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NACH DAMASKUS UNTERWEGS

Gespräch über die Möglichkeit,
1907 Weihnachten zu erzählen

aufgezeichnet und annotiert

von

JUERGEN HAHN






Apostelgeschichte 9,3
'Und da er auf dem Wege war und nahe an
Damaskus kam, umleuchtete ihn plötzlich ein
Licht vom Himmel.'

'In aller Lautlosigkeit leuchteten Lichter.'
(Robert Walser, Eine Weihnachtsgeschichte)


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INHALT



Ein Gespräch                                                          3

Nachbemerkung                                                    39

Anmerkungen                                                       40

Karl May:
Bei den Aussätzigen                                                45

Thomas Mann:
Buddenbrooks, Achter Teil, Achtes Kapitel               52


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Spätnachmittags an einem hellen Adventssonntag in Georgs Bibliothek. Auffallend viele gebundene alte Zeitschriften auf Etageren in den Ecken. Die Spalierrosen draussen in den Gittern vor dem Südfenster sind erfroren. Anwesend: Natascha, Nicole, Marius, Philipp - Georg. Philipp hat Mühe, den etwas strengen Sitzmöbeln eine bequeme Position abzugewinnen. Auf einem runden Tisch aufgeschlagen das achte Kapitel des achten Buches aus Thomas Manns 'Buddenbrooks' in einer Ausgabe der Zwanzigerjahre und 'Bei den Aussätzigen' in einer jüngst erschienenen Husumer Broschur von 'Weihnachtsgeschichten' Karl Mays.


PHILIPP : Lieber Georg, dieser Textvergleich! Ich zitiere: 'Ein seliges Lächeln glitt über seine so schnell eingefallenen Züge, und er flüsterte: "Winnetou, schi ya Winnetou -"' Sie haben's da im Regal stehen und können sich wohl eher als wir einen Reim darauf machen.

GEORG : Warum nicht? Ich halte Gegenrecht: 'Mit rufend gedehntem u-Laut am Ende. Er freute sich des Klanges, er fand ihn in seinem Wohllaut des Gegenstandes angemessen, wiederholte ihn im stillen...'

PHILIPP : 'Schrilles Jauchzen dazu und ein bestimmtes Geheul im gezogenen u-Laut.' Das passte wohl besser.

GEORG : Zu Winnetou? Die 'Abkürzung von einem sehr schönen polnischen Namen: Tadeusch...vokatif: "Tadziu".'

NATASCHA : (die sich unter den Zeitschriften umgesehen hat) Polnisch! Und nun kommen Sie uns nur noch mit der 'wilden Polin', diesem 'alldeutschen' Produkt.

GEORG : Sie meinen 'Wanda'?

NATASCHA : Ja, hier in dieser Zeitschrift neben dem 'Fischer-Almanach' von 1911 mit dem 'Krull'-Fragment.

GEORG : Der noble Affektierte hat eben gerne mit dem Hochstapler und Räuber in sich kokettiert. 'Soll Karl May nicht Räuberhauptmann gewesen sein? Ich glaube, ich würde mir ein Billet kaufen.'


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PHILIPP : Aha, also 'Bruder May'.

GEORG : (etwas verstimmt) Bitte, keine unfairen Assoziationen. Aber es geht ja heute nicht um Winnetou, Tadziu und eine wilde Polin, nicht um verschwiegene und gefährliche Verwandtschaften; es geht um Weihnachten ohne Manitou, und auch den grossen Arno Schmidt werden wir, unser Tun zu legitimieren, nicht unbedingt bemühen müssen.

PHILIPP : Ja - was bleibt denn dann? Mit Schmidt, da liesse sich wenigstens auf eine gewisse psychische Kompatibilität spekulieren. So aber möchte ich die Vergleichbarkeit der Texte, die Sie, Georg, uns auf heute zur Lektüre gegeben haben, doch sehr bezweifeln.

MARIUS : Diese Schilderung eines Heiligen Abends bei den Buddenbrooks und im Aussätzigengetto von Damaskus, das wirkt im Kontrast etwa wie eine Gründerzeiteinrichtung zum Werkbund.

GEORG : Sie haben nicht ganz unrecht. Karl Mays Beschreibung da gehorcht den Geboten einer erzählerischen Austerität, zu der es gut passt, dass ihr Erscheinungs- mit dem Gründungsjahr des Werkbundes zusammenfällt. Thomas Manns Darstellung, sie erscheint ein paar Jahre früher, kann ich aber wenig Gründerzeitliches abgewinnen.

MARIUS : Ich dachte an ihre realistische Opulenz.

GEORG : Ein erzählerisches Mittel, das der Autor doch entschieden ironisch, ja durchtrieben raffiniert einsetzt. Aber immerhin, trotz allem: Sie vergleichen ja schon.

PHILIPP : Unvergleichliches!

GEORG : Durch die Hintertür der Gegensätze; das scheint mir durchaus legitim.

NICOLE : Ja. Ich finde z.B. den Text von May sehr ehrlich, den von Thomas Mann einfach verlogen.

MARIUS : Diesen Gegensatz freilich kann man nicht akzeptieren. Er lässt keinem der Texte die 'Wohltat der Erkenntnis' zuteil werden.

NICOLE : Wenn nicht verlogen, so doch moralisch höchst defizitär.

NATASCHA : Was das auch heissen soll, so wenig ein solches Verdikt als


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literarisches Kriterium taugt, so sehr hat es das Zeug zu einem polemischen Bumerang für den, der sich seiner bedient.

NICOLE : Ein grosser Bluff.

PHILIPP : Wohl weil Mann nicht mit Metaphysik mogelt. Das ehrt ihn eher, wenngleich dererlei Etikettierungen sich von selbst erledigen und einen völlig unbrauchbaren Einstieg in das Problem bedeuten; denn sie zeigen erst recht, wie unmöglich, ja ungerecht es ist, beide Texte zu vergleichen. Ehrlichkeit, so man sie überhaupt als literarischen Massstab gebrauchen will, garantiert doch nicht literarische Qualität. Und gut gemeint bedeutet noch nicht gut gemacht. Ebenso könnte man den 'Winnetou' als ehrlich bemühtes Humanitätsideal mit Goethes 'Iphigenie' vergleichen.

GEORG : Das fänden Sie so abwegig ?

PHILIPP : Eine infantile Zumutung, wie es dieser Text von May ist.

NICOLE : Den Text von Thomas Mann empfinde ich zumindest als einen gespreizten Euphemismus. Wir schälen eine pompöse Zwiebel, um endlich zu erkennen: das Innere ist leer. Nichts.

NATASCHA : Mit anderen Worten: die totale Beziehungslosigkeit. Womit du dieser realistischen Weihnachtsschilderung eine metaphorische Qualität und somit einen beträchtlichen Erkenntniswert zubilligst. Denn nur als eine solche Mangelerscheinung lässt sich das Nichts überhaupt denken. 'On n'existe que par les autres.' Das dekretiert immerhin eine Autorität in Sachen Nihilismus.

GEORG : Damit hätten wir ja schon bestimmt, worum es in beiden Texten, den so unvergleichbaren, überhaupt geht.

MARIUS : Offenbar um Beziehungsprobleme.

GEORG : In ihrer defizienten Form.

NICOLE : Um mehr noch, denke ich, um das Geheimnis der Seele; denn wir sind, was wir sind, nur in Beziehung zu anderen. Selbst in der Ausgrenzung, im äussersten Aussätzigsein sind wir in der und durch die Ohnmacht anderen gegenüber determiniert. Da hat lonesco sicher recht.

GEORG: Es geht hier also um Beziehungslosigkeit, um mangelnde Kommunikation,


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Ausgegrenztheit, Isolation und die Möglichkeit, die Weihnachten schafft, sie aufzuheben.

NATASCHA : Thomas Mann bietet dafür ein ästhetisches Programm, moralisch kompromittiert, und ein moralisches, ästhetisch kompromittiert, bietet Karl May, wenn ich Philipps und Nicoles Raisonnement recht verstanden habe.

MARIUS : Ein hübscher Chiasmus, zugegeben. Machmal lösen sich die Probleme ja in Rhetorik auf. Ich will nicht bestreiten, dass ein moralisches Programm wenig dazu taugt, ästhetische Schwächen zu kompensieren. Aber gerade die Erzählung von Karl May ist auf das moralische Subsidiaritätsprinzip nicht angewiesen, um ästhetisch zu bestehen; denn sie erweist sich in ihrer Art als ganz virtuos gemacht und steht in ihrer epischen Technik der von Thomas Mann in nichts nach.

PHILIPP : Was noch zu beweisen wäre!

NATASCHA : Da kannst du dir deinen coniunctivus irrealis sparen, Philipp. Wie souverän spielen nicht beide Autoren mit den verschiedenen Erzählperspektiven. Allein schon ihre Veranschaulichung, denke ich, ermöglicht die Vergleichbarkeit so unterschiedlicher Schöpfungen der gleichen Epoche. Beide Autoren inszenieren ihr Thema raffiniert. Vielleicht wollten Sie darauf hinaus, Georg.

GEORG : Auch. Und gerade in diesem Raffinement konvergieren dann wieder moralische und aesthetische Möglichkeiten. Es ist ja ein Markenzeichen der Kultur der Jahrhundertwende, wo man die geistige Orientierungslosigkeit im Aesthetizismus zu meistern aufbrach und in Maske und Kostümfest sein Ueberleben fand. Mit Bühneneffekten arbeiten beide Autoren berechnend und wirkungsvoll.

PHILIPP : Wobei sie sich selbst entlarven. Was die mise en scène erbringt, ist Weihnachten als Erlösungsveranstaltung von recht dubiosem Charakter: mit dem Unterschied, dass dort, wo Thomas Mann uns durch Ironie über ihren Surrogatcharakter keinen Augenblick im Zweifel lässt, sie durch Karl Mays Missionsdrang einen ganz speziellen, intoleranten Mief der Unglaubwürdigkeit entwickelt.

NICOLE : Es braucht schon eine ganz besondere Einäugigkeit, um als Intoleranz abzuqualifizieren, was eine existentielle Notwendigkeit ist, sich mit dem Fest und seiner Botschaft zu identifizieren.

PHILIPP : May macht es mir nicht gerade leicht, an die Ehrbarkeit dieses


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Identifikationszwanges zu glauben. Aber, wie dem auch sei, gerade dieser Zwang produziert Kitsch.

MARIUS : Vorsicht, Kitsch ist ein Ergebnis intellektueller Abgebrühtheit.

PHILIPP : Wenn dem so ist, dann geht diese beim Autor May ganz schön zu Lasten des kritischen Bewusstseins, dessen Schlaf Kitsch gebiert.

NATASCHA : Ich bin da nicht so sicher, Philipp, was den Kitschvorwurf betrifft. Kitsch, in diesem Falle weihnachtlicher Kitsch, kalkuliert bewusst mit himmlischen Sehnsüchten, wo der Himmel längst leergeräumt ist. Kitsch operiert noch immer mit dem Begrifft der 'Seele', obgleich wir diesen ehrlicherweise schon längst zur Definition unseres Seins haben aufgeben müssen, um dafür mit Kommunikationsmodellen vorlieb zu nehmen.

NICOLE : Von dererlei Kitschvorwurf ist May, zumindest in dieser Erzählung, freizusprechen. May zeigt hier ein soziales, ja revolutionäres Engagement, das so kompromisslos nur einer fühlbar machen kann, der sich selbst zu den Aussätzigen rechnet: und all das fern jeder himmlischen Rekommandation.

GEORG : So ist das. Er führt sich auch anderweitig in seinem Werk sehr eindrücklich als Ausgestossener, z.B. Pestkranker vor. Die Pest grenzt ihn aus der Gesellschaft aus. Selbst Verbrecher wollen nichts mit ihm zu tun haben und verzichten darauf, ihn zu berauben.

PHILIPP : So in seinen berühmten, imaginierten Reiseerzählungen.

GEORG : Man wird das so real wie übertragen verstehen, wenn man seine Biographie kennt.

PHILIPP : Was wirkliche Dichtung ist, ist's auch ohne biographischen Schlüssel.

MARIUS : Den hat man hier auch gar nicht nötig; denn in der persönlichen Situation Mays, die er hier dichterisch umsetzt, spiegeln sich die Nöte der Gesellschaft, so dass man diese Weihnachtsgeschichte, wie übrigens auch die Thomas Manns, als ein Stück Gesellschaftskritik lesen kann. Es geht ja nicht um Pest und Cholera, deren Wirkung eine dramatische, in einer katastrophischen Schnittechnik auf Peripetien zielende ist im Gegensatz zu jener epischen wirklich ausgrenzender Krankheiten, die ein langfristiges Siechtum verursachen, das deswegen so unheilvoll ist, weil die Gesellschaft es mit einer moralischen Schuldhaftigkeit des Kranken verbindet. Die Lepra verstümmelt Extremitäten und Gesicht, Syphilis und


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Aids zerstören den Geist, Drogen entkernen Menschen zu nur noch tönenden Mumien, Schattenbildern ihrer selbst. Kein Wunder, dass man diese Krankheiten so behandelt, indem man die Menschen aus dem eigenen Gesichtskreis entfernt, sie aussetzt. Ausgestossen aus der Familie, ausgestossen aus dem Dorf. Ueber dieses Thema schreibt May seine Weihnachtsgeschichte, wie sich die Aussätzigen gegen diese Diskriminierung mit aller Kraft wehren und sich dabei geschickt der Angst der Gesunden vor ihnen bedienen, der einzigen wirklichen Waffe, die ihnen Versorgung zwar gewährt, aber die Integration in die Gemeinschaft verwehrt. Es ist dieser existentielle Gehalt, persönlich und übertragen, der die Erzählung vor dem Kitschverdikt bewahrt und ihr künstlerischen Kredit garantiert. Zumal May nicht metaphysisch vertröstet, sondern das Uebel durchaus politisch im Missbrauch der Macht lokalisiert und seine Beseitigung in der Entmachtung der traditionellen, herrschenden Eliten sieht. Weihnachten wirkt in diesem Prozess gleichsam als Katalysator, indem es den Aussätzigen die Gewissheit gibt, akzeptiert zu werden und sie aus einem Zustand der Ohnmacht befreit, die sie bisher zu einer destruktiven Existenz der Rache verurteilt hat. Der Verzicht auf Rache, den Weihnachten bei den Aussätzigen bewirkt, bedeutet Erlösung und Ueberwindung dieses Gefühls des Unvermögens. May berichtet sozial sehr diesseitig engagiert von der malträtierten Minderheit der Leprakranken in der Stadt Damaskus, die zur Revolution entschlossen ist, und sehr hellsichtig nimmt er in der mehr politischen als theologischen Lösung des Problemes eine Einsicht George Orwells vorweg, dass nämlich Rache eine Handlung ist, 'die man begehen möchte, wenn und weil man machtlos ist; sobald aber dieses Gefühl des Unvermögens beseitigt wird, schwindet auch der Wunsch nach Rache.'

GEORG : Gewiss, das lehrt ein Blick auf die sanften Revolutionen im heutigen Osteuropa; und auf dem Hintergrund ihrer Entstehungszeit bekommt die Erzählung Mays damit fast den Charakter einer unter anderem auch politischen Parabel.

PHILIPP : Ach Gott, wenn literarisch etwas reputierlich erscheinen soll, wird alles gleich zur Parabel stilisiert. Wenn nicht Kitsch, dann halt Donquichotterie.

GEORG: Das wäre übrigens nicht die unwesentlichste Parallele zur Weihnachtsfeier in der Mengstrasse. Dort hat sich eine ganze Anzahl kleiner und grosser Don Quichotten versammelt. Und Thomas Manns literarischer 'Jugendstil' porträtiert sie in einer fast floralen Ueppigkeit der Erzähllinien.

NICOLE : Dagegen dann die Kargheit und erzählerische Oekonomie Karl Mays.


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MARIUS : Schon das spricht gegen den Kitsch-Verdacht. Kitsch ist nicht kurz, Kitsch braucht Längen, himmlische Längen.

NICOLE : Es überrascht überhaupt, wie im Stile der Reportage sachlich 'cool' Karl May auch erzählerisches Dekor einsetzt.

PHILIPP : Will man Unfähigkeit schon zu Kargheit aufwerten, so kann ich viel mehr als literarisches Kunsthandwerk - im besten Falle - diesen Exerzitien in Einfachheit und Würde nicht abgewinnen.

NICOLE : Kunsthandwerk? Ich möchte wissen, was denn die wächsernen Lilien am Baum der Konsulin den stinkenden Lappen an jenem der Aussätzigen voraushaben.

PHILIPP : Sehen wir einmal von der Frage des guten Geschmacks ab, die hier zu stellen unzeitgemäss wäre, so gut wie nichts, weil es in diesem Punkte nichts zu vergleichen gibt, schon gar nicht die dreiste reflektionsunfähige Subjektivität Mays mit der künstlerischen melancholischen Distinktion, die bei Thomas Mann den Gebrauch der Metaphern kontrolliert. Geben wir es doch zu, dieser Vergleich May-Mann ist - das zeigt sich immer mehr - höchst unzulässig, gerade weil er May gegenüber so unfair ist, der meinetwegen überall seine Meriten haben mag, nur nicht auf dem Gebiet einer überlegenen erzählerischen Strategie. Dazu geht es bei ihm viel zu pamphletär zu. Dieses wenig bekömmliche Gebräu aus Realismus und Programm: das ist von einer herausposaunten Programmatik, einer papierenen Weltanschauung! Wieso muss man das mit Thomas Mann vergleichen? George liegt da meinetwegen viel näher. Der 'Siebente Ring' erscheint auch 1907. Ich sehe übrigens, dass Georg in seinen Regalen dafür gesorgt hat, Gleiches sich zu Gleichem gesellen zu lassen. (Schlägt Georges 'Siebenten Ring' auf, liest):

'Der mann! die tat! so lechzen volk und hoher rat.
Hofft nicht auf einen der an euren tischen ass!
Vielleicht wer jahrlang unter euren mördern sass,
In euren zellen schlief: steht auf und tut die tat.'

Der gleiche Etikettenschwindel, der gleiche prophetische Obskurantismus mit politisch katastrophalen Folgen.

GEORG : Die Beziehungen des späten May zum Werke Georges sollen auch gar nicht in Abrede gestellt werden, sie mögen sich auch in dieser Erzählung aufweisen lassen und zeigen nur, wie vielfältig Karl May trotz seiner angeblichen literarischen Aussenseiterstellung den geistigen Strömungen seiner Zeit verbunden war.


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NICOLE : Nur dass ich von einem prophetischen Obskurantismus in dieser Erzählung nichts zu entdecken vermag. Sie ist im Gegenteil ein sehr subversiver, aber wirkungsloser, weil utopischer Text: die Revolution wird nur geprobt. Der programmatisch-pamphletäre Charakter, so er überhaupt nachzuweisen ist, tritt hinter dem parabelhaften, der Utopie verhafteten weit zurück.

PHILIPP : Mich mutet das eher wie Traktätchenliteratur an. Das wird um so deutlicher, weil Thomas Mann das Traktathafte, etwa in den Worten der Konsulin, so unaufdringlich persifliert.

NICOLE : Ja, unaufdringliche Hilflosigkeit. Persiflieren lässt sich leicht, wo man zur Sache nichts mehr zu sagen hat. Dann wird alles Persiflage. Auch das, meine ich, ist eine Art Etikettenschwindel.

GEORG : Aus dem sich wiederum die anfangs so problematische und von Philipp so heftig in Abrede gestellte Vergleichbarkeit beider Texte rechtfertigen lässt?

MARIUS : Von Schwindel kann in keinem Falle die Rede sein. Beide Texte behaupten auf ihre Art Wahrhaftigkeit: das wird aus der Erzählperspektive des Kindes deutlich, die die Autoren in beiden Schilderungen etabliert haben ...

GEORG : Des Kindes?

MARIUS : Ja, Hanno, Christian, die Aussätzigen, im Verhältnis zur Gesellschaft sind das ja alles Kinder mit Glaubens-und Heilserwartungen -...und aus dem da wie dort gleichen rituellen Arrangement, in dem diese Erwartungen zum Ausdruck kommen.

PHILIPP : Also, wenn man euch so zuhört: rituelles Arrangement! Viel mehr als ein dürftiges Gesinnungs-Ikea schaut da bei May kaum heraus.

GEORG : Womit wir wieder bei der Möblierung wären.

NICOLE : Dieses Gesinnungs-Ikea ist mir allemal sympathischer als die weihnachtlichen Polstergarnituren, die Thomas Mann herrichtet.

PHILIPP : Aus denen er aber kein Hehl macht, dass sie durchgesessen sind. Das verdanken wir seiner kühl-ironischen Beobachtungsgabe, da überzeugt seine Sensibilität für gebrochene Verhältnisse, frei von allem pathetisch verpackten Wunschdenken. Dagegen dieser ganz unmögliche Realitätssinn Mays, sprich Realitätsverlust, bei dem unterm Strich nicht mehr als weltanschauliche Invalidität herauslugt, wie man sie so verblasen wirklich nur noch beim George des Jahres


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1907 findet, der sich nicht geniert uns expressis verbis 'Plunder' als 'Wunder' zu verkaufen.

'Mich hoben die träume und mären
So hoch dass die schwere mir wich -'

Wohl eher hat er den Verstand verloren, jetzt hat er 'sternendinge' sich zum Reim erkoren: 'Ich möchte jauchzen, doch ich bin vom wunder bleich.'

NICOLE : Philipp echauffiert sich so über George, weil er offenbar Mays Realitätsbegriff ernster nimmt, als er sich zugestehen will.

PHILIPP : Ernster? Mir fällt zu dererlei nur nichts ein. Ich habe für den hier notwendigen exegetischen Feuerzauber einfach kein Talent, liebe Nicole.

NICOLE : Dabei kommt es nur darauf an, wie man Realität definiert. Man wird Mays Realitätsbegriff nicht gerecht, wenn man nicht zwischen Wirklichkeit als etwas ganz Subjektivem, was wir alle haben, und Realität als dem ausserhalb von uns Existierenden unterscheidet. Wenn du, Philipp, May schriftstellerische Hilflosigkeit vorwirfst, so berücksichtige bitte, dass sie sich der inneren Wirklichkeit, der Geworfenheit des Autors dort verdankt, wo Thomas Mann souverän ironisch mit der äusseren Realität im Sinne eines literarischen Dandytums umgeht. May, der Autor, - wir haben es ja schon gesagt - ist als Aussätziger auch der Betroffene; und durch das transparente Zifferblatt - wenn ich mir das Bild erlauben darf - der Uhr seiner Existenz, die anzeigt, was die Stunde geschlagen hat, wird doch hier eindrücklich das Räderwerk der inneren Wirklichkeit deutlich. Diese Erzählung bietet nur Innenwelt: die Kriterien eines mimetischen Realismus müssen angesichts dieser Wirklichkeit des Autors versagen, durch die hindurch er Teile der Realität sichtbar zu machen bestrebt ist. Ein bemerkenswerter Versuch übrigens, meine ich, formal durch Ueberblendung Gefühlsanarchie zu bändigen. Das kann nur so dem Proleten gelingen, nicht dem dekadenten Bürger.

PHILIPP : Aha, existentialistische Metaphorik in der Mogelpackung der Literatursoziologie.

MARIUS : Also, Nicole, man kann den Bogen auch überspannen und uns am Ende diese Erzählung Mays als ein verhindertes Produkt von Kleist verkaufen.

NICOLE : Was anderes unternimmt May hier, als ein Fait divers zum metaphysischen Exempel aufzuwerten und das in einer Lakonik, die viel von Kleistscher Prägnanz, nichts aber von der ironischen Chuzpe der Realität hat, die


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Mann der Wirklichkeit seiner Personen vorzublenden weiss. Dass May diese Gespaltenheit im Umgang mit den Fragen der 'Soteria' abgeht, spricht nicht gegen seinen Realitäts- und Wirklichkeitssinn. Im Gegenteil.

PHILIPP : Wirklich, so Ernst Jünger, gegen den als Autorität im Falle May Nicole wohl nichts einzuwenden hat, ist nur, was nicht erfunden werden kann. Bei May erfindet ein naives Missionsbedürfnis so gut wie alles: das lag im Zug der Zeit, die besseren Menschen, die bessere Welt mit besseren Stühlen und besseren Tapeten sicherzustellen: eine utopische Möblierung, und hat letztenendes nichts gefruchtet.

NICOLE : Einspruch, Euer Ehren, und zwar mit Nietzsche als Zeugen dafür, dass man Wahrheit nicht entdeckt, sondern erschafft, mithin auch die Perzeption von Wirklichkeit einem besonderen, ich möchte sagen, therapeutischen Einbildungsvorgang unterliegt, der von den Dichtern von Homer bis zum Wolfenbütteler Autorenkollektiv auch nicht geleugnet wird.

PHILIPP : Therapeutisch? Einbildungen sind das schlimmste, mitunter schlimmer als alles.

GEORG : Utopisch, fruchtlos utopisch, sagten Sie eben nicht so? Therapie und Utopie, beides bedingt wohl einander?

NICOLE : Gewiss, und scheint mir alles andere als fruchtlos! Schreiben wird zur Ueberlebensstrategie, die Wirklichkeit erst entstehen lässt, zu einem Akt, Angst zu 'larvieren'. Ungefährlich allerdings kann ein solcher Ritt über den Schott Dscherid nie sein. 'Ohne dass du dir was ausdenkst, wird das Leben für dich eine öde Schmiere', verordnet dagegen Hermann Lenz.

MARIUS : Das hört sich an wie eine kommentierende Fussnote zu Foucaults Aesthetik der Existenz.

NICOLE : Und die ist ja auch nichts anderes als eine Variante der Lügenhaftigkeit, deren Platon die Dichter zieh, diese Prestidigitateure des Unbewussten, Leibschattenspieler jenes Maharadschas, der ihren Fingern die unglaubliche Präzision verleiht, aus Schatten Leben entstehen zu lassen im schwarz-weissen Fluss der Verwandlung, wo Wirklichkeit der Schatten des Wortes ist.

PHILIPP : Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube, es könne dabei zu mehr als den Wahnwelten von B-Pictures reichen. Karl May ist mein Zeuge.

GEORG : Und widerlegt Sie zugleich, indem sein Text als Kommentar eines


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Weltzustandes und des ihm antwortenden Individuums eindrücklich vorführt, wie einer sich aus dem Geröll abenteuerlicher Moränen eine Alabasterbehausung im Jugendstil erbaut.

MARIUS : Ja, es ist ein Anbauen gegen das Chaos, eine petitio principii literarischer Existenz, selbst von einem Stephen King noch zur Rechtfertigung seiner konfektionellen Schreckensarbeit benutzt, dem der Drang, Bücher zu schreiben, ein Bollwerk gegen Konfusion und Wahnsinn ist, ein verzweifelter Versuch, den Menschen unternehmen, Ordnung zu schaffen, die dieses kostbare Gut nur in ihrem Verstand, niemals in ihrem Herzen zu finden vermögen.

PHILIPP : So einfach ist das also: ausgerechnet mit Herrn King wird Dichtung als 'larvierte Depression' entlarvt,...

NATASCHA : ...als durchaus legitimes Mittel, sei es in den Mustern des genus humile oder des genus grande, sich das Entsetzen vor den Metastasen des Nichts mit Schreiben vom Leibe zu halten,...

PHILIPP : ...und somit jegliches literarische Wertungskriterium eskamotiert.

NICOLE : Das hat das literarische Feuilleton schon längst besorgt, indem es einen Begriff von Hochliteratur kultiviert, der auf Voraussetzungen beruht, die in jeder Hinsicht trivial zu nennen sind. Dichten, um das Leben auszuhalten, die Welt zu ertragen, Wirklichkeiten erschreiben, statt beschreiben - von welcher literarischen Spielart liesse sich das nicht behaupten, dieser Imperativ: "Singe mir, Muse!"

MARIUS : Ja, Singen - quia absurdum.

PHILIPP : Singen - quia non cogito. Sich gleichsam durch Singen erschaffen, sich hinter Platon zurückbuchstabieren und den poietai pseudontes des Solon kognitive Relevanz zugestehen. Soweit sind wir offenbar heute schon wieder. Nichts mehr vom alten Fontane: 'Solange ich nicht weiss, bin ich ... ein Opfer meiner Vorstellungen. Erzähle mir das Wirkliche. Die Wirklichkeit kann mich nicht so quälen wie meine Phantasie.'

GEORG : In der Tat, das sind nun die subtilen Tücken der Dialektik der Aufklärung, die eben auch einen Homer gegen Platon sein Recht einklagen lassen. Ich meine, nirgends liesse sich das besser studieren als bei Karl May, dem Homeriden.

PHILIPP : Karl May, der Homeride! Da wird wohl, entschuldigen Sie, Georg, bald


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Karl May als Erzieher in einem Akt subtiler Tücke dialektischer Aufklärung seine Auferstehung feiern.

NATASCHA : Auferstehung? Schon der zornige Avenarius resignierte ja vor der Tatsache, dass im Lande der Dichter und Denker selbst Lächerlichkeit Anmassung nicht zu töten vermag.

PHILIPP : Eben. Und nach wie vor eine Art Volksgehirnerweichung moralexegetische Approbation geniesst. Also dieses Studium einer Ueberlistung der Vernunft möchte ich mir eigentlich ersparen.

NICOLE : So! Möchtest du! Und mit welchem Recht auch? Wohl mit dem, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Denn nach wirklicher Unterrichtung über den Gegenstand seiner Idiosynkrasie bestand ja auch bei Herrn Avenarius kein Bedarf.

NATASCHA : Sowohl bei den Pädagogen nicht, die im Kunstwart-Stil gegen May raisonierten, als auch den Literaturwissenschaftlern, die vraiment idiots savants über ihn schwiegen.

GEORG : An May ist ja häufig genug die Theorie der 'kognitiven Dissonanz' demonstriert worden, von den Feuilletons und Wissenschaftsbetrieben unter Einsatz eines ganzen Arsenals von Möglichkeiten praktiziert, Informationen, die nicht im Einklang mit den eigenen Ueberzeugungen und Vorlieben stehen, nicht oder zumindest nicht vollständig zur Kenntnis zu nehmen.

NICOLE : Nun, Karl May hat auch das überlebt.

GEORG : Bester Beweis ist, dass wir uns heute noch mit ihm beschäftigen.

PHILIPP : Wogegen nichts zu sagen wäre, wenn die Relationen stimmten. Statt dessen aber die Kapriolen der Unverhältnismässigkeit einer interpretatorischen Heuristik, von denen ich nicht weiss, ob die dekonsktruktivistische Influenza, an der die heutige Literaturwissenschaft krankt, im allgemeinen oder Sie, Georg, im besonderen sie zu verantworten haben.

GEORG : Soviel immerhin kann ich Ihnen, Philipp, als Antibiotikum verabreichen - von wegen des Vergleiches May-Mann-George-Kleist und was Ihnen noch alles an ketzerischen Unverhältnismässigkeiten in den Sinn kommen wird; und ich meine, der kurze Exkurs über das Wirklichkeitsverständnis von Literatur wirft darauf ein bezeichnendes Licht -, dass ich bewusst in der Auswahl der Texte die Unvergleichbarkeit von May und Mann ignoriert habe, weil dergleichen zunächst


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immer auf Konsens von Kollektiven beruhen mag, ich zum andern behaupten möchte, dass in beiden Texten die gleichen Strukturen, die gleichen Probleme verschieden amplifiziert erscheinen.

PHILIPP : Das tönt etwas kryptisch. Finden Sie nicht auch?

GEORG : Stellen Sie sich Applikationen vor, Gebäuden nur hinzugefügt wie ein architektonisches Adjektiv, das ohne räumliche Folgen bleibt.

PHILIPP : Ohne Folgen? Die Botschaft...die Botschaft...

GEORG : Und ich verlange keinen Glauben, empfehle nur für den Augenblick, statt dass wir uns jetzt schon so eifernd bei der Betrachtung der Texte ins Weltanschauliche, was Realität, Wirklichkeit, Utopie betrifft, verbeissen, das Geflecht der Beziehungen zwischen ihnen übersichtlicher zu machen, indem wir uns ihrer Dramaturgie und den dabei verwendeten Mitteln zuwenden.

PHILIPP : Noch einmal, lieber Georg, Sie verschwenden hier zuviel Scharfsinn an ein triviales Objekt.

MARIUS : Der glückliche Umgang mit einer so ätzenden Chemikalie wie Scharfsinn ist frei nach Paracelsus eine Frage der Dosierung. Es gibt auch hier kleine und gewaltige Sackgassen: 'Je mehr der Scharfsinn wächst, desto mehr schwindet der Sinn.' Philipp hat ja schon einmal Ernst Jünger bemüht.

GEORG : Das kann keine Rechtfertigung für Halbheiten sein. Gerade in der Literatur erscheint mir nichts so trivial, als dass seine Analyse nicht des feinsten Besteckes bedürfte, das erst den Analytiker den geistigen Vorgang des Entwirrens so recht auskosten lässt. 'He derives pleasure from even the most trivial occupations bringing his talents into play.'

NICOLE : An diesem Vergnügen lässt uns May ja in seinem gesamten Werk teilhaben. Zwischen dem exzessiv praktizierten Spurenlesen der Reiseromane und der Verrätselung der Wirklichkeit durch Symbolik im Spätwerk besteht eigentlich nur ein koloristischer Unterschied. Wie geschickt weiss Karl May auch hier Signale zu setzen. Etwa die Lichterbaummetaphorik.

GEORG : Die ja auch bei Thomas Mann eine nicht unbedeutende Rolle spielt.

NICOLE : Ja, ein Paradiessymbol für ein hier erst zu erfüllendes, dort längst ausgeräumtes, entrümpeltes Himmelreich.


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GEORG : Vielleicht.

MARIUS : Sicher. Das Verbrennen des Weihnachtsbaumes, z.B. im Sinne eines Autodafés destruktiven Denkens, zelebriert May hier eindrucksvoll als Mysterienspiel. Es kann nicht entgehen, dass uns Thomas Mann die gleiche Aktion als Satyrspiel anbietet: die komische Weihnachtsbaumkatastrophe, die den dritten Weihnachtsfeiertag bei Sesemi Weichbrodt begleitet; nicht nur dass dort die Weihnachtsbäume im Moment der Bescherung stürzen, die Arrangements zu Ehren Gottes in der Höhe gehen dabei verpuffend wie ein Feuerwerk in Flammen auf.

PHILIPP : Nur dass uns hier die penetrante Symbolik der Mayschen Gedankendesinfektion erspart bleibt.

NATASCHA : Oh, das möchte ich bezweifeln. Bei einem so ironischen Strategen wie Mann ist nichts beliebig und sich selbst überlassen, vielmehr alles doppelbödig.

MARIUS : Hier wie dort eine Flammenepiphanie: ironisch oder in Handlung und Figuren ein geistliches Spiel.

GEORG : Den Versuch zu einem solchen, einem barocken Welttheater nachempfundenen Stück hat May auch mit seinem symbolischen Drama 'Babel und Bibel' kurz zuvor unternommen.

PHILIPP : Symbolik verheisst selten etwas Gutes. Ich habe bereits mit dem 'Jedermann' meine liebe Mühe, erst recht finde ich diese Allegorie am Schluss der Geschichte - ich höre Nicole schon von eindrücklicher Chiffrierung der Existenz sprechen -, das mit dem eiterlumpendekorierten Weihnachtsbaum, ziemlich abgeschmackt. Woher er das nur hat? Vielleicht von Sudermann. Jedenfalls ist das Hintertreppeninszenierung allerletzter Ordnung: Backstairs traffic.

NATASCHA : Thomas Mann führt dann wohl auf der Freitreppe Regie.

MARIUS : Dem zum Zeichen schmücken auch weisse Lilien den Weihnachtsbaum der Buddenbrooks - mit goldenen Staubfäden.

NICOLE : Ob das viel geschmackvoller ist?

PHILIPP : Zumindest ist es nicht so penetrant absichtsvoll. Thomas Mann erspart uns den Zeigefinger und mutet uns keine Innerlichkeit zu.

GEORG : Er mutet uns jedenfalls keine Entschiedenheit zu. Das ist wohl das Problem. Auf der Hintertreppe wird man gespielt, auf der Freitreppe spielt man selbst.


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MARIUS : Meint man zu spielen. Ich halte diesen histrionenhaften Umgang mit der Wirklichkeit für zutiefst unseriös.

PHILIPP : Das ist er sicher, wenn er - wie in der Erzählung Mays - utopische Wollust befördert und den heilsgeschichtlichen Ewigkeitszug unter einen Pathos-Dampf setzt, dessen Irrationalismus in unserem Jahrhundert fatale geistige Falschmünzerei in Gang gebracht hat.

GEORG : Auch diese Pointen sagen nur die halbe Wahrheit.

MARIUS : Zumal gerade in der Weihnachtsgala, die Thomas Mann alle Register seiner Schilderungskunst ziehen lässt, das Parvenuhafte einer Epoche auf bestürzende Weise deutlich wird, wie sie sich durch Einziehen immer neuer Paravents den Sturz in den Abgrund verhehlt, den das Kind May so ingrimmig gestikulierend benennt.

GEORG : Das Kind May? - Ich meine, das ist erklärungsbedürftig.

MARIUS : Weihnachten so zu internalisieren, wie Karl May es in seiner Erzählung tut, ist eigentlich nur aus der Position des Kindes möglich. Und die hat Thomas Mann übrigens sehr geschickt in die Komposition seiner Schilderung eingebaut. Hier bewahrheitet sich, was ich kürzlich bei Wordsworth las: 'The Child is the father of the Man.' Ueberhaupt, wenn man den beiden Texten Glauben schenken will, so ist Weihnachten nur noch etwas für die Selbstvergewisserung von Aussätzigen und die Selbstvergessenheit von Kindern, weil, wie im Märchen, die immer wieder gleiche Geschichte erzählt wird, deren Reputation in ihrer Unveränderlichkeit besteht; 'Ménin aéide, theà', 'Es begab sich aber zu der Zeit', 'Es war in Damaskus. Am Weihnachtsheiligenabend.' Sie, der 'Scheik der Aussätzigen', 'ein langer, starker Mann, mit sehr entstelltem Gesicht', Christian Buddenbrook, der trotz Waschzwang sich 'selbst zum Ekel' ist, und das Kind Hanno, leben von Weihnachten, alle anderen spielen und verspielen dieses Fest mit mehr oder weniger Talent. Wenn man sich das vor Augen führt, merkt man, dass auch die Darstellung Manns der utopischen Sehnsüchte nicht ermangelt.

GEORG : Gleichsam eine ideelle Konterbande, durch Hanno und seine Perspektive des Geschehens in die Handlung geschmuggelt.

MARIUS : Und durch Christian.

GEORG : Das ist richtig. Christian erinnert ja sehr an den Autor May, der in seinem Bekanntenkreis als lebhafter Erzähler, fabelhafter Märchenspinner auftreten konnte


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und so in seinen Phantasien aufging, dass er nicht bemerkte, wie er den anderen zum Clown wurde.

NICOLE : Das trifft sich: 'Aber die Verwandten nahmen diese Klagen ebensowenig ernst wie seine Spässe und antworteten kaum. Sie zerstreuten sich gleichgültig...' Christian helfen Hirngespinste und Wahngebilde ebenfalls zum Ueberleben.

MARIUS : Und entsprechend wirken diese 'Aussätzigen' immer unordentlich, undiszipliniert, unangepasst und leben, folgt man ihren Sehnsüchten, in einer Anarchie der Gefühle.

GEORG : Anarchisch ist die Erzähllust Mays sicher, die ihn fast zwanghaft in seiner Sehnsucht, vollkommenes Dasein zu verherrlichen, sich in ein heroisches Zeitalter hineinträumen lässt. Das macht ihn übrigens - Fontane würde sagen - zu einem Epiker pur sang. Diese anarchischen Energien bilden sich in seiner oft unkontrollierten Erzählweise ab, was sie natürlich sympathisch erscheinen lassen kann oder, wenn er sich - wie in vorliegender Erzählung - zu stilisieren versucht, seltsam leblos preziös.

PHILIPP : Weit weg von Thomas Mann und - wiederum - recht nahe zu George gerückt.

GEORG : Im Preziösen scheinen mir alle drei nicht weit voneinander entfernt.

NATASCHA : Aber gerade dieser Umgang mit dem Anarchischen macht für mich das spezifisch Weihnachtliche an seiner Erzählung aus. Weihnachten hat für mich immer etwas Anarchisches.

NICOLE : Vielleicht gestaltet May gerade deshalb den Text erzählerisch sehr diszipliniert.

MARIUS : Und adaptiert damit wiederum die Sicht des Kindes, das seine Märchenwelt in 'strengem Vertrauen in die unabänderliche Ordnung der Dinge' annimmt. Mir fällt dazu Karel Capek ein, der einmal schrieb, dem Erwachsenen komme es vor, als wiederhole er dem Kind das Märchen nur, 'für ein Kind aber wiederholt sich das Märchen nicht, es dauert einfach, und deshalb darf es nicht geändert werden. Es gibt Dinge, die immer gleich bleiben müssen, wie zum Beispiel das Gebet; seine geheimnisvolle Kraft liegt darin, dass der Mensch mit gleichen Worten in den gleichen Geisteszustand zurückkehrt; höchstwahrscheinlich ist es irgendein besonderes Gefühl der Sicherheit', das in einer solch strenger Kontrolle unterliegenden, unabänderlichen Regie zum Ausdruck kommt.


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NICOLE : Da waltet eine fast choreographische Bravour, die man nicht als preziös missverstehen sollte.

NATASCHA : Sehr ordentlich; auf jeden Fall sehr sauber, um nicht zu sagen: klinisch.

MARIUS : Militärisch! Und hat nicht das Militärische wunderliche Affinitäten zum Märchenhaften? Die Weihnachtsfeiern in beiden Erzählungen huldigen jedenfalls auffällig einem militärischen Ritual. Mays reisender Ich-Erzähler 'instruiert', Halef 'dirigiert', die Buddenbrooks 'defilieren'; der Einzug 'direkt in den Himmel hinein', das ganze festliche Zeremoniell bedient sich der Sprachregelung martialischer Sandkastenspiele.

GEORG : Dirigieren hat ohnehin immer so etwas Generalstabsmässiges, bemerkt Fontane irgendwo.

MARIUS : In beiden Fällen Kotau vor dem Heiligen Kind, in beiden Fällen waltet die Regie eines Staatsaktes.

NATASCHA : In beiden Fällen dieser Hautgout von Inszenierung: man hat den Eindruck, dass die Ordnung fast den Inhalt ersetzt, das Dekor die Botschaft.

MARIUS : Auch das wieder ein sehr jugendstilhaftes Element beider Texte.

GEORG : Die wurden in einer Zeit geschrieben, da die militanten Kostümfeste Wilhelms II. gesinnungsstiftend waren und das Ich nur ein Ornament.

MARIUS : Kostümfest oder besser gestische Arrangements von Posen, Posenkombinationen wie auf Theaterphotographien der Jahrundertwende. Das ist es wohl: von einer gewissen Frivolität im Umgang mit dem Weihnachtsfest kann man Thomas Manns Schilderung nicht freisprechen. Sie stellt recht eigentlich einen Widerruf der Weihnachtsbotschaft dar, indem sie dem Fest die Glaubwürdigkeit der Epiphanie verweigert.

PHILIPP : Jede analytische Lektüre des Mannschen Textes muss das als seine erklärte Absicht erscheinen lassen: das Gegenteil hatte wohl Karl May im Sinn; sein Umgang mit der Epiphanie macht diese nicht glaubwürdig, sondern lächerlich. 1907 ist nicht die Zeit der Offenbarungen. Und welcher Autor verlogen, welcher ehrlich gestaltet, das zu entscheiden, wird man sich wohl nicht lange besinnen müssen.

NICOLE : Ich möchte Philipp dazu schon noch etwas mehr Besinnungszeit


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empfehlen. Ich finde, May macht die Epiphanie, die Weihnachten beinhaltet, durchaus nicht lächerlich; im Gegenteil: er betont die anarchische, ordungsumstürzende Kraft, die ihr innewohnt, er macht in der Schilderung der Aussätzigen das ganze revolutionäre Potential deutlich, auf das hin gerade dieses 'Friedensfest' zielt. Und indem er seiner Erzählung die Form der Parabel gibt, 'diskutiert' er die sozialen Probleme seiner Zeit, garantiert der Utopie, die er entwirft, ihre Würde und bewahrt sie vor dem Umkippen in eine billige Vertröstung.

GEORG : Das kann man sagen, denn damals wie heute sind die weihnachtlichen Pfade mit unverbindlichen Tröstungen nur zu sehr gepflastert. Dabei wirkt diese Parabel fern aller redundanten Katechese in ihrer elliptischen Form wie ein Gedicht. Ja, man kann sagen, dass erst der von ihr favorisierten Abbreviatur, die letztenendes auf ein Verschweigen, wenn nicht Verstummen abzielt, das Eingedenken möglich wird: als Zurücktasten - nicht in eine fragwürdige Zeitlosigkeit, sondern zum 'Akut des Heutigen', wie Celan einmal sagt.

NICOLE : Ich möchte betonen, dass beide Autoren sich auf sehr ungewöhnliche und originelle Art mit dem Thema Weihnachten beschäftigen: Thomas Mann allerdings mit einem kalauernden Pessimismus, der mehr Schwäche als Stärke in der Bewältigung des Themas zeigt.

PHILIPP : Die Maysche Stärke ist, wie immer, nur angemasst.

NICOLE : Das mag ein gewisser Fundamentalismus der Erzählhaltung so scheinen lassen: wichtig ist aber doch, dass sie, ganz aus der Innenwelt eines Glaubenden entwickelt, das weihnachtliche Programm als einen überzeugenden Gegenentwurf zur bestehenden Ordnung darzustellen bemüht ist. May nimmt in seiner - ich möchte fast sagen - Exegese des Weihnachtsgeschehens den messianischen Glauben ernst, ohne zu übersehen, dass dieses Fest nicht mehr als ein Itinerar einer nach Utopia weisenden Heilserwartung zu bieten vermag.

MARIUS : Verstehe ich dich recht, so willst du sagen, dass Weihnachten nichts für in ihrer Gewissheit Sesshafte ist.

NATASCHA : Genau das aber scheint es für die Buddenbrooks zu sein.

GEORG : Die wir nicht mit ihrem Autor verwechseln dürfen. Seine Skepsis, was denn da die Familiengesellschaft bei ihrem Einzug singend 'direkt in den' - weihnachtlichen - 'Himmel hinein' erwartet, ist recht offensichtlich.

PHILIPP : Nämlich am Ende die hinter der Attrappe des Sterns von Bethlehem


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erloschene Kerze. Im Gegensatz zu Karl May ist Thomas Mann ein Autor, der mit den Unabgeschlossenheiten des Daseins umgehen kann und nicht ständig auf Sinngebung aus ist.

GEORG : Ob das für May wirklich nicht gilt, wäre noch zu untersuchen. Mich hingegen interessiert zunächst, wo Sie, Nicole, den Vorbehalt gegenüber der Weihnachtsbotschaft in der Erzählung Mays sehen, die doch ganz jenen Predigtexempeln nachempfunden ist, wie sie sich in geistlichen Analekten finden.

NICOLE : Vorbehalt ist nicht eigentlich das richtige Wort. Es geht May nicht um Vorbehalte, eher um Spurensicherung und -verfolgung eines Ereignisses und seiner Botschaft, die an sich unbezweifelbar sind. Dieses Ritardando im Umgang mit der Heilserwartung liefert uns Lukas selbst. Als einziger Evangelist gibt er durch eine Weihnachtserzählung dem Geburtsgeschehen gleichsam einen epischen Kommentar bei. Weihnachten heisst nach dieser Lesart 'Unterwegs'- nicht 'Da-Sein', nur die einzuschlagende Richtung ist angegeben. Die Hirten z.B., die auf Geheiss der Engel ihre Herden verlassen, vertrauend, ihnen könne jetzt nichts mehr geschehen, denn es werde in Erfüllung einer paradiesischen Prophezeiung der Wolf nun beim Lamme liegen, dürfen dessen für eine Nacht, da die Erscheinung des göttlichen Kindes die Welt in ihren Bann schlägt, gewiss sein. Noch ist der Bann nicht für die Ewigkeit befestigt. Am Ende dieser Nacht müssen sie zu ihren Herden zurück. Von daher zeigt sich mir Weihnachten als ein sehr 'offenes' Fest. Und als solches deutet es May auch in seiner Erzählung, womit deren utopischer Gehalt unvermittelt sehr realitätsbezogen wird. Gewiss ist nur, dass der Erlöser endlich gekommen ist, unterwegs nun zur errettenden Tat. Ebenso ist der Pascha als Hüter der Güte erst unterwegs. 'Einen Monat später war der Pascha versetzt und sein Nachfolger nach Damaskus unterwegs.' Das, Philipp, könnte eigentlich ganz gut bei Kleist stehen: dieser prägnante Schluss, der alles offen lässt, jedenfalls keine unbedingte Sicherheit über die Ankunft des Paschas gewährt, allenfalls dem Gefühl eines 'so war es ihm fast, als müsst er sich freuen' Ausdruck gibt.

PHILIPP : So lässt sich also nur konstatieren: Weihnachten oder 'Unterwegs zum Glück durch die Wüste von Bagdad nach Stambul': ein Mysterienbaedeker.

GEORG : 'Nach Damaskus', Sie Spötter.

MARIUS: Dem Ort der Entscheidung. '...merkt euch die Stelle, denn ihr kommt wieder her, wenn abgerechnet wird'.


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PHILIPP : Womit uns Marius' fabelhaftes Collagiervermögen gleich auch noch Strindberg zur Ausgestaltung dieser okkulten Jahrhundertwendentopographie aufbietet, in dessen 'Damaskus' 'aber vorher die Rechnung bezahlt werden muss.'

MARIUS : Strindberg liegt gewiss auch am Wege. Aber diese kryptische Bemerkung hat sich mir noch irgendwie aus meiner May-Lektüre vor Zeiten aufbewahrt.

GEORG : 'Am Jenseits'. Schlussatz. Auch ein Bericht von letzten Dingen. Und, wenn ich mich nicht irre, fast zeitgleich mit 'Nach Damaskus' erschienen: 1899.

PHILIPP : Weihnachten, die letzten Dinge und das Weltgericht. Das heisst doch, diese meinetwegen ganz hübsch komponierte Parabel von den Aussätzigen masslos überfrachten.

GEORG : Vielleicht - wenn nicht das Erscheinen des Erlösers den Begriff des Gerichtes implizierte. Ist Weihnachten ein revolutionäres, neue Ordnungen stiftendes Fest, dann kommt es ohne den Gerichtstag nicht aus, zumindest - um es etwas konzilianter auszudrücken - macht es, 'dass die alten Leute in sich hineinsahen und ihr Leben überdachten.' Und Thomas Mann, der, wie Sie bemerkt haben, in seiner Schilderung bürgerlicher Weihnacht alle nur denkbaren christfestlichen Motive persifliert, hat sich auch dieses nicht entgehen lassen: als Schatten bevölkern in der Vorstellung der meisten Anwesenden Juristen, Verteidiger, Gerichtspräsidenten und Staatsanwälte die Szene; denn diese Weihnacht dient auch der Abwicklung des Falles Weinschenk.

NATASCHA : Das hat er von Ibsen, in dessen 'Nora' Weihnachten gleichfalls zum 'Damaskus' der Titelfigur wird: zum Gerichtstag über sich selbst.

NICOLE : Gleiches widerfährt ja auch den Aussätzigen in der Erzählung Mays. Weihnachten wird auch ihr 'Damaskus', das aus Rächern Jünger macht. 'Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.'

NATASCHA : Schon das Tal der Dschamikun, Karl Mays 'Kastalien', war eine Inszenierung darauf. Nun, Jahre später, ist es Damaskus, der Slum von es-Salehije.

MARIUS : Und einmal in dieses Spurenlesen eingeübt, wird man im Text von Karl May vieles finden, dessen Schilderung für Thomas Mann nur noch als Travestie möglich ist.


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GEORG : Was eine gewisse zeitgenössische Kritik prompt als Mangel an Innerlichkeit bemängelte. 'Die innere Bewegung ist zu flach...Alles bleibt ausser ihm.'

NATASCHA : Als Zeugnis dieser veräusserlichenden Flachheit bewährt sich natürlich Weihnachten, das Fest deutscher Innerlichkeit katexochen, besonders gut, wie uns schon Nicole demonstriert hat.

PHILIPP : Dabei sind gerade diese Defizite an 'Tiefe' und 'Innerlichkeit', das was nationalistische Kritiker als französische Oberflächlichkeit verketzerten, die einzigen dem Thema angemessenen literarischen Tugenden. Ihr Fehlen macht den Text von May in seiner prätendierten Innerlichkeit so unförmig nichtssagend.

MARIUS : Mir scheint, sie sind dem Umgang mit 'Weihnachten' in der von May gewählten dichterischen Form nicht angemessen. Dass wir diese Form so abgebraucht obsolet empfinden können, sagt zwar ebenso wie Thomas Manns Ironisierung des Festes einiges über die Mühe, die wir mit seiner Botschaft heute wie damals bekunden, wenig hingegen über den künstlerischen Wert der Texte an sich. Im Zentrum von Mays Parabel steht Weihnachten als Epiphanie, im Zentrum der Buddenbrookschen Weihnachtsfeier deren Parodie als Kulissenzauber, den zu durchschauen nur für das Kind Hanno ein 'seltsames', will heissen höchst zwiespältiges 'Vergnügen' sein konnte, 'wie auf einer halbdunklen Bühne nach Schluss der Vorstellung darin umherzuschweifen und ein wenig hinter die Kulissen zu sehen.'

NATASCHA : Indessen nach Schluss der Vorstellung auf die Erwachsenen der Gerichtstag des Herrn Weinschenk unerbittlich wartete.

MARIUS : Am bittersten - und hier ergänzen sich May und Mann auf geradezu wunderliche Weise - kann einem dann die freche, persiflierende Interpolation des Heilsgeschehens aufstossen, wo Mann Mays christliche Utopie, aber auch den idealistischen Humanismus der Klassik parodierend zitiert.

GEORG : Sie meinen die 'Fidelio'- Aufführung als Puppentheater?

MARIUS : Ja, ein zynischer Trick das. Selbst wenn man die Oper nur flüchtig kennt, sind die inhaltlichen und ideellen Parallelen zwischen ihr und Mays Erzählung auffallend genug. Im Lichte von Beethovens Musik enthüllt Mays Parabel die Qualität eines Librettoentwurfes. Thomas Mann belehrt uns darüber in wünschenswerter Deutlichkeit. 'Auf der Bühne war die Dekoration des letzten Fidelio-Aktes aufgestellt. Die armen Gefangenen falteten die Hände. Don Pizarro,


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mit gewaltig gepufften Aermeln, verharrte irgendwo in fürchterlicher Attitüde. Und von hinten nahte im Geschwindschritt und ganz im schwarzen Sammet der Minister, um alles zum besten zu kehren.'

NATASCHA : '...und sein Nachfolger bereits nach Damaskus unterwegs.' Denn in Mays Erzählung stehen sich Protagonisten von der gleichen Qualität, die gleiche Entourage in der gleichen gettoartigen Situation gegenüber: Dämonen und Verfolgte, Rachegefühle und humanes Pathos - Sublimierung der Leidenschaften. Und aus dem Hintergrund ist der Retter schon unterwegs. Da erschliesst sich, wenn es noch eines Beweises bedarf, die Erzählung in ihrem utopischen Gehalt als ganz starke Parabel, die den ursprünglich metaphysisch codierten Menscheitstraum der Weihnachtserzählung vom grossen Frieden in eine nachmetaphysische praktische Form übersetzt.

NICOLE : Wenn auch das Ende offen ist: in messianischer Erwartung, nach Damaskus unterwegs. Nichts steht, alles fliesst: auch die Friedenssehnsucht, die sich jede Generation neu zu erfüllen aufgefordert sieht.

GEORG : Einverstanden. So kann man das utopische Denken Mays wohl künstlerisch in eine legitime Form gebracht sehen: als Parabel.

MARIUS : Wohingegen die Schilderung Thomas Manns in diesem Lichte etwas Komödienhaftes bekommt.

GEORG : Um nicht zu sagen den Charakter einer Posse.

NATASCHA : Ich meine, das ist ein sehr treffender Gegensatz: Parabel und Posse. Und im Rahmen solch einer Posse bringt Thomas Mann das ganze Pathos der Mayschen Parabel auf einen entscheidenden Punkt, indem er in der Weihnachtsfeier den 'Fidelio' zitiert, wenn man so will, die Maysche Menschheitsfrage zwischen Mandelcreme und gefülltem Puter. Eigentlich wird Weihnachten - möchte ich sagen - hier nur noch über die Parodie darstellbar. Ueber die Parodie der Mayschen Heilserwartung.

GEORG : Mir scheint das Problem der beiden Weihnachtserzählungen damit nicht ungeschickt angegangen, Möglichkeiten zu beschreiben, wie in einer Zeit, deren metaphysischer Schutzschild so löcherig geworden war wie in unserer derjenige des Ozons, Weihnachten erzählt werden kann.

MARIUS : Parodie würde heissen, dass Mann in dem Fidelio-Zitat den ideellen


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Kern der Erzählung Mays seiner Schilderung interpoliert und kontrafaktorisch zu ihrem Geschehen zuspitzt.

PHILIPP : Damit entlarvt er sehr geschickt, wie materielles Denken letztlich dieses Festes nur noch als Monstranz für soziales Prestige bedarf.

MARIUS : Das ist hier wirklich auf die Spitze getrieben. Der 'Fidelio' handelt von Befreiung und Erlösung politisch Unterdrückter, von Aufopferung und Treue, von einer sieghaften Revolution und einer neuen glücklichen Welt: all das weihnachtliche Werte. Seine Ernsthaftigkeit steht im grellen Kontrast zum Arrangement einer aufs rein Aeusserliche, Theatralische, Momentane abgestellten Fröhlichkeit dieser Weihnachtsfeier. Ihre Botschaft, die ja auch revolutionären Inhalts ist, wird dadurch bitterböse ironisiert. Denn der Traum von Erlösung ist nur auf dem Theater möglich als kurzfristige Ersatzbefriedigung: nichts wird hier in eine praktische Form übersetzt.

GEORG : Nun war das ja nicht immer so. Theater zu Schillers und Beethovens Zeit, das hatte in der Tat noch gesellschaftliche Relevanz und ein gewisses revolutionäres Potential, das das Bürgertum dann im Laufe des 19.Jahrhunderts verschenkt hat.

NICOLE : Kunst: als Devotionalienkiosk für eine Gesellschaft multipler Patchwork-Persönlichkeiten hinter der Maske stabiler Charaktere.

MARIUS : Und das wird hier sehr deutlich. Indem Thomas Mann den 'Fidelio' zitiert, zeigt er, dass Revolution nur noch virtuell ist, nur noch in der dünnen Luft der Utopie in Probe und Spiel behauptet wird.

GEORG : Mithin hat der 'Fidelio', dieses monumentale Bühnenwerk, das die eheliche Liebe nur zum Vorwand für eine menschheitsumfassende ethische Vision nimmt, die gleiche Qualität wie die knappe Skizze Mays?

NATASCHA : Was die Botschaft angeht, meine ich, schon.

PHILIPP : Vom künstlerischen Wert wollen wir da hoffentlich nicht sprechen: May - Beethoven.

GEORG : Nun, das ist ja nicht unbedingt ein Sakrileg, dieser Vergleich; ich denke vom Pathos her darf man ihn durchaus wagen.

MARIUS : Zumal man sagen kann, dass die Erzählung Mays, tendenziell, in ihrem


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utopischen Charakter bei Thomas Mann den 'Fidelio' substituieren könnte, es sich um die gleiche Humanität - Beethoven hin, May her - handelt, die gleiche humane Botschaft, die Mann hier ironisch von der pièce à sauvetage ins Vaudeville transferiert.

GEORG : Ganz richtig. Beachten Sie nun aber, wie er das tut, wem er die Hebel zu einer solch ironischen 'Translation' in die Hände legt.

MARIUS : Sie meinen Christian.

GEORG : Ja. Die Gesellschaft muss sich an denen und von denen messen lassen, die sie ausgrenzt. Zu diesen Ausgegrenzten, den Unberührbaren der Gesellschaft, die alles wegrationalisiert und saniert, gehören nicht nur die Aussätzigen, die Häftlinge, gehört nicht nur der straffällig gewordene und inhaftierte Autor dieses weihnachtlichen Gleichnisses, sondern auch Christian, der es an einer opulenten bürgerlichen Weihnacht inszeniert und der alle Symptome dieses Aussatzes in seiner Person vereinigt. Gemessen an ihm entwickeln sich aus den geschilderten Abläufen des Weihnachtsfestes in der Mengstrasse die Umrisse einer 'Pathologie der bürgerlichen Ordnung', die die Ausgegrenzten für die Projektion ihrer eigenen unterdrückten Sehnsüchte und Todeswünsche missbraucht. Beachten Sie den höchst neuralgischen Punkt, an dem beide Schilderungen miteinander gekoppelt sind.

NICOLE : Diese Selbstparodie, die Christian mit der Aufführung des 'Fidelio' bietet.

GEORG : Ja, das scheint mir wichtig. Anders als dem erzählerisch rollengewandten Proteus Thomas Mann gelingt May ja nur eine Rollenprosa, die des Katecheten; so hat er Weihnachten auch ganz der Schutzlosigkeit des epischen Ichs überantwortet: dem, was geschah, Bedeutung zu geben, es verständlich zu machen; eben weil er seine Existenz als zutiefst weihnachtlich, d.h. erlösungsbedürftig empfunden hat. In den Verdacht der Unzeitgemässheit bringt diesen Text die Vereinsamung des Ichs, das tapfer seine Botschaft hochhält, die die Artistik Manns ironisch-melancholisch dementiert. Im Grunde genommen aber ist der Spielende der einsamste.

NICOLE : Und über Christian, meinen Sie, leiht sich Mann episodisch diese Stimme des epischen Ichs aus.

GEORG : Wäre das nicht denkbar? Schon die Welt der Erzählung Mays, in einer jugendstilhaft anmutenden Gestik, erhält in ihrer Kreuzung von genetischem Gedächtnis der leidenden Menschheit mit der 'memoria technologica' des in den


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Orient transportierten bürgerlichen Festrituals eine surrealistische Beleuchtung. In diese sind auch die von Christian beherrschten Partien der buddenbrookschen Weihnachtsgala getaucht. So wie Mays erzählendes Ich seine Sehnsüchte in eine Parabel verrätselt, wird Christian, gleichsam Mays alter ego, fabulierend, spintisierend, gestikulierend, im Laufe eines bemerkenswerten Pathostranfers ins Ironische als clownesker Conferencier zu ihrem Verräter. Lesen Sie nur noch einmal die betreffende Passage. 'In Betrachtung des Theaters hellte sich sein knochiges und verfallenes Gesicht auf...'usw. Die Situation hat etwas von der Tragikomik eines den Ausgegrenzten eigenen Autismus an sich. Christian spielt für sich und Hanno den Traum von Menschlichkeit und Befreiung durch, den 'Fidelio': er zieht durch 'die weitgeöffnete hohe Flügeltür direkt in den Himmel hinein', wo er das himmlische Frohlocken der Befreiung in der Klamotte enden lässt: mit krächzender und tremolierender Stimme: "Ha, welch grässliches Verbrechen!"

NATASCHA : So naiv erlebt er also Weihnachten doch nicht - wie ein Kind.

MARIUS : Nein, er bastelt sich eine Ordnung, die ihm, dem verlorenen Sohn,...

GEORG : Ein eminent Maysches Motiv!

MARIUS : ...den Rückweg ins Paradies weisen soll.

NATASCHA : Utopie also auch hier.

MARIUS : Gewiss. In diesem Paradies wähnt er noch Hanno, das Kind, und möchte es davor beschützen, daraus vertrieben zu werden.

GEORG : Wir sehen also: der weihnachtliche Akt der Befreiung, der göttlichen Amnestie des Menschengeschlechtes durch die Geburt des Kindes, ist hier nur noch als Oper denkbar, im erhabensten Rahmen unter Zuhilfenahme des deutschen Idealismus, auf den der 'Fidelio' hinweist. Damit wird eine Ideenwelt dem Ablauf weihnachtlicher Routine wieder eingebürgert - durch die Hintertüre der Bühne -, werden Wirklichkeiten und Sehnsüchte, die man selbst längst preisgegeben und verraten hat, auf den projiziert, der sich als Narr zu ihnen bekennt. So wird für den Moment die Wirklichkeit der Ausgesetzten, der Insassen spanischer Gefängnisse, des Klubs der Habitués, des Gettos der Aussätzigen, mithin die Wirklichkeit der Erzählung Mays der bürgerlichen Realität implantiert, wo sie sich als wahnhaft ausnehmen muss. (Sie merken, wie das alles mutatis mutandis auf Wert und Wirkung der schriftstellerischen Existenz Karl Mays in seiner Zeit zielt.) Sie liefert, wenn auch als Zerrbild, Befunde, deren Bedrohlichkeit man sich nur durch Spott entziehen konnte. Man lacht und geht an dem Klagenden


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vorbei: 'zerstreut und gleichgültig'. Diese Verwandtschaft beider Texte im Theatralischen unterstützt der schon erwähnte Librettocharakter von Mays Erzählung vortrefflich mit seinem Potpourri an Arien, Ensembles und Chören. Und mit dem Rückzug Christians in den Klub gibt Thomas Mann nach der Opernparodie dem Aussätzigenmotiv noch eine Wendung ins Operettenhafte: als Ballade von Johnny Thunderstrom.

PHILIPP : Wer da folgen mag, folge. Das ist doch, Georg, mit Verlaub, ein dekonstruktivistisches Quiproquo, das die Grenze zum hermeneutischen Hokuspokus schon längst überschritten hat.

GEORG : Hier sind Affinitäten zwischen literarischen Werken vohanden, die nicht verschwinden, weil kanonisches Denken sie um seiner selbst willen für unmöglich hält. Vielmehr spielt derselbe Mechanismus, der für Umberto Eco einen Witz aus dem gleichen Stoff geboren sein lässt wie die griechische Tragödie.

MARIUS : Oder ein 'ernstes Gleichnis'.

GEORG : Sie sagen es. Das alles sind 'exemplarische Geschichten' von einem 'offenen Muster', das sich nach Eco gemäss der Erkenntnis 'de te fabula narratur' ausfüllen lässt.

MARIUS : Das, was Sie da sagen, scheint mir grundlegend für die Vergleichbarkeit der beiden Texte; sieht man doch auf den ersten Blick, dass sowohl die karge Skizze Mays als auch das opulente Tableau Manns dem gleichen offenen Muster gehorchen.

PHILIPP : Sieht man das wirklich?

MARIUS : Wenn ich mich recht erinnere, bitte korrigieren Sie mich, Georg, charakterisiert Eco die Kunst des Erzählens als einen 'Modus, in dem die Sprache sich in der Fabulierfunktion übt, die nicht im Artikulieren von Worten besteht, sondern im Skizzieren eines Musters zur Interpretation von Erfahrung', was mir besonders auf die Erzählung Mays zuzutreffen scheint.

PHILIPP : Lallen wird also diskursfähig. Das tönt ja sehr nach Mythosdefinition.

GEORG : Ist es im gewissen Sinne auch.

PHILIPP : Und war ja nach allem, was wir bis anhin 'fabuliert' haben, wohl nicht anders zu erwarten: May - mythisch.


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GEORG : Cum grano salis.

PHILIPP : Und wovon handelt dieser Mythos?

GEORG : Vom Kairos

PHILIPP : Und worin sehen Sie und Marius das gemeinsame Erfahrungsmuster in unseren Texten?

GEORG : In der Möglichkeit, sich rechtzeitig zu entscheiden oder die Entscheidung zu verpassen.

PHILIPP : Ich ahne schon: die Buddenbrooks und die 'zwölf Jungfrauen'.

MARIUS : Ein schöner und passender Gedanke: Weihnachten als der günstige Augenblick, 'die Chance, die man ergreifen muss und die oft unerkannt vorbeigeht.'

PHILIPP : Die die Aussätzigen mit ihrer billigen Parteinahme für die Utopie wohl ergriffen haben.

MARIUS : Billig?

PHILIPP : Was sonst? Das ist alles so eindimensional dürftig: nicht eine Spur von Verwandlung, die ja nun - wenn wir schon vom Mysterium reden wollen -...

NICOLE : Mythos ...

PHILIPP : ...wesentlich zur Weihnacht gehört. Ich gebe die ganze 'aufgepuffte Attitüde' der Mayschen Allegorie für einen weihnachtlichen Satz von Robert Walser. 'Eine Schneeflocke fiel mir auf den Mund, als fliege mir ein Kuss zu.'

GEORG : 'In all der Lautlosigkeit leuchteten Lichter.' Gewiss, das ist Transsubstantiation.

NATASCHA : Schnee. Auch nicht mehr als der übliche Gefühlskatalysator bürgerlicher Weihnacht.

PHILIPP : Aber doch Metamorphose, nicht Maskerade.

NICOLE : Das kann man mit gutem Recht auch von Mays Erzählung behaupten: sie ist Metamorphose.

MARIUS : Denn Metamorphosen erwachsen nur aus dem Kairos heraus.


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PHILIPP : Womit wir wieder beim Mythos sind. Unter dem tut's May ja nicht. Mich kann das nicht überzeugen: ein Mythos so verstaubt, wie die Rhetorik, die ihn gebar; im Endeffekt ein intellektuell hilfloser Versuch, sich gegen den Verlust religiöser und gesellschaftlicher Utopie aufzulehnen. In jeder Beziehung untauglich, welt- und schicksalsfremd.

MARIUS : Ich sehe das doch anders: die Aussätzigen haben erkannt, dass - mit den Worten Ecos - Schicksal 'nicht kosmische Notwendigkeit' ist - vielleicht sieht das der Islam so -, 'sondern individuelle Abrechnung mit dem Möglichen' und der Kairos, 'die günstige Gelegenheit, der Moment der Wahrheit.'

NICOLE : Und wir wollen als Utopie deklarieren, was innere Wirklichkeit ist?

NATASCHA : Während man bei den Buddenbrooks in weihnachtlicher Verblendung die Augen schliesst.

GEORG : Dort spielt die Herausforderung, von der Weihnacht handelt, eigentlich gar keine Rolle mehr: die Herausforderung, die eben in der individuellen Abrechnung mit dem Möglichen besteht.

NICOLE : Allenfalls schiebt sich da einer Fischschuppen ins Portemonnaie, 'damit während des ganzen Jahres das Geld darin nicht ausgeht.'

MARIUS : So versäumt man die 'Abrechnung mit dem Möglichen'. Unterscheidet zum Beispiel Christian sich darin so viel von Thomas? Jener kann sie nur noch parodistisch leisten.

GEORG : Aber immerhin; er leistet sie.

PHILIPP : Und ich werde mehr und mehr den Verdacht nicht los, dass auch May parodiert und uns ganz schön veräppelt. So viel himmlische Dreistigkeit ist ja nicht normal.

GEORG : Nicht normal - das sind sie wohl die Karl May und Christian Buddenbrook. Wenn wir nochmals auf diese beiden zurückkommen, so brauchen wir hier weder die gescheiterte Existenz Mays, noch die Schwäche Manns für Existenzen, 'die viele Fehler gemacht haben', zu diskutieren, um die Wesensverwandtschaft zwischen diesen angeblich so weltfremden Figuren und auch Hanno zu erkennen. Vagabunden und Kindern gehört offenbar die Weihnacht.

NATASCHA : Man kann es so sehen, und so sehen es offenbar auch die beiden Autoren: Christian als einen ausgesprochenen Aussätzigen, eine Figur, die die


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Mayschen Szenarien in Damaskus bevölkern könnte, an seelischer Lepra erkrankt, flüchtig, ein Drogensüchtiger. Man lese nur, was er über die Wirkung des schwedischen Punsches sagt: "Du gehst umher und fühlst dich übel,... Kopfschmerzen und unordentliche Eingeweide...nun ja, das gibt es auch bei anderen Gelegenheiten. Aber du fühlst dich schmutzig...du fühlst dich schmutzig und ungewaschen am ganzen Körper. Du wäschst deine Hände, aber es nützt nichts, sie fühlen sich feucht und unsauber an, und deine Nägel haben etwas Fettiges...Du badest dich, aber es hilft nichts, dein ganzer Körper scheint dir klebrig und unrein. Dein ganzer Körper ärgert dich, reizt dich, du bist dir selbst zum Ekel..." Das spricht für sich selbst. Die Befindlichkeit einer ganzen Epoche äussert sich darin.

PHILIPP : Ja, ja. Christian. Aber Thomas Mann entwickelt diese Figur, er kommentiert sie nicht, nichts von diesem missionarischen Eifer, in dem uns May das Pendant, den 'Scheik der Aussätzigen', vorführt: 'Früher im deutschen Asyl für Aussätzige in Jerusalem untergebracht gewesen, hatte er die echte Humanität des Christentums von der erzwungenen Wohltätigkeit des Islams unterscheiden gelernt und sich einige Kenntnisse angeeignet, die ihn befähigten, hier in Damaskus im Namen seiner Leidensgenossen mit den Behörden zu verkehren.'

NICOLE : Ich glaube, der Islam steht May hier nur Modell nicht für eine Religion, eher für ein geistiges Klima leblos gewordener Rituale.

MARIUS : Das hätte sich zwar, wie die Schilderung Manns zeigt, im Christentum viel wirkungsvoller finden lassen. Insofern ist May hier nicht frei von Tendenz.

PHILIPP : Nicht nur das. Ich will mich ja gerne über 'offene Systeme', Kairos, über Symbolik, geistiges Klima, existentielle Metaphern und Metamorphosen belehren lassen, auch über die hermeneutischen Binsenweisheiten, dass sich in jeder Aeusserung bewussten Lebens, mithin in jedem Sgraffito, die subjektive Innerlichkeit eines Bewusstseins symbolisch ausspricht, schätze nicht zuletzt, dass wir es diesmal nicht mit 'wildgewordener Fähnrichsphantasie' zu tun haben, werde aber das Gefühl nicht los - und die peinlich wertende Konfrontation von Christentum und Islam in der May-Erzählung bestätigt das nur zu sehr -, dass unter ihrer alabasternen Ornamentik die ewigen spiessbürgerlichen Knatterchargen religiöser Traktätchenliteratur lauern, die selbstgefällige Parteinahme des ewigen kleinen Siegertypus kauert, der die Armen entdeckt hat und die soziale Frage und den Frieden und die Humanität an sich, parasitär daran seine ewigen manichäischen Grossmannsphantasien auszuleben. 'Grosse Welt haben wollen'. Sagt nicht Ernst Bloch irgendwo so?


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GEORG : Gut gebrüllt, Löwe! Sie reiben Salz in die Wunden manches May-Apologeten. Ohne Kenntnis des gesamten Spätwerkes von May können wir hier nichts Substantielles sagen. Angesichts all des Unsäglichen aber, das in Unkenntnis des Werkes schon darüber urteilend vermutet wurde, sollte es Ihnen ein Akt ausgleichender Gerechtigkeit sein, Philipp, sich jeden Verdachtes, er mag naheliegend noch so sein, und vor allem jeder brillanten Polemik auf Kosten eines geschundenen Autors zu enthalten, in der Indolenz häufig den Sack schlägt und den Esel meint. Ich sehe in der Konfrontation Christentum-Islam nicht mehr als eine Konzession an den Zeitgeist. Es war eben die Zeit des europäischen Imperialismus, Kolonialismus, einer abendländischen Kultursuprematie, gegen die May an anderen Orten, etwa in seinem Roman 'Friede auf Erden', sehr beredt und kritisch Stellung bezogen hat.

PHILIPP : Sorry, Georg, ich bin allergisch gegen alles, was die humanen Defizite auf der imperialistischen Posaune intoniert.

NICOLE : Als ob man - gerade in dieser Erzählung - das May zum Vorwurf machen könnte. Das heisst doch, die Situation sophistisch auf den Kopf zu stellen.

PHILIPP : Kaum möglich, wo ein Autor schon längst seinen Kopf verloren hat.

GEORG : Der alternde May hat in seinem recht gewundenen Umgang mit dem eigenen Werk es freilich seinen Verächtern recht leicht gemacht, alles als oberflächliche Maskerade abzuqualifizieren, was in Wirklichkeit Zeichen tiefer innerer Wandlung war.

PHILIPP : War es das wirklich oder nur die gleiche arrogante Weltfremdheit im Kostüm des Mystikers? Eine besonders dreiste Charade, weil sie auf die Anfälligkeit deutscher Interpreten für Tiefsinn spekuliert.

NICOLE : Mit solchen Invektiven mochte wohl eine Gesellschaft ihre ganze Verlogenheit auf die Dealer projizieren, die sie sich - verstohlen, versteht sich - hielt, die eigenen verdrängten Sehnsüchte zu bedienen. Was soll man in diesem Zusammenhang von der Glaubwürdigkeit im Lebenswandel der Buddenbrooks sagen?

MARIUS : Wenn man ein Kavalier ist, wird man gar nichts sagen.

PHILIPP : Der Autor sagt ja auch nichts darüber.

NICOLE : Und wenn einem am End' nichts mehr einfällt, wird man impertinent.


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Dieses ganze patriarchalische Gehabe in dieser weihnachtlichen Choreographie, das nur auf das Outfit einer männerbeherrschten Gesellschaft bedacht ist. "Zu Jesu Ehren..." Aber doch wohl eher zu Ehren des lieben seligen Jean. Noch aus dem Jenseits tyrannisiert der verstorbene Konsul mit seinem 'weihevollen Programm' die versammelte Weihnachtsgesellschaft. Generalstab - nicht wahr? Alles musste von einer 'tiefen, ernsten und inbrünstigen Fröhlichkeit erfüllt sein.'

MARIUS : Was es dann natürlich nicht war; womit Nicole uns sicher nahelegen will, dass die echte Gefühls- und Glaubensstärke bei May zu finden ist; pointiert gesagt: das strenge patriarchalische Ritual dieser weihnachtlichen Inszenierung gerät bald einmal ausser Kontrolle durch die Emanzipation femininer Energien: die Rache wird durch die Liebe ausser Kraft gesetzt, die Zensur der 'Etikette' durch die Anarchie der Liebesgefühle.

PHILIPP : Dieses Karnickels aus Nicoles Zauberzylinder hat man sich schon lange versehen dürfen: voilà May als Feminist.

NATASCHA : Eine erstaunliche Verwandlung: bei Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi würde man solch eine feminine Seite kaum vermuten.

NICOLE : Ueberhaupt vollzieht sich gerade in dieser Erzählung eindrücklich der Abschied von der Omnipotenz des Ichs.

MARIUS : Keineswegs. Sie liefert nach wie vor die Mandorla des Geschehens.

NICOLE : Der eigentliche spiritus rector der Handlung aber ist doch Halef. Er entwickelt die Pläne, wohingegen der Ich-Figur nur ein Beobachterstatus zukommt. Sie hat in dieser Erzählung allenfalls perspektivische Qualität.

PHILIPP : Von fast göttlichem Habitus. Wie immer, nicht frei von inszenierter Selbstgerechtigkeit.

NATASCHA : Die May in Halefs Figur aber schön korrigiert. Er ist der Teilhabe an zwei Religionen verpflichtet. Eine Personifikation des Mayschen Toleranzideals.

PHILIPP : Kaum. Nicht mehr als die Larve christlichen Missionsdranges.

GEORG : Jedenfalls ist May in den Jahren, da diese Erzählung erscheint, damit beschäftigt, seine heroische Garderobe zu magazinieren.

MARIUS : Und Prediger zu werden.


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PHILIPP : Wäre er doch nur Westmann geblieben. Im Trapperlook macht er sich

entschieden besser als im Predigerrock.

GEORG : In welcher Verkleidung auch immer, er hat im Grunde genommen stets die gleiche Obsession, die sein grosser sächsischer Landsmann musikalisch ausdrückte, in Literatur umzusetzen versucht: Erlösungssehnsucht in dürftiger Zeit. Das ist gemeint, wenn wir Karl May eine weihnachtliche Existenz zuschreiben, wie er sie selbst immer wieder behauptet hat. Seine Reiseerzählungen bringen allenthalben Lichtexpeditionen in der Verpackung eines romantischen Hadestourismus; im Spätwerk dann, entstanden in einer Zeit, da der Autor von sich fast ein Bild als Kontrafaktur zu Nietzsches 'Gekreuzigtem' entwirft, liegt eine Schmerzbewältigung besonderer Art vor, ein Pathostransfer in Umkehrung dessen, was uns vorhin bei Christian Buddenbrook beschäftigt hat; die Besichtigung einer 'Innenseite' des Lebens. Insofern sind auch diese Erzählungen ernstzunehmende Expeditionsberichte, freilich in einer oft beschwerlichen, algorithmisch verfahrenden Reihung von Bildern, die Offenbarung als Vorstoss des Lichts in die Finsternis feiern. Sascha Schneiders auf den ersten Blick befremdliche Illustrationen zu Mays Werken sind insofern diesen doch nicht ganz unangemessen. Andrerseits gibt es im Spätwerk die im Stile Böcklins ahnungsvoll ins Bild gesetzte Unwirklichkeit; daneben wiederum das systematische Halluzinieren einer narrativen Ordnung, die in ihrer Uebersteigerung Wege zurück ins Paradies sucht. Von diesen erzählerischen Strategien der Heilssuche lebt auch die vorliegende späte Erzählung. Sie unterkühlt pathetische, surrealistische, halluzinatorische Effekte in der nüchternen, knappen Form der Reportage, was ihr topologisches Wesen wohl besser charakterisiert als der unverbindliche Begriff 'utopisch', der zudem stets etwas von Erbauungs-Science Fiction an sich hat.

MARIUS : Dafür denunziert sie - wie übrigens auch der Text Thomas Manns - doch auf zu schmerzhafte Weise.

GEORG : Ja, sie denunziert; vielleicht liegt darin die Qualität, die Nicole als 'ehrlich' beschrieben hat; obgleich ich nicht so unterscheiden möchte. Sie erinnern sich der Schuldzuweisungen zu Beginn unseres Gespräches, Schuldzuweisungen an die Texte: der von Mann sei verlogen, der von May ehrlich.

MARIUS : Eigentlich absurd.

GEORG : Sicher. Nicht die Texte sind verlogen oder ehrlich; sie sind ja nur Deutungsmuster der geistigen Situation ihrer Entstehungszeit; und sie sind es um so wirksamer, je grösser das artifizielle Talent des Schriftstellers ist, in ihnen sich Stimmungen verdichten zu lassen. Ihr sogenannter zeitloser Wert bemisst sich


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danach, wie stark wir noch an diesem seelischen Hausrat partizipieren. Da zeigt sich wohl, was in der literarischen Rezeption, aus welchen Gründen auch immer, gern verdrängt wurde, dass May in seiner naiven Haltung als Indikator der Sehnsüchte seiner Zeit - und wohl auch noch der unseren - ebenso ernst zu nehmen ist wie Thomas Mann als ironischer ...

NATASCHA : ...sentimentalischer, der Analogie zuliebe...

GEORG : ...Protokollant der Vergeblichkeit dieser Sehnsüchte in einer Epoche, wo religiöse Inhalte längst in den Kulissen ihrer aufwendigen Inszenierungen verlorengegangen waren und die Beziehungslosigkeit der Menschen ihren Ausdruck in der Aesthetisierung des narzisstischen Ichs findet, jenes Mannes ohne Eigenschaften, für den es die Bindung zu den anderen Menschen nicht mehr gibt, in denen sich seine Eigenschaften manifestieren könnten. In diesem Sinne kann man die Texte sogar komplementär zueinander sehen. Komplementär, wenn nicht gar kompatibel, da die Menschheitsliebe Mays der tödlichen narzisstischen Komponente ja auch nicht entbehrt. Vielleicht verdeutlicht das die schon erwähnte Weihnachtsgeschichte von Robert Walser auf ihre Weise noch besonders. Sie liefert, scheint mir, die quasi tödlich-biedere Rückseite des Mayschen Parabelgewebes - merken Sie auf das versteckte May-Zitat -, von der Mann dann die ironische, parodistische, possenhafte - wie auch immer - Pause fertigt. (liest) '"Schneien", dachte ich, "versetzt mich in ein glückliches Bürgertum und Familienleben. Unwillkürlich ess ich Mandeln, Orangen und Datteln und höre das Geknister von Weihnachtskerzen, die den Tannenzweig anbrennen, und habe allen lieben Festzeitsduft vor mir und wäre mit Freuden ein braver Mann, einer aus ganzem Schrot und Korn. Wie soll ich jetzt zu mir heimzugehen wagen, wo nichts Trauliches ist? Wer sich einschneien liesse und im Schnee begraben läge und sanft verendete."'

MARIUS : Hälfte des Lebens.

NATASCHA : Und auch hier der verschenkte Kairos.

GEORG : Es scheint so.

PHILIPP : Es ist so; denn Sie haben uns noch einen Satz unterschlagen. (liest) "Hübsch ist zwar das Leben auch mit kargen Aussichten."

NICOLE : 'Pauperiem pati'. Das klingt nach Rettung in Resignation.

MARIUS : Rettung? Der Bedeutungsimpuls dieses urweihnachtlichen Wortes lenkt


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wohl in eine andere Richtung: der verpasste Moment der Wahrheit, der Abrechnung mit dem Möglichen ist der Weg in die Sklerose.

GEORG : Ich fürchte es. 'Und dies (und anderes) zu sagen, dienen uns die Geschichten, auch wenn es Geschichtchen sind.'


Es dämmert stark. Licht aus dem Flur. Aus dem Esszimmer ab und zu leise Geräusche beim Decken des Tisches. Eine üppige weiss-schwarz gefleckte Katze äugt in den verlassenen Raum und rollt sich dann auf dem von Philipp vorgewärmten Sessel ein. Draussen hat es zu schneien begonnen. Stille, so 'dass man die Klänge einer entfernten Drehorgel vernimmt, die zart und klar wie die einer Spieluhr aus irgendeiner beschneiten Strasse den Weg hierher finden.'


[Illustration groß (19-Kb-Gif)]


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Nachbemerkung

'In Wahrheit weiss der Künstler mehr oder weniger als die anderen. Er drückt eine Kollektivität aus, die grösser ist als jene, welche gewöhnlich jeder einzelne ausdrückt, denn andernfalls würde er niemanden interessieren, und zugleich drückt er seine eigene Individualität aus, denn andernfalls würde er ebenfalls niemanden interessieren.'
(Eugène Ionesco, Découvertes)

Der Protokollant und Herausgeber findet dieses Gespräch überliefernswert, weil es ein gutes Beispiel dafür abgibt, wie Interpretation nicht elaboriert, sondern gelebt werden muss, in dem Sinne, dass die beste Deutung von Literatur sich in der Literatur selbst findet, in bewussten oder unbewussten Spiegelungen der Autoren, dort wo sie Motive, Konfigurationen zitierend, verzerrend, fragmentierend, abwandelnd ihrem Werk anverwandeln, gleichsam als belebende Repliken, denen entlang sich Erzähltes stets entwickelt hat: vermittels der 'Reflexion' von Zeitgenössischem wie Vergangenem.

Dabei geht es gerade nicht um offen einsehbare Parallelen, vielmehr um die verschwiegenen; um poetische Muster, um die Strukturen dichterischer Einbildung, wie sie, sich gegenseitig kommentierend, im Unterbewussten der Poeten, der 'Macher', in den Souterrains ihrer Imagination wirken, sie als Stellwerke der Bahnen ausweisend, die der Zeitgeist zieht. Ein so auf Strukturalistisches abzielendes Interpretationsverfahren geht davon aus, dass 'Widerspiegelung' und 'Wieder-Denken' - bewusst oder unbewusst - auch die spontanste, realistischste oder mystischste, originellste, eigentümlichste Sehensweise eines Kunstwerkes im Grunde genommen von Konventionen determiniert erscheinen lassen, denen kein Künstler entrinnen kann: solchen, zum Beispiel, gestischer Motive oder ikonographischer und symbolischer Kürzel, solchen tradierter, literarisch durch die Epochen internalisierter Kompositionsschemata etwa mythologischen, idyllischen oder sonstigen Genres.

Es ergab sich folgerichtig eine Konversation ganz im Stile Fontanes, 'also alles bloss Zitat oder noch richtiger Façon de parler. Und doch steckt etwas Aufrichtiggemeintes dahinter', d.h., die Anspielung suspendiert die Erklärung. Und so ist es für den Herausgeber nicht immer ganz einfach gewesen, die flüchtig eingeflochtenen Bezugnahmen der Diskutanten auf bedeutende literarische Quellen zu dechiffrieren. Häufig musste er sich auch mit der Annahme, es handle sich um Mystifikationen, zufrieden geben, zumal diese, wenn sie nicht wahr sein sollten, zumindest doch recht treffend erfunden sind. Vielleicht dass dem geneigten Leser dieses Opusculums selbst die eine oder andere Herkunftsadresse bei der Lektüre unterkommt, worüber eine Mitteilung zu erhalten, den Herausgeber herzlich freuen würde.

Winterthur, im Juni 1992                    Jürgen Hahn


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Anmerkungen:

(Die Nummern im folgenden beziehen sich auf die Seiten des Textes)

3) Mit rufend gedehntem u-Laut: Anspielung auf die Lautsymbolik und die mit ihr verbundene pädagogische Verwirrung der Gefühle zweier zum Tode Verliebten: Klekih-petra (VII, S. 134) und Gustav Aschenbach.

3) Tadeusch...vokatif: "Tadziu": So in der brieflichen Mitteilung von Olga Meerson aus Paris am 2. Juli 1911 an Thomas Mann.

3) mit der 'wilden Polin', diesem 'alldeutschen' Produkt: 'Die wilde Polin' - unter diesem Titel erschien 'Wanda' als 'Kriminalnovelle' 1880 in: All-Deutschland! Illustrirtes Hausblatt.

3) Ich glaube, ich würde mir ein Billet kaufen: Thomas Mann brieflich am 16.III.1912 auf eine Anfrage Robert Müllers.

4) Aha, also 'Bruder May': Anspielung auf Thomas Manns Aufsatz 'Bruder Hitler': '...das alles ist durchaus einmalig, dem Massstab nach neu und eindrucksvoll; man kann unmöglich umhin, der Erscheinung eine gewisse angewiderte Bewunderung entgegenzubringen.'

5) eine Autorität in Sachen Nihilismus: Eugène Ionesco in 'Ce formidable bordel!'. Hier wird deutlich, was Péter Nàdas mit der Feststellung meint, der Romancier des 20. Jahrhunderts, etwa ein Thomas Mann oder Marcel Proust, sei eher Aesthet und Stilist denn Kenner der menschlichen Beziehungen und Charaktere. Da er der zwischenmenschlichen Beziehungen verlustig gegangen sei, in denen sich seine Eigenschaften eigentlich erst manifestieren, könne dieser Mensch ohne Eigenschaften allenfalls auf raffinierte Weise aesthetisch Eigenschaften simulieren, die freilich nicht so sehr andere Menschen kennzeichnen als immer wieder den Autor selbst. Der Grund für diese Entwicklung liege im Sieg des Ideals von der individuellen Freiheit auf Kosten der Gleichheit und Brüderlichkeit.

7) in seinen...imaginierten Reiseerzählungen: Gemeint ist der Roman 'Von Bagdad nach Stambul'.

8) ...schwindet auch der Wunsch nach Rache: So in der Essaysammlung 'Rache ist sauer'.


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13) Wirklich ist nur, was nicht erfunden werden kann: Die Welt als Semaphore ist Gegenstand der Deutung, nicht der Einbildung. Es geht um das Wiederfinden von Wirklichkeit, die schon immer in einem gewesen ist; nicht um ihr Erfinden. In diesem Sinne hat sich Ernst Jünger oft geäussert. Am 19. Juli 1965 notiert er in Port Swettenham nach einer Exkursion in die Mangrovenwälder: 'Zu den Genüssen einer solchen Begehung gehört das Wiederfinden von Begriffen in der Anschauung, ihre Erfüllung in der plastischen Gegenwart. Von allem, was sich darbot, hatte ich bereits in Reisebeschreibungen und botanischen Werken gelesen, in Kollegs und Vorträgen gehört. Nun wurden in dieses Gerüst die Dinge gestellt: der blasse Traum verwandelte sich in ein farbiges Bild.' Später dann: 'tausend Anzeichen einer verborgenen, durch die Sinne kaum angeschürften Wirksamkeit.'

13) Nietzsche als Zeugen dafür, dass man Wahrheit nicht entdeckt, sondern erschafft: Wohl eine Anspielung auf ein Nachlassfragment aus den Achtzigerjahren. Die Stelle lautet: '"Wahrheit" ist somit nicht etwas, das da wäre und das aufzufinden, zu entdecken wäre - sondern etwas, das zu schaffen ist und das den Namen für einen Prozess abgibt,...'

13) (vom) Wolfenbütteler Autorenkollektiv auch nicht geleugnet wird: Anlässlich einer Tagung zum Thema 'Der Roman' im Frühjahr 1992 in Wolfenbüttel versammelt. Péter Nàdas führt aus, der Autor könne nur über sein Selbst schreiben. Je mehr er aber seine dunklen Bezirke zu erkunden beginne, um so tiefer dringe er auch in kollektiv empfundene Gefühle ein, und Welt könne gestaltet werden. Hans Joachim Schädlich empfiehlt dem Autor, der eigentlich nur über sein Ich schreibe, im Umgang mit der Realität jenseits seiner Person den gesamten Spielraum seiner Einbildungskraft zu nutzen und im Roman Gefundenes von Erfundenem nicht abzusetzen. Nach Paul Nizon lässt der Roman Wirklichkeit erst entstehen. Gemeinsam ist offenbar allen Autoren die Vorstellung von Literatur als Mittel zur Leidensbekämpfung, angefangen vom homerischen: 'Mache mir, Göttin, dingfest den Mann, der litt auf dem Meere viel Schmerzen in seinem Gemüte' bis zu Paul Nizon, der nach eigenem Bekunden zu schreiben anfing, um 'ein stöhnendes Innere zu pflegen.'

13) Einbildungen sind...schlimmer als alles: So Effi Briest im vierzehnten Kapitel zu Innstetten.

13) ...verordnet dagegen Hermann Lenz: In seinem Roman 'Herbstlicht'.


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13) Lügenhaftigkeit, deren Platon die Dichter zieh: 'Politeia' 600E 'Wollen wir also festhalten, dass mit Homer beginnend alle Dichter nur Nachbildner von Schattenbildern der Tugend und der anderen Dinge seien, die sie dichterisch gestalten, die Wahrheit aber gar nicht berühren.' Der Philosoph Platon attackiert so ('Politeia' 607B/C) das von den Erfindungen der Dichter bestimmte Weltbild; denn Dichtung - so Platon - ist nicht auf Wahrheit aus, sondern auf blosse beliebige Erfindung, die sich als Wahrheit ausgibt. Von diesem streng rationalistischen Standpunkt her dementiert Platon bezeichnenderweise, was ältere Dichter und Theoretiker als ein Privileg des Dichters beansprucht hatten, nämlich in einem unmittelbaren Kontakt zur inspirierenden Gottheit zu stehen, also die Inspiration, die Wirklichkeiten schafft, modern gesagt: die ästhetische Existenz. Wer mit Enthusiasmus arbeitet, sozusagen sein 'stöhnendes Innere pflegt', arbeitet ohne Vernunft und Einsicht. Wenn es wahr ist, was er sagt, so weiss er es selber nicht, und selbst wenn er es wüsste, vermöchte er nicht zu begründen, warum das wahr ist, was er sagt; er kann über seine Aussage keine Rechenschaft ablegen, 'im Roman Gefundenes von Erfundenem nicht absetzen.' (H.J. Schädlich)

14) ...der Drang, Bücher zu schreiben, ein Bollwerk gegen Konfusion und Wahnsinn etc.: Ziemlich wörtlich wird hier der Protagonist des Romans 'The Dark Half' zitiert, einer ziemlich klischeehaften und blutrünstigen Variante des Dr. Jekyll und Mr. Hyde-Themas mit Motiventlehnungen aus 'La Belle et la Bête' und 'The Picture of Dorian Gray' - allerdings, wie immer bei diesem intelligenten Autor, mit brillant formulierten Einsichten durchsetzt - Türspalten, die sich in der Normalität dieser Welt auftun und kurz ein Streiflicht werfen auf die Inkommensurabilitäten und désinvoltures menschlicher Existenz.

14) ...larvierte Depression: Eine Formulierung, die - soweit dem Herausgeber bekannt - zum ersten Male von Boris Luban-Plozza, Psychosomatiker in der Klinik Santa Croce in Locarno, geprägt wurde.

14) Solange ich nicht weiss, etc.: Findet sich im zehnten Kapitel von Fontanes 'Effi Briest'.

15) ...bestand ja auch bei Herrn Avenarius kein Bedarf: Wie sonst liesse sich wohl folgende Bemerkung Ferdinand Avenarius' im Nekrolog-Streit mit dem de Gruyter-Verlag deuten: 'Als Gebildeter hatte Dr. de Gruyter Karl May natürlich nicht gelesen.' (Von E.A. Schmid in seiner 'Lanze für Karl May' überliefert.)


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15) ...die Theorie der 'kognitiven Dissonanz': die der Soziologe Leon Festinger in den Fünfzigerjahren entwickelt hat.

16) Philipp hat ja schon einmal Ernst Jünger bemüht: Hier eigentlich dessen Bruder Friedrich Georg.

16) ...bringing his talents into play: notiert E.A.Poe in der einleitenden Betrachtung zu 'The Murders in the Rue Morgue'.

17) Backstairs traffic: Samuel Pepys, mit seinen Tagebüchern das intelligenteste und scharfzüngigste Klatschmaul der Zeit, prägt den Ausdruck für Miss Goditha Price, Mätresse des Herzogs von York und späteren Königs James II., die sich nur verstohlen über die Hintertür zum Herzog schleichen durfte; so aber nicht nur den künftigen König, sondern auch die englische Sprache bereicherte.

20) ...zu einem Epiker pur sang: Zu einem 'Erzähler pur sang' erklärt Fontane Balduin Möllhausen 1882 in der Einleitung zu 'Der Leuchtturm am Michigan und andere Erzählungen.' Dieses Urteils bediente sich auch der List-Verlag als Werbung für seine Ausgabe der illustrierten Romane Möllhausens (1906-1913).

20) ...höchstwahrscheinlich ist es irgendein besonderes Gefühl der Sicherheit: Aus Karel Capeks Betrachtungen 'Vom Menschen' (Basel, 1944), die einer erneuten Entdeckung wert wären.

23) ...so war es ihm fast, als müsst er sich freuen: Zitiert wird hier der Schlussatz von Kleists Novelle 'Das Erdbeben in Chili'.

24) ...aber vorher die Rechnung bezahlt werden muss: Anspielung auf die Bankettszene im zweiten Teil von Strindbergs 'Nach Damaskus'.

24) Du musst dein Leben ändern: schreibt Rilke in Paris im Frühsommer 1908.

25) Alles bleibt ausser ihm: urteilt Max Geissler 1913 in seinem 'Führer durch die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts'.

30) Umberto Eco: in seinen 'Streichholzbriefen', die er in der Wochenzeitschrift 'L'Espresso' veröffentlicht hat.


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30) ...de te fabula narratur: In der Satire I,1 des Horaz heisst es Vers 69/70: '-quid rides? mutato nomine de te/ fabula narratur...' '-du lachst? Der Name ist anders, doch geht die Geschichte dich an...'

31) In all der Lautlosigkeit leuchteten Lichter: 'Eine Weihnachtsgeschichte' von Robert Walser erschien im Dezember 1919 in 'Pro Helvetia'.

37) Hälfte des Lebens: Die Verse Hölderlins, die hier offenbar assoziiert werden, lauten: 'Weh mir, wo nehm ich, wenn/ Es Winter ist, die Blumen,...'


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[Auf den Seiten 45-52 des Sonderheftes befindet sich Karl Mays Erzählung "Bei den Aussätzigen", auf die wir HIER verweisen.]


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[Illustration groß (25-Kb-Gif)]


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[Ende des May-Textes.]



Thomas Mann

B u d d e n b r o o k s


   Unter solchen Umständen kam diesmal das Weihnachtsfest heran, und der kleine Johann verfolgte mit Hilfe des Abreißkalenders, den Ida ihm angefertigt, und auf dessen letztem Blatte ein Tannen-
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baum gezeichnet war, pochenden Herzens das Nahen der unvergleichlichen Zeit.

   Die Vorzeichen mehrten sich . . . Schon seit dem ersten Advent hing in Großmamas Eßsaal ein lebensgroßes, buntes Bild des Knecht Ruprecht an der Wand. Eines Morgens fand Hanno seine Bettdecke, die Bettvorlage und seine Kleider mit knisterndem Flittergold bestreut. Dann, wenige Tage später, nachmittags im Wohnzimmer, als Papa mit der Zeitung auf der Chaiselongue lag und Hanno gerade in Geroks "Palmblättern" das Gedicht von der Hexe zu Endor las, wurde wie alljährlich und doch auch diesmal ganz überraschenderweise ein "alter Mann" gemeldet, welcher "nach dem Kleinen frage". Er wurde hereingebeten, dieser alte Mann, und kam schlürfenden Schrittes, in einem langen Pelze, dessen rauhe Seite nach außen gekehrt und der mit Flittergold und Schneeflocken besetzt war, ebensolcher Mütze, schwarzen Zügen im Gesicht und einem ungeheuren weißen Barte, der wie die übernatürlich dicken Augenbrauen mit glitzernder Lametta durchsetzt war. Er erklärte, wie jedes Jahr, mit eherner Stimme, daß  d i e s e r  Sack - auf seiner linken Schulter - für gute Kinder, welche beten könnten, Äpfel und goldene Nüsse enthalte, daß aber andererseits  d i e s e  Rute - auf seiner rechten Schulter - für die bösen Kinder bestimmt sei . . . Es war Knecht Ruprecht. Das heißt, natürlich nicht so ganz und vollkommen der echte und im Grunde vielleicht bloß Barbier Wenzel in Papas gewendetem Pelz; aber soweit ein Knecht Ruprecht überhaupt möglich, war er  d i e s, und Hanno sagte auch dieses Jahr wieder, aufrichtig erschüttert und nur ein- oder zweimal von einem nervösen und halb unbewußten Aufschluchzen unterbrochen, sein Vaterunser her, worauf er einen Griff in den Sack für die guten Kinder tun durfte, den der alte Mann dann überhaupt wieder mit sich zu nehmen vergaß . . .

   Es setzten die Ferien ein, und der Augenblick ging ziemlich glücklich vorüber, da Papa das Zeugnis las, das auch in der Weihnachtszeit notwendig ausgestellt werden mußte . . . Schon war der große Saal geheimnisvoll verschlossen, schon waren Marzipan und Braune Kuchen auf den Tisch gekommen, schon war es Weihnacht draußen in der Stadt. Schnee fiel, es kam Frost, und in der


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scharfen, klaren Luft erklangen durch die Straßen die geläufigen oder wehmütigen Melodien der italienischen Drehorgelmänner, die mit ihren Sammetjacken und schwarzen Schnurrbärten zum Feste herbeigekommen waren. In den Schaufenstern prangten die Weihnachtsausstellungen. Um den hohen gotischen Brunnen auf dem Marktplatze waren die bunten Belustigungen des Weihnachtsmarktes aufgeschlagen. Und wo man ging, atmete man mit dem Duft der zum Kauf gebotenen Tannenbäume das Aroma des Festes ein.

   Dann endlich kam der Abend des 23. Dezembers heran und mit ihm die Bescherung im Saale zu Haus, in der Fischergrube, eine Bescherung im engsten Kreise, die nur ein Anfang, eine Eröffnung, ein Vorspiel war, denn den Heiligen Abend hielt die Konsulin fest in Besitz, und zwar für die ganze Familie, so daß am Spätnachmittage des 24. die gesamte Donnerstagstafelrunde, und dazu noch Jürgen Kröger aus Wismar sowie Therese Weichbrodt mit Madame Kethelsen, im Landschaftszimmer zusammentrat.

   In schwerer, grau und schwarz gestreifter Seide, mit geröteten Wangen und erhitzten Augen, in einem zarten Duft von Patschuli, empfing die alte Dame die nach und nach eintretenden Gäste, und bei den wortlosen Umarmungen klirrten ihre goldenen Armbänder leise. Sie war in unaussprechlicher stummer und zitternder Erregung an diesem Abend. "Mein Gott, du fieberst ja, Mutter!" sagte der Senator, als er mit Gerda und Hanno eintraf . . . "Alles kann doch ganz gemütlich vonstatten gehen." Aber sie flüsterte, indem sie alle drei küßte: "Zu Jesu Ehren . . . Und dann mein lieber seliger Jean . . ."

   In der Tat, das weihevolle Programm, das der verstorbene Konsul für die Feierlichkeit festgesetzt hatte, mußte aufrechterhalten werden, und das Gefühl ihrer Verantwortung für den würdigen Verlauf des Abends, der von der Stimmung einer tiefen, ernsten und inbrünstigen Fröhlichkeit erfüllt sein mußte, trieb sie rastlos hin und her - von der Säulenhalle, wo schon die Marien-Chorknaben sich versammelten, in den Eßsaal, wo Rieckchen Severin letzte Hand an den Baum und die Geschenktafel legte, hinaus auf


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den Korridor, wo scheu und verlegen einige fremde alte Leutchen umherstanden, Hausarme, die ebenfalls an der Bescherung teilnehmen sollten, und wieder ins Landschaftszimmer, wo sie mit einem stummen Seitenblick jedes überflüssige Wort und Geräusch strafte. Es war so still, daß man die Klänge einer entfernten Drehorgel vernahm, die zart und klar wie die einer Spieluhr aus irgendeiner beschneiten Straße den Weg hierher fanden. Denn obgleich nun an zwanzig Menschen im Zimmer saßen und standen, war die Ruhe größer als in einer Kirche, und die Stimmung gemahnte, wie der Senator ganz vorsichtig seinem Onkel Justus zuflüsterte, ein wenig an die eines Leichenbegängnisses.

   Übrigens war kaum Gefahr vorhanden, diese Stimmung möchte durch einen Laut jugendlichen Übermutes zerrissen werden. Ein Blick hätte genügt, zu bemerken, daß fast alle Glieder der hier versammelten Familie in einem Alter standen, in welchem die Lebensäußerungen längst gesetzte Formen angenommen haben. Senator Thomas Buddenbrook, dessen Blässe den wachen, energischen und sogar humoristischen Ausdruck seines Gesichtes Lügen strafte; Gerda, seine Gattin, welche, unbeweglich in einen Sessel zurückgelehnt und das schöne weiße Gesicht nach oben gewandt, ihre nahe beieinanderliegenden, bläulich umschatteten, seltsam schimmernden Augen von den flimmernden Glasprismen des Kronleuchters bannen ließ; seine Schwester, Frau Permaneder; Jürgen Kröger, sein Cousin, der stille, schlicht gekleidete Beamte; seine Cousinen Friederike, Henriette und Pfiffi, von denen die beiden ersteren noch magerer und länger geworden waren und die letztere noch kleiner und beleibter erschien als früher, denen aber ein stereotyper Gesichtsausdruck durchaus gemeinsam war, ein spitziges und übelwollendes Lächeln, das gegen alle Personen und Dinge mit einer allgemeinen medisanten Skepsis gerichtet war, als sagten sie beständig: "Wirklich ? Das möchten wir denn doch fürs erste noch bezweifeln" . . .; schließlich die arme, aschgraue Klothilde, deren Gedanken wohl direkt auf das Abendessen gerichtet waren: - sie alle hatten die Vierzig überschritten, während die Hausherrin mit ihrem Bruder Justus und seiner Frau gleich der kleinen Therese Weichbrodt schon ziemlich weit über die Sechzig hinaus war und


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die alte Konsulin Buddenbrook, geborene Stüwing, sowie die gänzlich taube Madame Kethelsen sich schon in den Siebzigern befanden.

   In der Blüte ihrer Jugend stand eigentlich nur Erika Weinschenk; aber wenn ihre hellblauen Augen - die Augen Herrn Grünlichs - zu ihrem Manne, dem Direktor, hinüberglitten, dessen geschorener, an den Schläfen ergrauter Kopf mit dem schmalen, in die Mundwinkel hineingewachsenen Schnurrbart sich dort neben dem Sofa von der idyllischen Tapetenlandschaft abhob, so konnte man bemerken, daß ihr voller Busen sich in lautlosem, aber schwerem Atemzuge hob . . . Ängstliche und wirre Gedanken an Usancen, Buchführung, Zeugen, Staatsanwalt, Verteidiger und Richter mochten sie bedrängen, ja, es war wohl keiner im Zimmer, dem diese unweihnachtlichen Gedanken nicht im Sinne gelegen hätten. Der angeklagte Zustand von Frau Permaneders Schwiegersohn, das Bewußtsein der gesamten Familie von der Gegenwart eines Mitgliedes, das eines Verbrechens gegen die Gesetze, die bürgerliche Ordnung und die geschäftliche Ehrenhaftigkeit geziehen und vielleicht der Schande und dem Gefängnis verfallen war, gab der Versammlung ein vollständig fremdes, ungeheuerliches Gepräge. Ein Weihnachtsabend der Familie Buddenbrook mit einem Angeklagten in ihrer Mitte! Frau Permaneder lehnte sich mit strengerer Majestät in ihren Sessel zurück, das Lächeln der Damen Buddenbrook aus der Breiten Straße ward um noch eine Nuance spitziger . . .

   Und die Kinder? Der ein wenig spärliche Nachwuchs? War auch er für das leis Schauerliche dieses so ganz neuen und ungekannten Umstandes empfänglich? Was die kleine Elisabeth betraf, so war es unmöglich, über ihren Gemütszustand zu urteilen. In einem Kleidchen, an dessen reichlicher Garnitur mit Atlasschleifen man Frau Permaneders Geschmack erkannte, saß das Kind auf dem Arm seiner Bonne, hielt seine Daumen in die winzigen Fäuste geklemmt, sog an seiner Zunge, blickte mit etwas hervortretenden Augen starr vor sich hin und ließ dann und wann einen kurzen, knarrenden Laut vernehmen, worauf das Mädchen es ein wenig schaukeln ließ. Hanno aber saß still auf seinem Schemel zu den


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Füßen seiner Mutter und blickte gerade wie sie zu einem Prisma des Kronleuchters empor . . .

   Christian fehlte! Wo war Christian? Erst jetzt im letzten Augenblick bemerkte man, daß er noch nicht anwesend sei. Die Bewegungen der Konsulin, die eigentümliche Manipulation, mit der sie vom Mundwinkel zur Frisur hinaufzustreichen pflegte, als brächte sie ein hinabgefallenes Haar an seine Stelle zurück, wurden noch fieberhafter . . . Sie instruierte eilig Mamsell Severin, und die Jungfer begab sich an den Chorknaben vorbei durch die Säulenhalle, zwischen den Hausarmen hin über den Korridor und pochte an Herrn Buddenbrooks Tür.

   Gleich darauf erschien Christian. Er kam mit seinen mageren, krummen Beinen, die seit dem Gelenkrheumatismus etwas lahmten, ganz gemächlich ins Landschaftszimmer, indem er sich mit der Hand die kahle Stirne rieb.

   "Donnerwetter, Kinder", sagte er, "das hätte ich beinahe vergessen!"

   "Du hättest es . . .", wiederholte seine Mutter und erstarrte . . .

   "Ja, beinah vergessen, daß heut' Weihnacht ist . . . Ich saß und las . . . in einem Buch, einem Reisebuch über Südamerika . . . Du lieber Gott, ich habe schon andere Weihnachten gehabt . . ." fügte er hinzu und war soeben im Begriff, mit der Erzählung von einem Heiligen Abend anzufangen, den er zu London in einem Tingeltangel fünfter Ordnung verlebt, als plötzlich die im Zimmer herrschende Kirchenstille auf ihn zu wirken begann, so daß er mit krausgezogener Nase und auf den Zehenspitzen zu seinem Platze ging.

   "Tochter Zion, freue dich!" sangen die Chorknaben, und sie die eben noch da draußen so hörbare Allotria getrieben, daß der Senator sich einen Augenblick an die Tür hatte stellen müssen, um ihnen Respekt einzuflößen - sie sangen nun ganz wunderschön. Diese hellen Stimmen, die sich, getragen von den tieferen Organen, rein, jubelnd und lobpreisend aufschwangen zogen aller Herzen mit sich empor, ließen das Lächeln der alten Jungfern milder werden und machten, daß die alten Leute in sich hineinsahen und ihr Leben überdachten, während die, welche mitten im Leben standen, ein Weilchen ihre Sorgen vergaßen.


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   Hanno ließ sein Knie los, das er bislang umschlungen gehalten hatte. Er sah ganz blaß aus, spielte mit den Fransen seines Schemels und scheuerte seine Zunge an einem Zahn, mit halbgeöffnetem Munde und einem Gesichtsausdruck, als fröre ihn. Dann und wann empfand er das Bedürfnis, tief aufzuatmen, denn jetzt, da der Gesang, dieser glockenreine A-capella-Gesang die Luft erfüllte, zog sein Herz sich in einem fast schmerzhaften Glück zusammen. Weihnachten . . . Durch die Spalten der hohen, weißlackierten, noch fest geschlossenen Flügeltür drang der Tannenduft und erweckte mit seiner süßen Würze die Vorstellung der Wunder dort drinnen im Saale, die man jedes Jahr aufs neue mit pochenden Pulsen als eine unfaßbare, unirdische Pracht erharrte . . . Was würde dort drinnen für ihn sein? Das, was er sich gewünscht hatte, natürlich, denn das bekam man ohne Frage, gesetzt, daß es einem nicht als eine Unmöglichkeit zuvor schon ausgeredet worden war. Das Theater würde ihm gleich in die Augen springen und ihm den Weg zu seinem Platz weisen müssen, das ersehnte Puppentheater, das dem Wunschzettel für Großmama stark unterstrichen zu Häupten gestanden hatte und das seit dem "Fidelio" beinahe sein einziger Gedanke gewesen war.

   Ja, als Entschädigung und Belohnung für einen Besuch bei Herrn Brecht hatte Hanno kürzlich zum ersten Male das Theater besucht, das Stadttheater, wo er im ersten Range an der Seite seiner Mutter atemlos den Klängen und Vorgängen des "Fidelio" hatte folgen dürfen. Seitdem träumte er nichts als Opernszenen, und eine Leidenschaft für die Bühne erfüllte ihn die ihn kaum schlafen ließ. Mit unaussprechlichem Neide betrachtete er auf der Straße die Leute, die, wie ja auch sein Onkel Christian, als Theaterhabitues bekannt waren, Konsul Döhlmann, Makler Gosch . . . War das Glück ertragbar, wie sie fast jeden Abend dort anwesend sein zu dürfen? Könnte er nur einmal in der Woche vor Beginn der Aufführung einen Blick in den Saal tun, das Stimmen der Instrumente hören und ein wenig den geschlossenen Vorhang ansehen! Denn er liebte alles im Theater: den Gasgeruch, die Sitze, die Musiker, den Vorhang . . .

   Wird sein Puppentheater groß sein? Groß und breit? Wie wird der Vorhang aussehen? Man muß baldmöglichst ein kleines Loch


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hineinschneiden, denn auch im Vorhang des Stadttheaters war ein Guckloch . . . Ob Großmama oder Mamsell Severin - denn Großmama konnte nicht alles besorgen - die nötigen Dekorationen zum "Fidelio" gefunden hatte? Gleich morgen wird er sich irgendwo einschließen und ganz allein eine Vorstellung geben . . . Und schon ließ er seine Figuren im Geiste singen; denn die Musik hatte sich ihm mit dem Theater sofort aufs engste verbunden . . .

   "Jauchze laut, Jerusalem!" schlossen die Chorknaben, und die Stimmen, die fugenartig nebeneinander hergegangen waren, fanden sich in der letzten Silbe friedlich und freudig zusammen. Der klare Akkord verhallte, und tiefe Stille legte sich über Säulenhalle und Landschaftszimmer. Die Mitglieder der Familie blickten unter dem Drucke der Pause vor sich nieder nur Direktor Weinschenks Augen schweiften keck und unbefangen umher, und Frau Permaneder ließ ihr trocknes Räuspern vernehmen, das ununterdrückbar war. Die Konsulin aber schritt langsam zum Tische und setzte sich inmitten ihrer Angehörigen auf das Sofa, das nun nicht mehr wie in alter Zeit unabhängig und abgesondert vom Tische dastand. Sie rückte die Lampe zurecht und zog die große Bibel heran, deren altersbleiche Goldschnittfläche ungeheuerlich breit war. Dann schob sie die Brille auf die Nase, öffnete die beiden ledernen Spangen, mit denen das kolossale Buch geschlossen war, schlug dort auf wo das Zeichen lag, daß das dicke, rauhe, gelbliche Papier mit dem übergroßen Druck zum Vorschein kam, nahm einen Schluck Zuckerwasser und begann, das Weihnachtskapitel zu lesen.

   Sie las die altvertrauten Worte langsam und mit einfacher zu Herzen gehender Betonung, mit einer Stimme, die sich klar, bewegt und heiter von der andächtigen Stille abhob. "Und den Menschen ein Wohlgefallen!" sagte sie. Kaum aber schwieg sie, so erklang in der Säulenhalle dreistimmig das "Stille Nacht, heilige Nacht", in das die Familie im Landschaftszimmer einstimmte. Man ging ein wenig vorsichtig zu Werke dabei, denn die meisten der Anwesenden waren unmusikalisch, und hie und da vernahm man in dem Ensemble einen tiefen und ganz ungehörigen Ton . . . Aber das beeinträchtigte nicht die Wirkung dieses Liedes . . . Frau Permaneder sang es mit bebenden Lippen, denn am süßesten und


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schmerzlichsten rührt es an dessen Herz, der ein bewegtes Leben hinter sich hat und im kurzen Frieden der Feierstunde Rückblick hält . . . Madame Kethelsen weinte still und bitterlich, obgleich sie von allem fast nichts vernahm.

   Und dann erhob sich die Konsulin. Sie ergriff die Hand ihres Enkels Johann und die ihrer Urenkelin Elisabeth und schritt durch das Zimmer. Die alten Herrschaften schlossen sich an, die jüngeren folgten, in der Säulenhalle gesellten sich die Dienstboten und die Hausarmen hinzu, und während alles einmütig "O Tannenbaum" anstimmte und Onkel Christian vorn die Kinder zum Lachen brachte, indem er beim Marschieren die Beine hob wie ein Hampelmann und albernerweise "O Tantebaum" sang, zog man mit geblendeten Augen und einem Lächeln auf dem Gesicht durch die weitgeöffnete hohe Flügeltür direkt in den Himmel hinein.

   Der ganze Saal, erfüllt von dem Dufte angesengter Tannenzweige, leuchtete und glitzerte von unzähligen kleinen Flammen, und das Himmelblau der Tapete mit ihren weißen Götterstatuen ließ den großen Raum noch heller erscheinen. Die Flämmchen der Kerzen, die dort hinten zwischen den dunkelrot verhängten Fenstern den gewaltigen Tannenbaum bedeckten, welcher, geschmückt mit Silberflittern und großen, weißen Lilien, einen schimmernden Engel an seiner Spitze und ein plastisches Krippenarrangement zu seinen Füßen, fast bis zur Decke emporragte, flimmerten in der allgemeinen Lichtflut wie ferne Sterne. Denn auf der weißgedeckten Tafel, die sich lang und breit, mit den Geschenken beladen, von den Fenstern fast bis zur Türe zog, setzte sich eine Reihe kleinerer, mit Konfekt behängter Bäume fort, die ebenfalls von brennenden Wachslichtchen erstrahlten. Und es brannten die Gasarme, die aus den Wänden hervorkamen, und es brannten die dicken Kerzen auf den vergoldeten Kandelabern in allen vier Winkeln. Große Gegenstände, Geschenke, die auf der Tafel nicht Platz hatten, standen nebeneinander auf dem Fußboden. Kleinere Tische ebenfalls weiß gedeckt, mit Gaben belegt und mit brennenden Bäumchen geschmückt, befanden sich zu den Seiten der beiden Türen: Das waren die Bescherungen der Dienstboten und der Hausarmen.


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   Singend, geblendet und dem altvertrauten Raume ganz entfremdet umschritt man einmal den Saal, defilierte an der Krippe vorbei, in der ein wächsernes Jesuskind das Kreuzeszeichen zu machen schien, und blieb dann, nachdem man Blick für die einzelnen Gegenstände bekommen hatte, verstummend an seinem Platze stehen.

   Hanno war vollständig verwirrt. Bald nach dem Eintritt hatten seine fieberhaft suchenden Augen das Theater erblickt . . . ein Theater, das, wie es dort oben auf dem Tische prangte, von so extremer Größe und Breite erschien, wie er es sich vorzustellen niemals erkühnt hatte. Aber sein Platz hatte gewechselt, er befand sich an einer der vorjährigen entgegengesetzten Stelle, und dies bewirkte, daß Hanno in seiner Verblüffung ernstlich daran zweifelte, ob dies fabelhafte Theater für ihn bestimmt sei. Hinzu kam, daß zu den Füßen der Bühne, auf dem Boden, etwas Großes, Fremdes aufgestellt war, etwas, was nicht auf seinem Wunschzettel gestanden hatte, ein Möbel, ein kommodenartiger Gegenstand . . . war er für ihn?

   "Komm her, Kind, und sieh dir dies an", sagte die Konsulin und öffnete den Deckel. "Ich weiß, du spielst gern Choräle . . . Herr Pfühl wird dir die nötigen Anweisungen geben . . . Man muß immer treten . . . manchmal schwächer und manchmal stärker . . . und dann die Hände nicht aufheben, sondern immer nur so peu à peu die Finger wechseln . . ."

   Es war ein Harmonium, ein kleines, hübsches Harmonium, braun poliert, mit Metallgriffen an beiden Seiten, bunten Tretbälgen und einem zierlichen Drehsessel. Hanno griff einen Akkord . . . ein sanfter Orgelklang löste sich los und ließ die Umstehenden von ihren Geschenken aufblicken . . . Hanno umarmte seine Großmutter, die ihn zärtlich an sich preßte und ihn dann verließ, um die Danksagungen der anderen entgegenzunehmen.

   Er wandte sich dem Theater zu. Das Harmonium war ein überwältigender Traum, aber er hatte doch fürs erste noch keine Zeit, sich näher damit zu beschäftigen. Es war der Überfluß des Glückes, in dem man, undankbar gegen das einzelne, alles nur flüchtig berührt, um erst einmal das Ganze übersehen zu lernen . . . Oh, ein Souffleurkasten war da, ein muschelförmiger Souffleurkasten,


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hinter dem breit und majestätisch in Rot und Gold der Vorhang emporrollte. Auf der Bühne war die Dekoration des letzten Fidelio-Aktes aufgestellt. Die armen Gefangenen falteten die Hände. Don Pizarro, mit gewaltig gepufften Ärmeln, verharrte irgendwo in fürchterlicher Attitüde. Und von hinten nahte im Geschwindschritt und ganz in schwarzem Sammet der Minister, um alles zum besten zu kehren. Es war wie im Stadttheater und beinahe noch schöner. In Hanno's Ohren widerhallte der Jubelchor, das Finale, und er setzte sich vor das Harmonium, um ein Stückchen daraus, das er behalten, zum Erklingen zu bringen . . . Aber er stand wieder auf, um das Buch zur Hand zu nehmen, das erwünschte Buch der griechischen Mythologie, das ganz rot gebunden war und eine goldene Pallas Athene auf dem Deckel trug. Er aß von seinem Teller mit Konfekt, Marzipan und Braunen Kuchen, musterte die kleineren Dinge, die Schreibutensilien und Schulhefte, und vergaß einen Augenblick alles übrige über einem Federhalter, an dem sich irgendwo ein winziges Glaskörnchen befand, das man nur vors Auge zu halten brauchte, um wie durch Zauberspiel eine weite Schweizerlandschaft vor sich zu sehen . . .

   Jetzt gingen Mamsell Severin und das Folgmädchen mit Tee und Biskuits umher, und während Hanno eintauchte, fand er ein wenig Muße, von seinem Platz aufzusehen. Man stand an der Tafel oder ging daran hin und her, plauderte und lachte, indem man einander die Geschenke zeigte und die des anderen bewunderte. Es gab da Gegenstände aus allen Stoffen: aus Porzellan, aus Nickel, aus Silber, aus Gold, aus Holz, Seide und Tuch. Große, mit Mandeln und Sukkade symmetrisch besetzte Braune Kuchen lagen abwechselnd mit massiven Marzipanbroten, die innen naß waren vor Frische, in langer Reihe auf dem Tische. Diejenigen Geschenke, die Frau Permaneder angefertigt oder dekoriert hatte, ein Arbeitsbeutel, ein Untersatz für Blattpflanzen, ein Fußkissen, waren mit großen Atlasschleifen geziert.

   Dann und wann besuchte man den kleinen Johann, legte den Arm um seinen Matrosenkragen und nahm seine Geschenke mit der ironisch übertriebenen Bewunderung in Augenschein, mit der man die Herrlichkeiten der Kinder zu bestaunen pflegt. Nur Onkel Christian wußte nichts von diesem Erwachsenenhochmut, und seine


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Freude an dem Puppentheater, als er, einen Brillantring am Finger, den er von seiner Mutter beschert bekommen hatte, an Hanno's Platz vorüberschlenderte, unterschied sich gar nicht von der seines Neffen.

   "Donnerwetter, das ist drollig!" sagte er, indem er den Vorhang auf- und niederzog und einen Schritt zurücktrat, um das szenische Bild zu betrachten. "Hast du dir das gewünscht? - So das hast du dir also gewünscht", sagte er plötzlich, nachdem er eine Weile mit sonderbarem Ernst und voll unruhiger Gedanken seine Augen hatte wandern lassen. "Warum ? Wie kommst du auf den Gedanken? Bist du schon mal im Theater gewesen? . . . Im "Fidelio" ? Ja, das wird gut gegeben . . . Und nun willst du das nachmachen, wie ? nachahmen, selbst Opern aufführen ? . . . Hat es solchen Eindruck auf dich gemacht? . . . Hör mal, Kind, laß dir raten, hänge deine Gedanken nur nicht zu sehr an solche Sachen . . . Theater . . . und so was . . . Das taugt nichts, glaube deinem Onkel. Ich habe mich auch immer viel zu sehr für diese Dinge interessiert, und darum ist auch nicht viel aus mir geworden. Ich habe große Fehler begangen, mußt du wissen . . ."

   Er hielt das seinem Neffen ernst und eindringlich vor, während Hanno neugierig zu ihm aufsah. Dann jedoch, nach einer Pause, während welcher in Betrachtung des Theaters sein knochiges und verfallenes Gesicht sich aufhellte, ließ er plötzlich eine Figur sich auf der Bühne vorwärts bewegen und sang mit hohl krächzender und tremolierender Stimme: "Ha, welch gräßliches Verbrechen!", worauf er den Sessel des Harmoniums vor das Theater schob, sich setzte und eine Oper aufzuführen begann, indem er, singend und gestikulierend, abwechselnd die Bewegungen des Kapellmeisters und der agierenden Person vollführte. Hinter seinem Rücken versammelten sich mehrere Familienglieder, lachten, schüttelten den Kopf und amüsierten sich. Hanno sah ihm mit aufrichtigem Vergnügen zu. Nach einer Weile aber, ganz überraschend, brach Christian ab. Er verstummte, ein unruhiger Ernst überflog sein Gesicht, er strich mit der Hand über seinen Schädel und an seiner linken Seite hinab und wandte sich dann mit krauser Nase und sorgenvoller Miene zum Publikum.


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"Ja, seht ihr, nun ist es wieder aus", sagte er; "nun kommt wieder die Strafe. Es rächt sich immer gleich, wenn ich mir mal einen Spaß erlaube. Es ist kein Scherz, wißt ihr, es ist eine Qual . . . eine unbestimmte Qual, weil hier alle Nerven zu kurz sind. Sie sind ganz einfach alle zu kurz . . ."

   Aber die Verwandten nahmen diese Klagen ebensowenig ernst wie seine Späße und antworteten kaum. Sie zerstreuten sich gleichgültig, und so saß denn Christian noch eine Zeitlang stumm vor dem Theater, betrachtete es mit schnellem und gedankenvollem Blinzeln und erhob sich dann.

   "Na, Kind, amüsiere dich damit", sagte er, indem er über Hanno's Haar strich. "Aber nicht zuviel . . . und vergiß deine ernsten Arbeiten nicht darüber, hörst du ? Ich habe viele Fehler gemacht . . . Jetzt will ich aber in den Klub . . . Ich gehe ein bißchen in den Klub!" rief er den Erwachsenen zu. "Da feiern sie auch Weihnachten heut'. Auf Wiedersehen." Und mit steifen, krummen Beinen ging er durch die Säulenhalle von dannen.

   Alle hatten heute früher als sonst zu Mittag gegessen und sich daher mit Tee und Biskuits ausgiebig bedient. Aber man war kaum damit fertig, als große Kristallschüsseln mit einem gelben, körnigen Brei zum Imbiß herumgereicht wurden. Es war Mandelcreme, ein Gemisch aus Eiern, geriebenen Mandeln und Rosenwasser, das ganz wundervoll schmeckte, das aber, nahm man ein Löffelchen zuviel, die furchtbarsten Magenbeschwerden verursachte. Dennoch, und obgleich die Konsulin bat, für das Abendbrot "ein kleines Loch offenzulassen", tat man sich keinen Zwang an. Was Klothilde betraf, so vollführte sie Wunderdinge. Still und dankbar löffelte sie die Mandelcreme, als wäre es Buchweizengrütze. Zur Erfrischung gab es auch Weingelee in Gläsern, wozu englischer Plumcake gegessen wurde. Nach und nach zog man sich ins Landschaftszimmer hinüber und gruppierte sich mit den Tellern um den Tisch.

   Hanno blieb allein im Saale zurück, denn die kleine Elisabeth Weinschenk war nach Hause gebracht worden, während er dieses Jahr zum ersten Male zum Abendessen in der Mengstraße bleiben durfte, die Dienstmädchen und die Hausarmen hatten sich mit ihren


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Geschenken zurückgezogen, und Ida Jungmann plauderte in der Säulenhalle mit Rieckchen Severin, obgleich sie, als Erzieherin, der Jungfer gegenüber gewöhnlich eine strenge gesellschaftliche Distanz innehielt. Die Lichter des großen Baumes waren herabgebrannt und ausgelöscht, so daß die Krippe nun im Dunkel lag; aber einzelne Kerzen an den kleinen Bäumen auf der Tafel brannten noch, und hie und da geriet ein Zweig in den Bereich eines Flämmchens, sengte knisternd an und verstärkte den Duft, der im Saale herrschte. Jeder Lufthauch, der die Bäume berührte, ließ die Stücke Flittergoldes, die daran befestigt waren, mit einem zart metallischen Geräusch erschauern. Es war nun wieder still genug, die leisen Drehorgelklänge zu vernehmen, die von einer fernen Straße durch den kalten Abend daherkamen.

   Hanno genoß die weihnachtlichen Düfte und Laute mit Hingebung. Er las, den Kopf in die Hand gestützt, in seinem Mythologiebuch, aß mechanisch und weil es zur Sache gehörte Konfekt, Marzipan, Mandelcreme und Plumcake, und die ängstliche Beklommenheit, die ein überfüllter Magen verursacht, vermischte sich mit der süßen Erregung des Abends zu einer wehmütigen Glückseligkeit. Er las von den Kämpfen, die Zeus zu bestehen hatte, um zur Herrschaft zu gelangen, und horchte dann und wann einen Augenblick ins Wohnzimmer hinüber, wo man Tante Klothildes Zukunft eingehend besprach.

   Klothilde war weitaus die Glücklichste von allen an diesem Abend und nahm die Gratulationen und Neckereien, die ihr von allen Seiten zuteil wurden, mit einem Lächeln entgegen, das ihr aschgraues Gesicht verklärte; ihre Stimme brach sich beim Sprechen vor freudiger Bewegung. - Sie war in das "Johanniskloster" aufgenommen worden. Der Senator hatte ihr die Aufnahme unterderhand im Verwaltungsrat erwirkt, obgleich gewisse Herren heimlich über Nepotismus gemurrt hatten. Man unterhielt sich über diese dankenswerte Institution die den adeligen Damenklöstern in Mecklenburg, Dobbertin und Ribnitz entsprach und die würdige Altersversorgung mittelloser Mädchen aus verdienter und alteingesessener Familie bezweckte. Der armen Klothilde war nun zu einer kleinen, aber sicheren Rente verholfen, die sich mit den


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Jahren steigern würde, und für ihr Alter, wenn sie in die höchste Klasse aufgerückt sein würde, sogar zu einer friedlichen und reinlichen Wohnung im Kloster selbst . . .

   Der kleine Johann verweilte ein wenig bei den Erwachsenen aber er kehrte bald in den Saal zurück, der nun, da er weniger licht erstrahlte und mit seiner Herrlichkeit keine so verblüffte Scheu mehr hervorrief wie anfangs, einen Reiz von neuer Art ausübte. Es war ein ganz seltsames Vergnügen, wie auf einer halbdunklen Bühne nach Schluß der Vorstellung darin umherzustreifen und ein wenig hinter die Kulissen zu sehen: die Lilien des großen Tannenbaumes mit ihren goldenen Staubfäden aus der Nähe zu betrachten, die Tier- und Menschenfiguren des Krippenaufbaus in die Hand zu nehmen, die Kerze ausfindig zu machen, die den transparenten Stern über Bethlehems Stall hatte leuchten lassen, und das lang herabhängende Tafeltuch zu lüften, um der Menge von Kartons und Packpapieren gewahr zu werden, die unter dem Tisch aufgestapelt waren.

   Auch gestaltete sich die Unterhaltung im Landschaftszimmer immer weniger anziehend. Mit unentrinnbarer Notwendigkeit war allmählich die eine, unheimliche Angelegenheit Gegenstand des Gespräches geworden, über die man bislang dem festlichen Abend zu Ehren geschwiegen, die aber fast keinen Augenblick aufgehört hatte, alle Gemüter zu beschäftigen: Direktor Weinschenks Prozeß. Hugo Weinschenk selbst hielt Vortrag darüber, mit einer gewissen wilden Munterkeit in Miene und Bewegungen. Er berichtete über Einzelheiten der nun durch das Fest unterbrochenen Zeugenvernehmungen, tadelte lebhaft die allzu bemerkbare Voreingenommenheit des Präsidenten Doktor Philander und kritisierte mit souveränem Spott den höhnischen Ton, den der Staatsanwalt Doktor Hagenström gegen ihn und die Entlastungszeugen anzuwenden für passend erachte. Übrigens habe Breslauer verschiedene belastende Aussagen sehr witzig entkräftet und ihm aufs bestimmteste versichert, daß an eine Verurteilung vorläufig gar nicht zu denken sei. - Der Senator warf hie und da aus Höflichkeit eine Frage ein, und Frau Permaneder, die mit emporgezogenen Schultern auf dem Sofa saß, murmelte manchmal einen furchtbaren Fluch gegen


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Moritz Hagenström. Die übrigen aber schwiegen. Sie schwiegen so tief, daß auch der Direktor allmählich verstummte, und während drüben im Saale dem kleinen Hanno die Zeit schnell wie im Himmelreiche verging, lagerte im Landschaftszimmer eine schwere, beklommene, ängstliche Stille, die noch fortherrschte, als um halb neun Uhr Christian aus dem Klub von der Weihnachtsfeier der Junggesellen und Suitiers zurückkehrte.

   Ein erkalteter Zigarrenstummel stak zwischen seinen Lippen, und seine hageren Wangen waren gerötet. Er kam durch den Saal und sagte, als er ins Landschaftszimmer trat: "Kinder, der Saal ist doch wunderhübsch! Weinschenk, wir hätten heute eigentlich Breslauer mitbringen sollen; so was hat er sicher noch gar nicht gesehen."

   Ein stiller, strafender Seitenblick traf ihn aus den Augen der Konsulin. Er erwiderte ihn mit unbefangener und verständnislos fragender Miene. - Um neun Uhr ging man zu Tische.

   Wie alljährlich an diesem Abend war in der Säulenhalle gedeckt worden. Die Konsulin sprach mit herzlichem Ausdruck das hergebrachte Tischgebet:

"Komm, Herr Jesus, sei unser Gast
Und segne, was du uns bescheret hast."

woran sie, wie an diesem Abend ebenfalls üblich, eine kleine, mahnende Ansprache schloß, die hauptsächlich aufforderte, aller derer zu gedenken, die es an diesem Heiligen Abend nicht so gut hätten wie die Familie Buddenbrook . . . Und als dies erledigt war, setzte man sich mit gutem Gewissen zu einer nachhaltigen Mahlzeit nieder, die alsbald mit Karpfen in aufgelöster Butter und mit altem Rheinwein ihren Anfang nahm.

   Der Senator schob ein paar Schuppen des Fisches in sein Portemonnaie, damit während des ganzen Jahres das Geld nicht darin ausgehe, Christian aber bemerkte trübe, das helfe ja doch nichts, und Konsul Kröger entschlug sich solcher Vorsichtsmaßregeln, da er ja keine Kursschwankungen mehr zu fürchten habe und mit seinen anderthalb Schillingen längst im Hafen sei. Der alte Herr saß möglichst weit entfernt von seiner Frau, mit der er seit Jahr und Tag beinahe kein Wort mehr sprach, weil sie nicht aufhörte,


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dem enterbten Jakob, der in London, Paris oder Amerika - nur sie wußte das bestimmt - sein entwurzeltes Abenteuerleben führte, heimlich Geld zufließen zu lassen. Er runzelte finster die Stirn, als beim zweiten Gange sich das Gespräch den abwesenden Familienmitgliedern zuwandte und als er sah, wie die schwache Mutter sich die Augen trocknete. Man erwähnte die in Frankfurt und die in Hamburg, man gedachte auch ohne Übelwollen des Pastors Tiburtius in Riga, und der Senator stieß in aller Stille mit seiner Schwester Tony auf die Gesundheit der Herren Grünlich und Permaneder an, die in gewissem Sinne doch auch dazugehörten . . .

   Der Puter, gefüllt mit einem Brei von Maronen, Rosinen und Äpfeln, fand das allgemeine Lob. Vergleiche mit denen früherer Jahre wurden angestellt, und es ergab sich, daß dieser seit langer Zeit der größte war. Es gab gebratene Kartoffeln, zweierlei Gemüse und zweierlei Kompott dazu, und die kreisenden Schüsseln enthielten Portionen, als ob es sich bei jeder einzelnen von ihnen nicht um eine Beigabe und Zutat, sondern um das Hauptgericht handelte, an dem alle sich sättigen sollten. Es wurde alter Rotwein von der Firma Möllendorpf getrunken.

   Der kleine Johann saß zwischen seinen Eltern und verstaute mit Mühe ein weißes Stück Brustfleisch nebst Farce in seinem Magen. Er konnte nicht mehr soviel essen wie Tante Thilda, sondern fühlte sich müde und nicht sehr wohl; er war nur stolz darauf, daß er mit den Erwachsenen tafeln durfte, daß auch auf  s e i n e r  kunstvoll gefalteten Serviette eins von diesen köstlichen, mit Mohn bestreuten Milchbrötchen gelegen hatte, daß auch vor ihm drei Weingläser standen, während er sonst aus dem kleinen goldenen Becher, dem Patengeschenk Onkel Krögers zu trinken pflegte . . . Aber als dann, während Onkel Justus einen ölgelben griechischen Wein in die kleinsten Gläser zu schenken begann, die Eisbaisers erschienen - rote, weiße und braune -, wurde auch sein Appetit wieder rege. Er verzehrte, obgleich es ihm fast unerträglich weh an den Zähnen tat, ein rotes, dann die Hälfte eines weißen, mußte schließlich doch auch von den braunen, mit Schokoladeeis gefüllten, ein Stück probieren, knusperte Waffeln dazu, nippte an dem süßen


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Wein und hörte auf Onkel Christian, der ins Reden gekommen war.

   Er erzählte von der Weihnachtsfeier im Klub, die sehr fidel gewesen sei. "Du lieber Gott!" sagte er in jenem Tone, in dem er von Johnny Thunderstrom zu sprechen pflegte. "Die Kerls tranken Schwedischen Punsch wie Wasser!"

   "Pfui", bemerkte die Konsulin kurz und schlug die Augen nieder.

   Aber er beachtete das nicht. Seine Augen begannen zu wandern, und Gedanken und Erinnerungen waren so lebendig in ihm, daß sie wie Schatten über sein hageres Gesicht huschten.

   "Weiß jemand von euch", fragte er, "wie es ist, wenn man zuviel Schwedischen Punsch getrunken hat? Ich meine nicht die Betrunkenheit, sondern das, was am nächsten Tage kommt, die Folgen . . . sie sind sonderbar und widerlich . . . ja, sonderbar und widerlich zu gleicher Zeit."

   "Grund genug, sie genau zu beschreiben", sagte der Senator.

   "Assez, Christian, dies interessiert uns durchaus nicht", sagte die Konsulin.

   Aber er überhörte es. Es war seine Eigentümlichkeit, daß in solchen Augenblicken keine Einrede zu ihm drang. Er schwieg eine Weile, und dann plötzlich schien das, was ihn bewegte, zur Mitteilung reif zu sein.

   "Du gehst umher und fühlst dich übel", sagte er und wandte sich mit krauser Nase an seinen Bruder. "Kopfschmerzen und unordentliche Eingeweide . . . nun ja, das gibt es auch bei anderen Gelegenheiten. Aber du fühlst dich  s c h m u t z i g" - und Christian rieb mit gänzlich verzerrtem Gesicht seine Hände -, "du fühlst dich schmutzig und ungewaschen am ganzen Körper. Du wäschst deine Hände, aber es nützt nichts, sie fühlen sich feucht und unsauber an, und deine Nägel haben etwas Fettiges . . . Du badest dich, aber es hilft nichts, dein ganzer Körper scheint dir klebrig und unrein. Dein ganzer Körper ärgert dich, reizt dich, du bist dir selbst zum Ekel . . . Kennst du es, Thomas, kennst du es?"

   "Ja, ja!" sagte der Senator mit abwehrender Handbewegung. Aber mit der seltsamen Taktlosigkeit, die mit den Jahren immer mehr an Christian hervortrat und ihn nicht daran denken ließ, daß


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diese Auseinandersetzung von der ganzen Tafelrunde peinlich empfunden wurde, daß sie in dieser Umgebung und an diesem Abend nicht am Platze war, fuhr er fort, den üblen Zustand nach übermäßigem Genuß von Schwedischem Punsch zu schildern, bis er glaubte, ihn erschöpfend charakterisiert zu haben, und allmählich verstummte.

   Bevor man zu Butter und Käse überging, ergriff die Konsulin noch einmal das Wort zu einer kleinen Ansprache an die Ihrigen. Wenn auch nicht alles, sagte sie, im Laufe der Jahre sich so gestaltet habe, wie man es kurzsichtig und unweise erwünscht habe, so bleibe doch immer noch übergenug des sichtbarlichen Segens übrig, um die Herzen mit Dank zu erfüllen. Gerade der Wechsel von Glück und strenger Heimsuchung zeige, daß Gott seine Hand niemals von der Familie gezogen, sondern daß er ihre Geschicke nach tiefen und weisen Absichten gelenkt habe und lenke, die ungeduldig ergründen zu wollen man sich nicht erkühnen dürfe. Und nun wolle man, mit hoffendem Herzen einträchtig anstoßen auf das Wohl der Familie, auf ihre Zukunft, jene Zukunft, die dasein werde, wenn die Alten und Älteren unter den Anwesenden längst in kühler Erde ruhen würden . . . auf die Kinder, denen das heutige Fest ja recht eigentlich gehöre . . .

   Und da Direktor Weinschenks Töchterchen nicht mehr anwesend war, mußte der kleine Johann, während die Großen auch untereinander sich zutranken, allein einen Umzug um die Tafel halten, um mit allen, von der Großmutter bis zu Mamsell Severin hinab, anzustoßen. Als er zu seinem Vater kam, hob der Senator, indem er sein Glas dem des Kindes näherte, sanft Hanno's Kinn empor, um ihm in die Augen zu sehen . . . Er fand nicht seinen Blick; denn Hanno's lange, goldbraune Wimpern hatten sich tief, tief, bis auf die zart bläuliche Umschattung seiner Augen gesenkt.

   Therese Weichbrodt aber ergriff seinen Kopf mit beiden Händen, küßte ihn mit leise knallendem Geräusch auf jede Wange und sagte mit einer Betonung, so herzlich, daß Gott ihr nicht widerstehen konnte: "Sei glöcklich, du gutes Kend!"

   - Eine Stunde später lag Hanno in seinem Bett, das jetzt in dem Vorzimmer stand, welches man vom Korridor der zweiten Etage


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aus betrat, und an das zur Linken das Ankleidekabinett des Senators stieß. Er lag auf dem Rücken, aus Rücksicht auf seinen Magen, der sich mit all dem, was er im Laufe des Abends hatte in Empfang nehmen müssen, noch keineswegs ausgesöhnt hatte, und sah mit erregten Augen der guten Ida entgegen, die, schon in der Nachtjacke, aus ihrem Zimmer kam und mit einem Wasserglase vor sich in der Luft umrührende Kreisbewegungen beschrieb. Er trank das kohlensaure Natron rasch aus, schnitt eine Grimasse und ließ sich wieder zurückfallen.

   "Ich glaube, nun muß ich mich erst recht übergeben, Ida."

   "Ach wo, Hannochen. Nur still auf dem Rücken liegen . . . Aber siehst du wohl? Wer hat dir mehrmals zugewinkt? Und wer nicht folgen wollt', war das Jungchen . . ."

   "Ja, ja, vielleicht geht es auch gut . . . Wann kommen die Sachen, Ida?"

   "Morgen früh, mein Jungchen."

   "Daß sie hier hereingesetzt werden! Daß ich sie gleich habe!"

   "Schon gut, Hannochen, aber erst mal ausschlafen." Und sie küßte ihn, löschte das Licht und ging.

   Er war allein, und während er still liegend sich der segenvollen Wirkung des Natrons überließ, entzündete sich vor seinen geschlossenen Augen der Glanz des Bescherungssaales aufs neue. Er sah sein Theater, sein Harmonium, sein Mythologiebuch und hörte irgendwo in der Ferne das "Jauchze laut, Jerusalem" der Chorknaben. Alles flimmerte. Ein mattes Fieber summte in seinem Kopfe, und sein Herz, das von dem revoltierenden Magen ein wenig beengt und beängstigt wurde, schlug langsam, stark und unregelmäßig. In einem Zustand von Unwohlsein, Erregtheit, Beklommenheit, Müdigkeit und Glück lag er lange und konnte nicht schlafen.

   Morgen kam der dritte Weihnachtsabend an die Reihe, die Bescherung bei Therese Weichbrodt, und er freute sich darauf als auf ein kleines burleskes Spiel. Therese Weichbrodt hatte im vorigen Jahre ihr Pensionat gänzlich aufgegeben, so daß nun Madame Kethelsen das Stockwerk und sie selbst das Erdgeschoß des kleinen Hauses am Mühlenbrink allein bewohnte. Die Beschwerden


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nämlich, die ihr mißglückter und gebrechlicher kleiner Körper ihr verursachte, hatten mit den Jahren zugenommen, und in aller Sanftmut und christlichen Bereitwilligkeit nahm Sesemi Weichbrodt an, daß ihre Abberufung nahe bevorstehe. Daher hielt sie auch seit mehreren Jahren schon jedes Weihnachtsfest für ihr letztes und suchte der Feier die sie in ihren kleinen, fürchterlich überheizten Stuben veranstaltete, so viel Glanz zu verleihen, wie in ihren schwachen Kräften stand. Da sie nicht viel zu kaufen vermochte, so verschenkte sie jedes Jahr einen neuen Teil ihrer bescheidenen Habseligkeiten und baute unter dem Baume auf, was sie nur entbehren konnte: Nippsachen, Briefbeschwerer, Nadelkissen, Glasvasen und Bruchstücke ihrer Bibliothek, alte Bücher in drolligen Formaten und Einbänden, das "Geheime Tagebuch von einem Beobachter Seiner Selbst", Hebels "Alemannische Gedichte", Krummachers "Parabeln" . . . Hanno besaß schon von ihr eine Ausgabe der "Pensées de Blaise Pascal", die so winzig war, daß man nicht ohne Vergrößerungsglas darin lesen konnte.

   "Bischof" gab es in unüberwindlichen Mengen, und die mit Ingwer bereiteten Braunen Kuchen Sesemi's waren ungeheuer schmackhaft. Niemals aber, dank der bebenden Hingabe, mit der Fräulein Weichbrodt jedesmal ihr letztes Weihnachtsfest beging, - niemals verfloß dieser Abend, ohne daß eine Überraschung, ein Malheur, irgendeine kleine Katastrophe sich ereignet hätte, die die Gäste zum Lachen brachte und die stumme Leidenschaftlichkeit der Wirtin noch erhöhte. Eine Kanne mit "Bischof" stürzte und überschwemmte alles mit der roten, süßen, würzigen Flüssigkeit . . . Oder es fiel der geputzte Baum von seinen hölzernen Füßen, genau in dem Augenblick, wenn man feierlich das Bescherungszimmer betrat . . . Im Einschlafen sah Hanno den Unglücksfall des vorigen Jahres vor Augen: Es war unmittelbar vor der Bescherung. Therese Weichbrodt hatte mit soviel Nachdruck, daß alle Vokale ihre Plätze gewechselt hatten, das Weihnachtskapitel verlesen und trat nun von ihren Gästen zurück zur Tür, um von hier aus eine kleine Ansprache zu halten. Sie stand auf der Schwelle, bucklig, winzig, die alten Hände vor ihrer Kinderbrust zusammengelegt; die grünseidenen Bänder ihrer Haube fielen auf ihre zerbrechlichen Schul-


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tern, und zu ihren Häupten, über der Tür, ließ ein mit Tannenzweigen umkränztes Transparent die Worte leuchten "Ehre sei Gott in der Höhe!" Und Sesemi sprach von Gottes Güte, sie erwähnte, daß dies ihr letztes Weihnachtsfest sei, und schloß damit, daß sie alle mit des Apostels Worten zur Fröhlichkeit aufforderte, wobei sie von oben bis unten erzitterte, so sehr nahm ihr ganzer kleiner Körper Anteil an dieser Mahnung. "Freuet euch!" sagte sie, indem sie den Kopf auf die Seite legte und ihn heftig schüttelte. "Und abermal sage ich: Freuet euch!" In diesem Augenblick aber ging über ihr mit einem puffenden, fauchenden und knisternden Geräusch das ganze Transparent in Flammen auf, so daß Mademoiselle Weichbrodt mit einem kleinen Schreckenslaut und einem Sprunge von ungeahnter und pittoresker Behendigkeit sich dem Funkenregen entziehen mußte, der auf sie herniederging . . .

   Hanno erinnerte sich dieses Sprungs, den das alte Mädchen vollführt hatte, und während mehrerer Minuten lachte er ganz ergriffen, irritiert und nervös belustigt, leise und unterdrückt in sein Kissen hinein.


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[Illustration groß (24-Kb-Gif)]


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