"Wo ist der erzwungene, der Natur von dem Menschen aufgedrungene Haß?" fragte er. "In Liebe verwandelt! Ich grüße und danke Euch, daß Ihr gekommen seid!"

Er verbeugte sich. Ich reichte ihm die Hand. Er ergriff sie nicht, sondern streichelte die Hunde.

"Weißt Du, was Du mir da bietest, Ssahib?" fragte er. "Kennst Du nicht die Gefahr, in die Du Dich bringst?"

"Ich halte es für keine Gefahr, sondern sogar für meine Pflicht, diesem Irrtum zu begegnen. Gib mir Deine Hand! Und ich bitte Dich, sie mir auch fernerhin vor aller Augen zu reichen!"

Er tat es und sagte, indem er mir die meine warm und kräftig drückte:

"Das ist Erlösung; ja wahrlich, das ist Erlösung! Ssahib, das werde ich Dir nie vergessen!"

Es verstand sich ganz von selbst, daß auch Halef ihm die Hand entgegenstreckte und die seinige bekam. Dann hielt ich es für richtig, den Auftrag auszurichten, den mir die Priesterin für ihren Enkel gegeben hatte.

"Grad um den Mittag bestellt sie mich! In den Tempel?" fragte er nachdenklich, ohne überrascht zu sein. "Du hast also mit ihr gesprochen?"

"Ja," antwortete ich.

"Nur kurz? Oder längere Zeit?"

"Fast die ganze Nacht. Wir stiegen nach dem Festmahl auf die Zinne des Turmes, um den Ausbruch der Vulkane zu beobachten, und konnten uns erst, als der Morgen graute, voneinander trennen. Die Herrin der Ussul war dabei."

Er antwortete nicht, sondern schaute still auf die Lotosblumen und dann ebenso still in die Ferne. Hierbei hatte ich Gelegenheit, sein Gesicht genauer zu betrachten, als es mir gestern möglich gewesen war. Das Haar desselben besaß den eigenartigen Glanz von reinen, echten Tscholamandelaperlen. Es hatte die frühere Dichtigkeit verloren, war feiner und dünner geworden und hatte sich bereits so gelichtet, daß die Haut hindurchschimmerte und man die Züge erkannte. Ich erfuhr, daß dies früher nicht der Fall gewesen war; jetzt aber konnte man es schon ganz deutlich sehen, wenn er lächelte. Bei den andern mußte man das erraten, entweder mit den Augen, oder aus dem Klange der Stimme.

Endlich kehrte sein Blick zu mir zurück.

"Du hast mit ihnen gesprochen," sagte er. "So lange Zeit und grad mit diesen beiden. So weißt Du, wenn auch nicht alles, doch viel, und ich - - -"

"Wir sprachen meist über Marah Durimeh," unterbrach ich ihn, um seine Gedanken nicht auf Abwege geraten zu lassen.

"Von Marah Durimeh?" rief er aus, indem er sich hoch aufrichtete. "Von der Beherrscherin von Sitara? Wie kommt die Frau des Scheiks und die Priesterin dazu, mit Dir von dieser geheimnisvollen Frau zu reden?"

"Weil sie erfuhren, daß ich mit Marah Durimeh befreundet und erst kürzlich ihr Gast in Sitara gewesen bin. Ich wohnte bei ihr im Schlosse von Ikbal."

Da wich er einige Schritte von mir zurück und ließ einen Blick über mich gleiten, in dem sich das tiefste Erstaunen aussprach. Aber nach und nach verlor sich dieses Staunen, um einem hochbefriedigten Ausdrucke Platz zu machen. Seine Augen begannen zu leuchten und seine Stimme klang froh, fast jubelnd, indem er sprach:

(Seite 100B) "Welch eine Freude, welch ein Glück! Wie war es möglich, daß ich gestern Dich zwar sofort für einen mir von Gott gesandten Menschen hielt, aber doch nicht deutlich fühlte, daß Du nur aus Sitara kommen kannst - - - allein von dort! Aus keinem anderen Lande! Und nun ich dies erfahre, ist es mir recht und lieb, daß die beiden Frauen von mir zu Dir gesprochen haben. Du bist über mich unterrichtet, und ich brauche nichts zu wiederholen. Auch ich bin unterrichtet - - über Dich! Wenn auch nicht ausführlich, sondern nur über einiges, was außerordentlich wichtig ist. Deine Person und Deine Verhältnisse sind mir völlig unbekannt, um so gewisser aber weiß ich, daß Du hierher gekommen bist, um zu dem 'Mir von Dschinnistan zu gehen."

"Welche Veranlassung hast Du, dies zu vermuten?" fragte ich.

"Ich weiß, daß Du es geheimzuhalten hast; aber wenn Du der Richtige bist, so wirst Du mir vertrauen und mir es gerne gestehen."

Er trat wieder näher zu mir heran und fuhr in wichtigem Tone fort:

"Ich bitte Dich, aufrichtig zu sein und mir eine Frage zu beantworten, die Vater und Mutter mir hinterlassen haben!"

"Sprich!" forderte ich ihn auf.

"Trägst Du ein kleines Schild auf Deiner Brust, das Marah Durimeh Dir mitgegeben hat?"

"Ja," antwortet ich, denn ich fühlte, daß ich hier verpflichtet war, offen zu sein.

"Aus welchem Metall ist es? Aus Gold oder Silber? Aus Kupfer oder Bronze?"

"Aus keinem von diesen. Mir ist das Metall, woraus es besteht, unbekannt. Wahrscheinlich ist es eine Legierung."

"Ganz recht, ganz recht! Warte, warte!"

Er sagte das im Tone der größten Freude, des Entzückens. Dann eilte er die Stufen des Denkmals hinab und verschwand im Innern der Erde.

"Sihdi, ist das nicht wunderbar?" fragte Halef. "Klingt das nicht, als ob unser Kommen hier vorbereitet sei?"

"Nichts ist wunderbar," antwortete ich ihm, "wenigstens nicht hier in diesem Lande. Ich bin überzeugt, daß wir noch Dinge erleben werden, welche Dir zehn- und zwanzigmal wunderbarer erscheinen werden, als diese ganz unerwartete Frage nach meinem Schilde oder dieses Marmormonument, das sich öffnet, um Menschen aus der Erde steigen zu lassen."

"Er sagte, er habe die Frage von seinem Vater und seiner Mutter geerbt. Also haben schon diese gewußt, daß wir kommen!"

"Wir? Gewiß nicht! Es war ihnen bekannt, daß jemand aus Sitara kommen werde, der einen ihm von Marah Durimeh mitgegebenen Schild besitzt. Daß grad wir dies sein werden, hat sich erst später herausgestellt."

"Horch! Er kommt! Was wird er bringen?"

Der Dschirbani kehrte zurück. Er hielt ein ungewöhnlich großes, ledernes Etui in der Hand, welches er öffnete und uns dann zeigte.

"Das ist Dein Schild, Sihdi!" rief Halef aus. "Ganz genau Dein Schild! Dasselbe Metall und auch dieselbe Form! Nur die Kette mit dem Fläschchen fehlt an Deinem!"

Es war genau so, wie er sagte. Das Etui enthielt ein vollständig genaues Duplikat meines Schildes. Ich zog das letztere unter der Weste hervor, um nachzuweisen, daß beide einander glichen. Es war nicht der geringste Unterschied zu entdecken. Beide hatten an ihrem unteren Rande je drei kleine Löcher, deren Zweck ich bisher nicht hatte erraten können. Nun aber erfuhr ich ihn. Die Löcher waren nämlich nur einige Zentimeter voneinander entfernt und dienten dazu, den Anfangs-, Mittel- und Endring eines zwar dünnen, aber sehr festen Kettchens aufzunehmen, an dem ein kleines, goldenes, mit einem Schraubenpfröpfchen versehenes Fläschchen hing.

"Diese Kette und dieses Fläschchen fehlt bei mir," sagte ich. "Sonst aber ist nicht der geringste Unterschied zwischen beiden."

"Es ist richtig! Es ist genau so, wie ich dachte!" jubelte der Dschirbani. "Steigt voran, bis Ihr Licht zu sehen bekommt! Ich folge sofort nach, sobald ich die Türe verschlossen habe."

Er winkte nach den Stufen. Ich band die Hunde an zwei Säulen und gab ihnen zu verstehen, daß sie hier zu warten (Seite 101A) hätten. Sie begriffen, was ich meinte und legten sich nieder. Hierauf stieg ich mit Halef die Stufen hinunter. Ich vergaß, sie zu zählen; mehr als zehn aber waren es auf jeden Fall, denn der unterirdische Raum, nach dem sie führten, trug eine wenigstens sechs Fuß hohe Erddecke über sich und war dennoch so hoch, daß der Dschirbani, der doch viel größer war als ich, sich bewegen konnte, ohne sich bücken zu müssen. Sie führten zunächst in eine kleine, viereckige Stube, welche von dem Fundament der Marmorsäule gebildet wurde. Da standen einige Körbe und Kisten; weiter war nichts zu sehen. Ein schmaler gerader Gang leitete weiter; er war finster, doch von da, wo er mündete, glänzte uns Licht entgegen. Indem wir diesem folgten, gelangten wir erst in einen kleinen, dann in einen bedeutend größeren und hierauf wieder in einen kleineren Raum, die alle drei durch brennende Sesamöllampen ziemlich hell erleuchtet waren. Man sah sofort, daß die beiden kleineren als Vorratskammern dienten. Der größere aber glich dem Arbeitszimmer eines Gelehrten. Man sah Bücher, Karten, Pläne, Schreibzeuge, allerlei Geräte mit bekanntem oder unbekanntem Zweck, eine Menge ärztliche, physikalische, chemische und andere Instrumente, auch orientalische und europäische Waffen. Diese letzteren bestanden allerdings nur in einem Doppelgewehr und zwei Revolvern, die aber, obgleich fast veraltet, von vorzüglicher Mache waren und für die hiesigen Verhältnisse einem jeden, der sie zu führen verstand, ein bedeutendes Übergewicht sicherten. Wo kamen alle diese hochwichtigen Dinge her? Es ist wohl nicht erst nötig, zu bemerken, daß sie mein lebhaftes Erstaunen erregten.

Da kam der Dschirbani uns nach. Er sagte kein Wort über das, was wir sahen. Er suchte nach einer kleinen, harten Zange und dann nach einem sehr wohlverwahrten Kästchen, welches wohl kaum mehr als fünf Zentimeter im kubischen Durchmesser hatte. Als er es geöffnet hatte, sah ich, daß es das an meinem Schilde fehlende Fläschchen mit der dazu gehörigen Kette enthielt. Er nahm es heraus und befestigte es mit Hilfe der Zange an die Stelle, wohin es gehörte. Dabei fragte er mich:

"Was ich tue, ist Dir ein Geheimnis?"

"Ja."

"Mir ebenso. Es geschieht, weil es mein Vater befohlen hat, doch ohne daß ich weiß wozu. Er verschwand; er soll ermordet worden sein. ich glaube es nicht; ich glaube es nicht! Er war kein Mann, der sich beschleichen, überlisten und ermorden ließ! Dann starb auch meine Mutter; man sagt, aus Gram um seinen Verlust. Ich glaube auch das nicht; ich glaube es nicht! Sie hat nie und nie behauptet, daß sie ihn verloren habe! Ich weiß bestimmt, daß sie überzeugt und sicher war, ihn wiederzusehen. Sie grämte sich nur über den Haß ihres Vaters und über die seelische Trennung von ihrer Mutter. Als ich kurz vor ihrem Tode für eine Woche Abschied von ihr nahm, um einen Besuch bei verwandten Ussul zu machen, schärfte sie mir noch einmal alle Vorschriften des Vaters, die sich auf diese beiden Schilde beziehen, mit einem so auffallenden Nachdrucke ein, daß sie unbedingt gewußt hat, was dann folgte. Sie starb sehr kurz nach meiner Entfernung und war, als ich zurückkehrte, schon begraben. Die Verwesung hatte verboten, die Leiche aufzuheben. (Seite 101B) Von heute an bin ich verpflichtet, meinen Schild zu tragen, wie Du den Deinen."

Er hing ihn sich um den Hals. Dabei sah ich, daß er so, wie mir erzählt worden war, ein Buch auf seiner Brust trug. Er bemerkte, daß mir das nicht entgangen war. Darum erklärte er mir:

"Mein Vater hat einige Bücher für mich geschrieben, die meine Wegweiser sind. Ich kann mich nicht von ihnen trennen und trage stets eines von ihnen auf meinem Herzen. Sie sind die Wohnungen seines hohen, edlen, weitschauenden Geistes, und ich besuche ihn da, so oft ich kann, um demütig zu seinen Füßen kniend, auf seine Worte zu lauschen."

Er steckte einige chirurgische Instrumente und ein Paket Verbandbast zu sich, gab uns jedem ein brennendes Licht in die Hand, blies die Lampen aus und forderte uns dann auf, ihm zu folgen. Er führte uns durch einen gleichen, aber längern Gang nach einer zweiten Stube, in welcher er nur kurz verweilte, um ein Schränkchen zu öffnen und ihm einen kleinen Gegenstand zu entnehmen. Diese Gänge, Stuben und Kammern waren alle aus dem schon erwähnten versteinerten Holz erbaut und darum frei von jeder Feuchtigkeit. Der Gegenstand, den er aus dem Schränkchen genommen, war eine geschliffene Glasphiole, aus der er nur einen einzigen Tropfen in ein winziges Fläschchen gab, um sie dann wieder einzuschließen. Trotz des kurzen Augenblickes, den die Phiole geöffnet gewesen war, verbreitete sich ein unbeschreiblich feiner, belebender, ja entzückender Duft um uns her. Ich kannte ihn nicht. Ich hatte ihn noch nie und nirgendwo gespürt. Sein Name stand in keinem Verzeichnisse aller Wohlgerüche der Erde geschrieben. Und dennoch war es mir, als hätte ich ihn schon gespürt, vielleicht schon oft, aber aus unendlich weiter Ferne. Halef sog die Luft in vollen Zügen ein, machte sein begeistertes Gesicht und rief:

"Welch ein Duft! Ich glaube, nur noch ein wenig mehr, so kommt die Ekstase; man wird Dichter und Prophet und verfällt in Vision. Darf man den Namen dieses Wohlgeruches erfahren?"

"Kommt er Dir unbekannt vor?" fragte der Dschirbani, indem er das Fläschchen sorgfältig einwickelte und in die Tasche steckte.

"Vollständig unbekannt!" versicherte der Hadschi.

"Du hast es aber schon oft genug gerochen!" versicherte der Dschirbani.

"Unmöglich!"

"Es stinkt sogar! Du hast Dir die Nase zugehalten!"

"Nein! Sag mir den Namen!"

"So erschrick aber nicht! Es ist - - - der Tod!"

"Der - - - Tod - - - ?" fragte Halef. Dann war er still, ich auch.

"Ja, der Tod!" fuhr der Sohn des Dschinnistani in ernstem Tone fort. "Untersucht das Land, in dem wir wohnen! Was findet Ihr weiter als Moder, Verwesung, Schimmel und Gestank? Und was findet Ihr weiter als Leben, Schönheit, Kraft, Unsterblichkeit und Duft? Heut sage ich: Das Leben duftet, der Tod aber stinkt! Und morgen sage ich: Der Tod duftet, das Leben aber stinkt! Was von beiden ist richtig? Ich sage, beides! Denn Leben und Tod sind eins. Man kann nicht (Seite 102A) leben, ohne immerfort zu sterben. Und man kann nicht sterben, ohne dabei das Leben zu erneuern. Merke Dir es, o Hadschi Halef Omar, daß Du nicht an Deinem letzten, sondern an Deinem ersten Atemzuge stirbst! Und Du hast dafür zu sorgen, daß nicht etwa beide stinken, Dein Leben sowohl wie Dein Tod, sondern daß beide duften. Du lebst, indem Du ohne Unterlaß verwesest. Du hast den Gestank dieser Verwesung in Duft zu verwandeln, wie es dort in der Phiole und hier in diesem winzigen Fläschchen geschehen ist. Tust Du das, so ist Tod und Leben in Deine Hand gegeben, wie ich beide in der meinen halte, wenn ich das Fläschchen bei dem Sahahr öffne, um ihn für kurze Zeit zu töten, damit er gegen den Schmerz des Lebens unempfindlich sei. Komm weiter!"

Der Gang, dem wir nun folgten, war noch länger als der vorherige. Das Ende bestand in einem ähnlichen Stübchen wie dasjenige war, welches unter dem Monument lag. Auch hier führte eine Reihe von Stufen empor. Der Dschirbani stieg voran. Mit der einen Hand leuchtend, hob er mit der andern eine Falltür auf, die, wie wir bald sahen, in eine abgelegene Stubenecke des Bangalo mündete. Ich blieb stehen und wartete, bis er die Läden öffnete. Ich betrachtete die Falltüre. Sie bestand aus einer doppelten Balkenlage des schon erwähnten versteinerten Holzes, und war so stark und dick gemacht worden, damit nicht etwa der Widerhall der Schritte verrate, daß sich ein hohler Raum unter ihr befinde. Sie war also nicht leicht, sondern weit mehr als nur einen Zentner schwer. Und das hatte er wie spielend mit einer Hand gehoben! Das hatte ich bemerkt. Und deshalb war ich stehen geblieben, um sie mir anzusehen. Ich schämte mich fast, mich bisher für einen kräftigen Menschen gehalten zu haben!

Es war nicht seine Absicht, im Bangalo zu bleiben, vielleicht um uns den innern Bau des Hauses zu zeigen. Als er die Falltüre geschlossen hatte, machte er auch die Fenster wieder zu und führte uns in das Freie, wo wir vorher gestanden und nach ihm gerufen hatten, ohne gehört worden zu sein. Er verschloß die Türe des Hauses mit einem Schlüssel, der ganz genau jenen Tempelschlüsseln des Altertumes glich, von denen wohl nur sehr wenige ausgegraben worden sind. Man kennt ihre Form nur aus den Abbildungen auf altertümlichen Gefäßen.

Hierauf kehrten wir nach der Marmorsäule zurück, um die Hunde loszubinden. Sie lagen ruhig an ihrer Stelle und hatten sich wohl verhalten. Wir spazierten von da um den Weiher herum nach dem Grabe. Unterdessen erklärte er uns die Gründe seines heutigen Verhaltens:

"Die unterirdischen Räume, die Ihr gesehen habt, hat mein Vater gebaut, und zwar in großer Heimlichkeit. Niemand kennt sie, und niemand weiß, was für Gegenstände sich auf der >Insel der Heiden< befinden. Welche Zwecke er hierbei verfolgte, ist mir heut noch nicht klar, aber ich weiß, daß sie auf alle Fälle gut und lobenswert gewesen sind. Seine Kenntnisse machten ihn jedem Ussul, auch dem Zauberer, überlegen, und es konnte nicht seine Absicht sein, diesen Leuten Werkzeuge in die Hände zu geben, deren Anwendung ihnen geschadet hätte. Daß man so ungesehen vom Bangalo nach dem Monument gelangen konnte, war sehr vorteilhaft. Mein Vater konnte, ohne gesehen zu werden, alles hören, was dort gesprochen wurde. Und besonders während der Belagerungen, wo die Tschoban das Haus umstellten, brachte es große Vorteile, daß es ihm trotzdem möglich war, es jederzeit zu verlassen. Vieles, wie zum Beispiel das Doppelgewehr, die Revolver und eine Menge von Patronen, die dazu gehören, hat er nicht für sich, sondern für mich von seinen Reisen mitgebracht, obgleich ich damals noch ein kleines Knäblein war. Er bestimmte es zur Ausrüstung für die Aufgabe, die er mir hinterlassen hat."

"Ist es mir erlaubt, mich nach dieser Aufgabe zu erkundigen?" fragte ich.

"Du darfst. Du hast sogar das Recht dazu, denn Du sollst höchst wahrscheinlich mein Begleiter sein. Du willst zum 'Mir von Dschinnistan, ich auch. Nach dem Grunde, der Dich zu ihm führt, will ich Dich nicht fragen, denn Du stehst hoch über mir und hast mir keine Rechenschaft zu geben, und ich bin überzeugt, daß Du es mir freiwillig sagen wirst, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Von mir aber will ich Dir offen, (Seite 102B) doch unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen, daß die Zeit, wenn ich nach Dschinnistan aufzubrechen habe, ganz genau bestimmt ist. Nämlich sobald ich erfahre, daß der 'Mir von Ardistan gegen den 'Mir von Dschinnistan rüstet, habe ich nur noch zu warten, bis ein Fremder kommt, der denselben Schild besitzt wie ich. Mit diesem Fremden reite ich; er wird mein Führer und Beschützer sein, dem ich zu gehorchen habe, obgleich mir freisteht, dies auch nicht zu tun. Doch werde ich, so oft ich ihm widerstrebe, zu Schaden kommen, der schwer zu büßen ist."

"Kennst Du Ardistan?"

"Ich war niemals dort, aber ich habe sehr genaue Karten und Pläne, die es sonst nirgends gibt, auch nicht in Ardistan selbst. Sie stammen aus Dschinnistan."

"Es überrascht mich freudig, dies von Dir zu hören. Beziehen sich diese Karten auf alle fünf Länder, die zu Ardistan gehören?"

"Ja, und nicht nur auf diese. Ich habe auch eine vom Lande der Ussul und eine vom Lande der Tschoban, welche beide nicht eigentlich zu Ardistan gehören, sondern ihm nur tributpflichtig sind. Ardistan besteht aus dem eigentlichen Ardistan mit der Hauptstadt Ard, die früher an dem zurückgegangenen Flusse Ssul lag. Es ist umgeben im Norden von Schimalistan, im Osten von Scharkistan, im Westen von Gharbistan und im Süden von Dschunubistan, welches uns am nächsten liegt, weil es an das Gebiet der Tschoban grenzt. Möchtest Du diese Karten sehen?"

"O, natürlich!"

"So warte! Ich hole sie sofort. Du kannst sie mitnehmen, um sie zu studieren, darfst sie aber niemand zeigen!"

Er ging fort und kehrte sehr bald mit ihnen zurück. Ich wartete nicht bis später, sie zu betrachten, sondern tat dies gleich. Es waren Meisterwerke, die ich leider jetzt nur kurz überfliegen konnte. Auch auf der Karte des Landes der Ussul war jeder, sogar der kleinste und unbedeutendste Kanal, genau verzeichnet. Ich war darüber befriedigt, daß ich sie zu mir stecken und mitnehmen durfte.

"Ich werde Dir wahrscheinlich noch manches mitzuteilen haben," nahm der Dschirbani seine unterbrochenen Worte wieder auf. "Du bist mir zu schnell gekommen, und ich habe es fast als ein Wunder zu bezeichnen, daß sich die Voraussage meines Vaters so pünktlich erfüllt. Kaum habe ich erfahren, daß in Ardistan gegen Dschinnistan gerüstet wird, so hat sich der Fremde, der das Schild besitzt, auch schon eingestellt! Ich habe mich zu sammeln, um mir alles zu vergegenwärtigen, was ich über unsern Ritt nach Dschinnistan erfahren habe. Es ist unmöglich, sich gleich auf alles zu besinnen."

"Weißt Du etwas über die Fläschchen an unsern beiden Schilden? Was für einen Zweck haben sie?"

"Den kenne ich noch nicht, wir werden ihn aber erfahren. Ihr Inhalt ist eine durchsichtige Flüssigkeit, deren Geschmack ich nicht versucht habe, weil sie giftig sein könnte. Geruch besitzt sie nicht."

"Hast Du zu jemand von Deinem Schilde und den beiden Fläschchen gesprochen?"

"Nein."

"Auch zu Deinem Großvater und Deiner Großmutter nicht?"

"Kein Wort! Du nennst den Sahahr meinen Großvater?"

"Natürlich! Oder ist Deine Mutter nicht seine Tochter gewesen?"

"Ja, er war der Vater meiner Mutter, aber weiter nichts! Keine Faser meines Körpers, kein Hauch meiner Seele und keine Regung meines Geistes stammt von ihm. Denkt man in Deiner Heimat hierüber anders? Wir beide, er und ich, haben nicht den geringsten Teil aneinander! Nicht die Verwandtschaft, sondern nur die Liebe können uns verbinden, wenn sie vorhanden wäre."

"Aber man sagt, daß er Dich nur öffentlich verfolge, heimlich aber liebe er Dich!"

"Möglich! Für mich aber ist diese Liebe nicht vorhanden, da er mir niemals einen Grund gegeben hat, sie auch nur zu ahnen. Ich sah nur Haß. Er haßte meinen Vater nicht nur deshalb, weil dieser ihm die Tochter nahm, sondern auch, weil (Seite 103A) dieser ein größerer Arzt und überhaupt ein bedeutenderer Mensch war als er. Jede Kur, die nicht ihm, dem Zauberer, sondern meinem Vater, dem Heiden, gelang, vergrößerte den Haß. Dennoch achte ich ihn und wünsche, daß auch Du ihn achtest, denn er ist trotz dieser einen Schwäche in jeder anderen Beziehung ein guter, edler Mensch. Und die Großmutter? So wirst Du fragen. Ich liebe sie, denn ich liebe mich. Meine Mutter war Fleisch von ihrem Fleische und Seele von ihrer Seele, und beides ging über auf mich. Aber sie war mehr Priesterin als Mutter. Sie verzichtete um des Zauberpriesters willen auf ihr Kind und auf ihren Enkel. Sie grüßt mich nur von weitem, und auch das verschweigt sie ihm. Kannst Du das begreifen? Ich nicht!"

Wir waren während dieses Gespräches in der Nähe des Grabes langsam hin und hergegangen. Nun blieb er vor dem Hügel stehen und fuhr in seiner Rede fort:

"Jetzt liegt der Sahahr in Todesgefahr; da ruft sie mich. Ich soll ihn retten. Ich werde es tun. Sie soll nicht vereinsamen wie ich; sie soll ihn behalten. Aber ich tue es ohne Wohlwollen, ohne Liebe, ohne Freude. Ich bin nur noch Körper und Geist. Meine Seele ist tot, die hat man mir begraben, hier in diesem Moder, in dieser verwesenden Feuchtigkeit!"

Er schlug die Arme auf der Brust übereinander, hielt das Grab mit seinen Blicken fest, als ob er es durchdringen wolle, senkte den Kopf und sagte:

"Ich bitte Dich, über das, was ich Dir jetzt gestehe, nicht zu lächeln! So oft ich vor diesem Grabe stehe, ist es mir, als ob mein Auge die Kraft habe, durch die Erde und durch die Wände des Sarges zu dringen, und da sehe ich ihn immer leer; denke Dir, Ssahib, immer leer! Ist das Wahnsinn? Man behauptet ja, daß ich wahnsinnig sei! Das quält mich ungemein! Das hat mich schon seit Jahren gepeinigt und peinigt mich auch noch heute. Es packt mich oft so, daß ich kaum widerstehen kann. Jetzt, in diesem Augenblick, an dem ich mit Dir hierüber spreche, ist es so stark und so deutlich, daß ich die Erde mit den Händen aufscharren möchte, um Dir zu zeigen, daß der Sarg leer ist!"

"Das wäre doch ein fürchterlicher Betrug!"

"Ja, das wäre es! Ich möchte scharren und scharren, um diesen Betrug aufzudecken und die Bretter des leeren Sarges den Eltern meiner Mutter in das Gesicht werfen zu können; aber diese Tat wäre so ungeheuerlich, daß ich über den Wahnwitz erschrecke, sie mir zu denken. Auch frage ich, wo die Mutter denn sein soll, wenn nicht hier? Und ich hatte und habe sie ja noch viel, viel, viel zu lieb, als daß ich die Sünde auf mich nehmen möchte, ihr Grab geöffnet und geschändet zu haben!"

In diesem Augenblick war ein starker, tiefer und langgezogener Ton zu hören. Er klang fast wie von einem Alpenhorn. Er kam vom Flusse her. Ihm folgten weitere Töne, die ganz dieselbe Klangfarbe besaßen, aber entweder höher oder tiefer waren als der zuerst erklungene. Es schien ein Signal, oder richtiger, eine Fanfare sein zu sollen.

"Das ist das Zeichen der Hukara!" rief der Dschirbani aus, sichtlich freudig überrascht. "Ich habe ihnen gestern sagen lassen, daß Du heut um diese Stunde bei mir sein werdest. Sie haben sich bis jetzt beraten und kommen nun, mir mitzuteilen, was sie beschlossen haben."

"Wer und was sind diese Hukara?" fragte ich.

"Die Zurückgesetzten, die Geringgeschätzten, die Verachteten," antwortete er. "Ssahib, Du wirst jetzt erfahren, daß ich nicht der törichte, untätige Knabe bin, als der ich Dir erscheinen mußte. Meine Gefangenschaft war nicht ganz unfreiwillig. Sie hat empört. Das mußte und das wollte ich. Die mich wahnsinnig nannten, waren selbst verrückt. Ihr Wahnsinn stieg von Jahr zu Jahr. Er ging sogar so weit, die häßliche, tierische Behaarung zum Sinnbild des Adels, der Vornehmheit zu erheben. Je dichter das Gesichtsfell, desto edler und reiner die Abstammung! Ich, der ich von väterlicher Seite aus Dschinnistan und von mütterlicher Seite aus Sitara stamme, war hier geduldet, so lange mein Gesicht das Aussehen eines Affenpelzes hatte; sobald sich aber dieses Fell infolge dieser Abstammung zu lichten begann, wurde ich zu den >Hukara< geworfen und (Seite 103B) sogar als >räudig< bezeichnet. Zu den Hukara gehören alle, die weniger behaart sind, als die Behaarten es von ihnen verlangen. Je freier, offener und glatter hier das Gesicht eines Menschen ist, desto mehr wird er zurückgesetzt und verachtet. Man meidet ihn; man lacht über ihn; man drängt ihn aus seinem Besitz und aus den Rechten, die ihm zustehen. Das kränkt und das erbittert. Je größer die Zahl der Verachteten, der Ausgestoßenen wurde, um so höher stieg der Zorn derer, welche der Ansicht waren, daß der Mensch so wenig wie möglich dem Tiere gleichen dürfe. Sie traten zusammen, erst heimlich, dann später öffentlich. Sie behaupteten, daß der Haarmensch nicht nur ohne Intelligenz, sondern auch ohne Mut, Mannhaftigkeit und Ausdauer sei. Sie wiesen auf die Feigheit hin, mit welcher die Ussul trotz ihres drohenden Aussehens bisher vor allen ihren Feinden geflohen sind. Bei der letzten Belagerung durch die Tschoban kam es zu einer offenen Empörung der Hukara gegen diesen herkömmlichen, unmännlichen Brauch. Die Hukara beschlossen, sich dies nicht mehr gefallen zu lassen und beim nächsten Einfall der Tschoban der alten, feigen Taktik ein Ende zu machen. Zum Anführer wählten sie mich. Das geschah zwar heimlich, aber man scheint es auf der anderen Seite doch erfahren zu haben, denn von jener Zeit an wurde ich nicht mehr als Enkel des Sahahr, sondern als Ausgestoßener behandelt. Man sperrte mich sogar als Räudigen und Verrückten in den Stachelzwinger und ließ mich von den Bluthunden Tag und Nacht bewachen. Da kam die Kunde, daß die Tschoban einen neuen Einfall beabsichtigen und daß zwei fremde Gäste kommen würden, die den Erstgeborenen der Tschoban gefangen genommen haben. Das gab hellen Jubel. Es wurden übermenschliche Heldentaten von Euch erzählt, und jedermann glaubte an sie. Da kommt Ihr gestern selbst, und gleich Euer erstes Auftreten war diesen Berichten angemessen. Du holtest mich aus dem Zwinger, worauf mein erstes war, die Hukara zu benachrichtigen, daß unsere Zeit gekommen sei. Ich sprach mit den wichtigsten von ihnen. Sie hatten schon gehört, daß Du Dich anheischig gemacht hast, die Tschoban im Engpaß Chatar gefangen zu nehmen, ohne daß ein Tropfen Blut zu fließen braucht. Es wurden sofort nach allen Richtungen Boten gesandt. Heute vormittag ist Beratung gewesen. Nun kommen sie, mir das Ergebnis derselben mitzuteilen. Erlaube, daß ich gehe, sie zu empfangen. Ich kehre schnell zurück."

(Seite 104A) Der Dschirbani entfernte sich. Während seiner Abwesenheit nahm ich die Karte des Landes der Ussul vor, die er mir geholt hatte. Es kam mir besonders auf die Gegend des Engpasses Chatar an. Sie war sehr deutlich und sehr eingehend gezeichnet. Indem ich sie betrachtete und über diese Linien nachdachte, wurde ich in Gedanken nach dem Palast von Ikbal und auf das Schiff Wilahde versetzt, wo ich diesen Engpaß und seine Umgebung mit ganz besonderem Interesse studiert hatte. Die damals gemachten Aufzeichnungen hatte ich zwar vergessen, mit vom Schiff zu nehmen; jetzt aber kehrten sie zu mir zurück. Sie standen so deutlich vor mir, als ob ich diese Studien soeben erst beendet und die Notizen hierüber noch gar nicht niedergeschrieben hätte. Und als ob mir diese ebenso klare wie ausführliche Erinnerung grad zur richtigen Zeit gekommen sei, stellte sich in diesem Moment der Dschirbani wieder ein und sagte:

"Ssahib, der gegenwärtige Augenblick ist ungeheuer wichtig. Es scheint sich eine Umgestaltung aller jetzigen Verhältnisse vorbereiten zu wollen. Sag mir aufrichtig, ob es wirklich möglich ist, die Tschoban am Engpaß zu besiegen, ohne daß es uns einen Tropfen Blut kostet!"

Ich hatte mich niedergesetzt gehabt, bei dieser Frage aber stand ich schnell auf. Ihre Bedeutung wollte sich nun fast fühlbar auf die Schultern legen. Auch der junge, edle Ussul war ernst; aber es war ein freudiger, begeisterter Ernst, der aus seiner Stimme sprach, und so klang auch die meinige zuversichtlich heiter, als ich antwortete:

"Ja, es ist möglich! Doch setze ich voraus, daß die Bedingungen vorher erfüllt werden, ohne die es nicht geschehen kann."

"Nenne sie mir, diese Bedingungen!"

"Erstens, daß die Tschoban höchstens viermal stärker sein dürfen als wir - - -"

"Was sagst Du? Wie?" unterbrach er mich. "Wir müssen nicht stärker sein als sie? Und werden dennoch Sieger?"

"Ja, wir brauchen nur ein Viertel ihrer Stärke. Zweitens verlange ich unbedingten Gehorsam gegen unsern Anführer."

"Selbstverständlich! Der bist natürlich Du!"

"Nein!"

"Wer sonst?"

"Du!"

"Ich - - -?"

"Natürlich! Du bist der Herr. Wir werden Deine Berater, Deine Helfer, Deine Freunde sein, weiter nichts. Wir wünschen nichts für uns, gar nichts, sondern alles nur für Dich und Deine Freunde."

"Wie ist - - ist - - ist das möglich!" rief er aus. "Solche Leute, wie Ihr seid, waren noch nie bei uns! Kommt, kommt zu meinen Hukara, damit sie Euch sehen und hören! Und daß sie Euch lieben und verehren!"

(Seite 104B) Er führte uns nach dem freien Platz vor dem Hause. Da standen sie, dicht gedrängt, wohl drei- bis vierhundert Mann, eine Zahl, die sich aber von Stunde zu Stunde vermehrte. Es waren lauter hohe, breite, eindrucksvolle Gestalten, höchst einfach gekleidet und nur mit langem Messer, Spieß und weit spannenden Bogen bewaffnet. Gewehre sah ich nur einige, so daß sie gar nicht zu rechnen waren. Es jubelte in mir. Was ließ sich mit solchen Leuten, mit solchen Muskeln und Sehnen erreichen! Diese vom Wetter gegerbten, ehrlichen, offenen Gesichter mit dem scharfen, zuverlässigen Blick in den treuen, arglosen Augen! Und das sollten Ausgestoßene, Verachtete sein!

Der Dschirbani bat mich, zu ihnen zu reden. Ich tat es, indem ich ihnen mitteilte, wie ich mir den Zusammenstoß mit den Tschoban dachte. Ein Zusammenstoß sollte es überhaupt gar nicht sein, sondern das außerordentlich bequeme und vollständig ungefährliche Stellen einer Falle, in welche die Gegner ahnungslos zu laufen hatten, um drin stecken zu bleiben. Ich sagte ihnen, daß ich ihnen diese Mitteilung nur im größten Vertrauen mache, und daß sie selbst gegen Freunde und Verwandte kein Wort sagen dürften, weil auch nur ein einziger, ganz unbeabsichtigter Verrat genüge, die Ausführung des Planes unmöglich zumachen. Sie begriffen meine Darstellung sofort und leicht und waren nicht nur einverstanden, sondern sogar begeistert. Am liebsten wären sie unverzüglich aufgebrochen, um nach dem Engpaß zu ziehen. Das ging aber nicht. Wir hatten noch viel Zeit und durften nichts übereilen. Es galt nicht, einen rohen Stoß, einen ungestümen Streich auszuführen und dann mit Beute beladen heimzukehren, sondern die Aufgabe war, mit dem kurzen Kampfe einen langen Frieden zu erzwingen und aus dem augenblicklichen, blitzschnellen Siege einen bleibenden Nutzen zu ziehen. Man mußte den Tschoban endlich einmal imponieren und sich ihnen als mindestens gleichwertig zeigen, um bei ihnen den Wunsch zu erwecken, das bisherige unfreundliche Verhältnis in ein Bündnis zu verwandeln, das beiden Stämmen die nötige Stärke verlieh, um sich von den drückenden Fesseln des 'Mir von Ardistan zu befreien.

Als ich diesen Gedanken aussprach, jubelten sie laut auf. Daß der 'Mir von Ardistan seine Leibgarde aus lauter Ussul zusammensetzte und daß die beiden Söhne des Scheiks der Ussul an seinem Hofe leben mußten, das fühlten sie nicht als Ehre, sondern als Schande. Sie hielten es schon längst für ihre Pflicht, dieses Joch abzuschütteln, nur hatten sie nicht gewußt, wie es anzustellen sei. Darum nahmen sie meinen Gedanken, durch die friedliche, wenn auch erzwungene Vereinigung mit den Tschoban stark genug zum Widerstand zu werden, mit Freuden auf und erklärten sich bereit, für diesen Zweck zu leben und zu sterben. Sie fragten, ob ich gewillt sei, mit ihnen nach dem Engpaß zu ziehen, und ob ich ihnen den redegewandten Scheik der Haddedihn für einige Stunden abtreten möge, damit sie (Seite 105A) ihn jetzt mit nach ihrem großen Versammlungsplatz nehmen könnten, um sich von ihm belehren und unterrichten zu lassen. Als ich beides bejahte, nahmen sie den kleinen Hadschi samt seinen beiden Hunden in die Mitte und marschierten jubelnd nach dem Ufer, wo wir sie in ihre Boote und auf ihre Flösse steigen und sich entfernen sahen. Halef stand, die Hunde neben sich, auf einem der größten Flösse und winkte uns Abschied zu. Er fühlte sich als wichtige Person, und das bereitete ihm stets eine Wonne.

Somit war nun mein Aufenthalt auf der >Insel der Heiden< beendet. Er hatte eine unvorhergesehene Entscheidung gebracht und sollte auch noch weitere Folgen zeitigen, an die ich jetzt nicht dachte. Auch der Dschirbani mußte fort. Es nahte die Zeit, für welche er zu der Priesterin bestellt worden war. Wir verließen die Insel, er auf seinem kleinen Floß und ich in meinem Kanoe. Wir ruderten uns auf demselben Weg zurück, den ich zu ihm gekommen war. Als wir hierbei an einer der bereits erwähnten, im Flusse liegenden Inseln vorüberkamen, hörten wir laute, klatschende Schläge und das pfeifende Winseln von Hunden, die mit der Peitsche bestraft werden.

"Das ist Aacht und Uucht," sagte der Dschirbani.

"Die beiden hochedlen Hunde?" fragte ich, indem ich die Ruder schnell einzog.

"Ja. Der Wärter dressiert sie. Sie scheinen nicht gehorchen zu wollen. Daher die Schläge."

"Das soll er bleiben lassen!" rief ich zornig aus und lenkte nach dem Ufer. Er folgte mir.

Das Inselchen war der Zwinger nur für die beiden Hunde. Eine dicke, hohe Mauer von lebenden Dornen umgab sie rings, um die Tiere festzuhalten. In dieser Mauer befand sich eine sehr schmale Pforte, die jetzt offen stand. Als wir sie passiert hatten, standen wir auf einem freien Grasplatze, wo zwei starke Pfähle in die Erde gerahmt waren. An diesen Pfählen hingen die Hunde, und zwar mit den Köpfen fest an den Erdboden gezogen, wie man es in manchen Gegenden noch heute beim Schlachten starker Ochsen macht. Da ist in der Mitte der schwersten Steinplatten des Fußbodens ein eiserner Ring angebracht, durch welchen der Strick, an dem das Tier hängt, derart gezogen ist, daß ihm der gesenkte Kopf tief unten mit dem Maule an die Platte gefesselt ist. Mit angstvollem Blick schielt es von da unter dumpfem Gebrüll zu dem Schlächter empor, der mit der Axt weit ausholt, um ihm den tödlichen Schlag auf die Stirn zu versetzen. Nicht immer gelingt dieser Hieb. Dann ist es fürchterlich, mit dabei zu sein. Ich selbst habe gesehen, daß ein Ochse, den dieser erste Hieb nicht tötete, im wahnsinnigen Schmerze und mit der Kraft der Todesangst die mehrere Zentner schwere Steinplatte aus der Erde riß, aber doch nicht fliehen konnte, weil sie ihm die Beine zerschmetterte. Der Ochse brüllte, auch der Fleischer brüllte wie ein Stier und schlug mit dem Beile so lange auf das arme Opfer los, bis es blutüberströmt zusammenbrach.

Genau so waren auch hier die Hunde mit den Köpfen tief unten angebunden, daß sie sich ja nicht wehren konnten. Und außerdem hatte der Dresseur ihnen mit einer Art von Beißkörben die Mäuler so fest zusammengepreßt, daß sie weder bellen noch beißen, sondern nur noch winseln konnten. Dabei schlug er mit einer Riemenpeitsche unbarmherzig auf sie ein. Ich sprang auf ihn zu, riß ihn zurück und fragte ihn zornig:

"Warum schlägst Du meine Hunde? Wer hat Dir das erlaubt?"

"Deine Hunde?" tat er erstaunt. Er war viel länger, breiter und stärker als ich und dabei so dicht behaart im Gesicht, daß man kaum noch die Augen und die Nasenspitze sehen konnte.

"Ja! Sie sind mein!" antwortete ich.

"Das ist nicht wahr. Sie gehören jetzt dem Scheik und seiner Frau. Sie werden für einen Fremden aufgehoben, der einen Schild auf der Brust trägt; ich aber bin der eigentliche Herr. Ich strafe sie, wenn sie nicht lernen wollen und niemand hat mir da dreinzureden. Auch Du nicht! Das werde ich Dir zeigen!"

Er holte wieder aus und versetzte jedem der Hunde einen klatschenden Hieb. Er wollte fortfahren; da aber (Seite 105B) riß ich ihm die Peitsche aus der Hand und zog sie ihm schnell einige Male über den Rücken, so daß er zunächst vor Schreck und Schmerz vergaß, mir Widerstand zu leisten. Dann aber wollte er mit den gewaltigen Fäusten nach mir langen; doch kam er nicht dazu, mich anzufassen, denn ich gab ihm von unten her einen solchen Stoß in die Achselgrube, daß er ausgehoben und zu Boden geschleudert wurde. Da raffte er sich wieder auf, stieß einen Wutschrei aus und warf sich wieder auf mich, um sich zu rächen, hielt aber mitten im Sprunge ein, weil sich ihm jetzt auch der Dschirbani entgegenstellte. Dieser war am Eingange stehen geblieben und von ihm gar nicht bemerkt worden. Nun kam der Dschirbani schnell herbei und streckte beide Arme nach dem Manne aus, um ihn von mir abzuhalten. Mit einem Ruck blieb letzterer plötzlich stehen, streckte beide Hände aus und rief in sichtbarer Angst:

"Der Dschirbani! Der Aussätzige! Bleib, bleib! Stecke mich nicht an!"

"Ich fasse Dich! Ich fasse Dich!" antwortetet dieser, indem er auf den Mann eindrang. Dieser wich zurück. Der Dschirbani folgte ihm. Da schrie der andere angsterfüllt:

"Nicht anrühren, nicht anrühren! Fort, fort! In das Wasser!"

Er schnellte sich durch den schmalen Eingang hinaus und sprang in den Strom. Nun wandte sich der Dschirbani zu mir um. Er wollte lachen und konnte doch nicht.

"Siehst Du, wie die Lüge wirkt?" fragte er. "Wie Vorurteil und Verleumdung die Köpfe verwirren? Ich stecke an!"

Hier lachte er doch; aber sein Lachen war mehr wie ein Weinen.

"Das soll Dich nicht grämen!" antwortete ich. "Es wird Dir Vorteil bringen."

"Vorteil? Wieso?"

"Indem sich auch die Feinde scheuen, Dich anzufassen, bist Du unverletzbar für sie. Du wirst erleben, daß sie dadurch nur selbst zu Schaden kommen."

"Das hoffe ich! Aber weißt Du, daß ich staune?"

"Worüber?"

"Über Deinen Achselstoß, mit dem Du diesen schweren, riesigen Menschen von Dir hinweg und zur Erde schleudertest. Eine solche Körperstärke ist Leuten Deiner Gestalt nicht zuzutrauen. Nun Du sie mir aber gezeigt hast, bin ich froh darüber. Es stehen uns schwere Kämpfe bevor, und da beruhigt es mich sehr, zu sehen, daß Du, mein Beschützer und Führer, es auch in der rein äußerlichen Kraft mit jedem Ussul, jedem Tschoban und jedem Ardistani aufzunehmen vermagst!"

"Da sorge Dich nicht! Die rohe Kraft ist, außer wenn sie von Kopf und Herz geleitet wird, nicht eine Stärke, sondern eine Schwäche des Menschen. Sie wird durch den Einfluß des Geistes, des Willens verdoppelt, durch Zucht und Übung verdreifacht, und wenn Du sie dann nur nach der Länge und Breite des Körpers missest, so setzest Du Dich Täuschungen aus, die Dich in Nachteil bringen. Mein kleiner Hadschi Halef Omar ist nur ein Knirps gegen Euch, aber ich möchte es keinem Ussul raten, einen ernsten Gang auf Leben und Tod mit ihm zu wagen. Seine Knochen sind von Schmiedeeisen und seine Sehnen von Stahl! Doch, nun zu den Hunden!"

Vor allen Dingen band ich die beiden Tiere los und befreite sie von den peinigenden Maulkörben. Da sprangen sie vor Freude hoch auf, jagten drei- bis viermal rundum und kehrten dann zu mir zurück, um sich zu meinen Füßen niederzulassen und mir die Hand zu lecken. Ich hatte ihrem Peiniger die Peitsche entrissen; sie sahen mich als ihren Retter an, und in ihren großen, schönen, unendlich ehrlichen Augen war die Bitte zu lesen, mir dafür dankbar sein zu dürfen. Welche Freude sie hatten, als ich ihnen erlaubte, sich an mir hoch aufzurichten, und sie dann mit beiden Armen an mich drückte! Wie schön sie waren! Wie edel und stark! An Größe überragten sie sogar noch die Bärenhunde der Ussul. Der berühmte Dojan, von dem ich in dem Bande >Durchs wilde Kurdistan< erzähle, war ein Windspiel gegen sie. Auch ihre Farbe war ganz eigenartig. Ich kann sie nicht besser beschreiben, als indem ich sie mit jener Art von Pferden vergleiche, die man Schwarzschimmel nennt, nur daß bei diesen Hunden das Schwarz einen frappierenden Übergang zur blauen Farbe zeigte. Hierzu kam, daß ihre sehr (Seite 106A) feine, seidenweiche Behaarung eine mittellange, nicht eine kurze war, was die Seltsamkeit dieser Färbung ungemein erhöhte. Sie waren wirklich vornehme, fast möchte ich sagen, königliche Tiere!

"Diese herrlichen Abkömmlinge der Hunde von Dschinnistan übertrafen als Wasserfinder sogar die besten und berühmtesten Hunde, die es bei den Ussul gegeben hat," sagte der Dschirbani.

"Als Wasserfinder?" fragte ich. "Das kenne ich nicht."

"Die Gewöhnung an die immerwährende, große Feuchtigkeit unsers Landes läßt uns die jenseits der Grenze liegenden trockenen Wüsten unerträglich erscheinen. Wir vertragen den Durst nicht. Sobald wir hinüberkommen, bangen wir nach Wasser. Nicht nur wir, sondern auch unsere Pferde und Hunde. Die letzteren wissen dann mit ihren feinen Nasen jede Spur von Feuchtigkeit, auch die geringste, zu entdecken. Wo sie die Erde scharren, ist in der Tiefe Wasser zu finden."

"Also Wasser gibt es in diesen vertrockneten Gegenden doch?"

"Ja, aber in welcher Tiefe! Wer hat Werkzeuge mit? Und wenn man graben wollte, würde man verdursten, ehe man die betreffende Tiefe erreichte. Dennoch ist es vorgekommen, daß Hunde ihre Herren vor dem Verschmachten gerettet haben. Es scheint also doch Stellen zu geben, wo die Wasser der Tiefe bis nahe an die Oberfläche emporsteigen. Mein Vater reiste alljährlich einmal nach Dschinnistan. Er tat dies nie, ohne einen zuverlässigen Hund mitzunehmen, und hat alle feuchten Orte genau verzeichnet, die er mit Hilfe dieser Tiere fand. Aacht und Uucht aber sind die scharfrüchigsten und zuverlässigsten von allen, die es bisher gegeben hat. Das wurde ausgeprobt. Vor allen Dingen zeichnen sie sich dadurch aus, daß sie den Durst mit Leichtigkeit ertragen, alle andern aber nicht."

"Hast Du diese Verzeichnisse Deines Vaters noch?"

"Ja. Es ist ein kleines, aber sehr eng beschriebenes Buch, in welchem alle Orte, die er von hier bis Dschinnistan berührte, geschildert sind."

"Das ist ja kostbar für uns! Ich bitte Dich, es mitzunehmen!"

"Das werde ich tun. Ich habe überhaupt viel mitzunehmen."

"Nur nichts, was uns belästigt, ohne Nutzen zu bringen. Wie schwimmen Aacht und Uucht?"

"Wie ein Fischotter, also noch besser als Hu und Hi, die Halef bei sich hat. Möchtest Du sie nicht gleich mitnehmen? Sie schwimmen so schnell, wie wir rudern."

"Wenn sie uns freiwillig folgen, ja."

Wir gingen nach dem Wasser. Die Hunde folgten sofort. Als wir unsere Fahrzeuge bestiegen, sprangen sie freudig bellend in den Fluß, als ob es sich ganz von selbst verstehe, daß sie nun zu mir gehörten. Sie blieben bei mir, ich mochte schnell oder langsam rudern, Aacht rechts und Uucht links von meinem Kanoe. Und wie es jetzt, gleich beim ersten Male war, so war es von nun an immerfort: Beide waren stets getreu an meiner Seite, der Bruder rechts, die Schwester links von mir, als müsse dies so sein. Ich stieg an meinem Landungsplatze aus, und die Hunde gingen mit ans Ufer. Sie machten nicht den geringsten Versuch, dem Dschirbani zu folgen, der, um nicht auffällig gesehen zu werden, erst hinter dem Tempel aussteigen wollte. Es war genau Mittag, als wir uns trennten.

Da ich jetzt nichts zu tun hatte, beschloß ich, bis zum Essen zu schlafen, um das während der Nacht Versäumte nachzuholen. Aacht und Uucht schüttelten sich das Wasser aus den Fellen und kamen mit an das Haus. Als ich mich niederlegte, taten sie das auch, der eine rechts, die andere links von mir. Ich schlief schnell ein, wachte aber pünktlich, also kurz vor zwei Uhr, wieder auf. Ich übergab die Hunde den beiden Dienern, denen ich befahl, sie gut zu füttern. Dann ging ich nach dem >Palast<, um mich zum Essen einzustellen.

Heute gab es weit mehr Gäste als gestern. Die Ältesten des Stammes und überhaupt alle, die irgend etwas zu bedeuten hatten, waren geladen. Ich saß wieder zwischen dem Scheik und seiner Frau. Es ging sehr lebhaft zu. Mein Halef fehlte. Von den Offizieren, die er so schnell befördert und so hoch besoldet (Seite 106B) hatte, war keiner da. Ich hörte, daß sie noch schliefen. Hatte der Simmsemm gestern seine Wirkung getan, so tat er sie auch heut. Man wurde lustig. Aber in diese Lustigkeit hinein fiel eine Szene, welche den Scherz sofort in strengen Ernst verwandelte. Es traten nämlich zehn mit Spieß, Bogen, Köcher und langem Messer bewaffnete Riesen bei uns ein, welche meldeten, daß sie die bevollmächtigten Offiziere von fünfhundert Hukara seien und mit dem Scheik und seinen Ältesten zu sprechen hätten. Ihr Anführer war eine Prachtgestalt, körperlich ein Hüne und, wie ich später sah, auch in Beziehung auf seine Intelligenz den gewöhnlichen Ussul weit voraus. Er hieß Irahd und war einer der wohlhabendsten Männer der Stadt, aber leider so wenig behaart, daß die reinblütig geborenen Haarmenschen es für unmöglich hielten, mit ihm zu verkehren. Er führte das Wort, und zwar in ebenso geschickter wie energischer Weise.

Er schilderte die bisherige Feigheit der Ussul ihren Feinden gegenüber und betonte, daß diese Feigheit gar keine Veranlassung habe, auf die Hukara, die wehrhafte, mutige Männer seien, verächtlich herabzublicken. So weit die Erde reiche, halte man den Ussul für ein Zerrbild, für eine Lächerlichkeit. Das müsse unbedingt anders werden, und zwar noch heute, wo sich die beste Gelegenheit biete, die Achtung anderer Stämme und Völker zu gewinnen. Wahrscheinlich sei den Haarmenschen der Begriff der Völkerehre noch nicht verständlich, den Hukara aber liege außerordentlich viel daran, sich andern Nationen als moralisch ebenbürtig zu erweisen, und so hätten sie sich fest entschlossen, nach dem Engpaß Chatar zu ziehen, um die Tschoban nach Gebühr zu empfangen. Ihr Feldherr sei schon erwählt, nämlich der Dschirbani, der Räudige, der für verrückt Gehaltene, den man zu verachten wage, obgleich er der einzige sei, der die Befähigung besitze, die Ussul auf die Höhe gebildeter Völker emporzuheben. Er befinde sich jetzt auf dem großen Versammlungsplatze, um seine fünfhundert Hukara einzuexerzieren. Hadschi Halef Omar, der berühmte Scheik der Haddedihn, helfe ihm dabei. Auf die alten, invaliden Soldaten verzichte man; die Kriegsspielerei mit ihnen sei kindisch und führe zu nichts. Mit zehn gesunden, kräftigen Hukara könne man mehr erreichen als mit einer großen Schar dieser alten, vom 'Mir von Ardistan verbrauchten Leute. Darum seien die Hukara entschlossen, die ganze Schar der Feinde auf sich allein zu nehmen und auf jede andere Kameradschaft zu verzichten. Aber man müsse Bedingungen stellen, deren Erfüllung zum Siege erforderlich sei, und das wolle man sofort tun in einer Beratung mit den Ältesten. Über diese hochwichtige Angelegenheit dürfe man keine Minute verlieren.

Dieser ganze Vorgang kam nicht nur dem Scheik, sondern auch den andern überraschend. Die Hukara hatten allerdings schon längst gedroht, diese Sache in die Hand zu nehmen; aber daß sie es wirklich tun würden, das hatte man nicht erwartet. Und nun diese Plötzlichkeit, diese Energie und Eile! Man sah es den Ältesten allen an, daß sie sich in Verlegenheit befanden. Aller Augen waren auf den Scheik gerichtet, der sich im Gefühle seiner Unselbständigkeit, wie immer, an seine Frau wendete. Er tat das zwar mit leiser Stimme, aber da ich zwischen ihnen beiden saß, hörte ich, was sie sprachen.

"Was sagst Du hierzu?" fragte er sie. "Man hat uns da vollständig überrumpelt! Ich weiß nicht, was ich antworten soll! Aber ich meine, es würde eine Schwäche sein, auf solch ein Verlangen einzugehen!"

"Im Gegenteile! Eine Stärke wäre es! Du mußt ihren Wunsch erfüllen!" antwortete sie.

"Diesen Unreinen, Verächtlichen, Tiefstehenden? Sie sind nur Pöbel!"

"Grad deshalb!"

"Warum grad deshalb? Und wer soll sie befehligen? Der Verrückte, der Räudige! Welch eine Schande für uns, wenn man dann überall höhnt, daß wir unsere Ehre nur Ehrlosen oder Verrückten anvertrauen!"

"Grad deshalb!" bestand sie darauf.

"Das verstehe ich nicht! Was meinst Du mit diesem Worte?"

Sie hielt ihm keine lange Rede. Als kluge Frau wußte sie, wie sie ihren Mann zu nehmen hatte. Sie ging auf seine (Seite 107A) Ansichten ein und überfiel ihn mit seinen eigenen Waffen, indem sie erklärte:

"Grad weil sie nichts taugen, weder die Hukara noch der Dschirbani, mußt Du tun, was sie wollen. Schicke sie gegen den Feind, so bist Du sie los!"

Er staunte. Dann schaute er sie bewundernd an und sagte:

"Taldscha! Wie ungeheuer klug Du bist! Und wie recht Du hast! Das ist so einfach! Wir erfüllen ihnen ihren Wunsch und jagen sie dadurch fort! Dann sind wir frei von ihnen! So wird es gemacht, so, so!"

Hierauf wendete er sich an den Sprecher und erklärte ihm, daß einer Beratung nichts im Wege stehe. Man werde sich mit dem Essen beeilen, und dann können sie sofort beginnen. Die zehn Hukara nahmen Platz, um zu warten.

"Sihdi, weißt Du davon, daß Dein Halef die Hukara übt?" fragte mich Taldscha.

"Nein. Ich weiß nur, daß sie ihn mit fortgenommen haben. Jedenfalls aber ist das, was er tut, nicht gegen Euch gerichtet!"

"Das weiß ich! Wenn die Beratung beginnt, entferne ich mich."

"Ich natürlich auch."

"So bleiben wir, wenn es Dir recht ist, beisammen. Ich möchte nach dem Versammlungsplatze, um das Exerzieren zu sehen. Reitest Du mit?"

"Gern."

"Aber nicht auf meinen, sondern Deinen Pferden. Oder hat Halef das seinige mit?"

"Nein."

"Wird es stark genug sein, mich zu tragen?"

"Gewiß. Ben Rih ist zwar nicht so stark wie zum Beispiel Euer wunderbarer Smihk, aber doch stark genug, um selbst vom schwersten Ussul geritten zu werden."

"Und darf ich meine Hunde mitnehmen?"

"Welche?"

"Aacht und Uucht, von denen ich Dir schon erzählte. Ich möchte gern wissen, wer schneller und ausdauernder ist, sie oder Eure Pferde. Du hast sie noch nie gesehen; ich zeige sie Dir."

"Ja, nimm sie mit," bat ich, indem ich ihr verschwieg, daß sie sich bereits bei mir befanden.

"Vorher aber gehe ich einmal zur Priesterin, um mich zu erkundigen, wie es mit dem Sahahr steht. Darum breche ich schon eher von hier auf als Du."

Sie ging noch vor Beendigung des Mahles, und ich sofort. Zu Hause bekam ich eine rührende Tiergruppe zu sehen. Syrr, mein hochedler Rapphengst, hatte sich niedergelegt. Aacht und Uucht lagen bei ihm und leckten ihn mit einem so fleißigen Eifer, als ob sie damit ihr Brot zu verdienen hätten. Ihm war deutlich anzusehen, daß er sich über diese Liebe freute. Warum fand ich die Hunde grad bei ihm, nicht aber bei Ben Rih? Es war, als ob sie wüßten, daß sie zu ihm und mir und nicht zu Ben Rih und Halef gehörten. Als ich sie jetzt liebkosend streichelte, fühlte und hörte ich sehr deutlich die winzigen, zahllosen elektrischen Funken, welche von ihren Fellen auf meine Hand übersprangen. Dasselbe geschah, wenn ich das Haar Syrrs strich. Hier war wohl das Band zu suchen, durch welches sie zusammengehörten, und daß sie diese Zusammengehörigkeit fühlten, war nun ja doch erwiesen.

Ich sattelte die Pferde. Als die Frau des Scheiks kam, war sie überrascht, die Hunde bei mir zu sehen. Sie hatte mit mir nach der gegenüberliegenden Uferseite reiten und sie von da aus zu uns herüberrufen wollen. Ich erzählte ihr mein Zusammentreffen mit dem Wärter. Sie billigte es, daß ich sie mitgenommen hatte, wenn auch nur leider für einstweilen, weil sie für den betreffenden geheimnisvollen Fremden aufzuheben seien. Dann stiegen wir auf und begannen den interessanten Ritt, der uns in einem weit gezogenen Kreise rund um die ganze Stadt führen sollte.

Wir umritten dann auch die beiden großen Seen, die im Osten und Westen der Stadt lagen. Man fischte auf ihnen. Von allen, die uns begegneten, wurden wir in einer Weise gegrüßt, welche deutlich zeigte, wie geliebt und geachtet meine Begleiterin war. Sie hatte von den unvergleichlichen, windesschnellen (Seite 107B) Pferden der Araber gehört. Sie hatte gewünscht, einmal ein solches Pferd zu sehen, und fühlte sich nun glücklich, diesen Wunsch in so reichlicher Weise erfüllt zu bekommen. So oft das Terrain es gestattete, ließen wir die Rappen laufen, was sie konnten und wollten, und Taldscha gestand, daß sie solche Schnelligkeit nicht für möglich gehalten habe und daß es eine königliche Lust sei, ein solches Tier zu reiten. Sie selbst kam dabei außer Atem, die Pferde aber nicht. Ben Rih, der den kleinen, hageren Hadschi gewohnt war und heute nun eine fast mehr als doppelte Last zu tragen hatte, hielt sich vortrefflich, blieb stets im gleichen Schritt mit meinem Syrr und zeigte weder eine Flocke Schaum noch die geringste Spur davon, daß er von der größeren Last ermüdet werde. Was die Hunde betrifft, so will ich nur sagen, daß ich sie fortwährend bewunderte. Diese Kraft und Eleganz, diese Ausdauer und Geschmeidigkeit! Wie stolz und frei sie im stärksten Laufe die Köpfe trugen! Jeder einzelne Sprung war eine Schönheit an sich! Und so oft wir hielten, gab es kein Jappen und Schnappen nach Luft, kein Husten und Pusten, kein Ringen und Schlingen nach dem verschwendeten Atem, sondern die Herzen schlugen unerregt, und die Lungen arbeiteten so ruhig, gleichmäßig und gelassen, als ob man nur so still und sacht spazieren gegangen sei. Ich versprach mir von diesen köstlichen Tieren viel; sie konnten uns auf unserm Weg nach Dschinnistan von unbezahlbarem Nutzen werden. Ich machte mir den Spaß, diesen Gedanken gegen die Frau des Scheiks auszusprechen. Da sah sie mich verwundert an und fragte:


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