (S. 138). Insgesamt handelt es sich um einen sehr anregenden Text.

E d u a r d  E n g e l :  Sprich Deutsch! (S. 198–222)

Dieser Aufsatz Engels, der übrigens ausnahmsweise ein Originalbeitrag ist (sonst druckten die Herausgeber nämlich mit Vorliebe ältere oder zur Buchveröffentlichung vorgesehene Texte Engels ab), beschäftigt sich mit Karl May eigentlich nur am Rande, hatte dennoch aber großen Einfluß. Engels "Sprachreinigungsthesen", die ein von Fremdwörtern weitgehend "gesäubertes" Deutsch fordern, wirken heute recht unangenehm nationalistisch. Zwar gebraucht Engel das Wort "deutsch" mit geradezu inflationärer Häufigkeit, doch so recht zu überzeugen vermag er nicht. Wichtig aber ist, was er über Karl May zu berichten weiß: "Karl Mays Deutsch nahm es von jeher an Reinheit mit dem unsrer berühmtesten Erzähler und Wissenschaftler auf; aber völlig rein war es nicht. Der gutdeutsch gesinnte Mann schrieb das Deutsch, das er von Jugend an zu hören und zu lesen bekommen hatte: die nur allzu wohl bekannte griechisch-lateinisch-französische Mengselsprache mit starken germanischen Einschlag, von mir "Welsch" genannt (...). Die Neuausgaben der Erzählungswerke Karl Mays erscheinen jetzt nach und nach in reindeutscher (!) Sprache. Damit erhält das Deutsche Leservolk nach und nach Dutzende von Deutschgeschriebenen Büchern. Ein kühnes Wagnis, dem schon jetzt der volle Erfolg beschieden ist" (S. 221). Erfolg, in der Tat: auch im Jahre 1983 erscheinen die Karl-May-Werke noch in der vom KMV (heute Bamberg) sorgfältig von Fremdwörtern gereinigten Fassung.

Das Thema "Fremdwörter bei Karl May" behandelt Claus Roxin in M-KMG 45, 1980, S. 3ff; er geht dabei auch auf die Rolle Engels in der Eindeutschungskampagne der Maybücher ein.

G u s t a v  U r b a n :  Zeitenfolge und Wahrheitsgehalt der amerikanischen Erzählungen (S. 411–422)

Gustav Urban widerspricht in seinem Aufsatz den Datierungen Kandolfs (vgl. Jahrbuch 1923) teilweise. 'Winnetou II' spielt nach seinen Angaben Anfang 1863, folglich müsse 'Winnetou I' im Herbst 1862 spielen (S. 412); für 'Satan und Ischariot' ermittelt Urban das Jahr 1868/1869 und nicht 1870 wie Kandolf (KMJB 1926, S. 415). Nun geht Urban aber ersichtlich von denselben Prämissen aus wie Kandolf und hat dessen Fehler, die Ilmer aufwies, gar nicht entdeckt. Hinzu


//106//

kommt, daß Urban mit seinen Neudatierungen die Amerikaerzählungen Mays in zeitliche Nähe der von ihm und seinem Vater behaupteten fiktiven Frühreisen Mays nach Amerika in den Jahren 1862/1863 und 1868/1869 zu verlegen sucht. Darüber hinaus sprachen sich die Herausgeber der Jahrbücher eindeutig für Kandolf aus: "Wir geben Urbans anregender Abhandlung Raum, obwohl wir und unsre näheren Mitarbeiter mit verschiedenen Erwägungen des Verfassers nicht übereinstimmen, sondern uns in der Hauptsache Kandolfs Folgerungen anschließen," heißt es in einer Fußnote auf S. 415 des KMJB 1926, und das hat der KMV ja auch ersichtlich getan. Freilich hätte man dabei bedenken sollen, daß die Datierung von Handlungszeiten nur aufgrund eindeutiger Texthinweise möglich ist (und nicht aufgrund von biographischen oder sonstigen Theorien). Das ganze Kapitel "Datierung" ist auch ein Bestandteil der "May-Legende" wie sie der KMV in den zwanziger Jahren noch webte.


Karl-May-Jahrbuch 1927

O t t o  E i c k e :  Karl May und der Sport (S. 38–48)

Wenn das Wort "Sport" auch bei Karl May nirgends direkt auftritt, so finden sich doch viele Arten sportlicher Betätigungen in seinen Büchern beschrieben. Eicke gibt in seinem Aufsatz einen guten Überblick über die Behandlung dieses Themas bei May. Erwähnt und mit Beispielen aus den Büchern belegt werden folgende Sportarten: Reiten (S. 40), Schießen (S. 41), Schwimmen (S. 41f), Fechten und Speerwerfen (S. 42f, für das Speerwerfen ist als Beleg eine Stelle aus 'Satan und Ischariot II' angeführt), Laufen (S. 43), Boxen und die Jagd (S. 44). Insgesamt urteilt Eicke mit Recht: "Alles in allem: die Menschen von heute, die mit Leib und Seele dem Sport ergeben sind, müssen sich unbedingt für die Helden der Reiseromane Karl Mays begeistern; denn diese Männer (Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi, Winnetou) sind echte, rechte (!) Sportgestalten" (S. 45). Ob die Faszination Mays sich freilich dadurch erklären läßt, daß in seinen Werken der Sport eine große (oder zumindest nicht unwichtige) Rolle spielt, ist mehr als fraglich ...

G u s t a v  U r b a n :  Nochmals der Henrystutzen (S. 49–55)

B e n n o  W a n d o l l e c k :   (S. 55–60)

Die beiden unter diesem Thema vereinigten Beiträge behandeln ein Thema, das zwar für die May-Leser von Interesse sein muß, aber wohl kaum, wenn es zu ballistischen Spezialaufsätzen genutzt wird, die ein Laie kaum verstehen und noch weniger mit Interesse lesen kann


//107//

(wie hier). Es geht um die Behauptung Mays im 'Winnetou I', S. 17, der Henrystutzen habe "eine Kugel, die sich excentrisch bewegt". Gustav Urban belegt in seiner Eigenschaft als Ingenieur sehr ausführlich mit zahlreichen Skizzen, daß "der 25schüssige Henrystutzen mit der exzentrischen Kugel nicht zu den Unmöglichkeiten gehört" (S. 55). Wandolleck polemisiert als Waffenexperte gegen die Ausführungen Urbans und meint: "May hat mit seiner exzentrischen Kugel wahrscheinlich etwas ganz anderes gemeint. Ihm ist vielleicht von irgendeiner Seite die Mitteilung geworden von den damals sich überstürzenden Erfindungen der Geschoßformen. Möglicherweise schwebte ihm nur das ogivele (= spitzbogenförmige) Geschoß vor, das man ja auch heutzutage, obgleich es mit einer Kugel nicht das geringste zu tun hat, im Gesprächston als Kugel bezeichnet" (S. 60). Vom Standpunkt des Laien aus beurteilt, scheinen Wandollecks kritische Widerlegungen der Urbanschen Konstruktion berechtigt.

W o l f g a n g  v o n  W e i s l :  Karl May im Orient (S. 113–114)

Der in Kairo als Berichterstatter des Ullstein-Hauses tätige Verfasser weist darauf hin, daß er im Gästebuch des früheren Hotels Unger (später Metropol) in Beirut Karl Mays eigenhändige Widmung gesehen habe. Fraglich ist allerdings, was den Lesern des Jahrbuchs damit bewiesen werden sollte, denn daß Karl May bei seiner großen Orientreise auch nach Jerusalem, Beirut und Damaskus gekommen ist, konnte doch schon damals kaum bezweifelt werden!

F r i t z  P r ü f e r :  Old Shatterhands Milde (S. 356–363)

Old Shatterhand ist nach Prüfers Ansicht mild, ohne schwach zu sein. Er konstatiert bei der May-Figur eine "dauernde Werthaltung", nämlich die Friedfertigkeit (S. 362). Aber diese Friedfertigkeit ist keine Schwäche: "In der Friedfertigkeit wird (...) Reibungsverlust vermieden. Die freigewordenen Kräfte kommen neuen Wertverwirklichungen zugute. In diesem Zustand wird niemand behindert, sittlich zu handeln" (S. 362). Daraus zieht Prüfer den Schluß: "Er (May) verlangt viel von seinem Leser, nämlich sich selbst zu besiegen. Wer das erlebt hat, der weiß, daß eine Milde, die aus dieser Haltung fließt, keine Schwäche ist. In dieser Milde liegt höchste Stärke, liegt geballte Kraft" (S. 363).

E r n s t  G ö r l i c h :  Der Herold der Völkerversöhnung (S. 363–369)

Görlich faßt in pathetischer Sprache die Friedensgedanken des May-


//108//

schen Spätwerks zusammen. Eine kleine Probe möge einen Eindruck von dem Text vermitteln: "Soll ich noch von dem herrlichen Werk 'Und Friede auf Erden' sprechen? Der Völkerbund der "Shen", dieser großen Brüderschaft des Geistes und der Liebe, verbindet auch die gelbe mongolische Rasse mit uns" (S. 366). "Und so sehr auch Karl May für die Völkerversöhnung eintritt und den hohen Eigenwert der fremden Völker anerkennt, so ist er trotzdem – oder gerade deshalb seinem  d e u t s c h e n  Volk ein treuer Sohn" (S. 368).

M a x  F i n k e :  Mittel der Darstellung (S. 370–381)

Finke geht in diesem aus seinem Nachlaß veröffentlichten Text auf Mays erzählerische Darstellungsmittel ein. Besonders erwähnt er den belehrenden Charakter vieler eingestreuter Bemerkungen, eine nicht lähmende, sondern belebende Detailfreudigkeit (S. 373) und 'die fremdsprachigen Wechselreden", die nach Finke "nur eine schwache innere Beziehung" haben und als "Reize, als Köder der Einbildungskraft" wirken (S. 373f). Dann geht er auf Mays Dialoge ein. "Ein Mittel, die Spannung des Zwiegesprächs zu erhöhen, wird von May meisterlich gehandhabt: das der Enttäuschung. Er hält seinen Gesprächsgegner, auf seinen Gedankengang scheinbar eingehend, lange Zeit auf falscher Fährte, um dann auf dem Höhepunkt der Erwartung jäh mit dem Gegenteil des Erwarteten herauszuplatzen" (S. 377). Als Beispiel für diese Technik führt Finke das Gespräch an, das der Ich-Erzähler der ersten sechs Bände in Amadijah mit dem Mutesselim und dem Makredsch führt ('Durchs wilde Kurdistan', Freiburg 1892, S. 281ff). Finkes Bemerkungen sind scharfsinnig und lohnen auch heute noch eine Lektüre; am Ende befindet er Mays Bücher, auch in Anlehnung ihres Stils und der Darstellungsmittel, ausdrücklich für "schulwürdig" (S. 381).


Karl-May-Jahrbuch 1928

A m a n d  v o n  O z o r o c z y :  Karl May und der Friede (S. 29–114)

Zweifellos handelt es sich hier um einen der besten Aufsätze der alten Jahrbücher überhaupt. Amand von Ozoroczy ist es gelungen, ein umfassendes Bild über die Gestaltung des Friedensgedankens bei May zu entwerfen, indem er von den 'Geographischen Predigten' bis zu den Spätwerken eine große und repräsentative Auswahl aus dem Werk Mays für seine Analysen heranzog; außerdem berücksichtigt der Verfasser die Ergebnisse der frühen May-Forschung, vor allem die wichtigsten Aufsätze der Jahrbücher ebenso wie die Auseinandersetzungen


//109//

um May in der zeitgenössischen Presse und das Wirken Bertha von Suttners. Vor allem aber ist Ozoroczy nicht wie manche andere Jahrbuchautoren der Versuchung erlegen, anstelle von Analysen und Interpretationen eine bloße Materialschau zu bieten. Darum ist es zu begrüßen, daß der gesamte Text, von Roland Schmid nach dem korrigierten Handexemplar des Verfassers neu durchgesehen und mit einer Vorbemerkung (ebenfalls von Roland Schmid), im Karl-May-Jahrbuch 1978 (Bamberg/Braunschweig 1978, S. 191–245) wiederabgedruckt worden ist. Damit erübrigen sich auch weitere Kommentare zum Text.

O t t o  E i c k e :  Wenn sie geschwiegen hätten (S. 115–125)

Dieser Aufsatz wird zusammen mit Eickes Arbeiten "Der verschüttete Quell" und "Der Bruch im Bau" (KMJB 1930) besprochen.

E d u a r d  E n g e l :  Unsinnliche Erzählkunst (S. 474–490)

Engel läßt sich im ersten Teil seines Aufsatzes lang und breit über angeblich "unsittliche" Literaturwerke aus, um dann gegen Ende Karl May als "sittenreinen" deutschen Schriftsteller zu preisen. "Und diesen Schriftsteller der Sittenreinheit, diesen Erzähler mit dem Verzicht auf die Sinnenlust und ihren Reiz für unzählige Leser, hat man einst – wir Älteren haben es alle miterlebt – als einen Sittenverderber verlästert! Unter den Tollheiten der Sittengeschichte des letzten Menschenalters war die eine der allertollsten" (S. 490). Engel liebt starke Kontraste: auf der einen Seite die "schmutzigen" französischen Romanciers, auf der anderen Seite der "sittenreine", deutsche Schriftsteller Karl May – man merkt die ideologische Absicht und ist verstimmt (wenn man die Folgen solcher Anschauungen, die von 1933–1945 überdeutlich wurden, bedenkt).


Karl-May-Jahrbuch 1929

H a n s  N a u m a n n :  Rückkehr zur Romantik (S. 222–226 )

Mit diesem Auszug aus dem Buch "Deutsche Dichtung der Gegenwart" des bekannten Germanisten legten die Herausgeber der Jahrbücher ein bedeutsames Zeugnis der Rezeptionsgeschichte Mayscher Werke vor: "In Karl Mays zahlreichen Orient- und Indianerromanen finden wir eben jene Mischung aus Realistik und Phantasie, Leidenschaft und Gefühl, christlicher Moral und fabelhafter Spannung, die in der jüngsten Dichtung so mächtig wieder zum Durchbruch gekommen ist, in noch viel stärkerer und, sagen wir ruhig, meisterhafterer Weise verwendet als bei Kretzer (gemeint ist der Romanschriftsteller Max Kretzer, bekannt geworden durch seinen sozial engagierten Roman "Meister Timpe" – 1882 –; Anm. v. C. Lorenz). Wir haben bei Karl


//110//

May in ungeläuterter Form, was bei Karl Spitteler in der reinen und lichten Höhe einer überzeitlichen Kunst erstrahlt: epische Erfindungskraft und Drang nach Tiefe der Weltanschauung" (S. 225). Die Einordnung Mays zwischen die Spätromantiker Kretzer und Spitteler mag am meisten bei der Einschätzung Naumanns verwundern.


Karl-May-Jahrbuch 1930

E r n s t  B l o c h :  Traumbasar (S. 59–64)

Dieser Text gehört zweifellos zu den bedeutendsten Zeugnissen der May-Rezeption zu Beginn unseres Jahrhunderts. Ursprünglich in der Frankfurter Zeitung am 31. März 1929 erschienen, wurde er im KMJB 1930 nachgedruckt. Der Text ist heute in Blochs Werken enthalten, unter dem Titel "Die Silberbüchse Winnetous" in "Erbschaft dieser Zeit", außerdem in dem Suhrkamp-Taschenbuch Materialien "Karl May", hrsg. von Helmut Schmiedt.

In knapper Form stellt Bloch die Vorzüge der Mayschen Phantasiewelt, besonders ihren Bezug zu der Welt des Traumes, heraus: "Fabelhaft gesund ist alles, eine kräftige Luft. Ein sehnsüchtiger Spießbürger, der selbst ein Junge war, durchstieß den sächsischen Muff seiner Zeit. Er kolportierte nicht die romantischen Ideale des Bürgertums (feine Leute, Salonglanz), auch nicht die Rittergeschichten aus dem Biedermeier. Sondern er kolportierte nochmals den Indianerroman aus der Zeit Coopers, der revolutionären Ideale, als die Wilden noch bessere Menschen waren. Die Flitter des Jahrmarkts kam hinzu, der echte Budenorient, wie er zur Kolportage gehört, damit sich die Freizügigkeit nicht in kruder Natur erschöpft, sondern färbt und in Traumschichten spiegelt. Fast alles ist nach außen gebrachter Traum der unterdrückten Kreatur, die großes Leben haben will" (S. 63). Bloch hat mit seiner Theorie von der "Traumliteratur" Karl Mays, die die unerfüllte Sehnsucht der Unterprivilegierten widerspiegelt (in diesem Sinne sieht Bloch auch Kolportage als "Traumerfüllungsliteratur" an), eine ganze Schule der literatursoziologischen Interpretation von Abenteuerliteratur begründet. Heute ist es besonders Blochs Schüler Gert Ueding, der in seinen Büchern und Aufsätzen über Karl May solche Aspekte behandelt (besonders in: Glanzvolles Elend. Frankfurt/Main 1973). Mit dem generell positiven Urteil über Karl May ist bei Bloch aber eine negative Einschätzung des Spätwerks verbunden, die zwanglos überleitet zu den jetzt zu besprechenden Theorien Otto Eickes vom "Bruch" in Mays Werk: "Die letzten Bücher sind also verloren, ungefähr vom "Reich des silbernen Löwen" an" (S. 64). "Erst in den späteren Büchern wurde Karl


//111//

May vereinsamter, wurde unjugendlicher und privat, die Naivität war hin und er symbolisierte" (S. 63). Mit solchen Auffassungen kann man sich freilich auch elegant um eine Interpretation des schwierigen Spätwerks "herumdrücken" ...

O t t o  E i c k e :  Der verschüttete Quell (S. 65–76)

O t t o  E i c k e :  Der Bruch im Bau (S. 77–126)

(dazu passim):

O t t o  E i c k e :  Wenn sie geschwiegen hätten (KMJB 1928, S. 115–125)

Mit dem Spätwerk Mays haben sich die Leser und Forscher lange Zeit schwer getan, und auch heute ist der Zugang zu ihm noch nicht eigentlich entdeckt worden. Besonders hartnäckig hielt sich jedoch in den zwanziger und dreißiger Jahren das Mißverständnis, Mays Spätwerk sei eigentlich nur aufgrund des Drucks der Kritiker und Gegner in dieser Form entstanden. Besonders Otto Eicke vertrat in den frühen dreißiger Jahren in mehreren Aufsätzen für die Jahrbücher die These, "wenn sie geschwiegen hätten", nämlich die Kritiker Mays, hätte sich dieser nicht in den Symbolismus "geflüchtet". Originalton Eicke: "Was wäre einem Menschen erspart geblieben und was wäre geschehen, wenn fremde Hand den Quell nicht verschüttet hätte, aus dem der große Fabulierer schöpfte? (...) Ihr wißt, was mein Märchen meint: Tragödie im Leben Karl Mays, die Tragödie des Versinkens im Symbolismus. Es war der Ausweg, den er in höchster Bedrängnis fand; denn er mußte ja weiterleben (...). Dazu aber war ihm der Weg ins freie Land verbaut. Blieb ihm nur der närrische Zickzacklauf, gewunden und immer wieder gewunden, in den Einöden der lebensfernen Symbole" (S. 66f). Eickes These hat etwas Bestechendes an sich: die unbequemen Spätwerke werden zu lebensfernen, symbolischen Verirrungen eines großen Phantasiekünstlers erklärt, den seine Gegner daran hindern, Jugendschriftsteller und "Romantiker" zu sein. Das konsequente Weiterschreiten im Werk Mays, die Höherentwicklung zu einer neuen Ausdrucksform, belastet lediglich durch die Übernahme von alten Motiven und Techniken des Reiseromans (weil diese ja so erfolgreich waren), wird von Eicke kurzerhand als "Bruch im Bau" bezeichnet. Eicke übersieht, daß sich auf der Orientreise Mays eine große Wandlung im Seelenleben des Dichters ereignet hat; was auf dieser Reise und speziell in Padang geschah, werden wir wohl nie ganz ergründen können. Sicher aber ist, daß der späte May aus einer anderen psychischen Befindlichkeit heraus schreibt als der "Dr. Karl May, alias Old Shatterhand, alias Kara Ben Nemsi". Daß das Jahrzehnt des "neuen" Schreibens zusammenfiel mit den schlimmsten Jahren im


//112//

Leben des Schriftstellers May, den größten Angriffen der Gegner, ist kein Zufall; Lebenskrise und Kämpfe gegen äußere Gegner gehören untrennbar zusammen. Dennoch kann man nicht davon sprechen, daß das Alterswerk in dieser Form unterblieben wäre, wenn May sich nicht gegen seine Feinde zur Wehr hätte setzen müssen. Im Gegenteil wäre manches Werk des Alters – wie 'Ardistan und Dschinnistan' – noch reifer und schöner ausgefallen, hätte May sich nicht von Prozeß zu Prozeß hetzen lassen. Eickes These vom "Bruch im Bau" beruht auf der Fiktion, ein Schriftsteller wie Karl May ändere sich nicht ohne starken Druck von außen, bleibe ewig Reiseschriftsteller, wenn er in Ruhe gelassen wird; es ist vielmehr so, daß May in der sich ihm förmlich aufdrängenden "bildlichen" Schreibweise  a u c h  eine Möglichkeit erblickte, mit seinen Gegnern in verschlüsselter Form Abrechnung zu halten.

Dies wäre zur grundsätzlichen Kritik an Eickes Ansatz zunächst festzuhalten. Eicke versucht nun in seinem Aufsatz "Der Bruch im Bau" durch mehr oder weniger scharfsinnige Überlegungen zu eruieren, wie May den "Silberlöwen"-Zyklus vollendet hätte, wenn er nicht – mit Eickes Worten – in die Symbolik "geflüchtet" wäre. Eicke will also May verbessern, seinen (von ihm nur vermuteten) ursprünglichen Plan gegen den Autor verteidigen. Dieses Vorhaben muß vermessen erscheinen angesichts der Ratlosigkeit der Exegeten vor dem genialen Werk der "Silberlöwen"-Fortsetzung in "symbolischer" Schreibweise; Eickes Vorgehen ist aber symptomatisch für eine Periode der May-Forschung, in der man May ständig durch eigenmächtige "Verbesserungen" vor möglichen Gegnern schützen zu müssen glaubte. Auf vielen Seiten sammelt Eicke die "Bausteine" (S. 80–94), aus denen sich seiner Meinung nach eine mögliche Fortsetzung des "Silberlöwen" nach Mays ursprünglichem, nicht symbolischen Plan erschließen ließe. Kern der Handlung ist für Eicke die Entlarvung der Schmugglerbande der Sillan, die er mit der Bande des "Schut" in den ersten sechs Orientbänden parallelisiert. Gewissenhaft führt er die wichtigsten Punkte der äußeren Handlung des "Silberlöwen I und II" (unter Einschluß des Kapitels "In Basra" des "Silberlöwen III") an. Im folgenden beschreibt Eicke in Umrissen das "Werk, wie es werden sollte", bzw. wie er vermutete, daß es werden sollte (S. 100–106). Der umfangreiche Text kann hier nur probenweise wiedergegeben werden: "Es wäre durchaus der Verlauf der nächsten Kapitel des III. Bandes so denkbar: Kara Ben Nemsi und der Hadschi dringen vor ins persische Bergland. Bei einem Kurdenstamm, mit dem sie irgendwie feindlich zusammenstoßen, treffen sie auf einen persischen Handelsmann, der sich als  A g h a  S i b i l ,  d e r  S c h w i e g e r v a t e r  d e s  B a g d a d e r


//113//

B i m b a s c h i ,  entpuppt" (S. 106). "Der IV. Band des "Silberlöwen" endlich sollte sich mit seiner Handlung nach allem, was wir hier ermittelt haben, um drei Hauptpersonen drehen: Ghulam el Multasim, Dschafar, und zwar Dschafar, vermutlich Prinz, und die Gul-i-Schiraz, die Schahzadeh Khanum Gul" (S. 111f). Natürlich endet das Ganze mit der Dingfestmachung der Verbrecher.

Insgesamt kann man vor Eickes spekulativen Fähigkeiten nur alle Hochachtung haben; geschickt greift er auch kleine Details der beiden ersten "Silberlöwen"-Bände (so spielt der Chandschar Dschafars, sein Dolch, der ihn als Verwandten des Schah ausweist, in Eickes Überlegungen eine große Rolle) auf. Wer sich für solche Theorien interessiert, mag den Aufsatz ganz lesen; für die Karl-May-Forschung ist er lediglich als Kuriosum interessant. Denn Eicke ist es anscheinend völlig entgangen, daß der "Silberlöwe I und II" schon in der Buchfassung eine ungeschickte Kompilation verschiedener Geschichten ist; der Bruch mit dem "Deutschen Hausschatz" und der damit verbundene Zwang Mays, sich für die Buchausgabe etwas ganz Gescheites einfallen zu lassen, haben das Buch als zwingende Handlungseinheit unwiederbringlich zerstört (und nicht etwa die Flucht in die Symbolik!): Wie Karl May aus dem alten Manuskript 'Der Löwe von Farsistan' (nun als Kapitel I im "Silberlöwen III") den Übergang fand zur Doppelbödigkeit der im Vorabdruck 'Am Tode' genannten ersten großen Parabel des "symbolischen" "Silberlöwen", ist – auch wenn May vielleicht besser die letzten beiden Bände ganz von ihren Vorgängern gelöst hätte – ein viel größeres Kunststück als Eickes noch so gescheite Spekulationen.

M a x  C a s e l l a :  Kunstschützentum bei Karl May (S. 193–221)

In dieser "ballistischen Plauderei" setzt sich Casella mit den Schießkunststücken bei May auseinander und beschreibt sie kritisch (mit Skizzen). Die wichtigsten Szenen, die erwähnt werden, sind: Bd. 21, S. 351ff (S. 206f), Bd. 10, S. 473, Bd. 10, S. 605 (beide S. 208), Bd. 2, S. 380 (S. 209f), Bd. 9, S. 228f (S. 210), Bd. 38, S. 429 (S. 211), usw. Der Aufsatz eignet sich vorwiegend als Lektüre für speziell an diesem Thema Interessierte, wobei die Fülle des von Casella herangezogenen Materials beeindruckender ist als Casellas Kommentierung.

B e n n o  W a n d o l l e c k :  Karl May und die Waffen (S. 222–230)

Wandolleck schreibt ausführlich über Geschichte und Bedeutung des Revolvers im Wilden Westen, erwähnt aber lediglich nebenbei, daß in


//114//

Mays Werk der Revolver eine eher nebensächliche Rolle spielt und auch in Mays Waffensammlung kaum vorkommt. Daher wäre die Frage zu stellen: warum ist der Aufsatz überhaupt in das Jahrbuch aufgenommen worden?

W i l h e l m  H e ß :  Die Glaubwürdigkeit der Erzählungen Karl Mays (S. 296–317)

Heß erzählt eine Fülle von Schülerstreichen, um zu beweisen: "in jedem gesunden Jungen steckt ein Stück Old Shatterhand (oder wenn man will: von Siegfried dem Drachentöter oder Dietrich von Bern)". So die Herausgeber in einer Fußnote auf S. 296. Da der gesamte Text aber ersichtlich mit Karl Mays Erzählungen kaum etwas zu tun hat, fragt man sich vergeblich, wie man ihm einen solchen Titel geben konnte. In Kürze: solche und ähnliche Aufsätze, die sich leider in die Jahrbücher etwas häufiger eingeschlichen haben, als das der Fall sein sollte, lohnen das Lesen nicht.


Karl-May-Jahrbuch 1931

O t t o  E i c k e :  Des Baues Vollendung (S. 307–381)

Im wesentlichen setzt Eicke hier seine Überlegungen aus dem KMJB 1930 fort. Allerdings ist er bei seinen Spekulationen deutlich vorsichtiger geworden. Eicke behandelt die Frage, in welcher Weise Karl May vielleicht den Abschluß seiner Orientromane gestaltet hätte. Ohne weiteres räumt er ein: "Gewiß hätte Karl May als Abschluß seiner Orientromane eine Gleichnisdichtung geschaffen. Schon deshalb, weil ihn die ständig wachsende Neigung, das Edelmenschentum, den Frieden, den Sieg des Christentums zu predigen, dazu zwang. Das wird der Nachdichtende, der Vollender des Baues zu beachten haben" (S. 316). Eicke setzt also voraus, daß sich jemand der Aufgabe widmen werde, die von May als Abschluß der Orientromane angekündigten Werke 'Am Jenseits', Teil 2, und 'Marah Durimeh' zu schreiben, und in der Tat hatte Franz Kandolf vom KMV den Auftrag dazu bekommen (vgl. Kandolfs "In Mekka", Bd. 50 der "Gesammelten Werke"). Wie aber sollte eine solche Fortsetzung aussehen? Eicke vermutete nicht zu Unrecht, daß die Gestalt Marah Durimehs im Mittelpunkt aller von May geplanten Fortsetzungen der Orientreihe stehen sollte. "Die abschließende Dichtung wird Aufschluß zu geben haben über 1. Marah Durimehs Lebensschicksale. 2. Marah Durimehs Lebenszweck. 3. Die Ursachen der Gefangenschaft Marah Durimehs in dem Kulluk der Dawuhdijebs, veranlaßt durch den Pascha von Suleimania. 4. Marah Durimehs Ende"(S. 319). Im folgenden entwickelt Eicke eine interessante Deutung der Gestalt des Mir von Dschinnistan: "Also: Schech el Be-


//115//

led [Schech el Beled] = Mir von Dschinnistan = Gott" (S. 328). "Also ist (...) darum Marah Durimeh als Schutzherrin des Mir von Dschinnistan eine Entgleisung. Sie bleibt auch für die Symbolik Karl Mays dem Mir von Dschinnistan (den wir als "Gott" erkannt haben) untergeordnet, so nahe sie ihm auch steht" (S. 331).

Mit der Feststellung dieser Probleme begnügt sich Eicke aber nicht; er beschäftigt sich im folgenden mit der Gestalt Halefs (S. 334–345) und den Orten, an denen der Abschluß der Orientromane spielen (S. 345–351). Daran schließt sich Eickes Skizze vom Gang der Handlung einer möglichen Fortsetzung der Orientromane an, wie er sie für möglich hält. In der von Eicke entworfenen Handlung spielt Ssali ben Aquil, der "Bekehrte" der Mahdi-Bände, eine Hauptrolle. Eicke hält es für notwendig, daß der in den 'Ardistan und Dschinnistan'-Bänden gegen Ende angedeutete Ritt nach Dschinnistan zu unterbleiben hat. "Die Ursache muß logischerweise in Halefs (Anima!) Unfähigkeit gefunden werden, die dünne, reine Höhenluft dieses Berglandes zu atmen. Eine Art Bergsteigerkrankheit hat ihn so befallen, daß Kara Ben Nemsi, der natürlich seinen Gefährten nicht im Stich lassen kann, sich gezwungen sieht, mit ihm so rasch wie möglich die Niederungen aufzusuchen" (S. 358)" In dieser Situation erfahren Halef und Kara Ben Nemsi von einem Aufstand unter den Bebbeh-Kurden. Ssali ben Aquil ist zurückgekehrt und predigt Frieden und Liebe, im Gegensatz zu den Ältesten des Stammes" (S. 359). Am Ende der geplanten Fortsetzung soll der Leser über das Leben und die Schicksale Marah Durimehs aufgeklärt werden (S. 378ff). Sie ist es auch, die letztlich Frieden schafft. Halef ist schon vorher gestorben (S. 371); nun stirbt auch Marah Durimeh für Frieden und Gerechtigkeit. "Marah Durimeh (...) stirbt in den Armen Kara Ben Nemsis. 'Ich sterbe gern. Ich durfte noch zuletzt dein Schutzengel sein (...). Dein Wort dringt zu vielen. Predige ihnen allen: Friede auf Erden! So wird Christi Lehre siegen, und die Menschheit wird vom Leid erlöst werden – endlich erlöst" (S. 381).

Es kann und soll hier nicht beurteilt werden, wie gerechtfertigt Eickes Überlegungen und Ideen sind. Aber es ist doch die Frage, wem damit gedient sei, daß Mays (völlig unklare) Pläne für eine Vollendung seiner "eigentlichen Werke" nun durch Spekulation erraten und ausgeführt werden sollen. Hinter solchen Vorhaben steckt derselbe Geist des Perfektionismus und der falschverstandenen "Imagepflege", der die Bearbeitung des Mayschen Werkes im Sinne der Bamberger (aber auch schon der Radebeuler Ausgabe) bewirkte. Mays Werk ist in seiner unvollendet und unvollkommenen Art – so will es jedenfalls mir scheinen – immer noch unendlich vollkommener und lebensfähiger als


//116//

eine noch so gekonnte "Fortsetzung im Sinne des Meisters". So ist es denn auch kein Zufall, daß weder Franz Kandolfs Fortsetzung der Orientromane noch seine Pläne zu "Winnetous Testament" jemals bis zur Druckreife gelangt sind.

J o s e p h  H ö c k :  Sonderlinge (S. 441–444)

In seiner kurzen Studie bezeichnet Höck die Gestalten des Mayschen Werks und ihren Schöpfer als faszinierende Sonderlinge: "So ist der Westen, und so hat ihn Karl May geschildert. Sonderlinge im besten Sinne sind sie alle, die durch Prärien und Canons streifen, und als solche hat sie Karl May, der Sonderling, gezeichnet (...). Liebe Vertraute sind sie uns, wenn wir sie sehen in großer nächtlicher Heerschau im Tal des Metsurflusses, am Grabe Winnetous, des Häuptlings der Apatschen" (S. 444).


Karl-May-Jahrbuch 1932

J o s e f  F a n t a :  Die Waffen in den Romanen Karl Mays (in: Geächtet oder geachtet? 32 Tschechen äußern sich über Karl May) (S. 326-341)

Dies ist zweifellos der sachlichste und nüchternste Beitrag über die Waffen Karl Mays, der in den Jahrbüchern abgedruckt wurde. Fanta, Sachverständiger des Prager Militärmuseums, ließ sich von der "May-Legende" nicht beeinflussen; eher ungerührt konstatierte er am Ende mit Bezug auf die Mayschen Waffen: "Die Wahrheit ist nie so herrlich und schön wie die Einbildung ..." (S. 341). Was hatte Fanta herausgefunden? Erstaunliches in der Tat: bei dem "Bärentöter" handelte es sich um einen Doppelläufer. "Und doch sind Doppelläufer für Kugelgewehre nicht nur in Nordamerika, sondern auch bei den Arabern völlig unbekannt" (S. 327). Also handelt es sich mit anderen Worten bei dem Mayschen Bärentöter keinesfalls um die Wunderwaffe der Reiseerzählungen und auch nicht um ein amerikanisches Gewehr. Mays Henrystutzen hat auch nicht 25, sondern nur 17 Schüsse, was Fanta ebenfalls relativ ungerührt konstatiert (S. 331). Aber Fanta entdeckte noch anderes, Dinge, die auch Wandolleck offenbar nicht bemerkt hatte, die aber einwandfrei auf einen europäischen, ja deutschen Ursprung der Silberbüchse und des Bärentöters hindeuteten: "Sowohl bei diesem Gewehr (dem Bärentöter, Anm. v. C. Lorenz) als auch bei der Silberbüchse ist ein Harfenbügel auffallend, der die Abzüge schützen soll. Auf diesen Umstand hat bisher niemand aufmerksam gemacht. Diese Bügel wurden ganz sicher erst in Deutschland angebracht, denn hier sind sie bei Scheibengewehren sehr beliebt, während sie in an-


//117//

deren Ländern überhaupt nicht vorkommen" (S. 338f). Bei der "mexikanischen" Silberbüchse entdeckte Fanta Ähnlichkeiten mit belgischen Gewehren: "(...) vor Jahren sah ich in einem Buch Bilder ähnlicher alter belgischer Vorderlader. Die Form des Kolbens war ganz wie bei Winnetous Silberbüchse" (S. 339). Auch Fanta zog freilich aus diesen interessanten Beobachtungen letztlich nicht den Schluß, daß die Waffen gar nicht ausländischen Ursprungs waren, sondern in Deutschland nach ausländischen Vorbildern angefertigt wurden. Aber immerhin ist es erstaunlich, daß er, von der "Karl-May-Legende" unbelastet, Dinge sah und beschrieb, die dem zweifellos versierten Waffenexperten Wandolleck nicht aufgefallen waren. Bliebe noch die Frage, warum Fantas Ergebnisse nicht von den Herausgebern kritisiert wurden.(vgl. auch: Klaus Hoffmann im Jb-KMG 1974.)

O t t o  E i c k e :  Des Baues Krönung (S. 384–439)

In ähnlicher Weise wie in seinem Aufsatz im KMJB 1931 versucht Eicke hier, den Abschluß der Nordamerika-Romane Karl Mays zu konstruieren. Wieder beginnt er mit einer "Bestandsaufnahme" der in Mays Werken vorliegenden "Bausteine": "Wir wissen, daß der Schlußband (Karl May hätte vielleicht noch mehrere Bände aus dem Stoff, der ihm vorschwebte, geformt) den Titel tragen sollte: 'Winnetous Testament'" (S. 394). Eicke befaßt sich im Anschluß daran mit den (spärlichen) Angaben, die sich in Klara Mays Aufsatz über 'Winnetous Testament' (KMJB 1920) finden und verwerten lassen (S. 395–397). Der Verfasser beschäftigt sich ferner mit wichtigen Personen der Winnetou-Tetralogie: Old Surehand, To-kei-chun, Tangua und Pida; Eicke interessiert besonders, in welcher Weise sich diese Personen in dem geplanten Abschlußband "entwickeln" sollten. Hier sei nur sein Urteil über Pida wiedergegeben: "Pida (...) ist (...) noch einer Höherentwicklung fähig, zumal er ja vor allem ganz gewiß ein Mitglied des Clan Winnetou wird. In diesem Sinne wird im Schlußband von dem jungen Kiowa-Häuptling noch zu handeln sein" (S. 420). Für Eickes Untersuchung war noch die Frage wichtig, wie das Testament in dem Abschlußband gestaltet werden sollte. Sollte sich der ganze Band nur mit dem Testament beschäftigen, wie May es wohl beabsichtigte? Eicke war dies zu theoretisch; ihm schwebte anderes vor: "(...). Unsere Bausteine führen (...) eine recht deutliche Sprache. Sie zeigen, daß es uns unmöglich ist, das Testament so zu formen, wie es Karl May vielleicht geformt hätte, als Band für sich nämlich, nur als Testament. Wir müssen eine Rahmenerzählung daraus machen. Als Vorbild bei Karl May kann uns dazu etwa "Das Tagebuch des Verschollenen" dienen, wie es in Band 46 der Gesammelten Werke 'Die Juwelen-


//118//

insel [Juweleninsel]' eingeflochten ist. Wir haben nun einmal noch allzuviel abzurunden, und außerdem ist im Vergleich zu den anderen Gleichnisdichtungen, namentlich zu 'Winnetous Erben', ein Schlußband mit lebendiger Handlung notwendig (...)"(S. 420f). Der Hinweis auf die "Juweleninsel"-Bearbeitung des KMV ist deutlich; Eicke ging es im Grunde genommen also gar nicht darum, die Absichten Karl Mays – soweit sie sich erkennen lassen – möglichst getreu zu verwirklichen. Im Gegenteil war man dort, wo es notwendig erschien, nur allzurasch zu Retuschen und Eigenmächtigkeiten bereit. So ist beispielsweise das angeführte "Tagebuch des Verschollenen" überhaupt nicht von Karl May, sondern stammt aus der Feder des Bearbeiters. Man kann diesen Aspekt bei Eickes Aufsätzen nicht ganz außer acht lassen, denn im Grunde genommen wird hier der Versuch unternommen, Karl Mays Lebenswerk durch die "Krönung" und "Kuppel des Baues" ganz leise und posthum zu verbessern und korrigieren. Da der Schluß von Eickes Ausführungen aus Platzgründen dem KMJB 1933 vorbehalten blieb, folgenden [folgen] dort weitere Bemerkungen und Kritikpunkte.


Karl-May-Jahrbuch 1933

F r i t z  M a s c h k e :  Die Handlungszeit des "Winnetou". Mit kritischen Fußnoten von Fritz Jäger (S. 151–190)

Maschke legt hier wieder einen Beitrag zur Erforschung der Handlungszeit in den May-Erzählungen vor. Er orientiert sich weitgehend an den von Kandolfs Thesen leicht abweichenden Datierungen Urbans im KMJB 1926 ("Zeitenfolge und Wahrheitsgehalt der amerikanischen Erzählungen"), wobei er auch die von Urban behauptete Frühreise Mays nach Amerika im Jahre 1962 als sicher annimmt (S. 151). Im Grunde genommen fügt er also den Thesen Kandolfs und Urbans nichts Wesentliches hinzu und geht von denselben (problematischen) Prämissen aus wie diese. Was Maschke neu geleistet hat, ist eine genaue Aufschlüsselung der "Winnetou"-Handlung nach Monaten, die natürlich recht anfechtbar ist. Darum hat der KMV dem Aufsatz auch 40 Fußnoten von Fritz Jäger beigegeben, in denen die Datierungen Maschkes z. T. korrigiert oder widerlegt werden. Das beweist, um was für eine fragwürdige Angelegenheit es sich hier handelt. Dennoch sei hier der Vollständigkeit halber Maschkes Datentabelle angeführt:

"November 1862 bis Mai 1863: Winnetou I, Kap. 1 (Von der Heimat nach St. Louis). Mai 1863 bis Dezember 1863: Winnetou I, Kap. 2–6 (Bei den Apatschen). Januar 1864 bis Februar 1864: Winnetou II, Kap. 1 bis S. 11 (Wieder in St. Louis). März 1864 bis Mai 1865: Winnetou II, Kap. 1, S. 11 (Detektiv bei Tailor). Mai 1865 bis August 1865: Winnetou II, Kap. 1, ab S. 12 bis Kap. 4 ('Der Scout'). August 1865


//119//

bis November 1865: Winnetou II, Kap. 5, S. 393 (Mit Harton in der Sonora) November 1865 bis Februar 1866: Winnetou II, Kap. 5, S. 393 (Mit Emery Bothwell). Februar 1866 bis November 1866: Winnetou II, Kap. 5, S. 393 bis S. 397 (Von den Ogellallahs nach St. Louis). – Siehe auch Winnetou III, S. 40. November 1866 bis Mai 1867: Winnetou II, Kap. 5, S. 397, bzw. 'Orangen und Datteln' S. 1–154: 'Die Gum'. Juni 1867: Winnetou II, Kap. 2 ('Die Kukluxer'). März 1869 bis Oktober 1869: Winnetou III, Kap. 1–4 ('Deadly dust'). Mai 1873 bis November 1873: Winnetou II, Kap. 5, ab S. 397 bis Kap. 7 ('Old Firehand'). Juni 1874 bis August 1872: Winnetou II, Kap. 5 bis S. 357 (In den Wäldern des Missouris). August 1874 bis September 1874: Winnetou III, Kap. 5 ab S. 357 bis Kap. 7 (Winnetous Tod) September 1874 bis November 1874: Winnetou III, Kap. 8 ('Winnetous Testament')" (S. 187f)

Der Kardinalfehler aller dieser Datierungen liegt darin, daß Maschke, Kandolf und Urban im Grunde genommen auf der Gleichsetzung des "Ich"-Erzählers mit Karl May bestanden. Urban und Maschke setzten darüber hinaus noch eine "Frühreise" Mays voraus, mußten somit den Beginn der Winnetou-Handlung auf Ende 1862 datieren, und kamen prompt in Schwierigkeiten. Maschke, der schön chronologisch verfährt, entdeckt spätestens beim Kap. 2 des 'Winnetou II' einen Widerspruch zu seinem System, denn nach seiner Chronologie müßte das Kapitel auf den Sommer 1865 datiert werden, kann aber nach Maschke frühestens im Juni 1867 spielen, denn der Ku-Klux-Klan entstand erst 1867 (S. 167). Da man in solchen Fällen dazu neigte, kurzerhand den Text Mays zu "verbessern", empfiehlt Maschke, das Kap. 2 hinter das Kap. 5 zu schieben (S. 186). Das ging dann selbst dem KMV zu weit, und er ließ Jäger kurzerhand beweisen, daß der Ku-Klux-Klan schon weit früher vorhanden gewesen sei (S. 169), womit die Umstellung entfallen würde. Merkwürdigerweise kam niemand, weder Maschke noch Jäger noch der KMV, auf die naheliegende Idee, daß Karl May, der bekanntlich die Erzählung 'Der Scout' vor dem 'Winnetou I' verfaßt hatte, gar nicht nach einem bestimmten Zeitplan schrieb und daß die Datierungen sich folglich nicht an einem starren System, sondern ausschließlich nach den Angaben im Text selbst, richten dürfen. Da die "Frühreisen"-Theorie inzwischen unhaltbar geworden ist, wird ohnehin der November 1862 als Beginn der 'Winnetou I'-Handlung fraglich. Fazit: alle Datierungen, die damals angestellt wurden, tun dem Werk Mays mehr oder weniger Gewalt an.

O t t o  E i c k e :  Des Baues Kuppel (S. 205–261)

Eicke setzt seine Überlegungen aus KMJB 1932 fort, indem er nun konkrete Hinweise auf den Gang der Handlung im geplanten Band 'Winnetous Testament' gibt. "Nehmen wir darum einmal an, Karl May/Old Shatterhand ist, das endlich gefundene Testament seines roten Bruders im Reisekoffer oder in der Tasche, mit dem Herzle in die deutsche Heimat zurückgekehrt. Dort hat er einen Winter dazu benützt, sich lie-


//120//

bevoll [liebevoll] in die geistige Hinterlassenschaft seines Winnetou zu versenken und das Manuskript druckfertig zu machen" (S. 209). Aber bald holt ihn die Vergangenheit ein: auf einer erneuten Reise in die USA, wo er sich mit Tatellah-Satah beraten will, begegnet ihm ein Fremder, der zu einer Bande gehört, die den geheimnisvollen "Schatz der Königsgräber" erbeuten will, "den jener alte Tatellah-Satah in der halb verschütteten Höhle am Mount Winnetou hütet" (S. 213).

Natürlich will Old Shatterhand, der offenbar von dem Fremden (Swift heißt er) verwechselt wurde, die Pläne der Verbrecher durchkreuzen. Dabei begegnet er am Nugget-Tsil dem alten Sam Hawkens und liest ihm aus Winnetous Testament vor: "Hier wird nun die große, gewaltige Anklage des roten Mannes gegen den weißen einsetzen, eines der wuchtigsten Kapitel im ganzen Testament" (S. 231). "Winnetou zeigt nun, wie aus den Ereignissen, die er bisher geschildert hat, den Bruderkämpfen der Indianer untereinander und den Kämpfen der Roten gegen die Weißen, klar hervorgehe, daß durch Krieg und Haß der Mensch nicht vorwärtskomme, sondern nur Leid und Jammer über sich bringe" (S. 237). Das Testament schließt mit dem Weltfriedensgedanken: "Ewige Versöhnung allen Völkern und Rassen dieser Erde in der starken Beharrung auf gesunder Eigenart!" (S. 253). Eicke läßt Old Shatterhand im folgenden mit seinen alten Freunden zusammentreffen: Tatellah-Satah, Old Surehand, Apanatschka, Aschta, usw. (S. 257). Die Verbrecher sollen in eine echte Shatterhand-Falle gelockt werden: "Old Shatterhands Vorschlag, die Verbrecher in der Höhle einzuschließen, wird gebilligt, und zwar in einem Teil der Höhle, in dem gar keine Schätze liegen" (S. 258). Doch Harry, der Sohn Old Firehands, vereitelt diesen Plan, indem er die Verbrecher in die Luft sprengt und selbst zu Tode kommt (S. 260). Nach einem letzten Besuch bei dem sterbenden Sam Hawkens, dem er die Augen zudrücken kann, verläßt Old Shatterhand Amerika für immer (S. 261).

Betrachtet man Eickes Ausführungen zu 'Winnetous Testament' insgesamt, so fällt auf, daß die abenteuerlichen Elemente (die "Rahmenerzählung") bei weitem wichtiger zu sein scheinen als das eigentliche Testament, das im übrigen in Eickes Formung weniger "gleichnishaft" als pathetisch-programmatisch ist. Im Grunde genommen geht Eicke damit deutlich hinter das Maysche Spätwerk zurück, wie überhaupt sein Versuch, den "Bruch im Bau" zu kitten und den "Bau" zu vollenden, allzu eigenmächtig ausgefallen ist. Der Grundirrtum Eickes und der anderen May-Bearbeiter war der, daß sie glaubten, May verbessern zu können und zu müssen, um ihn vor Angriffen zu


//121//

schützen; dabei ist das Werk gerade in seiner unvollendeten Gestalt Verteidigung und Beweis genug. Es sei noch nachgetragen, daß der geplante letzte Teil der Eickeschen Aufsatzreihe, "Ausklang" (vgl. S. 205), genausowenig erscheinen konnte wie das KMJB 1934, für das er vorgesehen war. Sozusagen als Ersatz hat Otto Eicke dann 1938 für den KMV eine Bearbeitung von 'Und Friede auf Erden' vorgelegt, die als "NS-Fassung" des Bandes 30 in die Geschichte eingegangen ist. Nicht daß sie direkt nazistisch wäre, aber vieles im damaligen Sinne "Anstößige" ist bereinigt bzw. gestrichen worden; sieht so die "Vollendung des Baues" aus? (Zur Eicke-Fassung von Band 30 vgl. Ekkehard Bartsch in Jb-KMG 1972/73, S. 113f.)

L u d w i g  G u r l i t t :  Karl Mays Volkstümlichkeit (S. 352–360)

Gurlitt stellt in diesem nachgelassenen Text fest, daß Karl Mays Werk immer noch lebendig sei und ohne weiteres als "volkstümlich" bezeichnet werden müsse, macht allerdings kleine Einschränkungen: "Es entsteht die weitere Frage, ob diese Volkstümlichkeit noch lange Bestand haben wird oder nicht, und ob neuere Schriftsteller, die naturgemäß die geistigen Bedürfnisse einer neuen Zeit kennen und ihr besser dienen können, sein Ansehen in Schatten stellen werden. Prophetie ist meine Sache nicht" (S. 359f). Wir wissen, daß Karl Mays Ruhm und Beliebtheit auch 1983 noch unverblaßt ist ...


Die alten Jahrbücher

Übersicht Sekundärliteratur

Titelseite Karl-May-Gesellschaft

Impressum Datenschutz