"Und da hinauf wollen wir! Mitten durch diesen Brunst und Brand hindurch! Wie schwer, wie schwer! Und wie gefährlich! Mein Vater sagte, wenn er von seiner Heimat sprach: >Nur wer einen Schutzgeist, einen führenden Engel findet, gelangt nach Dschinnistan!< Ich will und muß hinauf! Doch nicht allein. Des Vaters Wort soll gelten!"

Sich mir zukehrend, fragte er:

"Sahib, willst Du mein Schutzgeist sein?"

War das nicht sonderbar? War das Zufall? Bei mir gibt es keinen Zufall. Die Erzeuger alles dessen, was geschieht, sind Gottes Führung und des Menschen Wille. Darum antwortete ich schlicht und kurz:

"Gern! Ich habe Marah Durimeh zu gehorchen."

Nun wendete er sich an den Hadschi, nahm dessen kleines Händchen zwischen seine beiden Hände, strich liebkosend darüber hin und sprach:

"Und Dich möchte ich als schützende Seele haben, mein lieber Halef. Willst Du mir das sein?"

Da brach der Kleine in ein lautes, konvulsivisches Schluchzen aus. Er fand keine Worte. Er drückte sein Gesicht in die Hände des gütigen Titanen, küßte sie drei-, viermal und entfernte sich dann schnell, um uns mit seiner Rührung nicht zu belästigen.

"Was ist es, was er hat?" fragte der Dschirbani.

"Er fühlt, daß er kein Engel ist," antwortete ich.

"So mag er sich üben! Gott hat nicht Engel geschaffen, um die Menschen von ihren Pflichten zu entbinden, sondern er hat die Menschen berufen, durch die Betätigung der wahren, uneigennützigen Menschlichkeit an ihren Brüdern und Schwestern zu Engeln zu werden!"

Hierauf nahm er an meiner Seite Platz und gab mir Kunde von dem Verlaufe des Abendessens und der darauffolgenden Besprechung seiner Forderungen. Er hatte einen vollen und ganzen Erfolg errungen, nichts war ihm abgeschlagen worden. Und er gestand es fröhlich ein, daß er das nicht etwa seiner Klugheit und Geschicklichkeit im Verhandeln, sondern nur dem Einflusse der Herrin der Ussul zu verdanken habe.

Nun sahen wir einen langen Fackelzug, der sich von weit draußen her dem Tempel näherte.

"Das sind meine Hukara. Es ist fast Mitternacht," sagte der Dschirbani. "Siehst Du die Menschenmenge auf dem Platze?"

Erst jetzt bemerkte ich, von ihm darauf aufmerksam gemacht, daß sich eine zahlreiche Menge vor dem Tempel angesammelt hatte. Alle waren so still, so ruhig! Wie sonderbar doch diese halbwilden Menschen sind.

"Sie wollen der Einsegnung zuschauen," erklärte mir mein junger Freund, "dürfen aber nicht eher hinein, als bis geläutet wird."

"Geläutet?" fragte ich. "Gibt es hier Glocken?"

"Nein. Wir läuten mit Hörnern."

"Mit solchen, wie ich heut bei Dir gesehen und gehört habe?"

"Ja."

Wir hörten unter uns die Räder des großen Leuchters schwirren. Er wurde angebrannt. Der Fackelzug erreichte den Platz, marschierte rund um ihn herum und verschwand dann im Eingange des Tempels, ohne daß die Fackeln ausgelöscht wurden. Dann begann das Läuten. Zunächst erklang ein einzelner, tiefer, außerordentlich starker, langgezogener Ton. Ihm folgten drei andere Töne von verschiedener Höhe. Diese vier Töne wurden (Seite 117A) zunächst zusammen lang ausgehalten, dann aber, wie läutende Glocken, einzeln angeschlagen, wie ein gebrochener Akkord. Das machte auf uns, die wir hoch oben standen, wo die Tonwellen sich alle vereinigten, einen so gewaltigen Eindruck, daß es gar nicht möglich ist, ihn durch Worte auch nur anzudeuten. Es war, als sei die Zinne, auf der wir standen, ein kleines Boot, das auf einem brandenden Meere von Tönen und Akkorden umhergetrieben wurde, das nicht zur Ruhe kommen konnte, indem der Grundton seine sehnsuchtsvollen Rufe immer wieder von neuem begann. Wer das hörte, den zog es mit innerer Gewalt zum Tempel hin.

Aber außer diesen Tönen sammelte sich noch etwas anderes grad unter unsern Füßen, nämlich der Rauch und Qualm von über sechshundert Fackeln, die im Innern des Tempels brannten. Dieser böse, dicke Dunst gelangte zwar auch zwischen den Holzsäulen, welches das Dach trugen, heraus in das Freie. Er entschlüpfte dort dem Innern und bildete, indem er sichtbar rund um uns aufstieg, einen fast erstickenden Ring um uns, der uns die freie Aussicht nach den Bergen und nach dem Himmel raubte. Aber die hartnäckigsten und stinkigsten Schwaden legten sich grad unter unsern Füßen an, und es war nicht tröstlich, uns sagen zu müssen, daß wir uns da hindurchzuatmen hatten, um dorthin zu gelangen, wo man uns erwartete.

"Das ist schlimm!" lächelte der Dschirbani. "Hoffentlich ersticken wir nicht! So wie uns jetzt, muß es dem Gott zumute sein, wenn er aus dem Paradiese tritt, um nach Ardistan zu gehen! Und so muß es jedem reinen Geiste und jedem edlen Menschen grauen, in die Atmosphäre derer, die in Stickluft leben, hinabzusteigen. Weißt Du, Ssahib, daß wir für immer von hier gehen?"

"Ja."

"Tut es Dir nicht leid?"

"Nein. Die einzige, die mich hier halten könnte, Taldscha, folgt uns ganz sicher nach."

"Das denke auch ich. Reichen wir uns die Hände, daß einer den andern in der Ohnmacht halte und stütze! Nur einmal noch durch diesen Dunst und Rauch und Qualm der Tiefe! Dann aber fort, empor zur reinen, freien Luft von Dschinnistan!"

Wir öffnete den nach unten führenden Treppenweg. Ein fürchterlicher Brodem von Ruß und Pech und Teer drang uns entgegen. Wir aber mußten hindurch. Wir nahmen uns bei den Händen. Hinein, hinein! Hinunter! - - -


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