Die Fred · Sommer · Story

Untersuchungen über eine angebliche
Frühreise Karl Mays in die USA
von Dr. Werner Poppe


Sonderheft der Karl · May · Gesellschaft 1975


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[Digitale Fotokopie von Sonderheft 2]

Inhaltsverzeichnis

I. Fred Sommer als Zeuge für einen frühen Aufenthalt Karl Mays in den USA
1. Auskunftsperson Karl May
2. Dipl.-Ing. Gustav Urbans Beweise der Frühreise
a) in einem ersten Aufsatz
b) Ergänzung dieses Berichts
c) Jahrzehnte später
3. Das Kernstück der Beweisführung
a) Inhalt des Briefes
b) Vorgeschichte der Veröffentlichung
c) Zwei ergänzende Mitteilungen von Ozoroczys

II. Erste Bedenken
1. Das Jahr 1862
2. Mays eigenes Verhalten
3. Klara May
4. Plauls Ermittlungen
5. Der zeitliche Ablauf
6. Mays Erlebnisse in den USA
7. Die Vorgeschichte des Fred Sommer-Briefes
8. von Ozoroczys Ergänzungen
9. Schlußbemerkungen zu II

III. Die Wanderung durch die Schweiz und Südfrankreich

IV. Der Fred Sommer-Brief

1. Sein Datum
2. Colonel Sheridan
3. Captain of Cavelry
4. Sohn Will Sommer (Summer)
5. Pea Ridge
6. Büchsenmacher Henry und der Repeater
7. Das Companie-Lager in St. Louis
8. J.G. Urban in St. Louis
9. Der Mississippi im Oktober 1863
10. Der Grand Canyon

V. Schlußfolgerungen
1. Der Fred Sommer-Brief
2. May war nicht der Wandergefährte
3. Der Aufbau der Legende

VI. Anmerkungen


Titelbild: Karl May als Old Shatterhand 1896

Diese Fotografie war als Frontispiz in "Karl May's gesammelte Reiseerzählungen" Band XIX - "Old Surehand, 3. Band" - Freiburg o.J. (1896) enthalten. Vermutlich ab 1905 (31.-35. Tsd.) ohne Bild und ohne den Titelvermerk "Mit einem Portrait Old Shatterhands" ausgegeben. - Siehe hierzu auch Klaus Hoffmann, Silberbüchse - Bärentöter - Henrystutzen, JbKMG 1974, Ss 84, 100.


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Werner Poppe, Celle

DIE FRED · SOMMER · STORY

Untersuchungen über eine angebliche
Frühreise Karl Mays in die U SA



I. Fred Sommer als Zeuge für einen frühen Aufenthalt Karl Mays in den USA

Wer heute "Karl May" liest, weiß, daß seine in der Ich-Form geschriebenen "Reiseerzählungen" keine Berichte über wirkliche Erlebnisse des Verfassers enthalten, sondern daß der Schriftsteller die geschilderten Ereignisse erfunden hat. Das ergibt sich schon daraus, daß May in den Jahren, in denen die meisten Erzählungen spielen, sich nicht in Freiheit befunden, sondern seine Strafen zu verbüßen hatte. Allerdings verbleiben kürzere Zeiträume, in denen der Schriftsteller außer Landes gewesen sein könnte, und die Legende, daß dem so war, wird von manchem Leser und May-Freund aus Anhänglichkeit gern geglaubt. Es handelt sich dabei vor allem um eine Reise, die May um 1862/1863 für Monate oder sogar für ein Jahr in die USA geführt haben soll.

Über die Möglichkeit dieser Frühreise sind in letzter Zeit von mehreren May-Forschern Überlegungen angestellt worden, auf die im Verlauf meiner Ausführungen einzugehen sein wird. Eine endgültige Klärung ist bislang nicht erreicht worden. Ich möchte im folgenden einen Überblick über den Stand der Untersuchungen geben und das beitragen, was ich zusätzlich ermittelt habe. Der Leser mag dann entscheiden, ob die Frage damit einer Lösung zugeführt worden ist.

Da verschiedene Quellen, die auf diese Frühreise hindeuten, dem Leser nicht zugänglich sein werden, halte ich es für zweckmäßig, eine gedrängte Zusammenstellung derselben zu geben, zumal die erforderliche Kritik nur dann verständlich ist.

1. Auskunftsperson ist zunächst May selbst. Dr. E.A. Schmid, dem späteren Leiter des KMV, gegenüber hat er mehrfach betont, er sei zuerst im Alter von 20 Jahren nach Amerika hinübergekommen. Das müsse um die Zeit 1862 - 1863 gewesen sein. Nach seiner ausdrücklichen und wiederholten Erklärung handelte es sich um eine fast einjährige Reise durch Nordamerika, die ihn auch ins Indianer-Territorium, ins Felsengebirge und in den Nationalpark geführt habe. Er sei damals als ganz armer Teufel über See gegangen, habe sich sogar zeitweise als Kohlentrimmer auf einem Dampfer verdingt. Drüben sei er anfangs Hauslehrer gewesen, später bei Eisenbahnvermessungsarbeiten beschäftigt worden (1). In einem Gespräch mit Barthel heißt es: "Unter mancherlei Schwierigkeiten kreuzte ich auch den Atlantik und gelangte drüben in die 'dark and bloody grounds'!" (2)

Als May im Jahre 1881 seine "Reise-Erinnerungen aus dem Türkenreich" schrieb, erklärte Kara Ben Nemsi, mit dem sich May zu dieser Zeit schon identifizierte, dem Pascha von Mossul gegenüber sogar, er sei schon mit 18 Jahren über die See nach Amerika gefahren (3).


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2. Nach Mays Tode erstand ihm in dem Wiener Dipl.-Ingenieur Gustav Urban ein Freund, der sich mit Nachdruck dem Beweise dieser Frühreise widmete.

a) In einem ersten Aufsatz (4) nannte Urban seinen Vater Carl Urban als die Quelle seiner Erkenntnisse. Urbans Vater, von Beruf Tischler, hatte danach als Handwerksbursche eine Wanderung mit zwei Reisegefährten gemacht, von denen er, nachdem er von seinem Sohn Näheres über Karl May gehört hatte, in dem einen unseren Schriftsteller zu erkennen glaubte.

Der Bericht ist nachstehend auszugsweise wiedergegeben:

"... Erst als ich ihn (meinen Vater) vor etwa 16 Jahren auf die Reiseerzählungen Karl Mays aufmerksam machte, erklärte er, daß es dieser Schriftsteller gewesen sein müsse, der damals in der Schweiz und Frankreich mit ihm reiste. Die Beschreibung und die Bilder Mays, die ich ihm dann zeigte, bestätigten die Richtigkeit seiner Annahme ..."

Als die May-Hetze begann, befand sich Urban beruflich in Schlesien, dann hielt ihn der 1. Weltkrieg von der Heimat fern, so daß er erst 1919 wieder Gelegenheit hatte, den damals 75-jährigen Vater über nähere Einzelheiten der gemeinsamen Wanderschaft zu befragen.

"Zuerst lernte mein Vater May in einem deutschen Heim in Zürich kennen," so liest man bei Urban, "wo dieser Vorträge über Reiseeindrücke aus Amerika, sowie über Themen wie Erde, Weltall und Sterne (also wahrscheinlich die 'Geographischen Predigten') hielt. .. " Über den weiteren Verlauf der Reise erfahren wir folgendes: "Von Zürich aus reisten die 3 Genannten über Luzern und Lausanne nach Genf, von da nach Lyon. In Lausanne sowie in Dyon lieferte May Aufsätze über Eindrücke seiner Schweizer Reise und andere Beiträge für jene Zeitschriften, bei denen der Schriftsteller Stellung fand. Im allgemeinen jedoch war die Kasse der drei Landsleute stets Ebbe, so daß die Reise fast durchweg zu Fuß gemacht wurde. May besaß außer einem Heimatschein keinen Reiseausweis und bemühte sich trotz Anratens seiner Begleiter nicht, einen Paß zu erlangen. ... Er erzählte viel über Land und Deute der Vereinigten Staaten von Amerika (U.S.A.), wobei er stets die unterdrückten Indianer und Neger als unrichtig beschrieben mit warmen Worten in Schutz nahm. Und da mein Vater einige Vettern in St. Louis hatte, so erinnerte er sich noch genau, daß May erzählte, einige Zeit in St. Louis geweilt zu haben, von wo aus er einen Bahnbau in den Westen hinein mitmachte, (N.B. Mein Vater hatte n i e 'Winnetou' gelesen, noch davon gehört!)."

Urban berichtete sodann über ein Erlebnis der Wandergesellen in Frankreich, welches mich wegen seiner Besonderheiten zu Ermittlungen an Ort und Stelle ermunterte:

"Sowohl May als mein Vater waren große Obstfreunde und konnten nicht umhin, unterwegs sich in den Burgunder Weingärten gütlich zu tun. Eines Tages kamen sie hierbei mit Einheimischen in Konflikt, bei dem sich die 3 Deutschen erfolgreich gegen die Franzosen wehrten, die sogar trotz ihrer Übermacht die Flucht ergriffen. Da rückte die Ortspolizei heran Jetzt erst suchten die 3 Reisegenossen das Weite. Die Polizei schickte ihnen 2 große Hunde nach, von


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denen der eine sie erreichte; May warf sich diesem entgegen und drückte ihn fest an sich, die Hinterfüße der Bestie zwischen den Beinen, so daß mein Vater ihr bequem die Gurgel durchschneiden konnte - der zweite Hund kehrte hierauf um, und den Franzosen gelang es nicht, sie einzuholen."

Eine für unsere Untersuchung bedeutsame Bemerkung Urbane lautete so: "Mein Vater beabsichtigte ursprünglich, bis an das Meer zu reisen. Da er jedoch gar nicht französisch sprach, ging die Reise nur bis Vienne a.d. Rhone und wandte sich sodann nach Chambery, wo er sich etwas länger aufhielt, während May angab, nach Marseille zu wandern. Seither hatte mein Vater nichts mehr von ihm gehört." (Unterstreichung durch den Verfasser).

Als Beweis für die Identität des Reisegefährten mit May erwähnte Urban noch: "Leider hatte May, entgegen dem Wunsche seiner Gefährten, es gemieden, sich photographieren zu lassen, und mein Vater ließ sich erst das nächste Jahr, als er wieder in Lausanne weilte, abnehmen; das Bild das ich heute noch besitze - weist Mays Namen auf - anscheinend hatte er sich damals an May wieder erinnert, denn hinten steht geschrieben: Karl May aus Wüstenbrand - entweder hatte May diesen Ort als Geburtsort angegeben - oder mein Vater erinnerte sich daran besser, da er ja aus 'Wüstfalke' stammte."

Hervorzuheben ist bei diesem Bericht, daß Urban dem Karl May-Verlag das Wanderbuch des Vaters aus den Jahren 1863 - 1865 vorgelegt hatte, so daß die Wanderung Carl Urbans als sicher belegt angesehen und weiter davon ausgegangen werden muß, daß die Herausgeber des Jahrbuchs die Angaben anhand des Tagebuchs überprüft haben, soweit Reiseweg und Zeitpunkte in Rede stehen.

Eine Ergänzung dieses Berichts lieferte Urban einige Jahre später (5). Zunächst hob er zwei Beweise für den Aufenthalt Mays in den USA hervor:

"1. Mein Vater hatte in Missouri Vettern namens Josef, Gottlieb und Traugott Urban. Da er seit 1862 keine Nachricht von diesen erhielt, bat er Karl May, ob dieser, da er erst aus Amerika zurückgekehrt war, ihm nicht bei der Ausspürung seiner Verwandten behilflich sein könne May erklärte, daß er in St. Louis einen ehemaligen deutschen Förster namens Fred Summer, der sein Lehrer in allen Westmannskünsten wurde, kennen gelernt habe, und gab ihm seine Anschrift (NB. Diese Anschrift fand ich erst 1923 in einem alten Wörterbuch). Sie lautete: 'Fred Summer, St. Louis, 124 Chesinutstreet. Fur trading comp.' Mein Vater wandte sich an diesen, und Mr. Summer machte tatsächlich meine Oheims in St. Louis, Nearstreet (die heute nicht mehr besteht!),ausfindig, so daß Vater im Jahre 1865 wieder Nachricht erhielt.

2. May trug damals (1864) zwei Revolver, von denen der eine nach Angabe meines Vaters schon Patronen mit Randfeuerung besaß, die man damals in Europa noch nicht kannte; ... Auch trug May ein Hemd aus Hirschkaltleder und ein Jagdmesser, welche Reiseerinnerungen, wie mein Vater sich überzeugte, amerikanischen Ursprungs waren."

Über Mays Erlebnisse, die nach Urbans Ansicht die Beweis-


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stücke [Beweisstücke] für die wahren Grundlagen der ersten Erzählungen des Schriftstellers waren, erfuhr Urban vom Vater genauere Einzelheiten:

"Nachdem er sich einige Zeit in den Oststaaten als Berichterstatter von Zeitungen und als Privatdetektiv sein Brot verdiente, kam er nach St. Louis zu einer deutschen Familie, wo er als Hauslehrer wirkte. Hier lernte er einen ehemaligen deutschen Förster, der aus Deutschland fliehen mußte und sich Fred Summer nannte, kennen. Dieser bewog ihn, die Stelle eines Geometers beim Bahnbau anzunehmen. Anfang des Winters mußte May zwecks Einschulung zur Streckenleitung einer einige Meilen westlich von St. Louis im Bau befindlichen Bahn, wohin ihn Summer, ... begleitete. Eines Abends erschienen zwei unbewaffnete Indianer vor dem Oberingenieur und baten ihn, den Bahnbau nicht weiter zu führen, da sie keinesfalls die Zustimmung hierzu geben würden. Der Oberingenieur versprach, daß der Bahnbau mit Rücksicht auf die Kriegswirren ohnehin bald eingestellt werde. Als die beiden Indianer, beim Abschied nochmals warnend, aus der Hütte treten wollten, vertrat ein Vorarbeiter, der von dem Vorhaben der Roten gehört hatte, diesen den Weg und gab nach einigen Beschimpfungen aus seiner Pistole zwei Schüsse auf den Wortführer der Roten ab. Dem ersten Schuß entging derselbe durch blitzschnelles Bücken, während ihn der zweite unfehlbar getroffen hätte, wenn nicht Fred Summer dem Vorarbeiter die Waffe aus der Hand geschlagen hätte. Wortlos verschwanden die beiden Indianer."

"May wurde sodann zu einer tiefer im Westen arbeitenden Sektion gesandt, wohin ihn Summer auch wieder begleitete. Nach kurzer Zeit wurde diese Truppe von Kiowas überfallen. ... Eines Nachts wurden sie aber durch zwei Apatschen befreit. Der eine von ihnen, ein Häuptling, ..., brachte sie in sein Pueblo, wo sie einige Wochen verblieben."

Um Rekrutierungsmaßnahmen zu entgehen, sollen Summer und May sich nach Urbans Bericht ins Felsengebirge zurückgezogen haben. Hier wurden sie von einer Abteilung Sioux überfallen und in deren Dorf gebracht. May und Summer konnten sich diesmal durch Zerreißen der Fesseln selbst befreien und flohen, bis es ihnen gelang, ein Fort zu erreichen. Hier versuchte man beide in die Truppe zu zwingen. Nach vierzehn Tagen Aufenthalt verließen sie heimlich das Fort, nachdem sie scheinbar auf die Einkleidung eingegangen waren und Summer eine Wache erhalten hatte. Die Flucht ging zurück zu den Apatschen. Diese lagen gerade damals mit den Komantschen in Streit, so daß beide Weiße an der Seite der Apatschen an den Kämpfen teilnahmen. Summer bekam hierbei sogar eine Führerrolle und soll auch einen indianischen Kriegsnamen erhalten haben, da er ein ausgezeichneter Schütze war." Auch ein Deutscher namens Helmer (oder: Helmers?) soll im Gefolge der Apatschen gewesen sein.

Bei einem späteren Jagdzug mit den Apatschen sollen die Weißen in einen Hinterhalt von Komantschen geraten und in deren Lager geschleppt worden sein, das sich an einem kleinen See befand. Auf einer inmitten desselben befindlichen Insel hielt man sie eine Woche gefangen. Beim Umbinden der Fesseln gelang es May, die beiden Wächter niederzuschlagen, seine Genossen zu befreien und sich


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schwimmend über den See zu flüchten.

Nach diesen Erlebnissen ging May Vater Urbans Bericht zufolge wieder nach St. Louis als Berichterstatter, zog es aber wegen der durch den Krieg unleidlichen Verhältnisse in den Städten vor, bald wieder in die Heimat zurückzukehren.

Urban bemerkte abschließend zu den Schilderungen seines Vaters: "Aus dieser Erzählung sehen wir so manche Anknüpfungsstellen für Mays amerikanische Erzählungen. Vor allem scheint es einleuchtend, daß er diesen Summer als Vorbild für 'Old Firehand', der, wie ich mich erinnere, in einem Band 'Winter' genannt wurde, verwendete. Und nun der Name 'Old Firehand'! Wird man nicht verleitet, diesen indianischen Ursprungs zu bezichtigen, so daß May nur einen Apatschenausdruck ins Englische übersetzte? Der obenbezeichnete Apatsche ist natürlich eines der Vorbilder für den 'Winnetou'."

Ein weiteres Erlebnis auf der Wanderung in Frankreich, auf welches im Verlauf der Untersuchung zurückzukommen sein wird, schilderte Vater Urban so:

"Ein andermal brachte er aus einem von einem Hund bewachten Garten ein daselbst angebundenes Pferd zu seinen Gefährten, das zum Fortschaffen des Gepäcks bis ins nächste Dorf benutzt wurde. Hier schrieb er die Anschrift des Pferdebesitzers auf einen Zettel und befestigte diesen am Pferd, das er dann abends an das Haustor des Bürgermeisters band. Unterwegs konnte Vater bemerken, daß es May wie keiner verstand, mit Pferden umzugehen, und daß er das Tier äußerst liebevoll behandelte."

c) Erst Jahrzehnte später teilte Urban weitere Ergänzungen mit, insbesondere machte er genauere zeitliche Angaben über die Wanderung (6).

Danach hielten sich die Reisegefährten Anfang September 1864 in Zürich auf, der Weitermarsch begann am 11. dieses Monats. Der weitere Reisegefährte wird als der Schriftsetzer Krüger aus dem Rheinland bekannt gemacht.

Das früher geschilderte Erlebnis in den Weingärten und der Kampf mit den Hunden wird örtlich näher bestimmt: zwischen Lagnieu und Crémieu.

Der Abschied zwischen Urbans Vater und May fand nicht in Vienne statt, sondern am 3. Oktober in Marseille. Der Leser erfährt in diesem Zusammenhang noch ein Erlebnis Mays, als er im Begriff war, die Vereinigten Staaten zu verlassen:

"Da er (May) Ende September 1863 St. Louis verließ und der Mississippi von den Südstaaten geräumt war - am 4. Juli war Vicksburg gefallen -, benützte er zur Heimreise einen Dampfer nach New Orleans. Knapp vor dieser Stadt kam es zu einer Katastrophe: der Dampfer lief auf eine Flußmine auf und sank nach zwanzig Minuten. May konnte einen türkischen Kaufmann, der Tabakkäufe in Virginien und vorher auf Martinique getätigt hatte, ans Ufer bringen Aus Dankbarkeit nahm ihn der Händler auf einem französischen Dampfer nach Marseille mit, machte ihn dort mit einem französischen Geschäftsfreund bekannt und bat ihn, zu ihm nach Tunis zu kommen. Unter den Valuten, mit denen er ihn


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ausstattete, befand sich auch tunesisches Hartgeld, von dem May meinem Vater bei der Trennung in Marseille am 3. Oktober 1864 zwei Münzen (eine davon von 1862!) zur Erinnerung übergab. Diese sind heute noch in meinem Besitz und vermitteln mir einen wertvollen Kontakt mit den damaligen Ereignissen."

Urban teilte dann noch mit, daß sein Vater über Savoyen in die Schweiz zurückkehrte und hob hervor, daß May bei seiner Verhaftung in Leipzig am 26. März 1865 drei tunesische Münzen aus den ersten Regierungsjahren Mohammed es Sadok Paschas in Besitz hatte. In einem Beitrag der Zeitungsredaktion wurde zum ersten Mal ein Teil des Briefes des genannten Fred Sommer wiedergegeben. Die Redaktion bemerkte dazu: "Dieses Faksimile ist eine Sensation. Es handelt sich um Old Firehands (alias Fred Sommers) Handschrift. Der Brief war an Karl Urban, Mays einstigen Wandergenossen, gerichtet. Erstveröffentlichung". Das Faksimile sah so aus:

Zwei weitere Veröffentlichungen Urbans enthielten zu unserer Frage nichts Neues (7).

3. Das Kernstück der Beweisführung für Mays Aufenthalt in den USA ist ein Brief des genannten Fred Sommer, der jedoch nicht, wie oben angegeben, an Urbans Vater gerichtet war, Adressat soll vielmehr Karl May gewesen sein.

a) Der Inhalt des Briefes wurde nicht von Urban veröffentlicht, sondern nach dessen Tode von dem May-Forscher von Ozoroczy (8). Der Brief lautet so:

29.6.1865

"Lieber Charles! Den Brief Deines Freundes Carl Urban aus Genf mit Deinem Bericht, daß Du am Wege nach Tunis bist und erst im September 65 in Bern eine Reporterstellung annehmen willst, hat Nelly Ende Dezember 64 erhalten; da ich bis Ende März noch bei Sheridan war und als Capt. of Cavalry den Abschied nahm. Außerdem mußte ich noch für ein Grab am Soldatenfriedhof in Petersburg für den armen Will sorgen, der am 17.6.64 bei dem Reiterangriff Sheridans fiel. Den Onkel J.G. Urban hat inzwischen Nelly im 'Deutschen Club' leicht gefunden und dieser ist nun ein guter Freund von mir; er ist trotz seiner 65 Jahre ein wackerer, sehniger old Settler aus dem unteren Kansas und hat 2 Söhne bei Pea-Ridge verloren anfangs März 62 und wurde teils durch aufgehetzte Indsmen, Cheyennea und Comanchen; als noch mehr von Tramps-Trupps ausgeraubt, weshalb er


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sein Store und Schmiede anfangs Dezember 64 verließ und nach St. Louis, Nearstreet zog, wo er als Schmied tüchtig in der Waffenfabrik arbeitet. Er will aber nach dem Krieg wieder an seinen Crawfish-Creek zurück, oder zu seiner Tochter, die dzt. in Nord-Colorado verheiratet ist. Harry ist nun in der Wohnung Wills in Denver, und ein tüchtiger Führer (comander) der "Companie" trotz seiner 20 Jahre und derzeit mit Old Hawk und seinen 4 Leuten Felle holen, von Blackfeet und Shoschones, bei Fort Laramie. Unseren guten Khayhinte traf ich am Fuße des Mugworthill, wo er mit 80 Kriegern am Wege nach Colorado war, um mit Osagen die dortigen Siedler gegen die die sie überfallenden Indianer und Trampe zu schützen. Er hatte wieder eine Menge Wundkräuter mit; er fragte begierig, wann sein Bruder Charly wieder kommt! Du hattest im Oktober ein großes Glück, daß Du damals am Mississippi durchkamst, denn nun fallen Südliche fortlaufend in Texas und Louisiana ein. Schade, daß Du nicht früher nach Bern kommst, da hätte ich Dir fortlaufend Berichte vom Kriege Schauplatz gesandt, die Du glänzend bei den Berner Zeitungen anbrächtest. Was ich da in Virginia erlebte, spottet Jeder Beschreibung, ein gräßlicher Brudermord, daß Dir grauste, von der Behandlung der Gefangenen bei den Südlichen nicht zu sprechen, da ist jeder Indianer anständiger als diese Schinder.

Ich hatte Dir im Vorjahr sofort nach Wille Tod nach Hause geschrieben. Dein Vater schrieb mir darauf, daß Du den Lehrerberuf aufgeben und derzeit auf Reisen bist und nach Nordafrika willst, um Dich einem deutschen Afrikaforscher anzuschließen und voraussichtlich erst im Herbst 65 zurückkehrst. Wenn Du den Reporterberuf anstrebst oder Schriftsteller werden willst, so gäbe es nun in den USA den aktuellsten Stoff, den entweder ich Dir liefern kann, oder Du selbst bei einem einjährigen Aufenthalt verschaffen könntest. Ich selbst habe ja als Sheridans Scout viel erlebt und hatte vor kurzem einen heftigen Auftritt mit dem Colonel, da er gegen meine energischen Warnungen einen Nachtangriff auf Lees Lager im Shenandoatal gegen Lee ausführte, statt wie ich wollte, gegen 1/2 4 h früh, der zu einem Debakel für die Unsern führte, er sah das hernach ein und entschuldigte sich herzlich, weshalb ich noch bis anfangs April bei ihm blieb, da mich Harry und die Companie schon dringend riefen.

Noch muß ich Dir berichten, daß der alte Hammer seine Farm in Colorado nach einem Überfall von Cheyennes und schließlich von einem verdammten Trupp von Tramps, bei welchem sein Schwiegersohn gelötet wurde, verließ und sich in Nebraska bei Yankton ansiedelte.

Ich kalkuliere mit anderen optimistischen Militärs, daß nun bald unser Sieg gewiß ist, denn wir haben nicht nur viel Taktik von den Südlichen gelernt, sondern ist auch unsere Armee stark gewachsen, disziplinierter geworden und hat nun die besseren Waffen. Dann könntest Du wieder bei uns eine sichere und aussichtsreiche Stellung finden, Du mit Deinen vielseitigen Kenntnissen, da solche Leute nach dem Kriege sehr gesucht und gut bezahlt werden; also come on und lasse das sich stets selbst bekämpfende old Germany im Stich.

Freund Henry hat vor kurzem seinen 18-schüssigen Repeater fertig und haben bereits Dutzende von Farmern sich damit


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erfolgreich gegen Überfälle gewehrt. Ich habe auch einen, sie sind jedoch nur auf Distanzen bis 100 m, und nicht gegen Großwild zu gebrauchen. In der Armee hatten wir zirka 95.000 Karabiner mit Metallpatronen und zirka 15.000 Spencergewehre in Verwendung, die die Patronen im Kolben führen, nun aber sind wir in der Bewaffnung den Südlichen überlegen und der Sieg ist uns gewiß wegen rascherer Schußbereitschaft.

Bekam Nachricht von Denver, daß die alte Mary getötet wurde, ist nun Harry meine einzige Freude. Und nun, lieber old Chas, hoffe ich, daß bei Dir alles in Ordnung ist und würde mich sehr freuen, von Dir bald einige Neuigkeiten vom alten Deutschland zu hören.

Schreibe bald Deine Adresse an das Companie-Lager in St. Louis.

Dein stets treuer         Fred Sommer."

Die Zeilen ab "von Denver" entsprechen dem Faksimile mit Fred Sommers Handschrift.

b) Über die Vorgeschichte der Veröffentlichung des Briefes berichten die beiden Bekannten Urbans, Amand von Ozoroczy und Fritz Maschke. Das Original des Briefes, so erfahren wir, ist in seinem Hauptteil nicht mehr vorhanden. Der Brief wurde von Vater Urban zusammen mit den Briefen der amerikanischen Urbans in einem Geheimfach eines Sekretärs aufbewahrt und im Laufe der Jahrzehnte vergessen. Während Sohn Gustav in den Jahren 1909/1912 beruflich außerhalb Wiens tätig war, verkaufte der Vater den Sekretär samt Inhalt, ohne die Anschrift des Käufers zu besitzen (9). Glücklicherweise hatte sich aber Sohn Gustav noch rechtzeitig in alten Notizbüchern eine Übersetzung des Originals herausgeschrieben. An anderer Stelle heißt es, eine Übersetzung des ganzen Originals (in Englisch) habe Urban noch ganz kurze Zeit vor seinem Tode bewerkstelligen und dem Verfasser aushändigen können (10).

Aus dem Kommentar von Ozoroczys ergibt sich weiter, daß die Schlußzeilen des Briefes mit der Unterschrift des Absenders auf der Rückseite eines dem Brief beigelegten Fotos vom Grand Canyon geschrieben waren und dieses Foto zu Lichtbildern abgelegt wurde, die offenbar nicht im Sekretär verwahrt wurden.

Wie der an Karl May gerichtete Brief in die Hände von Carl Urban gelangte, erklärt von Ozoroczy so:

"Bei der Trennung am 1. Oktober 1864 in Marseille vereinbarten beide Carls ein Zusammentreffen 'übers Jahr' in Bern für den September 1865, wo, wie wir hörten, May eine Reporterstelle annehmen wollte. Der steckbrieflich Verfolgte war vorsichtig genug gewesen, alle Eventualitäten in Betracht zu ziehen. Er ermächtigte Urban, im Deutschen Evangelischen Heim restante die Post aus Amerika zu beheben, die er auf seinen an die ihm geläufige Adresse St. Louis/Missouri, 124 Chestnut Street, gerichteten Brief zu erwarten hatte. Die Ereignisse aber sollten ihn und seinen Wandergesellen, der am 22.9.1865 in Bern eingetroffen war, für immer auseinanderreißen." (11)

Maschke berichtet noch folgende Einzelheiten: (12) Urban habe sich nach der Lektüre von "Karl May" für die ameri-


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kanischen [amerikanischen] Briefschaften interessiert und um die Jahrhundertwende als Sechzehnjähriger den Brief Sommers ins Deutsche übersetzt. Als Urban dann im Mai 1912 von dem Verlust der Briefe erfahren habe, habe er sich daran gemacht, den Brief nach der ungelenken Übersetzung zu rekonstruieren. In der Folgezeit habe er sich weiter mit der Übersetzung beschäftigt, zuletzt am 29.6.1965. Maschke schreibt dann weiter: "Ganz kurz vor seinem plötzlichen Tode bat mich Urban, seine abgegriffenen Bleistiftvormerkungen mit Schreibmaschine in Reinschrift zu übertragen. Dabei hatte ich einen Fehler Urbans in diese Reinschrift übernommen und als Briefdatum den '29.6.1865' eingetragen, was Urban auf den 29.6.1965 richtigstellte und als Tag seiner letzten Beschäftigung mit diesem Brief bezeichnete. Eine Durchschrift meiner Schreibmaschinenübertragung hat Urban dem ihm befreundeten Amand von Ozoroczy übergeben und dabei übersehen, auf den Schreibfehler aufmerksam zu machen. So kommt es, daß v. Ozoroczy in den Mitteilungen Nr. 8 als Datum des Sommerbriefes den 29.6.1865 nennt. Das Tagesdatum aber wußte Urban nicht mehr."

c) Schließlich und endlich sind in diesem Zusammenhang noch zwei ergänzende Mitteilungen von Ozoroczys zu erwähnen: Nach Entlassung Mays aus der Strafanstalt in Zwickau soll er sich auch nach Wüstfalke (ehem. Fürstentum Reuß) begeben haben, wo die Urbans (mit Bruder Hermann) aber über den Aufenthalt von Carl Urban keine Auskunft geben konnten, den Besuch Mays jedoch in guter Erinnerung behielten. 40 Jahre später soll der Schriftsteller auf seiner Amerikareise die Reuß-Siedlung in Kansas aufgesucht, dort aber niemanden mehr von der Vetternschaft angetroffen haben (13).

II. Erste Bedenken

Sie ergeben sich in mehrfacher Hinsicht teils aus dem mitgeteilten Sachverhalt, teils aus späteren Ermittlungen.

1. Das Jahr 1862 ist als Reisejahr mit Sicherheit auszuschließen. Seine sechswöchige Gefängnisstrafe verbüßte May vom 8.9. bis 20.10.1862 (14). Danach verblieb er in der Heimat und unterzog sich am 6.12.1862 der militärischen Musterung. (15).

2. Mays eigenes Verhalten spricht nicht für eine Reise im Jahre 1863.

Es ist anzunehmen, daß er sich nach Verbüßung seiner Strafe mit einem Gnadengesuch an das Kultusministerium gewandt hat, um, wenn nicht eine Beschäftigung als Lehrer, so doch als Privatlehrer zu ermöglichen (16). Wer eine solche Hoffnung hegt, wird nicht außer Landes gehen, sondern das Ergebnis seines Gesuchs abwarten. Am 20.6.1863 wurde May aus der Liste der Schulamtskandidaten gestrichen (17), wovon er alsbald Kenntnis erlangt haben wird. Die Annahme ist gerechtfertigt, daß May bis zu diesem Zeitpunkt in Sachsen geblieben ist.

Die Schilderung in der Selbstbiographie steht damit im Einklang. "Ich gab Unterricht in Musik und fremden


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Sprachen. Ich dichtete; ich komponierte. Ich bildete mir eine kleine Instrumentenkapelle ... Und ich begann zu Schriftstellern. Ich schrieb erst Humoresken, dann Erzgebirgische Dorigeschichten", so äußerte sich der Schriftsteller (18).

Von einer Auslandsreise in diesem Zeitraum ist auch nicht andeutungsweise die Rede. Zwar fällt bei der Schilderung seiner Depressionen die Äußerung: "Es hat mich fortgetrieben, wie weit, wie weit! Ich bin aus der Heimat fort, um mich zu retten, kein Mensch wußte, wohin, doch es zog mich wieder und immer wieder zurück" (Unterstreichung durch den Verfasser). Eine solche Ausdrucksweise paßt nicht für die Abwesenheit von der Heimat bei einer längeren Auslandsreise, zumal der Schriftsteller unmittelbar darauf auf seinen Betrugsfall in Leipzig überleitet (19).

In Übereinstimmung damit stehen schließlich die Angaben, die May als Angeklagter in der Strafverhandlung vor dem Bezirksgericht in Leipzig gemacht hat. Bei den Angaben zur Person pflegt jeder Angeklagte sich über seine Betätigung und seinen Aufenthalt vor der Straftat zu äußern. Von einem Aufenthalt in den USA, noch dazu mit so außergewöhnlichen Erlebnissen in der Zeit des Bürgerkrieges, war überhaupt keine Rede (20).

3. Klara May wußte über eine Frühreise ihres Gatten nichts auszusagen. Dr. Beissel schnitt diese Frage ihr gegenüber in den Jahren 1913-1919 immer wieder an, obwohl er merkte, wie peinlich ihr die Befragung war. Ihre Anwort war immer: "Darüber hat mein Mann nicht mit mir gesprochen, er will darüber im 2. Band seiner Selbstbiographie schreiben" (21).

4. Plauls Ermittlungen

Sie unterstützen die Annahme, daß May den Erfolg seines Gesuchs abwartete: zu drei verschiedenen Malen ist die Mitwirkung eines May bzw. Mai an Unterhaltungsabenden in Hohenstein nachgewiesen, was in Übereinstimmung mit der von May geschilderten Betätigung stehen würde; jedoch ist nicht von einem ''Karl May" die Rede (22).

Ferner: Mays Name erscheint zweimal, nämlich am 26.4. und 5.7.1863, im Konfitentenbuch der Kirchengemeinde (23). Allerdings stammt die Eintragung nicht von May selbst, sondern vom Pfarrer, und der Vermerk "C 57" = "Konfirmand von 1857" ist unrichtig, denn May ist im Jahre 1856 konfirmiert worden. Die Bedenken von Ozoroczys(24) scheinen daher nicht unberechtigt zu sein, daß eine Personenverwechslung vorgelegen haben könnte. Aber: Am ersten Abendmahl nahmen auch die Schwester Mays mit ihrem Ehemann, die Eheleute Hoppe, teil, der Pfarrer wird auch ein Gespräch mit den Teilnehmern geführt haben, die Verwandtschaft kann ihm kaum verborgen geblieben sein. Zudem hat Plaul für April 1863 noch ein anderes Beweismittel zur Hand. May befand sich im Besitz eines Briefumschlags mit amtlichen Poststempeln dieser Zeit (25). Auch der Eintrag vom 5.7.1863 scheint auf eine Beteiligung von Verwandten Mays am Abendmehl hinzudeuten: von den Eheleuten Kretschmar.

Es fällt schwer, bei der Vielzahl von Hinweisen auf Mays mögliche Anwesenheit in der Heimat Bedenken zu unter-


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drücken, die eine Frühreise in Zweifel ziehen. Aber stellen wir sie zunächst zurück, um noch anderen Überlegungen nachzugehen.

5. Der zeitliche Ablauf der Ereignisse gibt hierzu Anlaß. Nach Urbans Vorstellungen verließ May nach mehrmonatigem Aufenthalt in den USA Ende September 1863 St. Louis (nach Fred Sommer-Brief befand er sich im Oktober noch am Mississippi, ein Widerspruch, zu dem später noch etwas zu sagen sein wird). Auf der Weiterfahrt ereignete sich die Dampferkatastrophe, bei der May den türkischen Kaufmann rettete. Von New Orleans ging die Schiffsreise sodann nach Marseille, die sicherlich etwa 20 Tage in Anspruch nahm. Rechnet man dazu den Aufenthalt in dieser Stadt, so konnte May erst Ende Oktober die Heimreise nach Sachsen antreten. Da er mit dem nötigen Geld für den Besuch in Tunesien ausgestattet war, brauchte er nicht auf "Schusters Rappen" zu reisen, so daß er Anfang November in Ernstthal eingetroffen sein könnte, wenn ... Ja, wenn er einen Paß gehabt hätte. Wie er ohne einen solchen überhaupt amerikanischen Boden betreten konnte trotz sicherlich scharfer Kontrollen wegen des Bürgerkrieges, wie er ohne einen solchen auf einem franzbsischen Dampfer fahren und in Marseille an Land gehen konnte, das ist ein Rätsel, desgleichen, wie die Reise durch mehrere europäische Staaten möglich war.

Daß May die fremden Valuten zur Verbesserung der Lebensbedingungen im armen Weberhaus zur Verfügung stellte, davon können wir ausgehen, wenngleich die Selbstbiographie von einer solchen kurzfristigen Glückszeit nichts zu vermelden vermag. Das Geld muß schnell dahingeschwunden sein, denn am 9. Juli 1864 fand sich May in Penig ein, um im Laufe der folgenden Woche einen Kleiderschwindel durchzuführen. Dazu erfahren wir aus dem Fahndungsbericht, daß die Statur des Täters schwach, seine Gesichtsfarbe blaß und seine Haltung etwas steif und linkisch war, was BO gar nicht zu dem Bilde paßt, welches man sich von einem kernigen Westmann und Überseereisenden macht. Daß diese Tat nicht aus verbrecherischer Veranlagung, sondern aus Not begangen ist, ist erwiesen. Die Beute war gering. Einige Kleidungsstücke konnten in Chemnitz versetzt werden und brachten nicht mehr als 5 Thaler ein (26). Daß weiteres tunesisches Geld nicht mehr zur Verfügung stand, besagt Urbans Bericht, denn die Wanderung mußte wegen schmaler Kasse fast durchweg "per pedes" stattfinden.

Anfang September, so erfahren wir, weilte May schon in Zürich. Da er wieder ohne Paß, nur mit Heimatschein versehen, auf die Wanderung ging, mußte er Umwege machen und durchlässige Grenzen suchen, und zwar an mehreren Landesgrenzen, sei es nun, daß er den Weg über Böhmen, Tirol in die Schweiz nahm oder über die deutschen Staaten. Der Reiseweg wird grob gerechnet etwa 800 km betragen haben. Selbst wenn er hin und wieder kostenlose Fahrgelegenheit ausgenutzt haben sollte, müßte er etwa Mitte Juli von Chemnitz aufgebrochen sein, um Anfang September Zürich zu erreichen.

Der weitere Wanderweg gibt dem Forscher erneut Rätsel auf. Die Marschleistung von Zürich bis Marseille betrug ebenfalls etwa 800 km. Dafür standen vom 11. September


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bis zum 3. Oktober nur 23 Tage zur Verfügung. Das Gesellenwandern war nicht zu vergleichen mit Marschleistungen von Soldaten, sondern diente der Bereicherung der Kenntnisse und der zeitweiligen Aufnahme von Arbeit. Eine tägliche Marschleistung von 50 km scheint mir daher zu hoch angesetzt zu sein. Selbst bei dieser Annahme ergibt sich aber, daß 16 Tage dem Wandern dienten und nur 7 Ruhetage verblieben.

Wie in dieser kurzen Zeit Arbeitsmöglichkeiten wahrgenommen sein sollen, ist unerfindlich. May soll in Bern sich um eine Reporterstelle beworben haben. Dazu gehörten eine Vorstellung und ein Gespräch mit der Redaktion. Beides war nicht auf Anhieb zu bewerkstelligen.

In Lausanne und Lyon soll May Zeitungsartikel veröffentlicht haben, der Schriftsetzer soll in den betreffenden Zeitungsbetrieben gearbeitet haben. Im Zeitenplan sind diese Tage nicht unterzubringen. Abgesehen davon: Mays Kenntnisse der französischen Sprache waren damals sehr mäßig, wie Sprachproben beweisen (27). Und wie soll sich der Schriftsetzer im französischen Schriftbild zurecht gefunden haben?

Das sind gewichtige Bedenken, die noch dadurch verstärkt werden, daß Urban in seinem ersten Bericht Vater Urban nach Cbambéry weiterwandern läßt, so daß eine Aussage über Mays Eintreffen in Marseille und seine Weiterreise nach Tunis nicht möglich war. Zwar hat Urban, wie Maschke weiß, seinen angeblichen Irrtum mit Schreiben vom 22.5.1924 dem Karl May-Verlag gegenüber berichtigt. Aber man muß doch fragen, wieso er zum Erkennen desselben so lange Zeit benötigte, wo doch die Ereignisse um den türkischen Kaufmann, um Tunis und Marseille so einprägsam gewesen waren, nicht zuletzt durch den Besitz der tunesischen Münzen!

Wir wissen, daß Vater Urban am 16.10.1919 verstorben war. Damit versiegte für Urban diese Quelle von Mitteilungen. Den Schiffbruch auf dem Mississippi und die damit zusammenhängende Erzählung muß Urban noch zu Lebzeiten seines Vaters kennengelernt haben. Im Wanderbuch kann er den Bericht nicht vorgefunden haben, weil jeglicher Anlaß, den Bericht eines Reisegefährten darin aufzunehmen, fehlte. Warum also brachte Urban dieses wichtige Schlußerlebnis der USA-Reise Mays nicht schon in seinem zweiten Bericht, der so eingehende Schilderungen enthielt?

Erst die spätere Veröffentlichung nach nahezu 40 Jahren brachte in die Wanderung durch die Schweiz und Südfrankreich den Zeitenplan und damit den Zeitdruck, denn nun mußte May sich sputen, um nicht nur airikanischen Boden zu betreten, sondern auch noch rechtzeitig zurück in die Heimat zu gelangen, wo er am 16.12.1864 in Chemnitz den zweiten Betrug verübte.

Verweilen wir noch bei einigen weiteren Merkwürdigkeiten der Urbanschen Berichte. Urban kannte den Fred Sommer-Brief seit Jahr und Tag, kannte also auch die Stelle, in der Mays Übergang über den Mississippi mit Oktober zeitlich festgelegt wurde. Urban hatte keine andere Quelle als diesen Brief. Wie konnte er im "Neuen Österreich" zu der Behauptung kommen, schon Ende September sei May von St. Louis aufgebrochen?


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Wie merkwürdig mutet die Erklärung an, Vater Urban habe nach Jahresfrist in Lausanne auf einem Foto, welches ihn selbst, nicht May, darstellte, vermerkt: "Karl May aus Wüstenbrand". Bei dem Interesse, welches Vater Urban an der Person seines Reisegefährten nahm, erwartet man, den Namen im Wanderbuch zu finden. Überdies stand die Abholung der Post aus Amerika, die in Bern lagern sollte, noch bevor, die Ermächtigung dazu hatte Vater Urban in den Händen. Er kannte daher, so muß man annehmen, Namen und Adresse seines Gefährten, denn der Zweck der Abholung der Post konnte ja nur sein, diese dem Adressaten zu übermitteln.

Vermerken wir zum Schluß noch, daß auch May behauptet hat, nordafrikanischen Boden betreten zu haben, und zwar von einem italienischen Hafen aus, von Marseille und einer Überfahrt nach Tunis wußte er nichts zu sagen (28).

6. Mays Erlebnisse in den USA, wie er sie Vater Urban erzählt haben soll, geben zu weiteren Bedenken Anlaß. Es ergeben sich zahlreiche Berührungen mit Mays Schilderungen, wie sie in "Winnetou Band 1" zu finden sind. Gerade deshalb überzeugt die Schlußfolgerung, der Reisegefährte müsse May gewesen sein, nicht. Denn diese Erzählung verfaßte May erst im Jahre 1893. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb er die frischen und wegen des amerikanischen Bürgerkrieges aktuellen Erlebnisse und Berichte nicht früher hätte veröffentlichen können. Statt dessen schrieb er Humoresken und Dorfgeschichten. Erst im Jahre 1875 begann er damit, Abenteuererzählungen in der "Ich"-Form zu veröffentlichen.

Gerade dort, wo Vater Urban Erlebnisse seines Reisegefährten wiedergegeben haben soll, die denen ähneln, die man in "Winnetou" vorfindet, muß man vermuten, daß Cal Urban nicht aus der Erinnerung berichtet hat, sondern suggestiv von seinem Sohn befragt worden ist. Man darf nicht übersehen, daß Vater Urban bei dieser Befragung 75 Jahre alt war, daß die Erzählungen des Reisegefährten 50 Jahre zurücklagen. Wer ist wohl imstande, in einem solchen Alter und nach einem solchen Zeitablauf über fremdes Erleben noch in solchen Einzelheiten zu berichten?

7. Die Vorgeschichte des Fred Sommer-Briefes wirft weitere Fragen auf. Der Inhalt des Briefes war Urban seit der Jugendzeit bekannt. Er befaßte sich immer wieder damit, mit Recht, denn er stellte ein einzigartiges Beweisstück dafür dar, daß May in den USA gewesen sein mußte. Umso mehr muß es verwundern, daß dieser Brief nie von Urban veröffentlicht worden ist. Urban erwähnte lange Zeit das Vorhandensein dieses Briefes bzw. seiner Übersetzung überhaupt nicht.

Bereits im ersten Bericht Urbans hätte man erwarten müssen, daß Urban einen Hinweis gegeben hätte, daß ein Brief eines Fred Sommer an May vorhanden sei, wenn auch nicht im Original, und daß die Art und Weise des Verlustes des Originals geschildert worden wäre. Auch im zweiten Bericht bemerkt Urban lediglich, sein Vater habe über einen Fred Sommer Verbindung mit den Verwandten in St. Louis bekommen, und zwar durch Vermittlung Mays. Von einem Brief dieses Sommer an May ist keine Rede. Auch der Aufsatz von 1962 besagt nur, daß über Sommer die Verbin-


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dung [Verbindung] hergestellt wurde. Lediglich die Redaktion der Zeitung bemerkte zu dem abgebildeten Faksimile des Restoriginals, es handle sich um einen Brief Sommers an Vater Urban, was nur auf einer Information des Sohnes beruhen konnte. Daß der größere Teil des Briefes in einer Übersetzung vorhanden war und sich im Besitz von Urban-Sohn befand, darüber erfährt der Leser auch zu diesem Zeitpunkt nichts.

Man kann nur vermuten, daß Urban nicht den Mut hatte, die Übersetzung zu veröffentlichen. Dazu paßt es, daß er, wie Maschke berichtet hat, seinen Bekannten gegenüber seine Ausführungen nicht in geschlossenem Zusammenhang mitteilte, sondern gelegentlich die eine oder andere Andeutung machte, die eine oder andere Frage beantwortete. Die Übersetzung hat daher, das kann man daraus entnehmen, den Freunden von Ozoroczy und Maschke im vollen Wortlaut erst kurz vor dem Tode Urbans vorgelegen, wobei der merkwürdige Bearbeitungsvermerk vom 29.6.1965 zu dem Irrtum Anlaß gab, das Datum des Briefes sei der 29.6.1865 gewesen.

Urban hat auch keine Aufklärung darüber gegeben, ob sein Vater je versucht hat, den Brief an May gelangen zu lassen. Da Wüstenbrand als Heimatort genannt sein soll, war es naheliegend, sich dorthin zu wenden. Daß der Brief dort nicht zugestellt werden konnte, konnte Vater Urban nicht wissen. Statt dessen scheint der Brief geöffnet und ohne weiteres den übrigen Briefschaften zugeordnet worden zu sein. Sollte ein Versuch der Zustellung doch gemacht worden sein, wäre der Brief mit Sicherheit nicht zurückgekommen. Zwar gab es in Wüstenbrand keinen gleichaltrigen Karl May (29), aber man hätte auf die im Nachbarort Ernstthal ansässige Familie May hingewiesen.

Seit 1865 führte Vater Urban dann einen lebhaften Briefwechsel mit seinen Verwandten. Ist es nicht verwunderlich, daß er nichts mehr über Fred Sommer zu berichten wußte? Nachdem dieser die Verbindung hergestellt hatte, herrscht Schweigen über ihn. Muß man nicht annehmen, daß Sommer sich über die Verwandten nach May erkundigt hat, nachdem er von diesem keine Antwort bekam? Lag es nicht andererseits nahe, daß Vater Urban sich wegen May an Sommer wandte, sei es, daß er ihm die mißglückte Zustellung mitteilte, sei es, daß er sich bei ihm nach der diesem möglicherweise bekannten Adresse Mays erkundigte? Nichts von alledem geschah, bzw. Urban ließ völlig offen, ob derartiges geschehen war. Es genügte ihm, daß er den Westmann Fred Sommer als Beweis für dessen Bekanntschaft mit May in die Debatte gebracht hatte.

8. Von Ozoroczys Ergänzungen sollen den Schluß der Erörterungen dieses Abschnitts bilden.

May soll sich nach seiner Haftentlassung am 2.11.1868 nach Wüstfalke begeben haben, dort aber nur den Bruder Hermann angetroffen haben, so daß die Erneuerung der Bekanntschaft mit Carl Urban nicht stattfinden konnte. Aber sein Besuch blieb in guter Erinnerung. Letzteres bedeutet, daß Carl Urban und später dessen Sohn von diesem Besuch erfahren haben. Denn von Ozoroczy kann füglich nur von diesem die Kenntnis erlangt haben.

Wenn aber Carl Urban von diesem Besuch erfuhr, war damit nicht Gelegenheit gegeben, die Verbindung seinerseits


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wieder herzustellen? War nicht überhaupt durch die Mitteilung des Bruders Hermann klargestellt, daß der Reisegefährte Karl May aus Ernstthal war; denn man kann sich nicht vorstellen, daß May nach Strafverbüßung noch seinen Heimatort verschwiegen haben sollte, daß der Besucher, der Interesse an der Erneuerung der Bekanntschaft mit Carl Urban hatte, sich gegenüber Hermann über Namen und Herkunft ausgeschwiegen haben sollte.

Von Ozoroczy teilt weiter mit, May habe auf seiner Amerikareise im Jahre 1908 die Reuß-Siedlung in Kansas aufgesucht. Der Verfasser erwähnt nicht, woher er dies weiß. Aus Klara Mays Buch ergibt sich dafür kein Anhalt (30). Im Karl May-Verlag konnte ich über einen solchen Besuch nichts erfahren. Ein Motiv Mays ist nicht ersichtlich. Zwar konnte er von Hermann Urban etwas über die Urbanschen Siedler in Kansas erfahren haben, man versteht nur nicht, aus welchem Interesse May nach 40 Jahren diese ihm unbekannten Verwandten Carl Urbans aufgesucht haben sollte, in dieser Zeit aber keinen Versuch machte, mit Carl Urban wieder in Verbindung zu treten.

Ein Schlußwort noch zu den verwandtschaftlichen Verhältnissen der Urbans. Gustav Urban nennt drei Verwandte in St. Louis mit den Rufnamen Joseph, Gottlieb und Traugott. Der Kansas-Siedler wird später mit J.G. Urban bezeichnet, was von Ozoroczy mit Johann Gottfried erklärt. Da später dieser Siedler Johann genannt wird (31), muß es sich wohl um den von Gustav Urban mit Gottlieb vorgestellten Verwandten handeln. Dieser war 1800 geboren, und sein Alter wird daher im Fred Sommer-Brief richtig mit 65 Jahren angegeben. Nach dem Geburtsdatum kann er jedoch nicht der Vetter Carl Urbans (geb. 1843), sondern muß der Onkel gewesen sein. Von Joseph Urban erfährt man weiter nichts. Traugott, der von Urban als dritter Onkel in St. Louis genannt wird, ist nach von Ozoroczy 1849 auf der Überfahrt nach den USA gestorben (32). An früherer Stelle war aber dieser Traugott als der Vater von Carl Urban genannt worden (33).

9. Schlußbemerkungen zu II.

Die bisherigen Erörterungen haben - ich meine zu Recht - in vielen Punkten erhebliche Zweifel und Bedenken gegenüber Urbans Darstellungen geweckt. Man könnte meinen, daß es sich nicht lohne, den Dingen weiter nachzugehen, eine Frühreise Mays sei jedenfalls nicht beweisbar und könne daher auch keinen Eingang in eine Biographie finden. Andererseits könnten die Nachweise Plauls sogar die Überzeugung begründen, eine solche Frühreise sei ausgeschlossen, Mays Angaben seien unwahr. Stolte äußert sich zu dem Fred Sommer-Brief, er besitze großen Aussagewert, wenn nicht für Karl Mays Biographie, so ganz gewiß für ein abschließendes Urteil über die Persönlichkeit Gustav Urbans (34).

Ich meine, daß auch das Urteil über die Persönlichkeit Mays von der Frage betroffen wird, ob die Frühreise stattgefunden hat oder nicht.

Nach seinem tiefen Sturz von der Höhe des Ruhmes kann man für die Verteidigung des Schriftstellers durchaus Verständnis aufbringen. Seine Reiseerzählungen, so sagte er, seien nur Vorübungen für seine symbolischen Werke gewesen,


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jeder hätte erkennen können, daß er keine eigenen Erlebnisse geschildert habe. Seine Straftaten erklärte er als Ausfluß seelischer Depressionen. Die Zeiten der Strafverbüßungen konnte er nicht in Abrede nehmen. Für die Durchführung von Auslandsreisen blieben nur kurze Zeiträume übrig und ließen sie unwahrscheinlich sein. Gleichwohl stellte der Dichter für die Schilderung dieser Reisen einen zweiten Band seiner Selbstbiographie in Aussicht. Bis zuletzt behauptete er, in jungen Jahren den Westen der USA auf einer längeren Reise durchstreift zu haben. Wenn das aber nicht den Tatsachen entsprochen haben sollte, wenn es eine bewußte Unwahrheit war, wie müßte man diese Einstellung des Schriftstellers beurteilen? Wollte er, seiner Eitelkeit folgend, einen Rest seines Ruhms als "Weltläufer" retten und seine Leser etwas versöhnen, und würde sich darin ein Rang zur Unwahrheit offenbaren, der sich nur dem Beweise beugt?

Diese Gedanken waren es, die mich veranlaßten zu prüfen, ob Urbans Fred Sommer-Story jetzt noch einer weiteren Klärung zugänglich sein würde. Das Ergebnis meiner Bemühungen teile ich nachstehend mit.

III. Die Wanderung durch die Schweiz und Südfrankreich

Die Aussicht, Spuren dieser Wanderung nach mehr als 100 Jahren aufzufinden, war von vornherein nicht sehr groß. Da Urbans Schilderung in Zürich beginnt, mußten hier die Nachforschungen einsetzen.

Das Gesellenheim, in dem sich damals die deutschen Handwerksburschen trafen, war schnell aufzufinden, es war das Zunfthaus "Die Eintracht", am Neumarkt gelegen und heute noch als Gaststätte in Benutzung. Leider besaß das Schweizerische Sozialarchiv über das Jahr 1864 keinerlei Unterlagen mehr, so daß über Programme, Vorlesungen und Besucher nichts mehr zu erfahren war. Den beiden Zeitungen, der "Zürcher Zeitung" und dem "Tagblatt der Stadt Zürich" war hierüber für den Zeitraum September 1864 ebenfalls nichts zu entnehmen. Anzeigen anderer Zünfte beweisen jedoch, daß in den Zunfthäusern damals kulturelle Veranstaltungen gepflegt wurden.

Da die Gesellen im Zunfthaus keine Unterkunft fanden, mußten sie in Gasthöfen logieren oder ein privates Unterkommen suchen. Ein einwandfreies Beweismittel für die Anwesenheit Mays in Zürich hätte das "Tagblatt der Stadt Zürich" sein können. Diese Zeitung veröffentlichte in jeder Ausgabe auf den ersten beiden Seiten die Namen sämtlicher Reisenden, die in den Hotels und Gasthöfen logierten. So weilte am 4. September 1864 wohl Mays Landesvater mit großem Gefolge im "Baur au Lac", die Namen der Handwerksburschen, die in größeren Übernachtungsräumen untergebracht waren, wurden aber nur der Zahl nach gemeldet, z.B. im "Löwen" an diesem Tage 18 Handwerker. Diese Namen waren nicht mehr zu erfahren.

Die weiteren in Urbans Bericht genannten Orte in der Schweiz boten keine konkreten Anhaltspunkte für Ermittlungen.

Ich setzte meine Hoffnung darauf, etwas über den Zusammenstoß der drei Reisegefährten mit der französischen Polizei, über den Kampf mit den Hunden zu finden, da dieses Ereignis nichts Alltägliches war. Die Lage der Weinberge hatte Urban in seinem Aufsatz von 1962 näher mit "zwischen Lagnieu und Crémieu" bezeichnet. Ich konnte vermuten, daß der Vorfall Niederschlag in


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der lokalen Presse gefunden hatte. Die in Betracht kommenden Zeitungen enthielten denn auch eine Fülle von Nachrichten von örtlich begrenzter Bedeutung, wie das heute noch der Fall ist. Eß handelte sich um "Le Journal d'Ain", "Le Journal de Vienne", "Le Moniteur Viennois" und die überregional damals wie heute in Lyon erscheinende Zeitung "Le Progrès". Der Vorfall fand nirgends Erwähnung. Die weiter in Betracht kommende Zeitung "L'Abeille du Bugey" war leider mit dem Jahrgang 1864 nicht mehr aufzutreiben.

Zu Recht hatte übrigens Urban von den Weingärten Burgunds gesprochen. Der Bürgermeister von Lagnieu bestätigte, daß der Ort und seine Umgebung im Jahre 1864 Weinbaugebiet gewesen war, wenn auch nicht an der Straße Lagnieu-Crémieu. Das Gebiet gehörte in früheren Zeiten noch zu Burgund, die Landschaft nannte sich "Bugey", und es ergab sich, daß in Belley eine wissenschaftliche Gesellschaft "Le Bugey" existierte. Auf diese Weise kam ich in Verbindung mit dem Sekretär dieser Gesellschaft, dem Abbé Cornaton. Dieser ermittelte, daß die Möglichkeit zu weiteren Nachforschungen durch die noch vorhandenen Polizei- und Gerichtsakten gegeben sei. Da das Gebiet von Lagnieu teils zum Département Ain, teils zu Isère gehört, kamen die Archive in Bourg-en-Bresse und in Grénoble in Betracht. Abbé Cornaton übernahm die Aufgabe der Sichtung dieser Akten, leider jedoch ohne jeden Erfolg, da der Vorfall nirgends Erwähnung fand.

Bei den besonderen Begleitumständen des Ereignisses spricht das negative Ergebnis der Suche in hohem Maße dafür, daß es nicht stattgefunden hat. Abbé Cornaton sage ich an dieser Stelle meinen Dank für seine zeitraubenden Bemühungen.

Es ist wohl unnötig zu sagen, daß die Lyoner Zeitung "Le Progrès" aus dem Jahre 1864 keinen Aufsatz von der Hand Mays aufwies. Da Urban noch ein weiteres Ereignis schilderte, welches nach seinem Verlauf Eingang in die Lokalpresse gefunden haben konnte, suchte ich auch danach. Ich meine die Entführung des Pferdes. Zwar berichteten die Zeitungen über mehrere Entwendungen von Pferden, aber nicht für die Zeit September 1864.

Das Ergebnis ist somit, daß sich Beweise für die Teilnahme Mays an der Wanderschaft nicht haben finden lassen.

IV. Der Fred Sommer-Brief

1. Sein Datum

Urban wußte es nicht anzugeben. Der Inhalt läßt Rückschlüsse zu. Der Verfasser blieb danach bis Anfang April 1865 bei Sheridan. Zu beachten ist, daß der Brief erst geschrieben sein konnte, nachdem Sommer nach St. Louis zurückgekehrt war, denn er berichtete über die vorgefundenen Verhältnisse. Nach seinem Abschied vom Militär mußte er von Virginia aus die Heimat erreichen, was bei den damaligen Verkehrsverhältnissen nicht in kurzer Zeit zu bewerkstelligen war. Es folgte ein Aufenthalt in St. Louis und sodann das Zusammentreffen mit dem Apatschenhäuptling Khayhinte am Fuße der Mugworthills. Von May wissen wir, daß diese Berggruppe dieselbe ist, die in der Erzählung "Winnetou" eine so bedeutende Rolle gespielt hat und dort Nugget-Tsil benannt ist (35).

Dieser Gebirgszug ist nach der Vorstellung des Schriftstellers im Süden des Unterlaufs des Canadian Rivers zu suchen, etwa nördlich der heutigen Stadt Amarillo (36). Sollten die-


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se [diese] Berge nun entgegen der bisherigen Meinung keine Erfindung Mays sein, sondern von Sommer tatsächlich aufgesucht worden sein, so ergibt sich als Entfernung zwischen St. Louis und den Bergen in der Luftlinie eine Strecke von 1000 km, die Sommer, da die Eisenbahn noch nicht gebaut war, auf Pferdesrücken hätte zurücklegen müssen. Dabei ist die Stelle im Brief nicht so zu verstehen, daß der Schreiber zu einem verabredeten Treffen mit dem Häuptling geritten war, sondern daß er ihn beim Umherstreifen als Pelzjäger getroffen hatte. Bis zur Rückkehr nach St. Louis, wieder über eine Strecke von 1000 km, verging somit auch einige Zeit. Man kann nur schätzen, aber einige Monate verstrichen bis zur Absetzung des Briefes, so daß man sogar in Frage stellen könnte, ob der Brief bis zum 22.9.1865 überhaupt in Bern in Carl Urbans Hände gelangen konnte.

Davon abgesehen ist der Schreiber über den Gang der geschichtlichen Ereignisse nicht ausreichend unterrichtet. Am 9. April 1865 hatte General Lee kapitulieren müssen. Am 26.4.1865 streckten die letzten Reste der Streitkräfte des Südens die Waffen. Der Krieg war damit zu Ende (37). Sommer brauchte daher nicht mehr über den baldigen Sieg optimistische Erwägungen anzustellen. Ist es denkbar, daß er von dem siegreichen Ende für die Nordstaaten noch nichts wußte?

2. Colonel Sheridan

Es ist merkwürdig, daß Sommer diesen Dienstgrad seines Vorgesetzten nennt. Tatsächlich war Sheridan schon zum 1.7.1862 zum Brigadegeneral und im Januar 1863 zum Generalmajor befördert worden (38). Sommer streifte aber im Jahre 1863 noch mit seinem Freunde Charly umher, er muß also erst nach der Trennung zur Armee gestoßen sein und kann Sheridan gar nicht mehr als Colonel kennengelernt haben. Ein lapsus linguae, ein Verschreiben ist damit ausgeschlossen. Was Sommer über den Nachtangriff des Generals Lee berichtete, war völlig unbestimmt abgefaßt. In dem genannten langgestreckten Shenandoahtal hatten im Laufe des Krieges eine ganze Reihe von Kampfhandlungen stattgefunden. Die ungenaue Bezeichnung muß daher verwundern.

Daß Sommer dem General Ratschläge erteilt haben sollte, ist unglaubhaft. Ein Scout von solchem Einfluß wäre von Sheridan in seinen Memoiren erwähnt worden. Er nannte jedoch nur Card als seinen persönlichen Scout. Dieser schied schon Ende 1863 vom General, von einem Nachfolger ist keine Rede (39).

3. Captain of Cavalry

In Sheridans Memoiren sind für alle größeren Kampfhandlungen die beteiligten Formationen mit ihren Offizieren bis herunter zum Leutnant angeführt. Der Name eines Captains Sommer oder Summer findet sich nicht darin.

Die Hoffnung, den Captain als Kriegsteilnehmer, und zwar als Freiwilligen, in den militärischen Archiven ausfindig zu machen, wurde enttäuscht. Ohne Ergebnis verliefen die Anfragen an

a) National Archives, Washington, DC,
b) Headquarters Missouri National Guard-Office of the Adjutant General-Jefferson City.

Die letztgenannte Auskunftsstelle fügte hinzu: "We were unable to identify any Missouri troops in General Sheridan's Cavelry Corps during Shenandoah Valley Campaign, June 1864."


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("Wir waren nicht in der Lage, Missouri-Truppen in Gen. Sheridans Kavalleriekorps während des Feldzuges im Shenandoah-Tal im Juni 1864 festzustellen.")

4. Sohn Will Sommer (Summer)

Ein Reiterangriff Sheridans am 17.6.1864 war nicht zu ermitteln. Sheridan erwähnt für den 16.6. und die folgenden Tage nur Marschbewegungen (40). Ebensowenig waren positive Auskünfte von den unter 3. genannten Auskunftsstellen zu erlangen. Wenn, wie anzunehmen ist, Will Sommer von Missouri aus zur Armee eingerückt ist, dann ergibt die Auskunft, daß Missouri-Kontingente nicht im Shenandoah-Tal beteiligt waren.

5. Pea Ridge

Pea Ridge ist ein Höhenzug, der fast unmittelbar an der Südgrenze von Arkansas nach Missouri liegt. Dort fand vom 6. bis 8. März 1862 der Entscheidungskampf um Missouri statt. Er führte zum ersten größeren Sieg der Unionstruppen unter dem deutschstämmigen General Siegel, der vornehmlich von deutschen Truppen unter der Führung deutscher Offiziere erfochten wurde(41).

Die National Archives konnten mir den Tod der beiden Brüder Urban nicht bestätigen. Da die Urbans im unteren Kansas ansässig gewesen sein sollen, richtete ich eine weitere Anfrage an die "Kansas State Historical Society", Topeka/Kansas. Das Antwortschreiben vom 22.4.1974 lautete:

"We have examined our records pertaining to Civil War veterans and find ouly one man named Urban serving in a Kansas regiment He was Augustus Urban who enlisted at Atchison in the Eighth Kansas Volunteer Infantry on September 21, 1861. He was discharged by reason of disability on March 28, 1863, at Nashville, Tennessee. The Eighth did not serve at Pea Ridge and obviously Augustus Urban did not either.

There may well have been other Kansas with the same name who saw Civil War military duty but Augustus seems to be the only one in a volunteer unit from this state." ("Wir haben unsere Akten auf Veteranen des Bürgerkrieges überprüft und finden nur einen Mann namens Urban, der in einem Kansas-Regiment diente. Es war Augustus Urban, der am 21.9.1861 in Atchison in die 8. Freiwillige-Kansas-Infanterie eingereiht wurde. Er wurde am 28.3.1863 wegen Dienstunfähigkeit in Nashville, Tennessee entlassen. Es mag wohl andere Kansas-Leute mit dem Namen gegeben haben, die im Bürgerkrieg wehrdienstpflichtig waren, aber Augustus scheint der einzige in einer Freiwilligeneinheit aus diesem Staat gewesen zu sein.")

Da der letzte Satz des Schreibens auf die mögliche militärische Dienstpflicht der beiden Urbans hinwies, bat ich den State Archivist um eine diesbezügliche Ergänzung, die wie folgt lautete:

"We have made a further search of material dealing with the action at Pea Ridge but have fonnd nothing more on anyone named Urban."

("Wir haben nochmals unsere Unterlagen über die Schlacht bei Pea Ridge durchforscht, haben aber nichts weiter über jemand mit Namen Urban gefunden.")

Beigefügt war eine Aufstellung aller an der Schlacht betei-


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ligten [beteiligten] Einheiten. Somit verliefen auch diese Erkundigungen nach den Urbans ohne Erfolg.

Sheridan führt allerdings zwei Offiziere mit dem Namen Urban an, nämlich Major Caspar Urban von der 5. New Yorker schw. Artillerie, 2. Batl. (42) und Leutnant Gustavus Urban von der 5. U.S. Cavalry (43). Diese Urbans sind jedoch als Teilnehmer späterer Kampfhandlungen erwähnt.

6. Büchsenmacher Henry und der Repeater

Es ist kein Zweifel möglich, Sommer meinte mit "Freund" Henry den Büchsenmacher Henry, der nach der Erzählung Mays in St. Louis sein Gewerbe ausgeübt haben soll (44).

Die Tatsachen sind jedoch andere: Benjamin Tyler Henry, so lautete sein voller Name, ist nie in St. Louis tätig gewesen. Er wurde am 22.3.1821 in Clermont im Staate New Hampshire geboren. Nach seiner Lehre im Waffengeschäft der Firma J.B. Ripley & Co. finden wir ihn später als Angestellten der Firma N. Kendall & Co. in Windsor im Staate Vermont. Nach weiterer Tätigkeit in Norich und wieder in Windsor kam er zur New Haven Arms Company im Staate Connecticut. Dort war Winchester, der später in der Waffenherstellung eine große Rolle spielen sollte, als Direktor tätig. Henry gelang es, eine neue Art Repetiergewehr herzustellen und erhielt darauf am 16.10.1860 ein Patent.

Das Gewehr hatte eine Magazinkapazität von 15 Patronen, war also 16-schüssig. Die Produktion dieses Gewehres lief nur langsam an. Im Bürgerkrieg wurde die Henry-Rifle nur in geringem Umfang verwendet, weil sie noch Mängel aufwies (45). Das Gewehr wurde verbessert, wobei ein gewisser Nelson King beteiligt war, worauf dann am 29.3.1866 das King's Patent erteilt wurde (46).

Der Lebenslauf Henrys ergibt zweifelsfrei, daß er niemals in St. Louis tätig war, sondern sich ständig in den Oststaaten aufhielt. Eine Bestätigung dafür liefert auch das directory (Adreßbuch) der Stadt St. Louis von 1865, in dem dieser Büchsenmacher nicht verzeichnet ist (47).

Zu bedenken ist dabei, daß May in seinen ersten Erzählungen gar nicht behauptet hatte, daß der Henry-Stutzen von dem Büchsenmacher Henry gekauft worden sei, sondern er nannte Jake Hawkins (48). Die directories von St. Louis weisen in der Tat eine ganze Geschlechterfolge von Hawkins oder Hawken als Büchsenmacher aus, davon auch einen Jacob, allerdings nicht in der Frontstreet ansässig.

May mag wohl irgendwo von diesem Büchsenmacher gelesen und die Frontstreet als eine bekannte Straße der Stadt angeführt haben. Auf jeden Fall steht fest, daß er erst im Jahre 1893 bei der Abfassung von "Winnetou" Band 1 die Person des Büchsenmachers Henry in dichterischer Form in die Erzählung eingeführt hat. Sommer konnte daher Henry in seinem Brief gar nicht als den gemeinsamen Freund erwähnen.

Weiter: Sommer will - und zwar im Jahre 1865 - einen 18-schüssigen Repeater besessen haben. Es kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, daß das Patent von 1860 eine 16-schüssige Rifle zum Inhalt hatte, und daß der 18-schüssige erst ab 1867 hergestellt wurde. Auf meine Anfrage erhielt ich von der Winchester GmbH in Düsseldorf folgende Antwort vom 8.1.1974:


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"Wie Sie aus der beiliegenden Fotokopie ersehen können, hat das Modell 1860 Henry Rifle eine Magazinkapazität von 15 Patronen. Ein späteres Modell war das Modell 1866, das von Winchester gebaut wurde. Das Modell 1866 hatte in der Rifle und Musketausführung eine Magazinkapazität von 17 Patronen, in der Carbine-Ausführung eine Magazinkspazität von 13 Patronen. Mit der Produktion dieser Waffen wurde im Frühjahr 1867 begonnen, sie endete 1898."

Die Fotokopie enthielt eine Abbildung der Henry-Rifle von 1860, die ich hier weglasse. In der dazu gehörigen Beschreibung heißt es:

"The standard Henry rifle is shown in Figure 8-26. It was fitted with a 24-inch octagonal barrel with a magazine capacity of fifteen. 44 rimfire cartridges ..." ("Das Henry-Gewehr in der Normalausführung ist in Figur 8-26 zu sehen. Es war mit einem 24 Zoll (etwa 61 cm) langen, achteckigen Lauf und mit einer Magazinkapazität von 15-44 Randfeuerpatronen ausgestattet.")

Daß der erste Henry-Repeater eine Patronenreserve von 15 Schuß hatte, wird auch anderweit bestätigt (49). Der Repeater, der später in Mays Besitz war, war der 18-schüssige, wie die Eintragung des Patents ersehen läßt (50). Auf dem Lauf befinden sich folgende zwei Angaben:

Henry's Patent - Oct. 16. 1860
King's Patent --March 29. 1866.

Sommer konnte somit bei Abfassung seines Briefes weder einen 18-schüssigen Repeater besessen, noch Schießproben damit vorgenommen haben. Er konnte sich auch nicht über die Eigenschaften dieser Waffe verbreiten.

Merkwürdigerweise deckt sich jedoch seine Beurteilung mit sachverständigen Äußerungen, die Dr. E.A. Schmid nach Erprobung des May'schen Henrystutzens veröffentlicht hat (51). Dort lesen wir: "... die entlegenen Farmer konnten sich rechtzeitig damit versehen und wehrten erfolgreich die Angriffe der vagabundierenden Truppenteile ab ... lassen ... eine vorzügliche Präzision der Schußleistung der Waffe auf Entfernungen bis etwa 100 m erwarten ..."

Sommer wußte noch mehr zu sagen, was zu diesem Zeitpunkt eigentlich nur der Generalstab der Nordstaaten wissen konnte, nämlich daß in der Armee ca. 95.000 Karabiner mit Metallpatronen und ca. 15.000 Spencergewehre in Verwendung waren, was allerdings in späteren Lexica nachgelesen werden konnte (52).

7. Das Companie-Lager in St. Louis

Urban hatte, wie er in seinem zweiten Bericht bemerkte, die Adresse Sommers in einem alten Wörterbuch wiedergefunden, sie lautete: Chestnutstreet 124. Da der Brief Sommers mit der Bitte schließt, Post an das Companie-Lager - im englischen Text "to the store" - zu schicken, muß damit die genannte Adresse gemeint gewesen sein. Es kann sich dabei aber nicht nur um eine Anlaufstelle gehandelt haben, die der Westmann Sommer dann und wann aufsuchte, denn der Zusammenhang ergibt, daß Sommer dort auch eine Wohnung hatte; es ist von Nelly die Rede - Frau oder Schwiegertochter? -, die den Brief Vater Urbans aus Genf erhielt und die auch Settler J.G. Urban im "Deutschen Club" ausfindig machte, ferner spricht Sommer von


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der Freundschaft zwischen ihm und dem Urban. Es kam mithin darauf an, ob das Adreßbuch von St. Louis die Anwesenheit Sommers bestätigen würde.

In diesem Sinne schrieb ich meinem Gewährsmann, Mr. Stadler, und erhielt folgende Antwort:

"The Missouri Historical Society archives are especially rich in documents and materials relating to the fur trade. The archivist (my wife) has conducted a thorough search for Mr. Fred Summer of 124 Chestnutstreet. Here is her report: There is no Fred Summer in the 1864 St. Louis directory. In the 1866 and 1870 directories there is a Ferdinand Summer, listed as working for a planing mill and residing on Thirteenth Street between O'Fallon and Cass (not in the neighborhood of 124 Chestnutstreet). Also in the 1870 directory is listed a Fred Summer, teamster for H.S. Parker & Co., but this adress is not given. The name Fred Summer does not appear in the index to the Personal Memoirs of P.H. Sheridan or the index to the War of the Rebellion Records which lists virtually every known participent in the Civil War, Union or Confederate."

("Die Archive der Missouri Historical Society sind besonders reich an Dokumenten und Unterlagen in Bezug auf den Pelzhandel. Der Archivar (meine Frau) hat eine sorgfältige Untersuchung nach Mr. Fred Summer, 124 Chesinutstreet durchgeführt. Hier ist ihr Bericht: Es findet sich kein Fred Summer im St. Louis-Adreßbuch von 1864. In den Adreßbüchern von 1866 und 1870 findet sich ein Ferdinand Summer, der gemäß der Eintragung für eine Sägemühle arbeitete und in der 13. Straße zwischen O'Fallon und Cass (nicht in der Nachbarschaft von 124 Chesinutstreet) wohnte. Ebenfalls im Adreßbuch von 1870 ist ein Fred Summer als Gespannführer für H.S. Parker & Co. eingetragen, aber ohne Angabe seiner Adresse. Der Name 'Fred Summer' erscheint weder in dem Verzeichnis zu den 'Personal Memoirs of P.H. Sheridan' noch in dem Verzeichnis zu den 'Bürgerkriegedokumenten', welches eigentlich jeden bekannten Kriegsteilnehmer, ob Nordstaatler oder Südstaatler anführt." )

Die Auskunft ist somit eindeutig negativ. Der einzige Fred Summer, der für 1870 ermittelt wurde, war ein Gespannführer, also kein Pelzjäger oder Westmann. Die Auskunft bestätigt weiter, was teilweise schon oben angeführt ist, daß Fred Summer weder in den Memoiren Sheridans noch in dem Verzeichnis der Kriegsteilnehmer von St. Louis zu finden ist. Da diese Auskunft nur die Person Sommers betraf, habe ich Mr. Stadler um die weitere Auskunft gebeten, ob die Pelzgesellschaft unter der genannten Adresse zu ermitteln sei. Geschäfte, Betriebe usw. waren im Adreßbuch St. Louis' nach Branchen aufgeführt, so daß die Durchsicht der Adressen der furriers nicht schwer war. Für Chestnutstreet 124 ließ sich keine solche Gesellschaft ermitteln.

Ebenso negativ verlief meine Anfrage bei der St. Louis Genealogical Society: Für 1864/65 war ein Fred Summer nicht auszumachen, für 1870 nur ein solcher, der in einer Sägemühle arbeitete.

Damit steht eindeutig fest, daß Fred Summer über die Adresse Chestnutstreet 124 nicht zu erreichen war.

8. J.G. Urban in St. Louis

Dieser Settler soll 1864 vom unteren Kansas nach St. Louis,


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Nearstreet verzogen sein. Auch Gustav Urban hatte diese Straße in seinem zweiten Bericht als Wohnung der Onkel (Mehrzahl!) bezeichnet.

Die Ermittlungen, die Mr. Stadler in dieser Richtung aufgrund des Adreßbuches anstellte, ergaben, daß in den Jahren 1864 bis 1866 kein Urban in Nearstreet ansässig war. Für 1864 und 1865 fand sich ein Buchbinder Joseph Urban, wohnhaft Soulardetreet, und für 1866 waren ein Schneider John Urban, wohnhaft 48 Washington av. und ein Maurer Joseph Urban mit Wohnsitz 93 Soulardstreet verzeichnet. Von dem angeblich als Schmied in einer Waffenfabrik tätigen J.G. Urban war somit keine Spur zu finden.

9. Der Mississippi im Oktober 1863

Das Datum für das Durchkommen des Adressaten Charles - Oktober 1863 - stimmt nicht überein mit dem Bericht Urbans - Ende September -. Urban hatte als Unterlage dafür nur den Brief, der, als Urban seinen Aufsatz 1962 schrieb, kein anderes Datum enthalten haben kann.

Daß das Durchkommen ein besonders Glück war, ist historisch nicht begründet. Denn nachdem General Grant seit Januar 1863 sein Heer bei Vicksburg gesammelt und Ende April die Belagerung dieser Stadt begonnen hatte, mußte sie am 4.7.1863 kapitulieren. Am 8.7.1863 fiel Port Hudson, und damit war der Mississippi in seiner ganzen Länge in den Händen der Union (53).

10. Der Grand Canyon

Das Restoriginal des Briefes soll auf einem Foto vom Grand Canyon geschrieben worden sein. In wessen Händen sich dieses Foto jetzt befindet, ist nicht ersichtlich. Dabei wäre es höchst interessant, das Foto und die darauf befindlichen Zeilen in Augenschein zu nehmen.

Daß es sich dabei um eine Postkarte handelt, ist den Mitteilungen von Ozoroczys nicht mit Sicherheit zu entnehmen. Man muß aber davon ausgehen, daß sich an irgendeiner Stelle der Hinweis auf den Grand Canyon befindet.

Es ergab sich nun die Frage, ob es im Jahre 1865 bereits ein solches Foto geben konnte. Die Antwort konnte die Geschichte der Erforschung des Colorado River of the West liefern. Die erste wissenschaftliche amerikanische Erforschung des Gebiets erfolgte durch Lieut. J.C. Ives im Jahre 1858. Sein Bericht über diese Reise nennt den Canyon noch "Big Canyon", und die Abbildungen desselben sind Kupferstiche, die nach Skizzen eines Reisebegleiters hergestellt worden waren (54). Die nächsten Forschungsreisen wurden erst 1868 und später von J.W. Powell unternommen (55). Kieperts Handatlas von 1871 enthält den Grand Canyon noch nicht, sogar Petermanns Karte von 1876 führt noch die Bezeichnung "Big Canyon" an. Es lag daher die Schlußfolgerung nahe, daß im Jahre 1865 weder die Bezeichnung "Grand Canyon" üblich war, noch daß zu diesem Zeitpunkt eine Fotografie dieses Canyons mit dieser Bezeichnung vorgelegen haben konnte.

Die um Auskunft gebetene Verwaltung des Grand Canyon National Parks in Grand Canyon, Arizona, bestätigte denn auch die Richtigkeit dieser Ansicht. Die erste Landkarte, die den Namen "Grand Canyon" als spezifische Ortsbezeichnung aufweist, ist diejenige, die im Jahre 1868 General William


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J. Palmers Eisenbahn-Übersicht beigegeben war. Aber erst durch J.W. Powells Reiseberichte wurde die Bezeichnung nach 1869 allgemein gebräuchlich.

Die ersten Fotografien vom Grunde des Canyons wurden im Jahre 1872 von einem Begleiter Powells, Jack Hillers, gemacht. Vom Rande des Canyons machte G.B. Wittick Aufnahmen, aber nicht vor 1883. Weiße Ansiedler kamen erst gegen 1880 an den Canyon (56).

V. Schlußfolgerungen

1. Für den Fred Sommer-Brief liegen sie auf der Hand. Es bedarf keiner weiteren Erörterung, daß die angebliche Übersetzung eine Täuschung und das "Restoriginal" eine Fälschung waren.

Die Frühreise kann damit nicht bewiesen werden. Im Gegenteil gewinnen die Daten, die für Mays Aufenthalt in der Heimat sprechen, wie sie insbesondere von Plaul ermittelt worden sind, eine solche Bedeutung, daß jeder Zweifel an ihrer Richtigkeit aufgegeben werden muß. Die fast einjährige Reise, wie sie vom Schriftsteller im Alter gegenüber Dr. E.A. Schmid behauptet worden ist, hat nicht stattgefunden. Seine Behauptung war unwahr.

Als unwahr erweist sich damit auch Urbans Schilderung über Mays Bekanntschaft mit einem türkischen Kaufmann und über seine Reise über Marseille nach Tunis. Damit wird Urbans erste Darstellung wiederhergestellt, daß sich sein Vater in Vienne von seinem Reisegefährten trennte, und es entfällt der schon oben angezweifelte Gewaltmarsch zur Küste.

Ob May, wie er angedeutet hat, als Handlanger auf einem Dampfer den Atlantik befahren hat - das wäre zeitlich nur in der zweiten Hälfte des Jahres 1863 möglich gewesen -, ist für unsere Untersuchung ohne Bedeutung. Die Schwierigkeiten und die Zeitdauer einer solchen Reise in der damaligen Zeit hat Plaul geschildert (57). Sollte May, obwohl nur mit einem Heimatschein ausgestattet, eine solche Fahrt erlebt und bei einem Landurlaub sogar amerikanischen Boden betreten haben, so könnte es sich nur um einen kurzfristigen Besuch gehandelt haben. Die seemännischen Kenntnisse, die gerade in den ersten Abenteuererzählungen des Schriftstellers anzutreffen sind, könnten für praktische Erfahrungen sprechen.

Ich halte eine solche Seefahrt aber für wenig wahrscheinlich. Mays Lebenslauf gibt keinerlei Hinweise dafür, daß er für grobe Handarbeiten geeignet war. Es war ein Fehler, daß er nach Scheitern in seinem Beruf sich nicht um eine handwerkliche Ausbildung bemühte, um zu baldigem Gelderwerb zu kommen. Er befaßte sich stattdessen mit rein geistiger Betätigung. Seine körperliche Verfassung, wie sie uns aus der damaligen Zeit bekannt ist, befähigte ihn nicht zu schweren Arbeiten auf einem Schiff, wie etwa dem Kohlentrimmen.

2. May war auch nicht der Wandergefährte Carl Urbans.

a) Es ist unwahrscheinlich, daß May sich nach dem Betrug in Penig zurück ins Elternhaus begeben hat. Er hätte den ordnungsmäßigen Erwerb so vieler und teurer Kleidungsstücke glaubhaft machen müssen. Seine Erklärung vor dem Gericht, daß er Ernstthal verlassen habe, um seinen Angehörigen nicht zur Bast zu fallen (58), erscheint glaubhaft. Es spricht viel dafür, daß er schon vor seinem Auftreten in


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Penig seinen Wohnsitz in Nauslitz bei Dresden genommen hatte. Es fällt auf, daß er sich nach dem Chemnitzer Betrug in Richtung Nauslitz wandte. Einen neuen Pelz beim Gutsbesitzer Fickler abzusetzen, setzte voraus, daß dieser ihn kannte, Vertrauen zu ihm hatte und glaubte, daß May aus finanziellen Gründen zum Verkauf des neuen Stückes gezwungen war. Auch der vom Ortsgericht Nauslitz ausgestellte Verhaltschein, der bei der Verhaftung Mays gefunden wurde, spricht für einen längeren Aufenthalt in dieser Ortschaft.

Berücksichtigt man den Willen Mays, sich auf eigene Füße zu stellen, so ist die Annahme gerechtfertigt, daß er von Nauslitz aus Beschäftigung in einem Verlagsunternehmen in Dresden gesucht und als Volontär bei geringem Entgelt auch gefunden hatte. Es ist möglich, daß May schon damals in Verbindung zu dem Unternehmen Münchmeyers stand, wie neuere Untersuchungen Plauls ergeben haben (59). Man wird zu dieser Annahme gedrängt, weil May später nach seiner Entlassung aus der Strafhaft alsbald die Stellung als Redakteur bei Münchmeyer annehmen und sich schnell in seine Aufgabe hineinfinden konnte.

Der Umstand, daß May einer Beschäftigung nachgehen wollte, spricht dagegen, daß er sich auf eine mehrmonatige Wanderschaft hätte begeben können.

b) Vom Schneidermeister in Penig hatte May neu angemessene Kleidungsstücke erschwindelt. Nach seiner eigenen Angabe verkaufte er den Rock und die zwei Hosen, nachdem er die Kleidungsstücke einige Zeit getragen hatte, für 5 Thaler an einen Trödler in Chemnitz (60). Da die Bekleidung später nicht mehr bei ihm vorgefunden wurde, ist seine Darstellung glaubhaft. Neue Kleidungsstücke konnte May bei einem Trödler weder verkaufen noch versetzen, da der Händler sich den Erwerb hätte nachweisen lassen müssen, um seine Konzession nicht aufs Spiel zu setzen. May mußte die Bekleidung erst längere Zeit in Gebrauch nehmen. Der erzielte Preis spricht dafür, daß die Tragezeit mehrere Wochen gedauert hat.

Es kann somit nicht davon ausgegangen werden, daß May sich unmittelbar nach dem Betrug auf die Wanderschaft begeben hat. Er hatte auch keine Eile, von Nauslitz fortzukommen. Ein Steckbrief lag gegen ihn nicht vor. Es war nach seiner Person nicht ermittelt worden, so daß ein Haftbefehl gegen ihn nicht erlassen werden konnte. Es lag nur ein Fahndungsersuchen mit der Beschreibung seiner Person und Kleidung vor. Die Fahndung blieb ohne Erfolg. May konnte die Wiederholungen der Fahndung in den Zeitungen verfolgen (61). Zu Gewaltmärschen bestand kein Anlaß. Wenn May erst im August zu einer Wanderung aufgebrochen wäre, hätte er nicht schon am 1. September in Zürich sein können.

c) Die Fahndungsersuchen, die nach Ausführung des Betrugs in Penig vom dortigen Gerichtsamt veröffentlicht wurden, geben uns eine Beschreibung des jungen May, die in den wesentlichen Punkten besagt: "Statur: mittel, schwach, Gesichtsform: länglich, Gesichtsfarbe: blaß, Haare: dunkelbraun, glatt anliegend, etwas unordentlich lang gewachsen, Nase und Mund: proportioniert, Stirn: hoch und frei, von freundlichem, gewandten und einschmeicheln-


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dem [einschmeichelndem] Wesen, Haltung: etwas steif und linkisch. May trug eine Brille mit Argentangestell" (62). Nach dem Betrug in Chemnitz am 16.12.1864 werden im Fahndungsbericht "ein kurzer, dünner Backenbart" und "ein hageres längliches Gesicht", ferner eine Stahlbrille erwähnt (63). Carl Urban beschrieb seinen Reisegefährten als "schlankkräftig", mit für sein Alter kräftigem, dunkelblondem Schnurrbart, dunkelblondem Haar, ovalem Gesicht, Stirn und Nase fast in einer Linie (64) (Unterstreichungen durch Verf.). Die Unterschiede sprechen für sich. Urban erwähnt auch nicht, daß sein Gefährte Brillenträger war. Die schwächliche Statur und linkische Haltung Mays passen auch nicht zu dem als robust geschilderten Begleiter Urbans.

Die von Urban geschilderte Bekleidung und Bewaffnung des Gefährten konnte May nicht besitzen. Da er nicht in den USA gewesen war, konnte er sie nicht von dort mitgebracht haben, zum Ankauf solcher Sachen fehlten ihm die nötigen Mittel. Kein einziger dieser Gegenstände ist später bei seiner Verhaftung in Leipzig bei ihm vorgefunden worden.

d) Nach Frankreich soll May zusammen mit den Reisegefährten gewandert sein. Das ist nicht glaubhaft, wenn er erst nach der Möglichkeit eines illegalen Grenzübertritts suchen mußte, während seine Gefährten die Grenze ohne Schwierigkeiten und Zeitverlust passierten. Vater Urban berichtet nichts darüber, wie es dem Reisegefährten gelungen ist, die Grenzbeamten zu umgehen, und wie man danach sich wiedergefunden hat.

Es erscheint weiter unwahrscheinlich, daß der nur mit einem Heimatschein versehene May, wenn es ihm schon gelungen war, die Grenze zu überschreiten, es gewagt haben sollte, die Polizei herauszufordern, wie Vater Urban das geschildert hat. May hätte sich wohlweislich zurückgehalten und Sorge getragen, nirgends aufzufallen. Daß der Zwischenfall mit der Ortspolizei auf der Straße Lagnieu-Crémieu stattgefunden hat, ist sehr zu bezweifeln. Darüber wäre berichtet worden, denn es handelte sich nicht um eine Lappalie, sondern um einen handfesten Widerstand gegen die Staatsgewalt unter Tötung eines Polizeihundes, was im kaiserlichen Frankreich sicherlich emsige Nachforschungen ausgelöst hätte.

Sollte der Vorfall sich jedoch so, wie geschildert, abgespielt haben, so war der beteiligte Reisegefährte nicht May. Er war zu einem solchen gewalttätigen Vorgehen zu damaliger Zeit nicht befähigt. Dazu gehörte ein kräftiger, beherzter Mann, der May nicht war. Einige Monate später, im März 1865, hatte May in Leipzig tatsächlich ein Zusammentreffen mit der Polizei, welches zu seiner Verhaftung führte. Dabei zeigte sich seine körperliche Verfassung. Er erwies sich als ein schwächlicher, zaghafter Mensch, der aufgrund der erlebten Nervenanspannung sich in völliger Erschöpfung befand und regungslos, wie leblos und nicht ansprechbar dalag (65).

Es besteht nach alledem für mich kein Zweifel daran, daß Urbans Wandergefährte nicht Karl May war, daß somit auch die Möglichkeit ausscheidet, May könnte die Wanderung mitgemacht und durch Aufschneiderei den Eindruck erweckt haben, in den USA geweilt zu haben.


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3. Der Aufbau der Legende

Personen, die Gustav Urban gekannt haben, schildern ihn als einen Menschen, der von der Idee, May sei der Reisegefährte seines Vaters gewesen und habe die USA bereist, vollkommen besessen war und Widerspruch dagegen nicht gut vertragen konnte. Der Umgang mit Urban war schwierig.

Wie schmal die Grundlage für seine Idee war, erkennt man aus seinem ersten Bericht von 1922. Der Reisegefährte "erzählte viel über Land und Leute der USA, wobei er stets die unterdrückten Indianer und Neger als unrichtig beschrieben mit warmen Worten in Schutz nahm". Im Züricher Heim hielt er Vorträge über Themen wie Erde, Weltall und Sterne sowie über seine Reiseeindrücke aus Amerika. Von aufregenden Abenteuern, die der Gefährte zu bestehen gehabt hatte, war keine Rede. Erwähnt ist nur, daß er einige Zeit in St. Louis geweilt und von dort an einem Eisenbahnbau mitgearbeitet habe.

Das war nicht viel, um eine Verbindung zu Karl May zu vermuten. Vater Urban, mit den Reiseerzählungen Mays bekannt gemacht, meinte jedoch, daß er dieser Schriftsteller gewesen sein müsse, der damals mit ihm gewandert sei; er meinte, May auf vorgelegten Bildern zu erkennen.

Allerdings konnte Gustav Urban dem Vater nur die Fotografie des 65-jährigen May aus dem Bande "Ich" vorlegen, allenfalls noch die den Freiburger Ausgaben beigegebene Abbildung. Urban hätte bedenken müssen, daß dem Wiedererkennen durch den 75-jährigen Vater kein hoher Beweiswert zukommen konnte.

Aber Gustav Urban hatte solche Bedenken eben nicht, wollte sie wohl auch gar nicht haben. In der Begeisterung für den Schriftsteller May und in der Freude darüber, durch seinen Vater eine deutliche Fährte des "Weltläufers" gefunden zu haben und sie der Öffentlichkeit als Beweis anbieten zu können, glaubte er gern an die Gleichsetzung des Reisegefährten mit Karl May. Denn: da waren die Anklänge an die "Geographischen Predigten", deren Grundgedanken May damals schon mit sich herumgetragen haben konnte, da war der Aufenthalt in St. Louis und besonders die Beteiligung am Bahnbau. Da waren schließlich nach weiterer - wenn auch suggestiver - Befragung des Vaters manche Abenteuer des Reisegefährten, die an May'sche Schilderungen erinnerten, so daß Gustav Urban, wenn der Vater den Schriftsteller nun auch noch wiederzuerkennen glaubte, davon überzeugt war, daß der Wandergefährte tatsächlich May gewesen war. Von einer solchen Überzeugung müssen wir zugunsten von Urban ausgehen.

Er erkannte jedoch, daß das alles noch nicht genug war, um auch skeptischen Lesern diese Überzeugung zu vermitteln. So kam Urban schon in seinem ersten Bericht auf den Gedanken, die Beweisgrundlagen etwas vollkommener zu gestalten: Er erwähnte den Vermerk "Karl May aus Wüstenbrand" auf der Fotografie des Vaters. Er erkannte nicht, wie merkwürdig seine Begründung für diesen Vermerk war. Er sagte sich, daß es dem Leser plausibel sein würde, daß der flüchtige May statt seines Heimatortes das benachbarte Wüstenbrand angegeben haben konnte. Nicht bedacht war dabei, daß der Heimatschein des Gefährten ja seinen Heimatsort ausweisen mußte. Zu dieser Zeit war auch noch nicht der Gedanke geboren, daß Vater Urban eine Empfangsvollmacht für Post aus Amerika erhalten habe, aus der sich die Adresse des Freundes ergab und die den Vermerk auf dem Foto überflüssig machte.


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Aber schon bald darauf beschäftigten Urban zwei Überlegungen, wie er seine These noch glaubhafter machen konnte. Schon im Jahre 1924 erklärte er dem Karl May-Verlag gegenüber, daß die Trennung zwischen seinem Vater und May nicht in Vienne, sondern in Marseille stattgefunden habe, dachte er also daran, eine Überfahrt Mays nach Tunis zu behaupten. Um diese Zeit befaßte er sich wohl auch mit dem Jahrbuchaufsatz von 1925, in dem der Westmann Fred Summer kurz erwähnt wurde. Weitere Veröffentlichungen erfolgten jedoch nicht, wahrscheinlich deshalb, weil die Karl May-Jahrbücher ab 1934 ihr Erscheinen einstellten.

Als Urban Jahrzehnte später die Reise Mays nach Tunis und deren Vorgeschichte zum besten gab, stand er im Alter von 78 Jahren. Was er vorbrachte, entsprang seiner Phantasie, die sich an den drei Münzen entzündete, die bei Mays Verhaftung in Leipzig bei diesem vorgefunden wurden, die aber nie als tunesische festgestellt worden sind. Die Ausschmückung der Geschichte gelang Urban, indem er sich an Schilderungen Mays anlehnte: an die Dampferkatastrophe im zweiten Winnetouband, an die Abfahrt Kara Ben Nemsis mit dem Dampfer Vulkan der Messagerie Impériale in "Die Gum" und an die Begegnungen mit Mohamed-es-Sadok Pascha und Krüger Bei.

Den Fred Sommer-Brief hielt Urban, wie wir gesehen haben, bis zu seinem Tode zurück. Es fehlte ihm der Mut, damit an die Öffentlichkeit zu treten, da er befürchten mußte, daß die darin angegebenen Tatsachen widerlegt würden.

Es ist möglich, daß der Reisegefährte des Vaters tatsächlich Beziehungen zu St. Louis hatte und dazu beitrug, die Verbindung zu den Urbans in den USA wieder herzustellen. Ohne einen solchen Tatsachenkern kann man sich das Verhalten Gustav Urbans schlecht vorstellen. Wenn aber der Reisegefährte, wie Urban glaubte, May gewesen war, dann stellte er sich vor, wie ein Brief des Westmanns Sommer an May wohl gelautet haben konnte.

Der - gute - Zweck heiligt die Mittel, so wird Gustav Urban nach bekannten Vorbildern gedacht haben. Am 21. Oktober 1969 ist er im 86. Lebensjahr verstorben. Unsere Kritik sollte daher hier enden: De mortuis nil nisi bene.

VI. Anmerkungen

1 Die Zitate aus den Gesammelten Werken Mays sind jeweils mit F=Freiburger, R=Radebeuler und B=Bamberger Ausgabe bezeichnet. Hier: Band 34 R, 543 = B, 333.

2 Barthel, Fr.: Letzte Abenteuer um Karl May, Bamberg 1955 S. 132.

3 Band 1 F, 510 = R, 510 = B, 460.

4 Urban, G.: Karl May ist gereist! KMJ 1922, 153 ff.

5 Urban, G.: Fährten von Mays erster Amerikareise, KMJ 1925, 76 ff.

6 Veröffentlichung in "Neues Österreich", Wien. vom 24.3.1962 S. 15 unter der Überschrift: "Hat Karl May wirklich gelogen? Nein, sagt unser Gewährsmann".

7 Neues Österreich, Wien vom 3.11.1965 "Karl May und die Stimmen" und Klagenfurter Volkszeitung vom 24.12.1966 "Karl May war im Wilden Westen".

8 Ozoroczy, A. von: Fred Sommer und sein Brief, in Mitt. KMG Nr. 8 (Juli 1971) S. 23 ff.


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9 Ozoroczy a.a.O. S. 24/25.

10 Ozoroczy, A.v.: "In Memoiran Gustav Urban" in Mitt. KMG Nr. 3 (März 1970) S. 8.

11 wie Ziff. 8 S. 27.

12 Maschke, Fr. in Sonderbeilage 1 zu Mitt. KMG Nr. 13 (Sept.1972)'

13 Wie Ziff. B S. 27.

14 Band 34 B S. 127, 128, 130.

15 Plaul, H.: Auf fremden Pfaden? In JbKMG 1971, 144 und 149.

16 Band 34 R S. 376, B S. 128, Plaul a.a.O. S. 153.

17 Plaul a.a.O. S. 155, Wollschläger, H.: Rowohlt-Monographie, 1965 S. 23.

18 Band 34 R S. 381, B S. 133.

19 Band 34 R S. 381 und 386, B S. 133 und 138.

20 Leipziger Tageblatt und Anzeiger vom 10.6.1865 S. 3574 (Stadtarchiv Leipzig).

21 Beissel, Dr.R.: "Die Frühreisen Karl Mays" in Mitt. KMG Nr. 3 (März 1970) S. 10.

22 Plaul a.a.O. S. 151, ferner Hoffmann, K.: "Zeitgenössisches über ein unwürdiges Glied des Lehrerstandes" in JbKMG 1971 S. 111.

23 Plaul a.a.O. S. 152 und 156.

24 Wie Ziff. 8 S. 26.

25 Plaul a.a.O. S. 154.

26 Manuskript des verstorbenen MinDir. Erich Wulffen im Karl May-Verlag.

27 Vgl. z.B. Ange et Diable in JbKMG 1971, S. 128.

28 Barthel a.a.O.

29 Mitteilung des May-Forschers Hans Zesewitz in Hohenntein-Ernstthal an Roland Schmid.

30 May, K1.: Mit Karl May durch Amerika, Radebeul 1931.

31 Mitt. KMG Nr. 8 (Juli 1971) S. 25, 27.

32 Mitt. KMG Nr. 8 S. 25.

33 Mitt. KMG Nr. 3 S. 9.

34 Mitt. KMG Nr. 8 S. 2.

35 Band 9 F S. 481 = R S. 481 = B S. 442.

36 Vgl. Landkarten zu Karl Mays Reisewegen. 1. Nordamerika, Westermann, Braunschweig.

37 Schlosser, Fr.Chr.: Weltgeschichte Bd. 18 S. 146 ff., Zierer, 0.: Geschichte Amerikas Bd. 3 S. 249.

38 Sheridan, P.H.: Personal Memoirs, London 1888 Bd. I S.184 und 247.

39 Sheridan a.a.O. Bd. I S. 247 und 337.

40 Sheridan a.a.O. Bd. I S. 426.

41 Kaufmann, W.: Die Deutschen im amerikanischen Bürgerkrieg, München 1911 S. 244.

42 Sheridan a.a.O. Bd. II S. 17.

43 Sheridan a.a.O. Bd. II S. 20 und 78.

44 Band 7 F S. 9 ff. = R.S. 9 ff = B S. 12 ff.

45 Williamson, H.F.: Winchester - The Gun that won the West, S. 22 ff.

46 Wandollek, Dr.B.: Die Feuerwaffen des Romans Winnetou, in KMJ 1923 S. 228 ff.

47 Für diese und die weiteren Auskünfte bin ich Mr. E.A Stadler aus St. Louis und seiner Gattin, die sich der Mühe unterzogen, alte Quellen zu durchforschen, herzlich dankbar.

48 Bd. 71 B S. 25 (Old Firehand) und S. 258 (Die Both Shatters).

49 Williamson a.a.O.; Schenk, Chr.: Western Journal 1970 S. 676; Schmidt, R.: Die Handfeuerwaffen, Basel 1875 S.119; insoweit muß sich Hoffmann, JbKMG 1974 S. 96 irren.

50 Schmid, Dr.E.A.: Henrystutzen und Silberbüchse, KMJ 1923 S. 224.

51 Schmid, Dr.E.A. a.a.O, S. 216 ff., 218, 220.


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52 Vgl. z.B. Brockhaus Lexikon 1894 Bd. 8 S. 764 (Handfeuerwaffen).

53 Kaufmann a.a.O. S. 266, 383, 388, 389.

54 Ives, J.C.: Report upon the Colorado River of the West, Washington DC, 1861.

55 Powell, J.W.: Explorations of the Colorado River of the West, Washington D.C., 1875; The Enceclopedia Americena New York 1961, Vol. 22 S. 470.

56 Auskunft des Grand Canyon National Parks vom 9.12.1974.

57 Plaul a.a.O. S. 156; ferner Hoffmann, Dr.K. in JbKMG 1974 S. 269 ff.

58 wie Anm. 20.

59 Plaul, H.: Besserung durch Individualisierung, in JbKMG 1975 S. 176 ff.

60 Plaul, wie Anm. 57 S. 158, 159.

61 Plaul, wie Anm. 57 S. 158.

62 Leipziger Zeitung vom 23.7.1864 Nr. 174 S. 4018 und vom 20.8.1864 Nr. 198 S. 4551.

63 Leipziger Zeitung vom 22.12.1864 Nr. 303 S. 6783.

64 Urban, KMJ 1922 S. 154.

65 Roxin, Dr.C.: Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays, JbKMG 1971 S. 101; Plaul, JbKMG 1972/1973 S.208.


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