Walther Ilmer

Winnetou im Gesangverein -
Ein Traum des Gefangenen

Sonderheft der Karl-May-Gesellschaft Nr.35/1982


//2//

[Digitale Fotokopie von Sonderheft 35]

Zu unserem Titelbild:

"Männergesang" von Sascha Schneider, Karton 1896

Vignette auf der Rückseite des Heftes "Martha Vogel", Zeichnung (Ausschnitt) von Carl-Heinz Dömken

Vorbemerkung

Im Nachwort zum Hausschatz-Reprint 'Krüger Bei'/'Die Jagd auf den Millionendieb' (KMG/Pustet 1980) fehlt zum Erstaunen vieler Leser ein Kommentar zu Winnetous Erscheinen in Dresden. Dieses singuläre Phänomen im Werke Karl Mays verdient sicherlich eine Untersuchung. Der Verzicht darauf, meine Überlegungen in das o.a. Nachwort einzubringen, gründet sich auf zweierlei

- Sie ließen sich nicht in wenigen Sätzen abtun, und der Umfang des Reprints mußte aus Kostengründen begrenzt bleiben

- Mir fehlte seinerzeit ein ganz bestimmter Beweis für eine ganz bestimmte Vermutung Auf die Vermutung allein hinzuweisen, ohne eine Bestätigung beibringen zu können, erschien mir eher sachwidrig als sachdienlich

Die Informationslücke ist inzwischen geschlossen

Anläßlich der Berliner Tagung der KMG im Oktober 1981 auf das Thema angesprochen, stellte ich einen besonderen Beitrag in Aussicht. Zugleich bietet dies Gelegenheit, ausführlicher auf einige andere im o. a. Nachwort angeschnittene Deutungen einzugehen.

So wendet "Winnetou beim Gesangverein" sich nun an einen größeren Leserkreis als "nur" an die Besitzer des Hausschatz-Reprints, ist aber beileibe nicht als "die Untersuchung" gedacht, über die hinaus nichts mehr zu diesem Thema zu sagen wäre.

Frau Hedwig Pauler, Ebermannstadt, danke ich für wertvolle Anregungen.


//3//

I

Im Nachwort zum Hausschatz-Reprint 'Krüger Bei'/'Die Jagd auf den Millionendieb' versuche ich aufzuzeigen, daß der Afrika-Teil der Gesamterzählung 'Satan und Ischariot' eine stark vergrößerte und in fremdes Gebiet verlagerte Spiegelung jener "Affäre Stollberg" (1) ist, die May eine Haftstrafe von drei Wochen eintrug (verbüßt im September 1879), weil er bei dem Bemühen, das unrühmliche Ende des umhervagabundierenden Emil Pollmer (Emmas Onkel) möglicherweise als geheimnisumwittertes Verbrechen zu erweisen, angeblich Amtsmißbrauch betrieben hatte (April 1878). May war durch Christian Gottlieb Pollmer (Emils Vater und Emmas Großvater) zu Nachforschungen veranlaßt worden Als die Polizei- und Gerichtsbehörden ihm Schwierigkeiten bereiteten und eine Gefängnisstrafe unausweichlich wurde (die Möglichkeit der Fehlbeurteilung des Sachverhalts durch die Behörden soll hier nicht erörtert werden), zog Emma sich von Karl May zurück (vermutlich bereits im November 1878, spätestens im Januar 1879, wiewohl eine lose Verbindung in den Wintermonaten bis April 1879 noch bestanden haben mag) (2), statt ihm Stütze und innere Hilfe zu sein. May hat die mit der Affäre Stollberg verbundenen Ereignisse offenbar jahrzehntelang nicht verwunden und innerlich als Schmach empfunden, nie hat er diese Verurteilung eingestanden oder seine Rolle "als Detektiv" im wirklichen Leben auch nur andeutungsweise erwähnt; im Werk haben die Ereignisse umso öfter, maskiert, ihren Niederschlag gefunden. (3) So u.a. eben in 'Krüger Bei', wo Kara Ben Nemsi den verschollenen Small Hunter sucht und bei seinen Erkundigungen nach einem Mörder (in der Erzählung Thomas Melton) bei der Obrigkeit (Krüger Bei) auf Ablehnung stößt. In dem "sonderbaren Namen Small" (May) - sprich Smoll - ist die Anspielung auf Pollmers Emil bestürzend auffällig enthalten, und Small streunt gerade wie Emil recht nutzlos in der Welt umher. Nachdem er zunächst als "hübscher, junger Mensch" vom Glück begünstigt schien, ist er, weil "verzogen, ohne Charakter und Energie" (jeweils May), später elend geendet, ein erfolgloser "Hunter" = Jäger nach dem Lebenswerten. Die aus Emil Pollmers Schicksal entstandene Affäre Stollberg bezeichnet eine entscheidende Episode im Hinblick auf Karl Mays Beziehung zu Emma Pollmer - und sie wurde daher in die Trilogie 'Satan und Ischariot' integriert. Diese nämlich ist Mays Traumreise durch das Abenteuer seiner Ehe und deren vielerlei Unzulänglichkeiten (an denen sicherlich nicht Emma allein die Schuld trug). Im Aufzeichnen dieser Träume - und Traumata - ent-


//4//

wickelte Karl May beachtliche Fähigkeiten sowohl in der Aufspaltung als auch in der Synthese seiner Figuren und erzielte verblüffende Darstellungen realer Sachverhalte und Konstellationen (4).

II

Dies gilt, neben vielem anderen, auch für die berühmte Romanze des Ich-Erzählers mit der berückenden "Aufsteigerin" Martha Vogel: Dies ist zum einen wehmütige Reminiszenz an eine vom Schicksal gebotene und unerfüllt gebliebene, ganz absichtlich verklärt gesehene Beziehung des Autors zu einer Dorfschönen, die (vielleicht?) die ideale Lebensgefährtin hätte sein können, deren Wert Karl aber nicht zu schätzen wußte und die daher dem später Reuevollen als "verlorenes Ideal" vorschweben mußte; sie mag Marie Thekla Vogel oder auch anders geheißen haben (5). May rief sich hier, vielleicht bewußt, vielleicht aus unbewußten Tiefen, vor Augen, was er versäumt hatte, als er nicht ein strebsames, aufrichtiges und mit wirklicher "Veranlagung zur Schriftstellersfrau" begabtes Mädchen heiratete, sondern sich Emma Pollmer erkor und ihr diese Wesenszüge andichtete. Das ist in den Erzählstrang hineinverwoben, denn dieser bietet zum anderen ja eben auch das Bild jener in der Frühzeit der Bekanntschaft idealisierten Emma Pollmer, der Karl May körperlich verfallen war, dieweil er sich rein psychologisches Interesse einredete. Deshalb bekundet der Erzähler in der Geschichte auch nur menschlich-psychologisches Interesse an Martha und entzieht sich eifrig jeder Berührung des verliebten Mädchens und verhandelt lieber in nassen Kleidern mit ihr, als sich eine Blöße zu geben ...

Diese Martha läßt ein ihr mitgegebenes Naturtalent ausbilden: sie wird Sängerin; ihre Stimme bezaubert zahllose Menschen. Und der Erzähler ist verstört, entsetzt, sogar gekränkt. Eine unverständliche Reaktion, zumal der Erzähler ja Martha weder als Geliebte noch als Ehefrau an sich binden will und somit nicht einmal egoistische Eifersucht auf die von ihr der Allgemeinheit dargebotene Kunst ins Feld führen kann. Warum soll es den Erzähler erzürnen, daß Martha Vogel Sängerin wird? "Sängerin" steht sinnbildlich für das überdurchschnittlich Anziehende, wodurch Martha in weiten Kreisen von sich reden macht: Marthas Besonderheit liegt außer in ihrer Schönheit und ihren Augen (6) auch in ihrer Stimme; und je mehr sie diese Reiz-Faktoren entwickelt und gekonnt einsetzt, umso mehr fliegen ihr die Herzen zu. Und auch bei Emma waren es


//5//

eben die äußere Schönheit, die Augen und die ausdrucksvolle Stimme, die auf Karl May betörend eingewirkt hatten. Von ihnen ging jener fatale sinnliche Reiz aus, den Emma bedenkenlos ausspielte und mit dem sie Liebhaber um Liebhaber einfing - auch noch, während Karl bereits intensiv um sie warb und sie sich ihn "warmhielt", und erst recht 1879, als sie sich von ihm abgewandt hatte. (Das lesenswerte IX. Kapitel 'Der tolle Prinz' im Originaltext von 'Scepter und Hammer' schildert m.E. die damalige Emma-Szene alles andere als vollständig.) Die Unbedenklichkeit Emmas, naturgegebene Vorzüge vollauf einzusetzen, um Furore zu machen, mußte May im Mark treffen, kränken, verstören, demütigen. Er hatte es wohl nicht für möglich gehalten, daß Emma ihn verraten könne. In der Geschichte überträgt er das auf Marthas Hinwendung zum Gesang: die sonderbare Eifersucht des Nicht-Liebhabers auf die im Künstlerischen begründete "Emanzipation" des guten Mädchens maskiert nur die begreifliche Eifersucht des Liebhabers Karl auf die in der Kunst der Koketterie wahrhaft "emanzipierte" böse Emma (7). Und in der Geschichte kommt es dann folgerichtig dazu, daß Martha ihre Ehe mit Konrad Werner (8) zwar ihrem Auftreten als Sängerin verdankt, aber in dieser Ehe dann praktisch nicht mehr singen darf: es ist ihr untersagt, für andere noch da zu sein. So wie Karl May Emmas weiblichen Reizen hinreichend erlag, um sie trotz vorheriger böser Erfahrungen zu heiraten, als Ehemann aber selbstverständlich nicht länger zulassen - und doch nicht verhindern - konnte, daß Emma diese ihre Reize außerhalb ihrer Ehe anpries.

III

Während Judith Silberstein, die ihre Liebhaber ausnutzt und verachtet und gewissenlos nach neuen Opfern Ausschau hält und den Ich-Erzähler ob dessen überlegen-distanzierter Haltung mit Wut verfolgt, ein extremes Abbild all des Bösen ist, das Karl zeitweise mißtraute, bildet Martha Vogel in ihrer Bildungsbeflissenheit und Reinheit und Ehrfurcht vor dem "Herrn Doktor" den ersehnten Gegenpol. Der schriftstellernde Ich-Erzähler und mit ihm der Ehemann Karl May pendelt zwischen diesen Polen, um einen erträglichen modus vivendi für die alltägliche Bewältigung des Ehekleinkrams und des Zusammenlebens zu finden. Die Auseinandersetzung mit Emma ist der die Trilogie 'Satan und Ischariot' vorantreibende Motor! Das literarische Gewand der Reiseerzählung und die ihr innewohnenden Gesetze des freien Agierens in einer abenteuerlichen Männerwelt wie auch der zeitgenössische Sittenkodex bedingen aber, daß der moralisch einwandfreie Ich-Held


//6//

nicht tage-, wochen-, monatelang eine Reisegefährtin bei sich haben kann, mit der er nicht verheiratet ist. Statt einer liebenden und treusorgenden Ehefrau hat der für Recht und Ordnung kämpfende Held in der Savanne und in der Wüste nur männliche Gefährten um sich (9). Sie teilen seine Probleme. Und da Karl May immer äußere und innere Eigenerlebnisse (mit)verarbeitet, durchzieht seine Erzählungen eine spezifische Erscheinung, die sich jenseits der hemmenden Bewußtseinskontrolle des Autors vollzieht: je nach Thema und Situation fallen dem einem oder anderen männlichen Gefährten des Helden Funktionen zu, die strenggenommen von einer Frauengestalt wahrgenommen werden müßten. Karl May löst die starre Geschlechtsidentifikation auf. Der dabei abrollende innere Prozeß hat nichts mit homoerotischen Sehnsüchten zu tun (10). Vielmehr gehen - über der dominierenden Notwendigkeit, die äußeren Moralgesetze zu wahren - zwei andere Notwendigkeiten einfach eine Synthese ein: Karl May kann sein Innerstes zu Wort kommen lassen, ohne von den Kriterien der von ihm selbst gewählten literarischen Form abzuweichen. Daß er manchmal hart an die Grenzen des Anstößigen gerät, wenn er von Winnetou schwärmt (oder, in 'Old Surehand III', Hand in Hand mit Apanatschka reitet), liegt in der Natur der Sache. Es hat aber offenbar bei den zeitgenössischen Lesern - unter denen zahlreiche Geistliche und Erzieher waren! - kein Mißdeuten hervorgerufen. Die eine Zeitlang propagierte These vom "Jugendverderber" Karl May beruhte bezeichnenderweise nicht auf der Unterstellung - die sich immerhin, wenngleich fehldeutig, auf den Text hätte berufen können -, er verherrliche die Päderastie (11).

IV

In 'Satan und Ischariot' nun übernimmt Winnetou, "der beste, treueste und opferwilligste aller meiner Freunde" (Karl May, Winnetou I, S. 5), ganz unauffällig die Rolle Emma Pollmers unter ganz bestimmten Aspekten. Wohlverstanden: in der, bezogen auf Emma, erwünschten Funktion als idealer Lebensgefährte, nicht als Sexualobjekt (12). Winnetou löst insoweit Martha Vogel ab - die in der Geschichte dem Erzähler entgleitet - bzw. wird zu einer Art Über-Emma-Emanation, wenn der Erzähler mit geheimer Zurückhaltung vor Winnetou von seiner Beziehung von Martha spricht (DH 21, 40 r, 42 li; in der Buchausgabe, F 21, 238, von May entscheidend verändert; vgl. die Gegenüberstellung der Texte in M-KMG Nr. 48, Juni 1981, S. 8) (13) In dieser Szene sagt Old Shatterhand unter anderem über Martha: "Sie ist (ihrem Mann) vor zwanzig Monden herüber gefolgt" - d.h. in der Geschichte, mit Konrad Werner nach Amerika


//7//

gegangen. Mit dieser Bemerkung ist der direkte Bezug zur Affäre Stollberg hergestellt:

Old Shatterhand und Winnetou erkennen, daß es in Marthas Ehe schon seit einiger Zeit kriselt. Diese bis dato zwanzig Monate währende Ehe Marthas entspricht merkwürdig jener zwanzig Monate währenden vorehelichen Bindung Emma Pollmers an Karl May vom Mai 1877, als sie ihm nach Dresden folgte, bis zum Januar 1879, als sie ihn sitzenließ, nachdem es mindestens seit November 1878 in ihrer Beziehung gekriselt hatte. Und etwa zwanzig Monate umfaßte ebenso der Zeitraum vom Juli 1876, dem mutmaßlichen Monat der ersten Begegnung der beiden, bis zum April 1878, als Karl leichtfertig in Niederwürschnitz Emil Pollmers Tod "untersuchte" und nach anfänglichem Imponieren bei Emma, die der Angelegenheit zwiespältig gegenüberstand, in Mißkredit geriet. Zwanzig Monate umfaßte auch der Zeitraum vom Januar 1878, als Emma und Karl einen gemeinsamen Hausstand eröffneten, bis zum September 1879, als er, von ihr als Versager abgetan, seine Haftstrafe antrat.

In der Erzählung läßt Martha den verkommenen Werner allein ins Elend sinken und sinnt auf Rettung ihrer Person, was dank ihrer Begabung als Sängerin auch gelingt. Und damit zeigt Karl May eines der vielen Beispiele für seine so oft übersehene Gabe, Sachverhalte sehr differenziert wiederzugeben: Des Lesers - und des Autors Sympathien liegen bei Martha, nicht bei Werner. Martha aber handelte genau wie Emma damals! Sie läßt Werner in sein Unglück rennen und als er verloren hat, wendet sie sich von ihm ab. Karl May brachte also offenbar Verständnis auf für Emmas Haltung während der Stollberg-Affäre, obwohl sie ihm Schmerz bereitete; er warf das ungünstige Licht auf sich (als Werner); er konnte die Ereignisse - gedämpft - in dem für Emma maßgebenden Lichte schildern, ohne dabei falsche Töne anzuschlagen.

V

Mehr noch: Die subtile Verlagerung des Gewichtes Emma von der glasklaren Martha auf den überraschungsträchtigen Winnetou bewirkt ein übriges - Karl May erteilt Emma Absolution.

Die Trennung des Erzählers von Martha in San Francisco vollzieht sich unter häßlichen Begleitumständen. Die stolze Martha sieht ihre scheinbar gefestigte Existenz in Trümmer fallen - wie seinerzeit Emma -, und reagiert erregt; Karl May alias Konrad Werner macht eine jämmerliche Figur; und der hiervon abgespaltete, das Unglück verschuldende Karl May alias Potter (14), der "die schöne, junge Frau


//8//

zu erlangen" hofft (15), sieht alles in Gefahr (16). Old Shatterhand hat sich hinreichend reizen lassen, um seinen Grimm in körperlichem Angriff auf Potter zu entladen (ein charakteristisches Bild einerseits für Mays Leidensbereitschaft und Neigung zum Masochismus, die er bekämpfen mußte, und andererseits ein Spiegel der beim Niederschreiben der Szene obwaltenden Emotionen, die nach einem aggressiven Auslaß drängten). Winnetou allein bleibt im Inneren unangetastet und ist unangefochtener Sieger - eine getreue Spiegelung der wahrscheinlichen inneren Einstellung Emma Pollmers im Jahre 1879 und damit eine differenzierte Leistung Karl Mays: Er läßt Emma Pollmers Abwendung von ihm, Karl, in zweierlei Licht und in zweierlei Gestalten (Martha und Winnetou) neu erstehen und läßt keinen Zweifel daran, daß Winnetou im Recht ist und daß er auch Martha überlegen ist. Winnetou aber steht als Ideal-Gestalt und Edelmensch noch über der Ideal-Gestalt Old Shatterhand, dem Ich-Erzähler. Damit wird für diesen, in der Person Karl Mays, der Weg frei, die Einstellung Winnetous zur Einstellung des Ich zu machen und Emma zu verzeihen. Der im Herzen zum Ideal erhobene Gefährte kann nicht schimpflich handeln: Emma mußte Karl den Laufpaß geben - in dem geheimen Gedanken, es werde ihn zur Selbstbesinnung bringen; und Winnetou mußte sarkastisch mit Werner rechten - auf die Möglichkeit hin, es werde ihn aufrütteln. Falsches Mitleid wäre unangebracht gewesen. So bringt Karl Mays Phantasiereichtum ihn dazu, ganz im stillen der zwiespältig-schillernden Emma noch gute Motive zu unterstellen: Masochismus (siehe oben) war eine seiner Stärken-und-Schwächen.

VI

Und damit ist die Voraussetzung geschaffen, in der Suche nach Small Hunter das Stollberg-Abenteuer noch einmal im Geiste zu durchleben - und es diesmal so in den Griff zu bekommen, daß es, wie May hofft, seinen Schrecken verliert (17). Und Emma wird dabei nicht als die lieblose Megäre erscheinen, als die sie sich ja leicht hinstellen ließe. Karl May muß sich das Helle wie das Dunkle in Emmas Wesen vor Augen halten - anderenfalls betrügt er sich noch viel schlimmer, als er es ohnehin schon tut.

Bei der Verteilung der Gewichte von Hell und Dunkel in der Anstrengung, die so naive und doch so komplexe Seele Emma Pollmers umfassend zu ergründen, nehmen der Mensch Karl May und der Schriftsteller Karl May abwechselnd Besitz voneinander, und aus der zwischen Hörigkeit und Anbetung, Verzweiflung und Verlangen, angesam-


//9//

meltem Grimm und immer neu aufkeimender Liebe schwankenden Sehnsucht nach Klarheit entsteht sowohl das lichte Bild eines in der Tat opferwilligen, zu jeder tatkräftigen Unterstützung des Blutsbruders Sharlieh entschlossenen und im tunesischen Wüstensand heldenhaft agierenden Winnetou als auch das doppeldeutig getrübte Bild eines Winnetou beim Gesangverein.

VII

Karl May hat die Szene und ihren Hintergrund wie folgt beschrieben (DH 21, 55 re, 56li; F 21, 247, 248, 249):

Am nächsten Tage ritten wir von San Francisco fort und drei Monate später nahmen wir am Hole in Rock für dreißig Monate Abschied voneinander. Er behielt das Pferd, welches ich geritten hatte, zurück, und ehe wir uns trennten, wurden, wie es auch früher stets gewesen war, der Ort und die Zeit genau besprochen, an welchem und zu welcher wir uns wieder treffen wollten.

Einige Monate blieb ich daheim; sodann ging es wieder fort, dieses Mal nach dem Orient, in welchem ich zwanzig Monate blieb. Nach meiner Rückkehr von dort versteckte ich mich für einige Zeit zwischen meine Bücher und kam nur wenig unter Menschen. Wöchentlich einmal aber besuchte ich einen Gesangverein, dessen Ehrenmitglied ich war und heute noch bin. Das war meine Erholung. ... ...

"Es sind zwei Herren da, welche mit Ihnen sprechen wollen. ... Der eine ist ... ein ganz eigentümlicher dunkelfarbiger Mensch. Er spricht kein Wort, nimmt den Hut nicht ab uns sieht einen mit seinen Augen an, daß man sich ganz unheimlich fühlt."

... Winnetou ... in Dresden! Und wie sah der gewaltige Krieger aus! Eine dunkle Hose, eine ebensolche Weste, um welche ein Gürtel geschnallt war, einen kurzen Saccorock, in der Hand einen starken Stock und auf dem Kopfe einen hohen Cylinderhut, den er nicht abgenommen hatte! (18) Ich erzähle die Thatssache in einfacher, kurzer Weise, brauche aber wohl kaum zu versichern, daß meine Überraschung, mein Erstaunen, ihn hier zu sehen, wenigstens eben so groß wie mein Entzücken darüber war.

Ich sprang auf ihn zu; er kam mir ebenso rasch entgegen; auf halbem Wege fielen wir uns in die Arme. Wir küßten uns wieder und immer wieder ... ... Die Gestalt, in welcher er seinen Shatterhand vor sich sah, war gar so zahm, und die Figur, welche der tapferste Krieger der Apatschen bildete, war so friedlich und so drollig, daß ein Hexenmeister dazu gehört hätte, sich des Lachens zu enthalten. ... ...

... Ich ahnte, weshalb er den Hut nicht abnahm; er hatte die Fülle seines reichen, dunklen Haares unter demselben verborgen. Ich nahm ihm den Cylinder ab; da wurde es frei und fiel ihm wie ein Mantel über die Schultern und weit auf den Rücken herab. ...

Wie oft hatte ich Winnetou gebeten, einmal mit mir nach Deutschland zu gehen oder mich dort zu besuchen! Es war stets vergeblich gewesen. ...

Diese Zeilen schildern sehr beredt einen Ausschnitt des Konfliktes, den May innerlich mit Emma durchfocht - und zwar sowohl im ehelichen Dauerzustand als auch vor der Heirat im Zeitraum der Affäre Stollberg. Der Konflikt hat May offenkundig während des Entstehens des Manuskriptes derart beherrscht, daß alle Vernunfterwägungen darüber ins Abseits gedrängt wurden. Winnetou erscheint in Dresden in einem Gasthaus und wird von einem ganzen Gesangverein begrüßt! Dieses Ereignis - wäre es, wie May dreist behauptete, wahr gewesen -


//10//

hätte Aufsehen erregt und den Zeitungswald zum Rascheln gebracht; Mays Wohnung wäre von Menschentrauben umlagert gewesen. Dresden hätte ein sensationelles Stadtgespräch gehabt. Doch kein Mensch kannte einen einzigen Zeugen der Begebenheit. Der Wahrheitsanspruch, den May dringlich für seine Erzählungen erhob, wurde hier ins Extrem gesteigert, erlitt aber zugleich einen so ungeheuren Stoß, daß May mit der Publikation dieser Szene eigentlich von Stund an der Unglaubwürdigkeit hätte verfallen müssen. Er erschaut Winnetous Auftauchen im Gasthaus nur in seiner Phantasie, scheut sich aber nicht, dieses Auftauchen als Tatsache hinzustellen. Die damit verbundene Gefahr der Entlarvung dürfte als eine Art Warnsignal in einem Winkel des hin und wieder regelnd eingreifenden Verstandes aufgeblitzt sein- aber May nahm sie in Kauf. Das brodelnde Verlangen, sich mit dem Trugbild der lichten Emma wie mit dem der gehässigen Emma in einer sensationell aufgeputzten Phantasieszene auseinanderzusetzen und die Qualen der Täuschung durchzukosten, um von ihnen freizukommen, oder sich in eine Stimmung der Großmut hineinzusteigern, wog stärker als alle Einwände der Logik.

VIII

Mays Zeitangaben sind trügerisch konkret und trügerisch vage - und erstaunlich prägnant. Ihre Analyse - unter Berücksichtigung anderer relevanter Angaben - und die daraus resultierenden Schlußfolgerungen liefern ein so interessantes Beispiel für geheime Abläufe im Unterbewußtsein, daß sie hier und in den beiden folgenden Abschnitten im einzelnen aufgezeigt werden sollen.

Es bleibt zweideutig offen, ob die dreißig Monate der Trennung Old Shatterhands von Winnetou sich auf die von vornherein so geplante, verabredete Zeitspanne beziehen oder auf den Zeitpunkt des tatsächlichen, überraschenden Wiedersehens. Beides ist möglich. In der Tat können die "dreißig Monate" sich zusammensetzen aus "einige Monate daheim" plus "zwanzig Monate Orient" plus "einige Zeit nach der Rückkehr" - oder nicht.

Die Zeitangaben belegen aber die Mindestdauer der von Small Hunter in Gesellschaft Jonathan Meltons unternommenen großen Reise - nämlich eben (mindestens) die Zeit, während welcher Old Shatterhand und Winnetou getrennt waren; das sind, grob gerechnet, mindestens zweieinhalb Jahre (19). Die Wahrscheinlichkeit spricht jedoch für einen noch längeren Zeitraum:


//11//

Als Jonathan Melton seinen verräterischen Brief an Onkel Harry schreibt, stehen bis zum Beginn der Reise " Noch einige Monate" bevor (DH 20, 730 r; in DH 21, 59 li wiederholt; F 21, 81) - aber als Old Shatterhand diesen Brief findet, ist er - wenngleich "in neuerer Zeit geschrieben" (DH 20, 730 li; F 21, 79) - offenbar schon einige Zeit in Harry Meltons Besitz. Das ist auch erklärlich: Der Mormone dürfte ihn bereits in Guaymas besessen und schon vorher erhalten haben; die Ereignisse danach bieten nur sehr spärlich Gelegenheit, Post zu empfangen. Im Hinblick auf die Handlungsstruktur und das Schlingen der Fäden hätte Karl May zweifellos eine Gesprächsszene Old Shatterhand/Don Timoteo Pruchillo bzw. Old Shatterhand/Player genutzt, um den Brief zur Sprache zu bringen, falls dieser von einem der beiden für Harry Melton in Empfang genommen und dann dem Mormonen übergeben worden wäre. Die von Jonathan Melton mit "Noch einige Monate" bezeichnete Frist kann durchaus abgelaufen sein, als Old Shatterhand die Zeilen liest; Small Hunter mag sogar bereits mit Jonathan zu dem Zeitpunkt aufgebrochen sein, als Old Shatterhand (in 'Die Felsenburg') nach seiner Befreiung aus der Gefangenschaft bei Großer Mund unerwartet mit Winnetou zusammentrifft.

Demnach fallen in die Zeit der Reise Small Hunters zunächst die zum Sieg Old Shatterhands und Winnetous über Harry Melton und Großer Mund führenden Abenteuer - und dann die sich daran anschließenden Ereignisse: der "lange und beschwerliche Ritt" (DH 20, 820 li; F 21, 200) mit den geretteten Einwanderern nach Texas; das Verweilen bei diesen für "einige Zeit" (ebda.); der Ritt "Durch den Llano estacado nach New Mexiko und Arizona" und von da "durch Nevada nach Kalifornien und San Francisco" (DH 21, 38 r; F 21, 232). Bei allem Hin- und Herrechnen ergibt sich immer wieder eine Gesamtdauer von fünf bis sechs Monaten. Und dazu kommen noch die "drei Monate", welche Winnetou und Old Shatterhand nach ihrem Aufbruch von San Francisco noch zusammenbleiben (DH 21, 55 r; F 21, 247). So ergeben sich acht bis neun Monate des Zusammenseins der Freunde. Währenddessen, wie gesagt, ist Small Hunter wahrscheinlich längst unterwegs: acht bis neun Monate plus zweieinhalb Jahre, also über drei Jahre.

Das erscheint, streng betrachtet, ein wenig lang für eine Orientreise Small Hunters, bei allem Verständnis für seine Reiselust. Für die Zwecke der Erzählung hätte ein kürzerer Zeitraum realistischer gewirkt, zumal Jonathan Melton ja, wie er im Brief betont, seinen Vater Thomas Melton aufsuchen will. Sollte er damit so ge-


//12//

duldig drei Jahre lang gewartet haben? (Wobei sich dieses so lange hinausgeschobene Wiedersehen dann ausgerechnet so "glücklich" fügt, weil der alte Hunter inzwischen verstorben ist und Thomas sofort zur Mordpistole greifen darf. Fragezeichen.) Aber was hier in die Geschichte so trügerisch verschwommen und gar etwas befremdlich einfloß, hatte einen handfesten realen Hintergrund: Bezogen auf Emil Pollmer nämlich passen "drei Jahre" oder gar mehr ausgezeichnet. Vor seinem unrühmlichen Ende im Januar 1678 zigeunerte er jahrelang umher. Die genaue Dauer dieses Vagabundierens war May jedoch wohl nicht bekannt, vermutlich nicht einmal dem alten Pollmer. Daher bleibt der Zeitpunkt des Beginns der Reise Small Hunters im Dunkel. Legitim vermuten läßt sich lediglich, daß Emil bereits geraume Zeit vor dem Kennenlernen Karl/Emma, also vor dem Sommer 1876, seine geregelte Arbeit aufgegeben und mit Streunen begonnen hatte. Somit ergibt sich ein entsprechender zeitlicher Abstand zum Ableben im Januar 1878 und zum April 1878, als Karl May daranging, Emil Pollmers Tod "aufzuklären". Die zeitliche und räumliche Überdehnung der Angelegenheit im Rahmen der Erzählung findet ihren Kontrapunkt in der entsprechend drastischen Verkürzung des Zeitraums zwischen dem Ableben und der Nachforschung: realiter etwa zweieinhalb Monate, in der Erzählung etwa ebensoviele Stunden.

IX

In seinem Anliegen, Emil Pollmers Funktion in bezug auf sein, Mays, persönliches Geschick aufzuzeigen, sagt Karl May die Wahrheit einerseits nur vage, andererseits scharf pointiert. Und um diesen Kern herum baut er ein entsprechendes Mustergemisch bei der Fixierung der anderen relevanten Daten der Biographie. Er wechselt in bewährter Manier die Vorzeichen und die Sequenz der Ereignisse aus und gestaltet in dichterischer Freiheit. Auch Seelenprotokolle wie die eines Karl May können, da sie in fabuliertes Abenteuergeschehen eingekleidet sind, nicht jederzeit haargenau der Chronologie der wahren Begebenheiten folgen - ähnlich wie in Träumen Zeitenfolgen verschoben und Örtlichkeiten vertauscht werden. Wenn Mays Innerstes im Begriff stand, etwas ängstlich Gehütetes preiszugeben, regte sich auch zugleich das Bedürfnis, eine schützende Hülle darüber zu breiten und die nach außen drängende Wahrheit zu verschleiern. May verdeckt, wenn er enthüllt, und umgekehrt. Das ständige Wechselspiel des Balancierens zwischen exakter Wiedergabe und schillernder Flunkerei, wie auch das Ineinanderfließen von Bildern aus verschiedenen Lebensabschnit-


//13//

ten, soweit sie assoziativ verbunden waren, kann wahrscheinlich niemals in all seinen Facetten ausgelotet werden. Was sich aber der Analyse erschließt, läßt immer wieder ein in sich geschlossenes innewohnendes System erkennen. So auch das zum Schutz vor der eigenen Courage vorgenommene Austauschen von Fiktion und Realität, das sich, wie in 'Krüger Bei', zwischen die direkten Spiegelungen schiebt:

Die Zeit der Trennung der Protagonisten in der Erzählung ist die Zeit ihres Beieinander im Leben, die Zeit des Beieinander in der Erzählung die Zeit der Trennung im Leben - mit einer verblüffenden Einblendung zweifacher Betrachtungsweise des "Orientaufenthaltes" -, und die Doppelspiegelung ergibt folgendes Bild:

- Dreißig Monate (in der Erzählung: Trennzeit Winnetou/Old Shatterhand) verbringen Emma und Karl in innerer Verbundenheit - obgleich nicht im ständigen unmittelbaren Zusammensein: Vom Zeitpunkt des Kennenlernens, Juli 1876, bis zum Bruch der Beziehung im Januar 1879 (20).

- Neun Monate Trennung (mindestens äußerer, wenn nicht innerer Trennung) schließen sich an: Januar 1879, als Karl von Emma im Stich gelassen wird, bis September 1879, als er seine Haftstrafe antritt. (In der Erzählung: Neun Monate Beisammensein gehen vorauf.)

- Diesen neun Monaten folgen im Leben noch einmal neun Monate des Getrenntseins: September 1879 (Haft) bis Mai 1880, als Karl zu dem sterbenden alten Pollmer eilt und Emma dort wiedertrifft.

(Im jähen Wiedersehen mit Martha in San Francisco und der Trennung von ihr dort fangen sich, in anderer Reihenfolge, der Bruch von 1879 und die Begegnung 1880. - Das Wiedersehen im Zusammenhang mit "der Erbschaft", d.i. Pollmers Tod, erscheint später noch einmal in New Orleans, als Old Shatterhand seine feindliche Freundin Judith aufsucht.)

- Danach kommen im Leben jene "drei Monate", die in der Erzählung den "dreißig Monaten" vorausgehen: Mai 1880 bis August 1880 -  vom Wiedersehen bis zur Heirat.

- Nun aber erscheinen, folgerichtig, die "dreißig Monate" der Trennung in der Erzählung, sprich: des Beieinander im Leben, noch einmal - und zwar unter dem mithineinverwobenen Aspekt der zum Zeitpunkt der Niederschrift des Manuskripts bereits längst - bestehenden Ehe und deren Krisenbeginn: Von August 1880 bis März 1883, rund dreißig Monate lang, ging alles recht gut, wenn auch vielleicht nicht gerade rundum erquickend. Anfang April 1883


//14//

aber zogen Karl und Emma um nach Dresden, in die Nähe des sie verfolgenden Heinrich Münchmeyer und dessen Ehefrau Pauline - und die Gewitterwolken der Krise zogen auf.

X

Der merkwürdige Doppelaspekt kennzeichnet jenen als "dreißig Monate" etikettierten Zeitraum aber auch, wenn er als nur ungenau beschriebene "Trennungszeit" angesehen wird: es bleibt ja, wie schon gesagt offen, ob Old Shatterhand und Winnetou dreißig Monate Trennungszeit verabreden und das Auftauchen Winnetous in Dresden vor Ablauf dieser Zeit erfolgte, oder ob bis dahin tatsächlich gerade dreißig Monate verstrichen waren; die Summe aus "einige Monate daheim" plus "zwanzig Monate Orient" plus "einige Zeit zwischen Büchern versteckt" kann dreißig Monate umfassen, aber natürlich auch weniger. Immer ausgehend von den für Karl und Emma maßgebenden Ereignissen zeigt sich:

- Der Zeitraum vom April 1878, als mit Karls Nachforschungen über den Tod Emil Pollmers in Niederwürschnitz der Grundstein für Emmas Entfremdung gelegt wurde, bis zur Eheschließung im August 1880 (kirchliche Trauung: September 1880) umfaßt nicht ganz dreißig Monate.

- In diese Zeit hinein passen exakt jene "zwanzig Monate im Orient" hinein, also Karls erzwungene Suche nach innerer und äußerer Befreiung vom Druck Emma Pollmers: von der Loslösung im Januar 1879 bis zum Zuschnappen der Ehefalle im August 1880. (In anderer, etwas abgeflachter Rechnung: vom Beginn der Krise in der Beziehung, im November 1878, bis zur Begegnung an Pollmers Sterbebett im Mai 1880.)

Unabhängig davon ist "zwanzig Monate Orient" zweifellos eine euphemistische Umschreibung für die (rund) zwanzig Tage Gefängnis vom 1. bis 22. September 1879, die Karl Gelegenheit gaben, seine Gefühle für Emma weiter abkühlen zu lassen (soweit er dazu fähig war).

Die mit "einige Monate daheim" und "einige Zeit zwischen Büchern versteckt" beschriebenen Perioden lassen sich mühelos einordnen; sie werden samt der "zwanzig Monate Orient" aber erst wirklich interessant, wenn sie - und mit ihnen die in der Erzählung nachfolgende, auf Niederwürschnitz hinweisende Szene - in (beinahe) umgekehrter Reihenfolge erscheinen. Dann ergibt sich, zusammen mit dem weiter oben bereits Dargelegten:


//15//

- Neun Monate "Trennung" = Ehekrise (in der Erzählung: Beieinander Old Shatterhand/Winnetou):
Von April 1883 bis Ende 1883 ("böse Münchmeyer-Zeit")

- Dreißig Monate Beieinander = erste Ehejahre (in der Erzählung: Trennung Old Shatterhand/Winnetou):
Von August 1880 bis März 1883

- "Zwanzig Monate Orient" = Lockerung der Beziehung zu Emma;
Trennungszeit:
a) Januar 1879 bis August 1880 (Heirat)
b) November 1878 bis Mai 1880 (Pollmers Tod)

- "Einige Monate daheim" = schriftstellerische Arbeiten:
a) September 1879 bis Mai 1880
b) November 1878 bis Januar 1879

- "Einige Zeit zwischen Büchern versteckt" = schriftstellerische Arbeiten:
Von April 1878 bis November 1878

- Aufforderung Pollmers, nach Niederwürschnitz zu gehen, und Mays Erscheinen dort:
April 1878
(In der Erzählung folgt diese Aufforderung der "zwischen Büchern versteckt" zugebrachten Zeit.)

XI

So etwa kann die "innere Rekonstruktion" in Karl May ausgesehen haben, als er daranging, in 'Krüger Bei' die unselige Affäre Stollberg zu verarbeiten, und die Ereignisse zurückrollte, um zu jener Szene zu gelangen, da Franz Vogel vom Verschwinden Small Hunters berichtet und Winnetou gespannt zuhört (DH 21, 75 li u. r; F 21, 260, 261):

"Es muß sogleich" (sagt Old Shatterhand; sprich: Karl May) "ein tüchtiger Mann nach Kairo" (sprich: Niederwürschnitz), "um beim Konsulate" (bei der Ortspolizei, beim Gastwirt) "nachzufragen und die Spur dann weiter zu verfolgen."

"Dieser Mann" (sagt Franz Vogel; sprich: Pollmer; Generationsverschiebung im Zwange der Erzählhandlung) "sind Sie: ... Gehen Sie; reisen Sie; beeilen Sie sich, ehe es zu spät wird!"

"Hm. Die Sache interessiert mich allerdings ungeheuer; aber meinen Sie, daß ich nur so hier sitze, um auf irgend eine Veranlassung hin meine Arbeiten wegzuwerfen und mich da drüben jenseits des Mittelmeeres" (sprich: abseits vom üblichen Wirkungs- und Erfahrungskreis; die Hochstaplerzeiten sind vorbei!) "mit Verbre-


//16//

chern herumzuschlagen?" (Emil Pollmer sollte ja ermordet worden sein. Mit Mördern ist nicht zu spaßen.)

"Thun Sie es dennoch, thun Sie es! Wenn Sie Small Hunter retten, wird er Sie reich belohnen." (Wenn der Todesfall als Mord aufgedeckt wird, winkt dem kleinen Schriftsteller Ruhm.) (21) "Ist er aber schon tot und Sie entlarven seinen Doppelgänger" (sprich: den Mörder Emil Pollmers), "so sind wir gern bereit, Ihnen einen Teil der Erbschaft auszuzahlen." (22) (Vielleicht kann ich, Christian Pollmer, eine Entschädigung geltend machen; die erhalten dann Sie.)

"Uff!" rief der Häuptling (sprich: Emma; für May die Hauptperson) zornig. "Old Shatterhand nimmt kein Geld, und solches Fährtenspüren kann überhaupt kein Mensch bezahlen!" (Pfui, Großvater! So etwas kann man doch wirklich nicht mit Geld gutmachen wollen. Außerdem hat Karl es nicht nötig, Dein Geld anzunehmen; so viel haben wir allemal selber. Und überhaupt ist es eine Zumutung, von ihm zu erwarten, daß er Detektiv spielt. Das kann böse ausgehen, da die Gendarmen ihn doch lange Zeit auf dem Kieker hatten. Und dann - kann er so etwas durchziehen? Ich weiß nicht. Schaffst Du das Karl?)

"Dann bleibt mir nur noch das eine Mittel übrig, welches das letzte ist, Sie zu bewegen. Thun Sie es Marthas wegen." (23) (Emmas wegen. - Tun Sie es, damit Emma wirklich Grund bekommt, Respekt vor Ihnen zu haben. Den haben Sie nämlich nötig. Sie sehen doch, wie wenig sie Ihnen zutraut.)

"Beruhigen Sie sich, ich war schon vorhin im stillen bereit, mich sogleich nach Kairo aufzumachen -"

Und gleich darauf:

Wie scharfdenkend und feinfühlend Winnetou war, zeigte er auch jetzt wieder, indem er mit einer mir sehr verständlichen Bewegung die Hand auf seinen Gürtel legte (24) und dabei sagte:

"Winnetou bittet Old Shatterhand, keine Hindernisse gelten zu lassen."

(Wenn Du also durchaus willst - bitte. Das Geld, das Du dafür brauchst, sollten wir wohl übrig haben. Meinetwegen auch soll Großvater es Dir doch geben. Aber ob ich Dich nachher zu mir lasse, Karle, ist eine ganz andere Sache. Na, soll ich mich mal weigern, Karlchen?)

Winnetou kann dem Gespräch zunächst kaum folgen, da er kein bzw. zu wenig Deutsch versteht, nimmt später aber sehr aktiv Anteil: Emma war zuerst also wohl desinteressiert oder gar begriffsstutzig, ereiferte sich nachher aber umso mehr. May schildert Emmas zwiespältige Einstellung gegenüber dem Nachforschungs-Vorhaben genau.


//17//

Einerseits erschien es ihr gefahrbergend, andererseits machte es einträglich sein. Wenn sie ablehnend blieb, hatte sie später die Genugtuung, sich auf ihre Warnungen berufen zu können; wenn sie zustimmte, mußte sie Karl den Rücken stärken. In der Erzählung kommt beides später, balancegerecht, mehrmals im Verhalten Winnetous und Emerys (25) passend zum Ausdruck - besonders auffallend, indem Winnetou vor der Falle bei den Uelad Ayun warnt (DH 21, 438 Li; F 21, 500) und später, als sie zugeschnappt ist, mit Recht erklärt: "Winnetou hat es geahnt" (DH 21, 438 r; F 21, 502), wahrend Emery für kühnes Handeln plädiert und von der Wirkung überrascht wird (ebda.).

So nimmt denn das Schicksal seinen Lauf. Und Karl May hat in der Rekonstruktion, in der phantasieumwobenen Schilderung des Stollberg-Geschehens rigoros die Winnetou-Figur als (Teil-)Inkarnation seiner Frau Emma eingesetzt.

Was jetzt näher erläutert werden soll.

XII

"Wie oft hatte ich Winnetou gebeten, einmal mit mir nach Deutschland zu gehen oder mich dort zu besuchen! Es war stets vergeblich gewesen." Der ideale Gefährte soll den Erzähler in dessen Alltagsdasein in heimischer Umgebung erleben und akzeptieren - und soll wertvolle neue Eindrücke dabei gewinnen. Das heißt aber: Emma soll teilnehmen an den Gedanken und den Empfindungen Karls, an seinem Streben nach geistiger und seelischer Weiterentwicklung; sie soll Bücher lesen - auch Karls Erzählungen lesen - und sich fortbilden. "Es war stets vergeblich gewesen" ...: Wie oft hat Karl May das beklagt.

Und dann eines Tages überrascht ihn der Mensch, in dem er den idealen Gefährten erblickt, erblicken möchte, inmitten der Sangesbrüder - platzt also hinein in Karls ureigenste Interessenwelt. Ein unpassender Fremdkörper in unpassender Aufmachung. Und doch jubelnd willkommen geheißen. Der Gesangverein ist hier nur sinnbildliche Kulisse für die Zufluchtswelt, den Innenhort des Karl May. Und zu dieser Welt verschafft Emma sich jählings Zutritt.

Damit ersteht das Bild in verschiedenen Ausführungen, die sich aufeinander legen lassen, aber auch voneinander lösen lassen; sie komplementieren einander und sind doch auch isolierte Einheiten. Und jedem Bild liegen unterschiedliche Gedankenströme Karl Mays zugrunde, die im einzelnen und auch in der Vermengung Gültigkeit haben und jeweils Ausdruck differenzierten subjektiven Empfindens


//18//

sind. Das Subjektive, auf das allein es hier ankommt, fließt ja in die Texte ein - und oft genug stand es im Widerspruch zum objektiven Sachverhalt.

1 Es ist ein von der Sehnsucht heraufbeschworenes Bild, Emma möge die Interessen ihres Mannes uneingeschränkt teilen, sich offen dazu bekennen und ihm hin und wieder auch einmal eine freudige Überraschung bereiten; es ist Mays Frage an sich selber, ob er wohl Emma diesbezüglich überhaupt jemals wirklich genügend ermuntert hat. Dieses Sehnsuchtsbild stellt die genaue Umkehrung der Wirklichkeit dar - oder dessen, was May für Wirklichkeit hält: Er gibt Emma wieder und wieder Anstöße, aber sie weicht aus; er wirbt um ihre Seele, aber sie platzt höchstens im denkbar ungeeigneten Moment nur mit Erkundigungen oder Mitteilungen herein, die ihm zuwider sind und ihn aus dem Schaffenskonzept reißen. Er braucht sie - aber sie stört ihn. "Ich erzähle die Thatsache in einfacher, kurzer Weise --"

Welches Verlangen nach überquellender, gern gewährter Zärtlichkeit wird sichtbar: "(wir) fielen uns in die Arme. Wir küßten uns wieder und immer wieder. ... (Das Haar) war frei und fiel wie ein Mantel über die Schultern -" Wie sehr muß dieser Mann diese Frau, von der er sich so maßlos enttäuscht fühlte, geliebt (und begehrt) haben, und wie sehr muß der körperlichen Vereinigung in der Tat der Gleichklang der Seelen gefehlt haben, wenn die immer wieder erstickte Sehnsucht nach Harmonie schließlich auf einem derartigen Umwege wie "Winnetou beim Gesangverein" sich gewaltsam ihren Weg bahnte.

2 Es ist zu gleicher Zeit Mays überlautes - und darum so ungeschickt verkleidetes - Eingeständnis, die tatsächlichen Versuche Emmas, in seine Innenwelt vorzudringen und sich Verständnis dafür anzueignen, nur allzugern zu bagatellisieren - die gewiß naiv und vordergründig, wohl auch recht oberflächlich, aber doch bereitwillig unternommenen Versuche einer Emma, die die Geographischen Predigten und die Erzgebirgischen Dorfgeschichten (26) gelesen hatte und bei Bekannten sachkundig von Nscho-tschi zu plaudern wußte (27) und Halefs muntere Streiche kannte (28) und die immerhin ja sehr wohl wußte, daß sie ihren Lebensunterhalt aus den Mitteln bestritt, die der Phantasiereichtum ihres Mannes einbrachte; sie konnte Mays Schaffen nicht völlig gleichgültig gegenüberstehen. Aber: sie ging nicht darin auf wie er; sie hatte lebenswichtige Interessen anderer Art; sie vermochte nicht die ersehnte


//19//

Seele zu sein, die wie die Winnetous harmonisch aufging in die Seele Old Shatterhands. Emmas Art, Anteil zu nehmen an Karls Welt, war kindhaft und führte ins Leere, weil Emma, anders als später Klara, zu stolz war, sich als willig-gelehrige Schülerin vom Herrn Lehrer Karl May in allem und jedem belehren zu lassen: Die Erziehungsfehler des Großvaters, die dieser viel zu spät erkannte, wirkten nach. Karl May nahm das flugs zum Anlaß, seiner Frau Unverständnis für innere und höhere Wert zu attestieren. Groteskerweise bot die eifrig genährte Vorstellung, Emma sei nicht zur Anteilnahme bereit, ein größeres Stimulans als das Gegenteil: Aus dem selbstheraufbeschworenen Grund zum Klagen erwuchs ein Grund, auf die Überwindung auch dieses erduldeten Leidens hinzuweisen. So verschloß Karl May sein Herz vor der eigentlichen Wahrheit und flüchtete sich in den Gedanken an Emmas Desinteresse. Und jedesmal, wenn er ihr das vorwarf, war er überzeugt von der Richtigkeit seiner Worte. Die erschütternde Stelle von der "tiefen inneren Verlassenheit" in der Selbstbiographie (Mein Leben und Streben, 1. Auflage, 1910, S. 205) beruht auf Mays fester Überzeugung, von Emma immer wieder nur enttäuscht und getäuscht worden zu sein (29). (Dieser Hinweis auf einen wahrscheinlichen Irrtum Karl Mays besagt natürlich nicht, daß Emma ihn de facto nie - sexuell und finanziell - betrogen oder ihm nie berechtigten Anlaß zur Klage gegeben habe.)

3 Es ist die schmerzvolle und doch so wonnige Erinnerung an das erste traute Beisammensein unter vier Augen, damals im Sommer 1876, "als meine Hinterthür für sie offen stand" (30) und Emma zu Karls Überraschung und Genugtuung wirklich kam, als zwei Liebende einander mit den Augen verschlangen und Karl Emmas Haar löste und sie einander nicht mehr loslassen mochten. Und es ist das noch weit schmerzvollere und gar nicht wonnige Erinnerungsbild an die hoffärtige, von Bewerbern umschwärmte und sich ihrer Ausstrahlung nur allzu bewußte Emma Pollmer, die sich trotzig vor dem kleinlaut geduckten Karl May aufbaute und ihm die Leviten las, weil er sich in Niederwürschnitz in Verruf gebracht hatte und nun ins Gefängnis mußte und ein solcher Verlobter für sie, die ja jeden anderen bequem haben konnte, natürlich nicht tragbar war, und der ihr nachwinselte ("Die Gestalt, in welcher er seinen Shatterhand vor sich sah, war gar so zahm --") ... Das Bild dieser Emma, die sich doch von ihm getrennt hatte, verfolgte ihn in jenen Monaten des Jahres 1879, ließ ihm keine Ruhe, fand Eingang in das Manuskript 'Scepter und Hammer' und störte ihn - weil er es liebte und fürch-


//20//

tete. Und hier hinein mischt sich das Bild des unerwarteten Wiedersehens mit Emma Ende Mai 1880, als ihr Großvater starb und sie in Karl May den einzigen helfenden Menschen sah, der bereit war, alles zu verzeihen .... (31)

XIII

Emma als Winnetou - Winnetou als Emma? Alles andere als abwegig. Sie waren beherrschende Faktoren im Leben dieses selbstquälerischen Menschen, die in seiner auf das Papier strömenden Vorstellungswelt eine Synthese eingingen. Aber wirklich fernab des Schlüpfrigen - ohne Übertretung der Grenzen des moralischen Anstands? (Oder was man dafür hielt bzw. hält.) Ganz gewiß. Die unter der Bewußtseinskontrolle durchgeschlüpfte Formulierung "nahmen wir am Hole in Rock ... Abschied ... Er behielt das Pferd, welches ich geritten hatte, zurück -" z.B. ist in ihren sich aufdrängenden Konnotationen sicherlich kein geheimer Wunsch nach Intimitäten mit dem Manne Winnetou, sondern höchstens das Geständnis laut tickender Erinnerung an leidenschaftliche Hingabe Karls an die äußerst bereitwillige Emma, die im übrigen ihre körperliche Anziehungskraft ein Vierteljahrhundert lang nicht verlor ... und deren Person und Wesen die Szenen der Erzählung beherrschen - in Judith, in Martha, in Winnetou. Emmas Jugendschönheit, von der May zeitlebens viel Aufhebens machte, wird in Judith wie in Martha lebendig. Und auf Winnetou werden drei maßgebende Eigenheiten Emmas übertragen:

"... und sieht einen mit seinen Augen an, daß man sich ganz unheimlich fühlt" beschreibt May die Wirkung des Blicks - und spielt damit an auf Emmas "hypnotische Kräfte", denen die Menschen unterlagen, denen Klara Plöhn (32) und Karl May (33) anheimgefallen waren. Emma Pollmer mag in Wahrheit keine solchen Kräfte besessen haben - May aber schrieb ihren Einfluß, den sie auf ihn ausübte, seit eh und je solchen Kräften zu und ließ dementsprechend Winnetous Blick von bezwingender Macht sein, was sich genau in die Szene und deren psychologischen Hintergrund einfügt. Das erhalten gebliebene Jugendbildnis Emma Pollmers, das sich als Abbildung 132 auf Seite 73 in "Der große Karl-May-Bildband" (34) findet, läßt übrigens in der Tat eine Art hypnotischen Glanzes dieser Augen ahnen.

"Ich ahnte, weshalb er den Hut nicht abnahm; er hatte die Fülle seines reichen, dunklen Haares unter demselben verborgen. Ich nahm ihm den Cylinder ab; da wurde es frei und fiel wie ein Mantel über die Schultern ... herab." Das vorerwähnte Bild zeigt Emma mit ei-


//21//

nem großen Hut, der die Haarfülle verdeckt. Die Abbildungen Nr. 164 auf Seite 88, Nr. 330 auf Seite 147 und Nr. 346 auf Seite 154 im genannten Bildband lassen erkennen, daß Emma jedenfalls dunklere Haare hatte als Karl und daß sie ihr Haar in einen Knoten hochgesteckt trug. (Winnetou flocht eine Klapperschlangenhaut hinein - das gleiche Prinzip.) Wie manchmal mag Karl - oder Emma für ihn - den Hut abgenommen und den Knoten gelöst haben, so daß das Haar frei fiel.

Alle diese Photos lassen zudem aber auch erkennen, daß Emmas Backenknochen "kaum merklich vorstanden" - ein Charakteristikum, das in fast jeder Beschreibung Winnetous wiederkehrt.

XIV

Dennoch wollten mir alle diese Feststellungen und Erkenntnisse seinerzeit nicht hinlänglich erscheinen, als ich die Notizen für das Nachwort zum Hausschatz-Reprint 'Krüger Bei'/'Die Jagd auf den Millionendieb' zusammentrug. Eine dieser Notizen enthielt die Frage: "Emma in Männerkleidung? Belegbar? Wenn ja: Erregte sie Karls Gefallen oder Mißfallen?" Ausschlaggebend für die Erhärtung meiner Theorien erschien mir, auf einen Beleg hinweisen zu können, daß der fiktive Auftritt des verkleideten Winnetou Niederschlag einer realen Begebenheit war. Diesen Beleg nicht beibringen und die von mir selbst gestellte Frage nicht befriedigend beantworten zu können, bewog mich, das heikle Thema damals auszuklammern. Die Entscheidung wurde erleichtert, weil der Umfang des Nachwortes in Grenzen gehalten werden mußte.

Inzwischen hat ein alter May-Kenner, der zu meinem Bedauern nicht mehr unter uns weilt, mich etwas Entscheidendes wissen lassen: in Karl Mays Besitz befand sich eine (mutmaßlich noch heute existierende) Photographie, welche Emma als Mann verkleidet zeigt und von May als abscheulich und "pervers", von Emma aber als äußerst gelungen und ihr gerecht werdend empfunden wurde (35). Betrachter, die Emma nicht erkannten, tippten dem Bekunden nach zu Emmas diebischem Vergnügen und zu Mays Unbehagen auf ein Bild aus dem "Verbrecheralbum", z.B. eines Hochstaplers (36).

Ich habe keine Veranlassung, irgendetwas an dieser Mitteilung in Zweifel zu ziehen. Der vermißte Beleg ist vorhanden. Die Existenz des Photos und Mays Einstellung dazu fügen sich bruchlos in meine Überlegungen ein und füllen die vormals vorhandene Lücke:

Karl May hat im Erscheinungsbild des so unpassend verkleideten Winnetou ("Und wie sah der gewaltige Krieger aus!") (37) als vier-


//22//

te Großvision auch jene Emma heraufbeschworen, die ihren Ehemann mit Freuden hinterging, die er als pervers einstufte und die mit ihrer sexuellen Dominanz über ihn triumphierte. Er konnte ihr nicht widerstehen ("auf halbem Wege fielen wir uns in die Arme. Wir küßten uns wieder und immer wieder -"; "Shatterhand ... war gar so zahm) " (38), aber er brauchte auch den Sieg über sie - zumindest in der Phantasie. Diese Emma hatte Heinrich Münchmeyer und all seine Freunde und manchen anderen Mann behext und pflegte bemerkenswerte freundschaftliche Beziehungen auch zu Frauen und quälte damit ihren Karl -- Und so zaubert er sich eine Winnetou-Emma "so friedlich und so drollig, daß ein Hexenmeister dazu gehört hätte, sich des Lachens zu enthalten" ... Des Lachens, das Karl May in seiner Ehe so entbehrte und das er sich im Arbeitszimmer am Schreibtisch schuf, um Emma überlegen zu sein.

XV

Winnetou beim Gesangverein - dieses fast aberwitzige Vorkommnis in einer der bedeutendsten Reiseerzählungen ist ein vielschichtiges Vexierbild mit Tiefenperspektive, eine Vermengung all dessen, was May sich von dem ersehnten Idealbild Emma wünschte, mit all dem, was die wirkliche Emma ihm an Mißliebigkeiten antat und - daraus resultierend - der zum Dämon hochstilisierten Emma an Schrecklichem angelastet wurde. Indem er Emma-Funktionen und Emma-Züge auf den "dunkelfarbigen", aber integren und stützenden Winnetou überträgt, erreicht Karl May zweierlei: Er kann eine quälende Episode aus seinem Leben erzählen, ohne nachträglich neu darunter zu leiden, und die Emma des Alltags - im Widerschein des Ideals Winnetou - wird für ihn bequem erträglich. Das Bestreben, Emma sowohl überschwarz wie überhell zu zeichnen - und sie somit nach Belieben zu beurteilen -, geht so weit, daß sie als Martha von jedem Fehlverhalten in der Sache Stollberg freigesprochen wird, als Winnetou während des Afrika-Abenteuers - d.h. eben der leidigen Stollberg-Affäre - sogar heldenhaft agieren und um den scheinbar verschütteten Kara Ben Nemsi/Old Shatterhand - d.h. den im Gefängnis sitzenden Karl May - klagen und trauern darf, später als kranker Winnetou den Fortgang des verheißungsvollen Geschehens aufhält - d.h. die schriftstellerische Entwicklung Karl Mays verzögert, weil er ihr zuliebe wieder für Münchmeyer arbeitete (39) - und daß sie als Judith zur Teufelin entartet, die das vorzeitige Ende ihres Mannes als Wohltat empfindet und die auch vor einem Mordanschlag nicht zurückschreckt. Im gleichen Maße, wie die zur Anbe-


//23//

tung des Herrn Doktor May bereite Martha dann abermals in den Vordergrund geschoben und zur Über-Emma erhoben wird - gegen Schluß der Trilogie ist sie es, die dem heimlich-unheimlich geliebten Mann in die Gefahr der Wildnis folgt -, gerät Winnetou als Träger von Emma-Funktionen in die Abschwung-Bahn: Er und Old Shatterhand bilden gar nicht mehr die ungetrübte Einheit wie in Afrika (40). Die im Inneren Karl Mays wirksamen Unterströmungen haben treffliche Abbildungen komplexer Spannungszustände schizoider Prägung zuwege gebracht. Alles ist Wahrheit - und alles ist Traum. Wie Martha Vogel in unnahbarer Reinheit und Judith Silberstein in gewissenloser Verworfenheit, so ist auch Winnetou in degoutanter Verkleidung beim Gesangverein ein Traum des in ewiger Verstrickung gefangenen Karl May - ein Traum von einem Ausschnitt der Wahrheit, der der Mensch Karl May nicht gewachsen schien und der er sich doch immer wieder stellte - und die er in seinen Träumen besiegte. Er verwünschte seine Ehe - und wollte doch nicht ohne sie sein, weil sie ihm Halt gab und Grund zum Kampf, zum Trotz. Er war ein Gefangener dieser Ehe - und ein Gefangener dieser Träume.

Die Träume des Gefangenen, in deren rettendes Gespinst er flüchtete - und von denen er lebte, weil er sie beschrieb und als Reiseabenteuer verkaufte ... In ihrer Kühnheit aber waren diese Beschreibungen so faszinierend, daß im Leser keine Zweifel an der Authentizität der Geschichten aufkamen. Auch "Winnetou beim Gesangverein" überzeugte und geriet zum Erfolgserlebnis für den Autor. Es bestärkte ihn, später im Propagieren der Old-Shatterhand-Legende. Und ließ ihn immer wieder einmal zwischendurch in Emma etwas von dem erblicken, als was sie in sein Leben getreten war: die vollkommene Gefährtin. Auch wenn sie ihn beherrschte statt er sie -- so wie Winnetou der einzige ist, von dem Old Shatterhand Zurechtweisungen und Belehrungen akzeptiert. Auch wenn sie zu Tand und Tändelei neigte - wie Judith. Auch wenn sie die Männer magisch anzog - wie Martha, und doch anders als diese. Auch wenn sie ein Traum war. Ein Traum des Gefangenen (41).


//24//

Nachbemerkung:

Lieber Leser, sind Sie aufrichtig der Meinung, all das hier Vorgebrachte sei zwar recht unterhaltsam, aber natürlich blühender Unsinn ohne Substanz, so können Sie durchaus Recht haben. Karl May, der den Zufall nicht gelten lassen wollte, mag in seine Werke durch reinen Zufall hunderte - ja, hunderte - von Zufälligkeiten hineingetragen haben, die Ähnlichkeiten mit seinem Leben aufweisen oder doch bestimmte Assoziationen nahelegen. Diese Zufälligkeiten und die aus ihnen ablesbaren Deutungen mögen aber auch etwas anderes sein: Zeichen einer sinnvoll regelnden Ordnung schöpferischer Kraft, die das Unbewußte des Autors und damit sein Schaffen steuerte - und die damit Glück in sein Leben hineintrug und sich immer wieder selbst nährte. Bis der Zweck erfüllt war. Der Verfall der Kräfte Karl Mays wurde selbstverständlich beschleunigt, ab 1909/1910, durch die aufreibenden Prozesse, den Kampf gegen Rudolf Lebius, die Pressekampagnen. Aber hätte er wirklich noch eine Sendung, eine nicht von der Hand zu weisende Aufgabe gehabt, wäre der Funke in diesem Manne nicht bereits erloschen, nachdem 'Ardistan und Dschinnistan' vollendet war (42). Danach lebte das Schaffen noch kurze Zeit von der noch schwelenden und nur langsam erkaltenden Glut: die bis dahin innerlich ruhelose Seele hatte Ruhe gefunden und zehrte sich nun allmählich auf. 'Ardistan und Dschinnistan' brachte Karl May den Frieden des Ich, um den er seit 1874 gerungen hatte. Auf dem Wege dahin aber hatte er immer wieder in diese seine Seele hineingeschaut und all das, was auf ihr lag und was sie bewegte, wieder und wieder im Werk aufgezeichnet. Ausdruck eines Ordnungsprinzips, meine ich. Kein Zufall. Und daher erkennbar.


//25//

Anmerkungen

- Bei Hinweisen auf Textstellen lies: DH 20, DH 21 = Deutscher Hausschatz, XX. Jahrgang, XXI. Jahrgang, gefolgt von Seitenzahl; li = linke Spalte, r = rechte Spalte; F 20, F 21 = Band XX, Band XXI der Gesammelten Reiseerzählungen, Fehsenfeld, Freiburg ("Satan und Ischariot I, II"), gefolgt von Seitenzahl. Die Radebeuler Ausgabe des Bandes 20 ist bis zum 83. Tsd., die von Band 21 bis zum 80. Tsd. seitengleich mit der Freiburger Ausgabe. -

1 Siehe Fritz Maschke, Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Karl-May-Verlag Bamberg, 1973. Siehe auch bei Heinz Stolte, Die Affäre Stollberg ..., in: Jahrbuch der Karl-May-Gesellschaft (JbKMG) 1976.

2 Vgl. hierzu das Nachwort zum Reprint (aus Deutscher Hausschatz, XXIII und XXIV. Jahrgang) "Im Reiche des silbernen Löwen", Karl-May-Gesellschaft (KMG) und Buchhandlung Pustet, Regensburg 1981.

3 Selbstverständlich - davon gehe ich aus - nicht unter einem bewußt vorgefaßten Entschluß Karl Mays, sondern als Folge unverarbeiteter oder ungenügend bewältigter Innenerlebnisse, die sich während des Erzählflusses aus der Verschmelzung des seelischen Potentials mit der phantasiebegabten Denkkraft in die äußere Abenteuerhandlung einordneten und insgeheim die Gestaltung und den Ablauf der Erzählung diktierten. Ähnlich verhielt es sich mit der Mehrzahl der vor 1900 ins Werk eingeflossenen biographischen Spiegelungen. Einzelne Aspekte entsprangen zwar sicherlich einem bewußt verfolgten Planen (z.B. "Der Mahdi" vom Thema "Versklavung" her als Auseinandersetzung Mays mit H.G. Münchmeyer und dessen Unternehmen, auch das Sichtbarmachen der - von May so empfundenen - "Schlechtigkeit" Emmas in Judith Silberstein), doch geht die überströmende Vielfalt und erstaunliche Komplexität der manifesten seelischen Vorgänge und verlarvten Gedankenbilder im Detailstrang auf unbewußte, aber durchschlagend wirksame Regungen zurück. May mag im nachhinein fast immer erkannt haben, was er in der betreffenden "Reiseerzählung" wirklich zuwege gebracht hatte, und sich Rechenschaft abgelegt haben. Daraus erwuchsen dann sowohl Befriedigung als auch Beflügelung zu weiterem Schaffen.

4 Vgl. die Nachworte zu den Reprints (aus Deutscher Hausschatz, XX. und XXI. Jahrgang) "Die Felsenburg" und "Krüger Bei"/"Die Jagd auf den Millionendieb", beide KMG/Pustet, 1980.

5 Vgl. Hans-Dieter Steinmetz, "Der gewaltigste Dichter ...", in: Mitteilungen der Karl-May-Gesellschaft (M-KMG), Nr. 40, Juni 1979, sowie den Beitrag von Walther Ilmer (Zur Heimat-Episode in "Satan und Ischariot") in M-KMG Nr. 47, März 1981 und Nr. 48, Juni 1981.

6 May beschreibt Martha ausführlich in der aus der Gesamterzählung herausgelösten Heimat-Episode "Wenn sich zwei Herzen scheiden", enthalten in Band 47 der Ges. Werke, Karl-May-Verlag (Radebeul und Bamberg).

7 Ähnlich verhält es sich bereits vorher in "Der Weg zum Glück" hinsichtlich der feindseligen Ablehnung des Krikelanton zu Lenis Ambitionen als Sängerin: Die dort vorgetragene Begründung, Leni stelle sich als Sängerin Männern ungebührlich zur Schau, verdeckt Mays Zorn über - und seine Angst vor - Emmas Eskapaden in freizügiger Ausnutzung ihrer sexuellen Ausstrahlungskraft. Bezeichnend: Die Sängerin, die ausdrücklich als sittsame Jungfrau deklariert wird, erhielt von May zum Ausgleich den Vornamen (der Sünderin und Ehebrecherin) Magdalena (Kurzform: Leni). (Vgl. auch Helmut Schmiedt, Die Tränen Richard Wagners ..., in: JbKMG 1980.)

8 Zu dieser Heirat siehe meinen Beitrag in M-KMG Nr. 47 und das Nachwort zum Reprint "Krüger Bei -". In der ursprünglichen Textfassung (die allerdings bislang auch nur in zwei gerafften und bearbeiteten Fassungen vorliegt, nämlich der des Hausschatz-Redakteurs Heinrich Keiter im DH 21, 27 li, und der Franz Kandolfs in "Wenn sich zwei Herzen scheiden", s. Anm. 6) erfährt der Erzähler durch einen Brief Konrad Werners von der Hochzeit, bleibt der Feier aber fern. May mag seinerzeit bei der Niederschrift vornehmlich an die Hochzeit Marie-Thekla Vogels mit Friedrich Hermann Albani gedacht haben (s. den in Anm. 5 genannten Beitrag von Hans-Dieter Steinmetz in M-KMG Nr. 40), an der er sicherlich nicht teilnahm. Vielleicht auch erbitterte ihn die Erinnerung an die eigene Hochzeit so sehr, daß er sich in die Vorstellung hineinrettete,


//26//

er habe dieser gar nicht beigewohnt. In der von May Jahre später für die Buchausgabe "Satan und Ischariot II" verfaßten neuen Textfassung (F 21, 230-231) folgt der Erzähler der Einladung zur Hochzeit und gerät dabei mit dem betrunkenen Konrad Werner in Streit. Die Gründe für diese Schwenkung gegenüber dem Urtext müssen in der zum Zeitpunkt der Niederschrift vorherrschenden Gemüts- und Seelenlage Mays gesucht werden. Hierzu läßt sich mutmaßen, im Autor sei die Erinnerung durchgeschlagen an eine jener unangenehmen lärmenden Zusammenkünfte Emmas mit Münchmeyer und diversen trinkfreudigen Zeitgenossen, die während der Entstehungszeit eines Teils der Münchmeyer-Kolportageromane in Mays Wohnung stattfanden und bei denen May sich wohl nicht immer siegreich durchzusetzen vermochte; ein während der Niederschrift der neuen Kurzfassung der Heimatepisode entstehender Ehestreit, bei dem auch "olle Kamellen" hervorgekramt wurden, mag hinreichend Anlaß gewesen sein, ein entsprechendes Bild im Werk zu verarbeiten.

9 In diesem Zusammenhang ist die als "Bowie-Pater" verkleidete und inmitten einer Männerschar dahinziehende, angeblich unerkannt bleibende Kunstreiterin (oh!) Ella in "Die Juweleninsel" eine Spezialuntersuchung wert. (Die Verkleidung der Indianerin Kolma-Puschi in "Old Surehand III" ist mit der Ellas nicht gleichzusetzen.) Einer der vielen interessanten Aspekte: Die Schilderung Ellas entstand offenbar während der Trennzeit Karl/Emma und ist sowohl Steigerung als auch Weiterentwicklung der so unvorteilhaft gezeichneten Emma Vollmer in "Scepter und Hammer". Völlig unerwartet kehrt Ella, die sich als wahrhaft "männermordende Bestie" betätigt hat, aus der Wildnis zurück und sinkt dem allzu verzeihensbereiten früheren Geliebten in die Arme: Spiegelung der Situation Emma/Karl 1880.

10 Selbst wer wie seinerzeit F.S. Krauss in May den "großen Kenner der Erotik" (vgl. das Zitat in M-KMG Nr. 8, Juni 1971, S. 35) sehen und sein Werk sogar als Manifestation verdrängter Sexualität begreifen möchte, kann in Mays technischem Kniff, männlichen Figuren zeitweise weibliche Funktionen zu übertragen, nicht die alles erklärende Antwort - oder auch nur den wesentlichen Schlüssel - finden. Fraglos hat May sexuelle Ängste, Sehnsüchte, Frustrationen, Träume - und ggf. Erfolgserlebnisse - geschickt verlarvt in seine Reiseerzählungen einfließen lassen (in "Die Jagd auf den Millionendieb" = "Satan und Ischariot III" ist die Larve sogar sehr dünn, wie jede zwischen Old Shatterhand und Judith abrollende Szene belegt) - ganz zu schweigen von den Münchmeyer-Kolportageromanen, die auch ohne die im Verlag vorgenommenen derben Zutaten deutlich genug sind (wobei der "echte May" freilich nie schlüpfrig wird); dies aber wird sich im einzelnen nie nachvollziehen lassen.

11 Auch Arno Schmidts Thesen ("Sitara und der Weg dorthin -") haben sich längst als unhaltbar erwiesen (vgl. die Anm. 62 im Nachwort zum Reprint "Krüger Bei -"). Dennoch muß fairerweise zugegeben werden, daß die Isolation der Gefängnis- und Zuchthauswelt natürlich etwa latente homoerotische Anlagen gefördert haben kann; hieraus aber wäre May (wie jedem anderen) kein Vorwurf zu machen - derlei verböte sich ohnehin. Aber weder Mays Leben noch sein Werk belegen andere als ganz natürliche heterosexuelle Neigungen des Autors.

12 Ähnliches gilt für Em(m)ery Bothwell, dessen Name stark an Emma Pollmer anklingt und dem die Rolle des weltoffenen, in Gelddingen großzügigen Gefährten zukommt: ebenfalls ein Wunschbild, dem Emma in Wirklichkeit nicht ähnelte. - Nähere Darstellung im Nachwort zum Reprint "Krüger Bei -" und den dort beigegebenen Anmerkungen.

13 Hedwig Pauler, KMG, hat diese Szene exakt als den Nukleus der Liebesleid-Spiegelungen durchschaut und beschrieben: "Mit fremden Federn aus eigener Not -", in: M-KMG Nr. 51. Auf eine abermalige Skizzierung kann daher hier verzichtet werden.

14 Die Namenswahl Potter gemahnt an Pollmer und erfolgte wohl unter dem Eindruck, daß es der alte Pollmer war, auf dessen Betreiben hin May sich in Niederwürschnitz umtat und damit sich beim Amtsgericht Stollberg in Ungelegenheiten brachte.

15 DH 21, 54 r; F 21, 243


//27//

16 Im weiteren Verlauf der Handlung zeigt sich einer der vielen sonderbaren im May-Werk sichtbaren Schnitzer, die darauf hindeuten, daß ein unvorhergesehenes äußeres oder inneres Ereignis störend in den Schaffensprozeß eingriff und daß irgendeine psychische Last unverarbeitet blieb. Die massiven Drohungen Winnetous gegen Konrad Werner und Old Shatterhands gegen Potter (DH 21, 55 li u r; F 21, 246-247) lassen erwarten, daß die Folgeereignisse entsprechendes Handeln der Helden erfordern; die Drohungen bleiben aber in der Luft hängen. Die wenigen dürren Mitteilungen Franz Vogels über Winnetous geplantes Vorgehen gegen Potter (DH 21, 58 li; F 21, 253) stehen in krassem Mißverhältnis zu den hochgeschraubten Erwartungen. May ließ aus unbekannten Gründen diesen Handlungsfaden fallen und konzentrierte sich voll auf den der Suche nach Small Hunter dienenden Erzählstrang.

17 Die Erinnerung daran lebte allerdings in der später entstandenen Reiseerzählung "Im Reiche des silbernen Löwen" noch einmal auf und führte zu einem sehr reizvollen Handlungsaspekt. Siehe hierzu das Nachwort zum Reprint "Im Reiche des silbernen Löwen" (wie bei Anm . 2).

18 "Wie ein Penner!" kommentierte ein Mitglied der KMG beim Gespräch in Berlin, und "Beinahe pervers" ergänzte ein anderer Gesprächsteilnehmer.

19 In der Einführung zum Reprint "Krüger Bei -" wird der Einfachheit halber nur diese Zeitspanne angenommen und die ausführliche Berechnung ausgespart.

20 Der Riß in der Beziehung datiert m.E. bereits vom November 1878, doch wurde die Wohngemeinschaft der beiden anscheinend erst im Januar 1879 wirklich aufgegeben. Vgl. das Nachwort zum Reprint "Im Reiche des silbernen Löwen" (wie bei Anm. 2). - Andere Flirts Emmas als die mit Karl, im Zeitraum 1876 bis Mai 1877, sind nicht Gegenstand der Erörterung.

21 Hier spielt auch jene Albani-Erbschaft hinein, die Karl May einst den Hinterbliebenen sichern sollte: siehe Hans-Dieter Steinmetz in M-KMG Nr. 40 (wie bei Anm. 5) und Klaus Hoffmann in JbKMG 1975, S. 259-260.

22 Wie Anm. 21.

23 Die Stelle fehlt in der Buchausgabe (F 21, 261); sie erscheint nur in DH 21, 75 r. - Das Wort "Winnetou" konnte May hier schlechterdings nicht einsetzen.

24 Sexualkundler mögen hier mühelos einen deutlichen "Ausrutscher" in bezug auf die Intimsphare unterstellen.

25 Zu Emery vgl. Anm. 12.

26 Damals noch nicht unter dieser Bezeichnung gesammelt, sondern einzeln zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Periodika veröffentlicht. Gemeint sind die in der Radebeuler bzw. Bamberger Ausgabe der Bande 43 und 44 der Ges. Werke enthaltenen Erzählungen; die Urtexte der meisten dieser Erzählungen liegen inzwischen in Faksimile-Reprints wieder vor.

27 Z.B. im Umgang mit der Familie Seyler in Deidesheim; siehe bei Fritz Maschke, wie bei Anm. 1. - Zu Mays eigener phantasievoller und von Versöhnlichkeit zeugender "Gleichsetzung" Emmas mit Nscho-tschi (dem weiblichen Ebenbild Winnetous), in späteren Jahren, siehe seine im Karl-May-Jahrbuch 1978 (KMV/Graff), S. 92, zitierten Äußerungen; siehe auch bei Claus Roxin im JbKMG 1974, S. 29/30. - Frappierend ist die Ähnlichkeit der "mädchenhaften" Züge bei Nscho-tschi, Martha Vogel und Emma Pollmer. Der Tod Nscho-tschi's symbolisiert u.a. ja auch Mays schmerzhaften Abschied von seinen selbstverschuldeten Illusionen hinsichtlich des Wesens und Charakters Emma Pollmers. Die Manifestation des verlorenen und doch immer wieder neu erstehenden Nscho-tschi-Bildes in Winnetou - während der Niederschrift bestimmter Szenen und aus der Situation heraus - ist ein leicht verstandlicher Vorgang. Die Hinweise verdanke ich Claus Roxin.

28 Der von Franz Kandolf im Karl-May-Jahrbuch 1926, S. 363, überlieferte Ausruf Karl Mays, "Höre, liebe Frau, was mein Halef wieder angestellt hat! Das muß ich dir vorlesen!", kann sich nur auf die Zeit beziehen, als Emma mit May verheiratet war. Während seiner zweiten Ehe (mit Klara Plöhn) schrieb May nichts auf Halef Bezügliches, was den o.a. Ausspruch und die Lustigkeit rechtfertigen könnte.


[//28//]

29 Eine Überzeugung, die umso mehr wuchs, als nach der Rückkehr von der Orientreise Klara Plöhn sich um Mays Korrespondenz kümmerte und, aus was für Motiven auch immer, Zugang fand zum inneren Gehalt der Werke des alternden Autors und zu seinem Herzen. Emma hatte (ganz abgesehen von ihrem für May schädlichen Eintreten für Pauline Münchmeyer) keine Chance mehr - und reagierte entsprechend. Es darf nicht wundernehmen, daß sie danach, aus Mays Blickwinkel betrachtet, in Sachen "Schriftstellersfrau" ganz im Schatten der anbetenden Klara stand.

30 Vgl. Hans Wollschläger, Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Diogenes Verlag Zürich, 1976. S. 51.

31 Vgl. hierzu die in Anm. 9 umrissene Situation.

32 Vgl. Hansotto Hatzig, Karl May und Sascha Schneider, Dokumente einer Freundschaft. Karl-May-Verlag Bamberg, 1967. S. 16.

33 So Karl May in seiner Aussage vor dem Untersuchungsrichter Dr. Larrass im April 1908. Wiedergegeben bei Rudolf Lebius, Die Zeugen Karl May und Klara May. Ein Beitrag zur Kriminalgeschichte. Spree-Verlag Berlin, 1910. S. 122-123.

34 Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Der große Karl-May-Bildband. Herausgegeben von Gerhard Klußmeier und Hainer Plaul. Olms Presse Hildesheim, 1978.

35 Auf Emma Pollmers höchstwahrscheinlich ausgelebte bisexuelle Neigungen für Karl May eine Quelle der Pein - soll hier nicht näher eingegangen werden.

36 Siehe hierzu Anmerkung 18. Die dort erwähnten Äußerungen erfolgten spontan und in Unkenntnis der Existenz der Photographie - ein sehr interessantes Phänomen.

37 Sexualkundler mögen, gerade im Hinblick auf Emmas Freizügigkeit, aus dem Satz (DH 21, 56 li; F 21, 249) "Die anwesenden Sänger konnten sich ihn" (lies: sie) "nicht anders denken, als in seiner" (lies: ihrer) "bekannten Kleidung" (hm) "und mit der berühmten Silberbüchse" beträchtliche Aufschlüsse gewinnen. (Penelope und die Freier.)

38 Vgl. auch hierzu Anm. 9 . Die Situation dürfte sich häufig wiederholt haben.

39 Zur detaillierten Analyse der Erkrankung Winnetous siehe das mehrfach erwähnte Nachwort zum Reprint "Krüger Bei"/"Die Jagd auf den Millionendieb".

40 Im Nachwort wie bei Anm. 39 im einzelnen belegt. - Der Schwung der Erzählhandlung leidet keineswegs unter der zwischen den Blutsbrüdern herrschenden Verstimmung.

41 Anleihe bei Gert Uedings Titel "Der Traum des Gefangenen. Geschichte und Geschichten im Werk Karl Mays", in: JbKMG 1878.

42 Zu dieser von mir schon früher (u.a. im Nachwort zum Hausschatz-Reprint "Die Felsenburg") vertretenen Auffassung siehe auch Claus Roxin im Jb-KMG 1976, S. 224 oben.


Titelseite KMG

Impressum Datenschutz