Er ging.

"Die Deine ebenso," antwortete ich.

Da blieb er noch einmal stehen.

"Effendi, erlaubst Du mir eine Frage?"

"Ja, aber nur unter der Bedingung, daß Du dann wirklich gehst."

"Ich gehe dann, gewiß!"

"So sprich!"

"Früher erlaubtest Du mir, meine Nilpferdpeitsche in den Gürtel zu stecken. Das war eine Lust. Wenn niemand mehr Verstand haben wollte, meine Kurbatsch die hatte ihn. Dann wurdest Du plötzlich gebildet und human. Du verbotest mir die Peitsche. Das tat mir wehe. Denn je weher man dem Feinde tut, desto wohler tut man dem Freund. Seit ich die Kurbatsch wegstecken mußte, haben wir kein wirkliches, kein großes Abenteuer mehr erlebt. Hierzu kam, daß Du auch auf den Gebrauch Deiner Gewehre verzichtetest. Der schwere, sicher treffende Bärentöter, der fünfundzwanzigschüssige Henrystutzen, mit denen Du uns aus so vielen Gefahren rettetest, sie wurden weggepackt. Du wolltest Dich nicht mehr auf die Waffen, sondern (Seite 13A) auf die Liebe, auf die Humanität verlassen. Aber weißt Du, was dann kam? Was die Folge war?"

"Ich weiß es wohl," gestand ich ein.

"Nun, was?"

"Die Vorsicht trat an Stelle des Mutes. Wir erlebten nichts mehr."

"Ja, so ist es! Die Humanität brachte uns um die Abenteuer. Wir erlebten nichts mehr. Und nun kommt meine Frage: Soll das in Ardistan und Dschinnistan auch so sein? Willst Du auch dort den Waffen Schweigen gebieten?"

"Nein."

Da kam er mit einem großen Freudensprunge auf mich zu, faßte meine Hand und rief:

"Nicht, wirklich nicht, Effendi?"

"Ich sage, nein."

"Warum?"

"Weil es Wahnsinn wäre, in einem Lande, wie Ardistan ist, auf sie zu verzichten. Ich bin überzeugt, es wäre unser sicherer Tod."

"Handulillah, Handulillah! Es wird wieder geschossen! Es wird wieder gestochen! Und es wird wieder gehauen!"

Er drehte sich fünf-, sechsmal um sich selbst und machte dabei die Armbewegung, als ob er eine Peitsche in der Hand habe.

"Gehauen? Wieso?" fragte ich, indem ich mich stellte, als ob ich ihn nicht begreife.

Er antwortete:

"Du meinst doch, daß ich den Bärentöter, den Henrystutzen, das Jagdmesser und die Revolver wieder auspacken darf?"

"Allerdings."

"Und meine alte, gute, arabische Flinte auch, und das Doppelgewehr, welches Dein Geschenk ist, auch, und die beiden Pistolen auch?"

"Ja. Wir schleppen dann wieder ein ganzes Arsenal mit uns herum!"

"Und weißt Du, was zu diesem Arsenal gehört, ganz unbedingt, ganz unbedingt zu ihm gehört?"

"Was?"

"Die Kurbatsch, die Peitsche, die Nilhautpeitsche!"

"Oho!"

"Ja, die Peitsche!" jubelte er. "Du weißt doch ebenso wie ich, was ich alles mit ihr erreicht habe! Sie macht den Ungehorsamen gehorsam, den Stolzen demütig, den Untreuen treu, den Zweifler gläubig, den Geizigen wohltätig, den Groben höflich, den Langsamen schnell, den Zornigen sanft und, wenn es sein muß, sogar den Toten lebendig! Sihdi, sag, darf ich sie mit auspacken?"

Er beugte sich zu mir nieder, strich mir mit der Hand liebkosend über die Wange und bat im liebevollsten seiner Töne:

"Sihdi, wenn Du mich nur noch ein ganz, ganz klein wenig lieb hast, so erlaube mir, daß ich die Peitsche wieder tragen darf! Ich bitte Dich, ich bitte!"

Wer meinen kleinen, lieben Hadschi Halef kennt, der wundert sich gewiß nicht über diese seine Bitte; sie entsprang gewiß aus keiner schlechten Quelle und stützte sich auf die Eigenheiten der orientalischen Verhältnisse. Und wer mich kennt, der weiß, daß auch ich mich nur aus guten Gründen zu der Antwort entschloß, die ich ihm gab:

"So trag sie wieder, Halef; trage sie!"

"Ich darf?" fragte er in einem Tone, der vor Freude beinahe überschnappte.

"Du darfst. Doch stelle ich die Bedingung, daß Du Dich ihrer nur dann bedienen darfst, wenn ich es Dir gestatte."

"Sehr gern, sehr gern! Ich danke Dir, Sihdi, ich danke Dir! Wie mich das freut! Es ist die größte Freude, die ich mir hier denken kann, wo ich nichts erlebt habe, als nur Ärger! Ich darf die Schurken niederhauen, die Schufte, die Spitzbuben, die Scheusale, die Auswürfe! Ich bin entzückt! Ich muß jubeln! Ich muß tanzen und springen! Und Du, Effendi, Du springst mit! Komm, komm!"

Er faßte mich und zog mich von meinem Sitz empor. Er wollte sich mit mir im Kreise drehen. Ich wehrte mich. Das gab Lärm. Die Pferde sprangen auf. Mein Syrr besah sich die Sache ohne Aufregung; Assil Ben Rih aber wieherte laut (Seite 13B) auf, als er seinen Herrn in einer so seltenen, freudigen Erregung sah. Das befreite mich von Halef. Er ließ mich los und wendete sich zu dem Rappen:

"Recht so, Assil, recht so! Wenn der Effendi nicht mit mir tanzen will, so tanze ich mit Dir. Du hast mehr Verstand als er. Paß auf! Es geht los!"

Er schwang sich mit einem federkräftigen Satze auf den Rücken des Pferdes, jagte es einige Male im Kreise herum und galoppierte dann fort, hinaus in die mondhelle Nacht. Syrr legte sich wieder nieder. Ich verabschiedete mich von ihm und kehrte nach der Wohnung zurück. Ich bitte, nicht darüber zu lächeln, daß ich sage, ich habe mich von meinem Pferde verabschiedet. Ein so hochedles Roß wie Syrr ist ein ganz anderes Wesen als ein gewöhnlicher Gaul unseres heimischen Schlages, hat ganz andere Regungen, und muß darum auch ganz anders behandelt werden. Wir werden auf dieses ganz eigenartige und hochinteressante Gebiet noch oft zu sprechen kommen.

Es war mir unmöglich, schlafen zu gehen. Der Gedanke, die beiden geheimnisvollsten Gegenden der Erde besuchen zu dürfen, wäre mir zu jeder Zeit von höchstem Interesse gewesen. Hier aber handelte es sich um mehr, als nur um einen gewöhnlichen, zwecklosen Besuch. Ich hatte einen hochwichtigen Auftrag auszuführen. Dieser Auftrag war von Marah Durimeh als eine Mission bezeichnet worden. Worin er bestand, das wußte ich heut noch nicht, aber daß er von größter Wichtigkeit war, darüber gab es keinen Zweifel. Das erweckte in mir das Gefühl einer ungewöhnlichen Verpflichtung, einer außerordentlichen Verantwortlichkeit, welches mich unruhig machte und nach der Bibliothek trieb, wo ich bis zum frühen Morgen über den Büchern und Karten saß, um mir später sagen zu können, daß ich nichts versäumt habe, was nötig gewesen sei, den Anforderungen zu genügen, die Marah Durimeh an mich stellte.

Auch sie war schon früh munter, ebenso Schakara. Sie fanden mich in der Bibliothek. Dann gingen wir zum Frühstück auf den Söller. Dort erfuhr ich, daß die >Wilahde< genau um Mittag die Anker lichten werde. Meine Mission bestand einzig nur darin, dem 'Mir von Dschinnistan so schnell wie möglich einen Brief von Marah Durimeh zu überbringen. Das Wie und Wo wurde den Verhältnissen und meiner Einsicht überlassen. Schakara sollte mich bis zur Stunde unserer Ausschiffung begleiten, um mir bis dahin auf meine Fragen alle ihr mögliche Auskunft zu geben. Dann segelte sie direkt nach Ikbal zurück. Und der Brief, den ich zu besorgen hatte? Der war nicht auf Papier oder einen ähnlichen Stoff geschrieben, und den hätte wohl niemand, auch ich nicht, für einen Brief gehalten, wenn Marah Durimeh nicht gesagt hätte, daß er es sei.

Als unsere Utensilien für die Fahrt verpackt werden sollten, legte sie noch einige Gegenstände bei, von denen sie sich Nutzen für uns versprach. Es befand sich auch ein blank poliertes Brustschild dabei, kein ganzer Panzer für den Oberleib, sondern nur ein Schild, leicht und dünn, der nur bestimmt war, das Herz und die Lunge zu schützen. Er war aus einem mir unbekannten Metall oder einer Metallegierung und so leicht gefügig, daß man ihn unter einem ganz dünnen Gewandstoff tragen konnte, ohne daß er auffiel.

"Diesen Schutz legst Du an, noch ehe Du Ardistan betrittst," sagte Marah Durimeh.

"Glaubst Du, daß uns dort so große Gefahren drohen?" fragte ich.

"Gefahren wird es geben, nicht wenige und nicht leichte," antwortete sie. "Aber ich habe keine Sorge um Euch; Ihr werdet sie bestehen. Zwar ist dieser Schild wohl auch zu Deinem Schutz bestimmt und er hat Achselriemen, um auf Deiner Brust befestigt zu werden; aber an diesem Platze hat zugleich auch er den Schutz zu finden, der für ihn nötig ist, und zwar in hohem Grade. Denn er ist ja der Brief, den ich Dir anvertraue."

"Er? Der Brief?" fragte ich, indem ich ihn nun doppelt aufmerksam betrachtete. "Ich sehe keine Schrift!"

"Du brauchst sie auch nicht zu sehen," lächelte sie. "Er ist ja nicht an Dich gerichtet. Was Du nicht siehst, das sieht der 'Mir von Dschinnistan. Er wird ihn lesen."

(Seite 14A) Auch Schakara lächelte, aber in anderer Weise. Sie nickte nach mir hin und sagte:

"Vielleicht hat er die Schrift erkannt und entziffert, noch ehe er sie dem 'Mir überreicht!"

"Ich würde mich freuen, wenn er es zuweg brächte," gestand Marah Durimeh. "Aber diese Schrift ist nicht Schrift, sondern mehr. So, wie hier auf diesem Schilde, schreibt man nur in Sitara, dem Lande der Sternenblumen, und diese Schrift kann nur der lesen lernen, der mich, die Herrin dieses Landes, kennt. Versuche, ob es Dir möglich ist, Effendi! Der Unterricht hierzu wird Dir werden, indem Ihr miteinander durch das gefahrvolle Ardistan reitet."

Das war meine ganze Instruktion. Ich durfte mich zwar als Gesandten fühlen, aber als einen, mit dem man wenig Federlesens macht. Doch war es grad diese Kürze, für die ich mich unendlich dankbar fühlte.

Wir brachte unsere Pferde selbst an Bord. Sie waren so wertvoll, daß wir sie keiner anderen Person anvertrauten. Auch Schakara war dabei, und Marah Durimeh begleitete uns, einfach, bescheiden, wie ein gewöhnliches Weib, von allen, die uns unterwegs sahen, mit Ehrerbietung und Liebe gegrüßt, doch unauffällig, in selbstverständlicher und ungekünstelter Weise. So war der Abschied auch. Sie stand am Ufer und grüßte mit der Hand, als das Schiff den Anker hob. Hierauf ging sie. Kurze Zeit später sahen wir sie auf dem Söller erscheinen. Da stand sie, bis wir sie nicht mehr sehen konnten. Dann verschwand auch der Palast, die Stadt, das dunkle Gebirge, das ganze, uns bekannt gewordene Sitara, und wir sahen nichts mehr, als nur die unendlich weite See, der wir auf Treu und Glauben überliefert worden waren.

Zu jeder anderen Zeit hätte ich mich um das Schiff, seine Bemannung und seine Einrichtung gewiß sehr eingehend bekümmert; jetzt aber hatte ich keine Zeit dazu. Ich mußte jede Minute ausnutzen, um mich zu unterrichten. Die Bücher, welche ich mitgenommen hatte, mußten mit Schakara wieder zurückgehen. Ich hatte sie also bis dahin durchzunehmen und las und las und schrieb und schrieb, um alles, was ich für wichtig hielt, zu notieren. Schakara half mir dabei. Als drei Tage vorüber waren, hatte ich einen ganzen, dicken Stoß von Notizen, deren Wert gar nicht abzumessen war. Mit ihrer Hilfe war es mir möglich, mich in jeder Lage und an jedem Orte zu orientieren.

Es war uns während dieser drei Tage kein anderes Fahrzeug begegnet. Nun näherten wir uns dem Ziele unserer Fahrt. Wir durften erwarten, am Mittag des vierten Tages die Küste von Ardistan zu erreichen, aber auch da bekamen wir kein Schiff, nicht einmal einen Kahn, ein Boot zu sehen. Der Grund hiervon war, daß wir es vermieden, uns einem Hafen zu nähern. Unsere Landung mußte in der größten Heimlichkeit geschehen, und darum wählten wir einen ganz einsamen Teil der Küste, die da völlig unzugänglich zu sein schien, doch gab es eine Stelle, wo eine kleine, schmale Bucht zwar nicht erlaubte, den Anker zu werfen, aber doch Gelegenheit zum Ausbooten gab. Das Land fiel hier überall so schroff und so tief in die See hinab, daß kein Ankertau lang genug war, den Boden zu erreichen.

Kurz nach Mittag tauchte eine dunkle Linie vor uns auf, der wir uns bei gutem Winde näherten. Das war Ardistan, eine niedrige, aus Sumpf und Moor bestehende Küste.

"Das ist Dein Ziel," sagte Schakara. "Und nun es vor Dir liegt, will ich Dir noch etwas Wichtiges sagen. Du wirst über die Bewohner dieses Landes wenig Freude haben. Sie stehen auf einer noch sehr niedrigen Stufe der Menschlichkeit. Aber es gibt doch hier und da einen Auserlesenen, dem es Bedürfnis ist, sich von dieser Niedrigkeit abzusondern und mit Gleichgesinnten zu vereinigen. So ist ein Bund entstanden, der sich >Insanija< nennt, die >Menschlichkeit<. Leider sieht er sich gezwungen, geheim zu bleiben, weil der 'Mir von Ardistan ihn nicht dulden will. Seine Mitglieder stehen miteinander im Verkehr. Sie sind edle, opferwillige Menschen. Es gibt einige unter ihnen, die Marah Durimeh gesehen oder auch wohl gar gesprochen haben und sie fast vergöttern. Von ihnen hast Du Hilfe zu erwarten, sobald Du Dich an sie wendest. Es wird Dich keiner verraten."

(Seite 14B) "Kennst Du ihre Namen?"

"Nein."

"Ihren Stand, ihren Wohnort?"

"Auch nicht. In diese Geheimnisse unserer Herrin bin ich noch nicht eingeweiht. Aber sie hat mir das Zeichen gesagt, an welchem sie sich erkennen, und mir befohlen, es Dir mitzuteilen."

"Das ist ja wichtig, in hohem Grade wichtig! Was für ein Zeichen ist es?"

"Jeder Insan - so nennen sich nämlich diese Leute - ist daran zu erkennen, daß er den ersten Blick, den er auf einen ihm bisher Unbekannten wirft, in drei Teile teilt, und zwar dadurch, daß er während desselben die Augenlider zweimal fallen läßt. Es entstehen dadurch drei Blicke an Stelle des einen, doch in so unauffälliger Weise, daß es nur der bemerkt, der es weiß und darum ganz besonders darauf achtet. Schau her zu mir; ich will es Dir zeigen!"

Sie richtete ihr Auge auf mich und teilte diesen Blick durch zweimaliges Senken desselben in drei Teile. Dann mußte ich es ihr nachmachen. Das war sehr leicht.

"Du darfst es eigentlich verlangen," fuhr sie fort, "daß man Dir dieses Geheimnis mitteilt, denn Du bist ja schon längst Insan, wenn auch kein Bewohner des Landes Ardistan. Doch, paß auf! Die Segel fallen ab!"

Die Segel wurden so gestellt, daß sich die Schnelligkeit des Schiffes verminderte. Wir gingen bis auf eine halbe Seemeile an die Küste heran; dann wurde beigedreht, das heißt, die Segel bekamen eine solche Stellung, daß die Wirkung des Windes aufgehoben wurde. Wir lagen, wie vor Anker. Nun ging das große Boot zu Wasser mit den beiden, darin angebundenen Pferden. Sie verhielten sich ruhig. Übrigens saßen auch die Ruderer bei ihnen. Dann wurde das Fallreep niedergelassen; da stiegen wir nach, Halef und ich, auch Schakara, die das Steuer führen wollte.

Es war kein leichtes Manöver, der Pferde wegen; aber es gelang. An der Bucht standen einzelne Bäume, ganz nahe am Ufer. Das gab uns die Möglichkeit, das Boot derart zu befestigen, daß die Pferde ganz bequem und ohne Gefahr gelandet werden konnten. Sie waren gesattelt. Wir brauchten nur aufzusteigen. Hadschi Halef verabschiedete sich mit großem Redeschwall von Schakara. Dann reichte ich ihr die Hand. Sie sagte nichts, aber ihre Lippen zitterten, und ihre Augen waren feucht. Dann gab sie das Zeichen, das Boot vom Lande zu stoßen. Da legte sich nun das Wasser zwischen uns, die tiefe, die geheimnisvolle See! Als ob diese meine Gedanken auch die ihren seien, rief sie uns nun doch noch zu:

"Effendi, wenn Dir eine Gefahr naht, welche unbezwinglich erscheint, oder wenn die Tränen des Erdenleidens über Dir zusammenfluten, so verliere nicht den Mut, sondern glaube mir, daß Marah Durimeh und Schakara Dir immer nahe sind. Auf Wiedersehen!"

"Auf Wiedersehen!" antwortete ich.

"Nasuf wussak - - auf Wiedersehen!" rief auch Halef.

Dann schoß das Boot von der Küste ab, dem Schiffe wieder zu. Wir beide standen am Land und schauten hinterdrein. Wir sahen das Boot anlegen; wir sahen, daß es aufgewunden wurde. Die >Wilahde< stellte die Segel wieder voll und drehte sich dann unter dem Drucke des wieder festgenommenen Windes von uns ab. Ein weißer Wimpel stieg bis zur Spitze des Hauptmastes empor. Das war der letzte Gruß. Neben mir erklang ein nicht ganz unterdrücktes Schluchzen. - Halef weinte.

"Lach mich nicht aus, Sihdi!" sagte er. "Ich mag von dem Lande Sitara nichts wissen, weil man da über mich lacht, aber heulen muß ich doch. Wozu hat man die Tränen? Die müssen heraus! Ich schelte zwar zuweilen auf die Bewohner dieses Landes, aber lieb sind sie mir doch! Besonders Marah Durimeh und Schakara! Da fährt das Schiff nun hin! Ich setze mich! Und ich sehe ihm nach, bis es verschwunden ist! Eher stehe ich nicht wieder auf!"

Er sprach diese Sätze sehr einzeln und sehr stoßweise aus, im weinerlichen Tone. Ich wußte gar wohl, wie tief er Schakara, unsere junge, edle Freundin, in sein Herz geschlossen hatte. Er setzte sich wirklich (Seite 15A) auf den Boden nieder, obwohl dieser sehr feucht war, und schaute dem Schiffe so lange nach, bis es am fernen Horizont verschwand. Da stand er wieder auf und sagte:

"Nun ist es vorüber! Der Abschied tut zwar weh, aber wir sind doch keine Kinder, sondern Männer. Und vor allen Dingen wissen wir, daß ein unbekanntes Land und ein Leben voll reicher Abenteuer vor uns liegt. Da müssen wir uns zusammennehmen und tapfer vorwärts schauen, anstatt zurück auf das, was hinter uns liegt. Hast Du alle Deine Sachen beisammen, Sihdi?"

"Ja," antwortete ich.

"Nichts vergessen?"

"Nein."

"Ja, allerdings, diese Erkundigung war im höchsten Grade überflüssig, denn vergeßlich bist Du nie gewesen, niemals! Aber erlaube mir die Frage nach Deinem Panzerbrief! Du solltest ihn anlegen, noch ehe Du hier dieses Land betrittst. Hast Du das getan?"

"Ja."

"Und die Abschriften von den Landkarten, Plänen und viel tausend Namen, die Du angefertigt hast? Die hast Du doch nicht etwa vergessen?"

"Nein."

"Wo hast Du sie?"

"Hier in der Brusttasche. Ich hatte mir den Panzerbrief gerade auf die Brust gebunden und zog die Jacke über die Weste. Die Abschriften lagen neben mir. Ich steckte sie eben ein, als Schakara kam, und da - - und - - und - - doch nein, ich irre mich! Ich steckte sie nicht ein, sondern ich wollte sie einstecken; da kam Schakara und unterbrach mich. Ich ließ die Abschriften liegen, und - - -"

"Und da liegen sie noch?" fiel Halef schnell ein.

"Ja - - nein - - nein - - ja - - unmöglich! Es ist nicht denkbar! Sie sind zu wichtig, viel, viel zu wichtig! Ich kann und kann und kann sie nicht vergessen haben!"

Ich griff in die Brusttasche; da waren sie nicht. Ich suchte in allen anderen Taschen, vergeblich. Ich hatte sie liegen lassen, gewiß und wirklich liegen lassen! Diese Abschriften, die ich mir mit so großer Mühe gemacht hatte und die ich so unendlich notwendig brauchte! So etwas war mir noch nie im Leben passiert! Eine solche Gedankenlosigkeit hatte ich bisher für unmöglich gehalten! Mir wurde ganz schlimm. Ich setzte mich nun auch nieder, trotz der Feuchtigkeit des Bodens. Ohne diese Notizen war ich ganz außer stande, mich in diesem fremden Lande und seinen mir fremden Verhältnissen selbständig zu bewegen! Jeder Zufall könnte mir zum Meister und Gebieter werden! Soeben hatte Halef uns >Männer< genannt; aber nun ich diese Aufzeichnungen nicht bei mir hatte, glichen wir Kindern, die nur Fehler begehen können, wenn es ihnen einmal einfallen sollte, einen eigenen Entschluß zu wagen! Ich war im höchsten Grade zornig auf mich selbst und zugleich auch so verstimmt, wie wohl noch nie in meinem ganzen Leben. Dazu stellte sich Halef mit weit auseinandergespreizten Beinen grad vor mich hin und sagte:

"So! Da sitzest Du nun! Grad wie vorhin ich! Es fehlt nur noch, daß Dir die Tropfen ebenso über die Backen laufen wie mir! Du hast sie also vergessen, doch vergessen?"

"Leider! Ja!" gestand ich ein.

"Das dachte ich mir!" fuhr er fort, "denn Du bist stets vergeßlich gewesen! Fürchterlich vergeßlich, solange ich Dich kenne!"

"Oho!" widersprach ich ihm.

"Ja, ja!" behauptete er. "Du hast zwar auch noch einige andere Fehler, mein lieber Sihdi, aber der größte unter ihnen war doch stets die Vergeßlichkeit; sie wird es wohl auch bleiben! Du weißt es ebenso gut wie ich, daß ich mir alle Mühe gegeben habe, Dich von dieser Gedankenlosigkeit zu befreien; aber einen Erfolg habe ich leider nicht gehabt. Dies ist zwar für einen so verständigen Mann, wie ich bin, kein Grund, Dir zu zürnen oder Dich etwa gar zu mißachten, denn Fehler, die angeboren sind, können nicht geheilt werden; aber betrübend ist es doch jedenfalls für mich, daß grad ich dazu berufen zu sein scheine, immer neue derartige Mängel an Dir zu entdecken. Daß Du diese Notizen auf dem Schiff liegen lassen konntest, ist für mich (Seite 15B) geradezu unbegreiflich. Ich suche nach den Gründen dieser Deiner innerlichen Fehlerhaftigkeit. Du würdest sie wohl nicht finden; bei meinem bekannten Scharfsinn aber ist es für mich eine Kleinigkeit, sie schleunigst zu entdecken. Darf ich sie Dir nennen, Effendi?"

"Ja," antwortete ich.

Wer mich und meinen Hadschi Halef kennt, der weiß, warum ich zuweilen stillschweigend darauf einging, mir von ihm derartige Predigten halten zu lassen. Er liebte und verehrte mich aufrichtig und wahr; aber immerwährend und immerwährend nur Verehrung, das erschien ihm langweilig; er mußte zuweilen fünf Minuten haben, in denen er seine ganze Entrüstung über mich ausschütten konnte; das lag so in seiner Natur, und dann war er sofort wieder der liebe, treue, aufopfernde Mensch, von dem ich verlangen konnte, was mir beliebte, sogar den Tod. Übrigens hatte ich grad jetzt eine strenge Strafpredigt verdient, und darum ließ ich dem, was er sagte, freien Lauf.

"Es sind zwei," fuhr er fort. "Ist es Dir vielleicht möglich, sie zu erraten?"

"Nein."

"So will ich sie Dir nennen, ohne Deinen Verstand unnötig zu belästigen. Es ist nämlich entweder die Dummheit oder die Altersschwäche. Begreifst Du das?"

"Noch nicht."

"So ist es nicht die Altersschwäche, sondern die Dummheit allein. Für alle Fehler, die der Mensch macht, gibt es nämlich nur einen von diesen beiden Gründen. Sie genügen für alles, was geschieht. Nach noch anderen brauchen wir also nicht zu suchen. Du bist genau so alt wie ich. Darum weiß ich ganz genau, daß Altersschwäche bei Dir ausgeschlossen ist. Also kann es sich, wenn ich nach dem Grunde Deiner Fehlerhaftigkeit forsche, nur um die Dummheit handeln. Und weil Dir diese Fehler angeboren sind, muß Dir auch die Dummheit angeboren sein. Hast Du mich verstanden?"

"Ja."

"Das wundert mich! Wer von Geburt dumm ist, der pflegt sonst nicht so schnell zu begreifen, wie Du mich jetzt, in diesem Augenblick, begreifst. Aber ich freue mich darüber. Denn da darf ich hoffen, daß Du auch das begreifen wirst, was ich Dir noch weiter zu sagen habe."

Er stellte den Kolben seiner Flinte auf die Erde, stütze sich mit den Händen auf den Lauf und fuhr dann fort:

"Du weißt, Effendi, daß wir nach Ardistan und Dschinnistan gesandt worden sind, um gewaltige Abenteuer zu erleben und jene Art von großen Taten zu verrichten, die keinem anderen Geschöpfe, als nur uns beiden möglich sind. Wenn Du Deine Pläne und Karten bei Dir hättest, so würde es Dir wohl nicht ganz unmöglich sein, das Vertrauen zu rechtfertigen, welches Marah Durimeh in Dich setzt. Nun Du sie aber vergessen hast, gibst Du ganz gewiß ohne weiteres zu, daß Du bei Deinen angeborenen Mängeln unfähig bist, zu tun, was sie von Dir verlangt. Hieraus folgt mit unbestreitbarer Sicherheit, daß nun ich es bin, auf den Ihr beide Euch verlassen müßt. Die großen Taten habe ich auszuführen, nicht Du! Und die berühmten Abenteuer habe ich zu erleben, nicht Du! Früher warst Du die Hauptsache, und ich, ich war die Nebensache. Jetzt aber ist es grad umgekehrt: Jetzt bin ich die Hauptperson, und die Nebenperson bist Du! Gibst Du das zu, Effendi?"

"Sehr gern," antwortete ich.

"Sehr gern?" fragte er, indem er einen ungewissen Blick auf mich warf. "Der Ton, in dem Du das sagst, gefällt mir nicht! Ich hoffe, Du meinst es ehrlich!"

"Im höchsten Grade ehrlich!" versicherte ich. "Es ist mir geradezu eine Wonne, zu erfahren, daß Du von jetzt an die Hauptperson bist."

"Eine Wonne? Wieso?"

"Weil ich jetzt nichts mehr zu bedenken, zu überlegen und zu verantworten habe. Ich tue nur, was Du befiehlst."

"Hm!" brummte er. "Nicht mehr denken willst Du? Gar nicht mehr?"

"Gar nicht mehr!" versicherte ich. "Bei meiner angeborenen Dummheit ist es mir sehr lieb, daß nun Du an meiner Stelle denkst."

(Seite 16A) "Und verantworten soll ich alles?"

"Natürlich! Ich bin nur Nebensache!"

"Hm! Wenn ich nur wüßte, wie Du das meinst, ob ehrlich oder hinterlistig! Du bist nämlich in Beziehung auf die angeborene Dummheit ein höchst gefährlicher Mensch. Es ist möglich, daß Du mich damit nur in Versuchung führst. Aber da es nicht abzuleugnen ist, daß Du Deine Karten und Pläne vergessen hast, so bleibt es bei dem, was ich gesagt habe: die Hauptperson bin ich! Ich werde also während dieser ganzen Reise befehlen, und Du hast zu gehorchen. Nicht?"

"Ja."

"So erhebe Dich jetzt vom Boden und steig aufs Pferd. Wir brechen auf!"

Ich stand auf. Wir hatten uns beide durch das Sitzen auf dem feuchten Boden beschmutzt. Das erzürnte Halef, der ungemein auf Sauberkeit hielt.

"Allah 'l Allah! Nun klebt der ganze Sumpf an unseren Kleidern!" rief er zornig aus. "Das ist Ardistan! Genau so, wie man es mir beschrieben hat! Bei uns daheim ist auch die Wüste so rein, daß sogar der Gläubige, bevor er betet, sich mit Sand anstatt mit Wasser wäscht, wenn ihm das letztere fehlt. Wer aber den Boden von Ardistan betritt, der versinkt im Schmutz schon gleich beim ersten Schritt und kann sich nicht eher von ihm befreien, als bis er die Grenze von Dschinnistan erreicht! Beeilen wir uns, diesem Dreck und Schlamm zu entweichen!"

Er stieg in den Sattel. Ich tat das auch. Nun wartete er, daß ich voranreiten werde. Ich aber machte eine abwehrende Handbewegung und forderte ihn auf:

"Zeig Du den Weg, ich bin nur Nebensache!"

"Gut, daß werde ich!" antwortete er in scheinbar zuversichtlichem Tone. Aber schon weniger zuversichtlich fügte er hinzu: "Du brauchst aber trotzdem nicht hinter mir zu reiten, sondern kannst Dich getrost an meiner Seite halten. Du kennst mich doch. Du weißt, daß ich auch als Hauptperson sehr leutselig bin!"

(Seite 16B) Der kleine Schlaue wollte mich neben sich haben, um sich nach der Fühlung mit mir richten zu können. Ich ging aber nicht darauf ein, sondern blieb hinter ihm. Das brachte ihn in keine geringe Verlegenheit. Er wußte von meinen Absichten, wie man sich ländlich auszudrücken pflegt, weder Kix noch Kax und war also vollständig unfähig, auch nur die Richtung unseres Rittes zu bestimmen. Darum wendete er sich schon nach kurzer Zeit mit der Bitte an mich zurück:

"Effendi, sag mir doch wenigstens, ob ich so richtig reite!"

"Es ist richtig," antwortet ich. "Immer gerade aus."

"Wenn aber ein Sumpf kommt?"

"So biegen wir um ihn herum."

"Es scheint hier überhaupt alles Sumpf zu sein. Ich finde das schrecklich. Die Pferde versinken bis an die Knie!"

"Um über die morastige Ebene zu kommen, brauchen wir drei Tage."

"Drei Tage? Allah erbarme sich! Was gibt es da für Menschen?"

"Keine. Auf menschliche Wesen treffen wir erst jenseits dieser Niederung."

"Welchem Volke gehören sie an?"

"Dem Stamme der Ussul."

"Der Ussul? Weißt Du das genau?"

"Ja."

"Ich denke, Du hast Deine Notizen vergessen? Da kannst Du doch nichts wissen!"

"Warum nicht? Ich habe mir doch sehr viel von dem gemerkt, was ich in den Büchern von Marah Durimeh gelesen und nach ihren Karten mir ausgerechnet habe."

"Gemerkt?" fragte er. "Sihdi, das ist nicht wahr; das glaube ich nicht!"

"Warum nicht?"

"Weil ich es besser weiß! Ich habe Dir schon gesagt, daß ich Ardistan kenne, und zwar sehr genau. Darum bin ich ja die Hauptperson und reite jetzt voran. Ein jeder, der in diesem Lande gewesen ist, der weiß, daß es das Land des Vergessens ist."

(Seite 17A) "Wieso?"

"Wer es betritt, der vergißt alles, was und wo und wie und wer er vorher gewesen ist."

"Wer hat Dir das weisgemacht?"

"Weisgemacht? Ich bitte Dich, mich nicht zu beleidigen! Ich habe mit sehr, sehr viel Leuten über Ardistan gesprochen. Der klügste von ihnen war ein alter, gelehrter und viel gereister Derwisch, der sich über zehn Jahre lang dort aufgehalten hatte und es also sehr genau kannte. Er sagte, daß es mit Ardistan ganz entschieden dieselbe Bewandtnis habe, wie mit dem Menschenleben überhaupt."

"Wie meinst Du das?" fragte ich ihn.

"Das will ich Dir sofort erklären," antwortete er. "Du gibst doch zu, daß wir beide nicht aus Ardistan stammen, obwohl wir uns jetzt hier befinden?"

"Ja."

"Ebenso gibst du auch zu, daß wir nicht von der Erde stammen, obgleich wir uns auf ihr befinden?"

"Einverstanden!"

"Aber weißt Du, wo Du gewesen bist, bevor Du hier geboren wurdest?"

"Nein."

"Damals aber, wo Du Dich dort befandest, hast Du es gewußt?"

"Höchst wahrscheinlich!"

"So hast Du es also in dem Augenblick, an dem Du geboren wurdest, vergessen. Der alte, kluge Derwisch behauptete, daß die Erde eine Strafanstalt für Geschöpfe sei, die Allah nicht gehorchen wollten. Sobald sie durch das Tor der Geburt in das diesseitige Leben treten, vergessen sie alles Frühere. Sie wissen nicht mehr, wer und was und wo sie gewesen sind, und können sich nur durch unbedingten Gehorsam und unerschütterlichen Glauben, durch treue, ehrliche Arbeit und gute Werke nach dort zurückfinden, woher sie gekommen sind. Glaubst Du das, Effendi?"

"Die Ansicht dieses alten Derwisches ist interessant; man muß über sie nachdenken."

"So denke nach! Er sagte, daß es im Leben eines jeden Menschen Augenblicke gebe, an denen ihm die Erinnerung an das vergangene Leben aufleuchte wie ein Blitz, der ebensoschnell verschwindet, wie er kommt."

"Und so oder ähnlich ist es auch mit Ardistan?"

"Ja. Es ist ein Land des Vergessens, wie die Erde. Man behauptet sogar, daß das Leben in Ardistan ein ganz genaues Bild des Erdenlebens sei. Du lächelst, Effendi? Ist das, was ich sage, nicht wert geglaubt zu werden?"

"Ob wert oder nicht, das kommt hier nicht in Betracht. Weißt Du, wer Du bist?"

"Ja. Wozu diese Frage?"

"Und weißt Du, wo wir gestern waren?"

"Ja."

"Und vorgestern und alle die Tage, Wochen und Monate vorher?"

"Ja."

"Du hast es also nicht vergessen?"

"Nein."

"Wie kann da Ardistan das Land des Vergessens sein?"

Da hielt er sein Pferd an, blickte nachdenklich vor sich hin und brummte:

"Ja. Deine Frage ist nicht dumm, auch nicht angeboren dumm. Vielleicht verwechsele ich das eine mit dem andern. Oder ich drücke mich nicht richtig aus. Oder die Vergeßlichkeit tritt nicht mit einem Male ein, sondern langsam, nach und nach. Bei Dir ist sie ja schon da, denn Du mußt doch zugeben, daß Du Deine Karten und Schreibereien liegen gelassen hast. Streiten wir uns nicht, sondern warten wir es ab, ob uns das Gedächtnis schwindet oder nicht. Kommen wir lieber auf den Stamm der Ussul zurück, von dem wir sprachen. Kennst Du ihn?"

"Nein," antwortete ich, indem wir weiterritten.

"So sei froh, daß ich jetzt die Hauptperson bin! Ohne mich wärest Du vollständig verloren, wenn Du zu ihnen kommst. Ich weiß nämlich, woran ich mit ihnen bin. Ich habe von ihnen gehört. Nimm Dich in acht, Effendi! Die Ussul sind nämlich ein Volk von lauter Riesen. Sie haben Beine wie (Seite 17B) die Elefanten. Ihre Arme sind so lang und so stark wie zwanzigjährige Baumstämme. Ihre Haare gleichen der Mähne eines Löwen. Ihre Augen glühen wie Laternen. Ihre Stimmen machen den Lärm des Donners, und wenn sie zornig sind, zittert die Erde, auf der sie stehen. Sie wohnen in starken Burgen, die sie nur in das Wasser bauen. Sie leben vom Mord und vom Raub. Sie glauben nicht an Allah und auch nicht an den Teufel, und wer mit ihnen in Streit gerät, ist unbedingt verloren!"

"Das klingt ja außerordentlich beruhigend! Von wem hast Du das gehört? Wohl von demselben Derwisch?"

"Nein, sondern von anderen Personen, die aber nicht weniger glaubhaft und zuverlässig sind. Es ist ganz unmöglich, einen Mann vom Stamme der Ussul im Kampfe zu besiegen. Darum besteht die Leibgarde des 'Mir von Ardistan nur aus solchen Kriegern, von denen es jeder gut und gern mit dreißig bis vierzig Feinden aufnehmen kann."

"So ist es gut, daß wir nicht vierzig sind, sondern nur zwei!"

"Warum?"

"Weil sie es da gar nicht versuchen werden, es mit uns aufzunehmen!"

"Hohnlächle nicht, Sihdi! Was ich weiß, das weiß ich genau, und was ich erzähle, das ist wahr! Als Nebenperson steht es Dir überhaupt nicht gut, über das zu lächeln, was die Hauptperson erzählt - - - was ist? Was gibt es?"

Diese beiden Fragen sprach er unwillkürlich aus, denn sein Pferd war plötzlich stehen geblieben und ließ ein warnendes Schnauben hören. Auch Syrr, mein Hengst, hielt die Schritte ein, doch ohne ein Zeichen von Angst; er stampfte vielmehr mit den beiden Vorderfüßen, als ob er die Absicht habe, einen Feind mit den Hufen zu zermalmen. Die Augen beider Pferde waren nach der linken Seite gerichtet. Wir sahen nicht gleich, um was es sich handelte. Es war ein sumpfiger Rhizophorenwald, durch den wir ritten, nicht so dicht, wie Mangrove- und Manglewälder gewöhnlich zu sein pflegen. Die Stämme, welche der Art Konjugata angehörten, standen ziemlich weit auseinander, schickten aber doch eine solche Menge von Luftwurzeln von oben herab, daß die Aussicht eine sehr gehinderte war. In die angegebene Richtung schauend, bemerkte ich erst nach ziemlich beträchtlicher Zeit, daß eine dieser Luftwurzeln sich ganz eigenartig bewegte. Halef sah es zu derselben Zeit. Er erschrak, streckte den Arm aus und rief:

"Eine Schlange! Eine Riesenschlange! Wenigstens zehn Meter lang! Siehst Du sie, Effendi?"

"Ja," antwortete ich. "Es ist eine Peddapoda."

"Ich werde sie sofort niederschießen, sonst verschlingt sie uns mitsamt den beiden Pferden!"

Er nahm sein Gewehr zur Hand, um seinen Entschluß auszuführen. Der gute Halef übertrieb auch hier, wie so oft. Man behauptet zwar, daß die Tigerschlange sechs Meter und noch länger werde, diese aber war ganz sicher noch nicht einmal vier Meter lang. Daß sie uns beide mitsamt den Pferden verschlingen werde, war eine jener Vergrößerungen, die der kleine Hadschi liebte. Die Riesenschlange hing mit dem Schwanze oben an einem Baume und bewegte mit nach unten gerichtetem Kopfe den Körper in einer Weise, als ob sie irgend einen Gegenstand in der Luft zu fangen habe. Sie tat das jedenfalls in der Aufregung über unser Erscheinen. Wir konnten zwar nicht sehen, wohin ihr Auge blickte, aber daß sie uns bemerkt hatte, verstand sich ganz von selbst. Ich nahm den Henrystutzen vom Rücken, um nachzuhelfen, falls Halefs Kugel nicht treffen sollte. Es war kein leichtes Zielen, denn der Kopf der Peddapoda blieb keinen Augenblick an derselben Stelle. Darum ging der Schuß des Hadschi fehl, und auch ich traf erst beim zweiten Male. Die durch den Kopf geschossene Schlange schlug mit dem Vorderkörper einen konvulsivisch zuckenden Kreis, hing dann eine halbe Minute lang in gerader Linie vom Baume und fiel dann, indem die Ringel des Schwanzes sich lösten, von ihm zur Erde nieder. Wir ritten hin und stiegen von den Pferden.

"Heil uns!" rief Halef. "Das erste Abenteuer im Lande Ardistan ist überstanden, ohne daß es uns das Leben gekostet (Seite 18A) hat! Das Ungetüm ist tot! Sein Leben ging dahin, sobald wir kamen! Es wollte uns fressen, nun aber wird es von uns gefressen! O Glück, o Heil, daß es keine Beine hat, sonst wäre es aus Angst vor unserer Tapferkeit im Galopp davongelaufen! Schau es Dir an, Sihdi, dieses Ungeheuer, diesen Drachen, dieses Scheusal, dieses Ungetüm, diese Ausgeburt der Hölle, diesen Racker, diesen Hundesohn, diesen Abschaum, Schuft und Menschenfresser! Siehst Du das Maul, und siehst Du die Zähne? Weißt Du, daß so eine Schlange einen Ochsen verschlingt - - -"

"Das wohl nicht, mein lieber Halef," unterbrach ich lachend seine Rede.

"Wenn nicht einen Ochsen, so doch wenigstens eine Kuh!" behauptete er.

"Nein!"

"Ein Kalb!"

"Auch nicht!"

"Einen Hammel!"

"Selbst diesen nicht! Und an einen Menschen wagt sie sich höchstens aus Versehen,"

"Wirklich?"

"Ja."

Da machte er ein sehr enttäuschtes Gesicht und klagte:

"Aber so ist es ja gar keine Heldentat, die wir ausgeführt haben!"

"Leider nicht."

"Wie schade, jammerschade! Konnte das Vieh nicht zwanzigmal länger sein und zehnmal dicker, als es ist? Dann würde auch unser Ruhm zwanzigmal länger und zehnmal dicker sein! Wozu haben wir sie nun erschossen? Kann man sie essen?"

"Ja. Die Neger essen Schlangen gern."

"Allah behüte mich! Ich bin kein Neger!"

"So nehmen wir die Haut."

"Wozu?"

"Man macht Schuhe und Taschen daraus, auch Satteldecken."

"Satteldecken? Das ist mir recht! Bei uns daheim gibt es keine Riesenschlangen. Wenn ich da mit einer solchen Satteldecke komme, preisen mich alle Völker, und mein Lob erschallt über alle Länder der Erde. Das Fell will ich haben, das Fell!"

Wir zogen der Schlange mit Hilfe unserer Messer die rötlich braun gefleckte Haut vom Leibe und setzten dann den unterbrochenen Ritt fort. Die Haut hatte Halef an sich genommen; er betrachtete sie als seine Beute, obgleich die Schlange durch meine Kugel erlegt worden war. Ich hatte nichts dagegen. Das Zusammentreffen mit der Peddapoda hatte mir mehr gebracht als nur eine Schlangenhaut, nämlich die Freude über meinen Syrr, der beim Anblick der Reptilie keine Spur von Angst gezeigt hatte, obgleich er einem solchen Tier noch nie begegnet war. Diese Furchtlosigkeit war für mich von hohem Werte.

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, eine zusammenhängende und lückenlose Beschreibung unseres Rittes zu geben. Ich habe lediglich das zu erzählen, was für den Grundgedanken, den ich verfolge, von Bedeutung ist, und kann daher nur sagen, daß wir volle drei Tage lang die Küstenniederung durchquerten, ohne daß etwas Wichtiges oder auch nur Erwähnenswertes geschah. Ich sorgte während dieser ganzen Zeit zwar dafür, daß wir die Richtung nach dem Binnenlande einhielten, stellte mich dabei aber so, als ob Halef der Führer sei und ich ihm ohne eigenen Willen folgte. Ich freute mich schon im voraus auf das Gesicht, welches er machen würde, sobald es sich herausstellte, daß er der gar nicht sei, für den er sich hielt.

Für Essen brauchten wir in diesen Tagen nicht zu sorgen; wir waren von Schakara mit Vorrat versehen worden. Geschlafen wurde an geeigneten Stellen des Waldes, wo es trockenen Boden und möglichst wenig Mücken gab, die überhaupt eine große Plage dieser tiefliegenden Gegend bildeten. Am Morgen des vierten Tages veränderte sich das Land. Es wurde trockener, und der Urwald bekam Bäume, welche die Nässe weniger lieben als der bisherige Mangrovewald. Es bildeten sich wiesenartige, freiliegende, grüne Flächen, die unsern Pferden gutes und wohlschmeckendes Futter boten. Wir kamen an lebendige Wasserläufe, die man getrost als Bäche bezeichnen konnte. An geeigneten (Seite 18B) Stellen bildeten sich von ihnen Teiche und Seen, an und in denen es ein außerordentlich reges Tierleben gab. Auch Menschen schienen hier zuweilen zu verkehren; wir fanden Spuren davon. Diese Spuren waren alt, schon fast ganz verwischt. An einer Stelle aber, wo sie durch hohes Gras führten und sich in demselben kreuzten, als ob hier sehr eifrig nach irgend etwas gesucht worden sei, schienen sie jüngeren Datums zu sein, so daß ich es für angezeigt hielt, sie zu untersuchen. Ich hielt darum mein Pferd an.

"Warum nicht weiter?" fragte Halef.

"Siehst Du nicht diese Spuren?" antwortete ich, indem ich auf sie deutete.

"Natürlich sehe ich sie! Sie scheinen von Hirschen oder wilden Sauen zu stammen."

"Hirsche? Wilde Sauen? Halef, schäme Dich!"

"So meinst Du wohl, von Menschen?"

"Ganz selbstverständlich. Das sieht man doch gleich bei dem ersten Blick!"

"So müssen wir sie wohl prüfen?"

"Allerdings."

"So bitte ich Dich, abzusteigen."

"Ich? Warum ich?"

"Sonderbare Frage! Das Prüfen von Spuren ist doch bisher immer Deine ganz besondere Arbeit gewesen. Warum nun plötzlich jetzt nicht mehr?"

"Das Spurenlesen ist sehr schwer und außerordentlich verantwortungsvoll. Ein Irrtum kann da sehr leicht das Leben kosten. Darum wird das stets nur von den Hauptpersonen befolgt. Ich aber bin doch nur Nebenperson!"

Sein Gesicht wurde um einige Zentimeter länger.

"Hm!" brummte er verlegen. "Habe ich etwa behauptet, daß ich auch in Beziehung auf das Fährtenlesen die Hauptperson bin?"

"Eine solche Behauptung war gar nicht nötig. Zum Verständnis so verworrener Spuren, wie diese hier sind, gehört eine Klugheit, die kein Mensch besitzen kann, dem die Dummheit angeboren ist. Also bist Du es, der abzusteigen hat. Vorwärts, Halef, vorwärts! Bedenke, wie gefährlich die Ussul sind, die Du mir beschrieben hast! Wenn solche Riesen hier herumliefen! Oder gar, wenn wir ihnen begegneten! Also steig ab, steig ab! Wir müssen unbedingt erfahren, was für Menschen es sind, von denen diese Fußeindrücke stammen!"

Da schwang er sich aus dem Sattel und begann die Arbeit, die ihm eine verhaßte war, weil er es niemals so weit gebracht hatte, Schluß auf Schluß zu bauen. Diese Kunst aber wird von einem jeden verlangt, der sich anmaßt, Spuren und Fährten lesen zu können. Auch ich stieg ab, doch nicht, um mich an dieser Arbeit zu beteiligen, sondern um es mir im Gras bequem zu machen und ihm zuzusehen.

Es war spaßhaft, wie unbeholfen er sich anstellte. Er hatte oft gesehen, mit welcher Sorgfalt ich so eine Spur behandelte. Sie durfte nur betrachtet, nicht aber berührt oder gar vernichtet werden. Er aber lief auf all diesen Eindrücken hin und her, trat sie nieder und löschte sie aus, ohne zu bedenken, daß dies ein unverzeihlicher Fehler war. Und als er damit fertig war, berichtete er:

"Sihdi, Du hast Unrecht, vollständig Unrecht. Das sind keine Menschen gewesen!"

"Was sonst?"

"Elefanten! Oder Nashörner! Oder Nilpferde! Solche große, mächtige Tiere!"

"Warum das?"

"Wegen der großen Stapfen. Solche Füße kann nur ein Elefant oder Hippopotamus haben!"

"Wie viel Beine hat ein Elefant?"

"Natürlich vier."

"So stimmt es nicht. Die Untiere, die hier herumgelaufen sind, haben nicht vier, sondern nur zwei Beine gehabt."

"Das muß ich bezweifeln! Wie willst Du das überhaupt wissen? Man sieht doch nicht die Tiere, sondern nur die Stapfen ihrer Füße; es ist also im höchsten Grade fraglich, ob zwei Stapfen oder ob vier Stapfen zu einem Exemplar gehören. Du stimmst für zwei, ich aber für vier, und es ist Dir doch (Seite 19A) wohl bekannt, daß die Mehrzahl stets den Sieg behält. Es sind also Elefanten oder Nashörner, nicht aber Menschen!"

"Hast Du die Spuren nicht vielleicht auch daraufhin betrachtet, ob Sporen an den Stiefeln waren?"

"Sporen? An den Stiefeln?" Er brach in ein sehr herzlich gemeintes Gelächter aus und fuhr, immer lachend, fort: "Seit wann tragen die Elefanten Stiefel? Und gar mit Sporen daran!"

"Seit sie auf Deinen Nilpferden reiten," antwortete ich, indem ich in das Lachen einstimmte. "Übrigens bist Du ja noch gar nicht fertig mit Deiner Arbeit. Bis jetzt hast Du bestimmt, ob es Menschen oder ob es Tiere waren. Nun gilt es, noch zu erfahren, woher sie gekommen und wohin sie gegangen sind."

"Und da soll ich nachsehen?"

"Ganz selbstverständlich!"

"Sihdi, wenn Du mir doch dabei helfen wolltest!" bat er.

"Nein," antwortete ich.

"Warum nicht?"

"Weil ich dadurch Deine angeborene Klugheit beeinträchtigen würde. Also geh!"

Ich sagte das in etwas scharfem Tone. Darum drang er nicht weiter in mich, sondern bemerkte nur:

"So will ich wenigstens meine Gewehre ablegen, die mich in der Bewegung hindern, wenn ich suche."

Er hatte seine lange, arabische, reich mit Elfenbein ausgelegte Flinte und das von mir geschenkt erhaltene europäische Doppelgewehr an Riemen über den Rücken. Er nahm sie ab und schnallte sie quer über den Sattelknopf. Dann machte er sich von neuem auf die Suche. Um das neue Kommando zu verstehen, muß man sich ein Bild der Gegend machen können, in der wir uns befanden.

Von da aus, wo ich bei unseren Pferden im Grase saß, lag rechts und links ziemlich dichtes Gebüsch, an welches sich zu beiden Seiten der hohe Wald anschloß. Grad vor mir gab es die freie, grasige Lichtung, auf welcher Halef jetzt die Spuren untersuchte. Sie zog sich vielleicht zweihundert Schritte lang gerade aus, stieß dann an den Wald und ging nach links, wo sie hinter dem Gebüsch verschwand. Die Spuren kamen rechts von mir aus dem Gebüsch heraus, gingen, indem sie sich verschiedentlich durchkreuzten, über den ganzen Grasplatz hin und bogen dann mit ihm um die linke, hintere Ecke des Gebüsches. Es konnten drei bis vier Personen sein, die da gegangen waren. Das Durch- und Übereinanderlaufen der Fußeindrücke ließ mich vermuten, daß man hier nach Blumen, eßbaren Wurzeln oder sonst etwas dem Ähnliches gesucht habe. Die Stapfen sahen allerdings sehr groß aus, auch schon von weitem. Das lag zunächst an der Höhe des Grases, jedenfalls aber auch an der Art der Fußbekleidung, die man getragen hatte. Meine Frage nach Stiefel und Sporen war ganz selbstverständlich nicht ohne guten Grund gewesen. Es ist immer von großer Wichtigkeit, ob Leute, die man vor sich hat, beritten sind oder nicht.

Halef hielt es für nötig, vor allen Dingen nachzuforschen, wohin die Spuren führten. Es war seine Ansicht, daß man dann wohl gar nicht zu wissen brauchte, woher sie gekommen waren. Er verfolgte sie jetzt also über die ganze Lichtung hin, soweit ich sie überblicken konnte, und verschwand sodann nach links, hinter der schon erwähnten Ecke des Gebüsches. Ich hielt es für gar kein Wagnis, ihn in dieser Weise sich selbst zu überlassen. Er besaß zwar nicht den weiten, fernschauenden Blick und die alles scharf zusammenfassende Kombinationsgabe, ohne die man eine Reise, wie die unserige war, nicht unternehmen kann, aber er war doch klug, er war sogar pfiffig, und ich nahm keineswegs an, daß er mit Eingeborenen zusammentreffen werde, denn die Fußeindrücke waren zwar noch jung, aber doch nicht mehr so neu, daß man die Anwesenheit der betreffenden Personen hier noch vermuten konnte. Ich war also ganz ohne alle Sorge um ihn, zumal es sich doch ganz von selbst verstand, daß er sich nicht allzuweit entfernen und sofort zu mir zurückkehren werde, sobald ihm etwas Verdächtiges in die Augen fallen sollte.

(Seite 20A) Halef war noch nicht lange verschwunden, als ich von Syrr, meinem Rappen, ein warnendes Zeichen bekam. Er stellte sich ganz nahe an mich heran, hob den kleinen, feinen Kopf, legte die Ohren vor und sog die Luft mit jenem leisen, sich stoßweise unterbrechenden Geräusch durch die roten Nüstern, welches ein Beweis des beginnenden Verdachtes ist. Assil Ben Rih, das Pferd Halefs, stutzte sofort auch. Beide Tiere schauten nach rechts, und zwar nach der Stelle, wo die Spuren aus dem Gebüsch traten. Sollten noch andere Leute desselben Weges kommen? Ich strengte mein Gehör an, hörte aber nichts. Ich legte den Kopf auf die Erde und lauschte. Da hörte ich nun allerdings ein Geräusch, welches sich zu nähern schien, denn es war leise, wurde aber stärker. Es klang wie langsame, schwere Schritte, die ein Blätterrauschen begleitete. Ich richtete mich wieder in sitzende Stellung auf. Jetzt war das Geräusch zu vernehmen, auch ohne daß mein Ohr die schalleitende Erde berührte. Es näherte sich wirklich. Es wurde stärker und immer stärker, zuletzt so stark, daß ich allerdings an Halefs Elefanten, Nashörner und Nilpferde dachte. Das Gezweig rauschte und schlug klatschend zurück; Zweige knackten, stampfende Schritte dröhnten. Aber diese Schritte waren wohl kaum die Schritte eines wilden Tieres. Sie klangen in genauen Intervallen, wie abgemessen, dabei behaglich, behäbig, als ob ein Riese in vortrefflicher Stimmung durch den Wald spazieren gehe und gar nicht darauf achte, daß er dabei die Büsche und den Boden zerknattert und zerstampft. Ich stand aber doch nun auf und griff nach meinen Gewehren.

Da teilte sich das Gesträuch weit auseinander, und die lebendige Ursache des Geräusches trat vor meine Augen. Man lächle nicht, wenn ich sage, daß ich bei dem Anblicke, der sich mir da bot, ganz unwillkürlich an einen heimatlichen Künstler denken mußte, nämlich an Arnold Böcklin, den berühmten Maler der rätselnden Groteska. Seine Kentauren, sein Einhorn im >Schweigen im Walde< traten mir in die Erinnerung, als ich das Wesen, oder vielmehr das Doppelwesen erblickte, welches mich ganz in derselben Weise anstaunte, wie es von mir angestaunt wurde. Oder waren es zwei verschieden Wesen, von denen das eine auf dem anderen saß? Ja, richtig! Ein Reiter! Aber was für einer? Und das Tier, auf dem er saß, war das ein ausgeartetes Nilpferd, ein entarteter Tapir, ein vorweltlicher Riesenhirsch ohne Geweih oder ein überfüttertes Kamel mit Elefantenbeinen und weggefallenem Höcker? Es hatte von alledem etwas; aber bei näherer Betrachtung konnte ich die Idee nicht von mir weisen, daß diese zoologische Merkwürdigkeit den entfernten Zweck verfolgte, ein Pferd zu sein. Hufe hatte es, und zwar ganz richtige, wirkliche Pferdehufe, aber von einer Größe, die mir noch nie vor die Augen gekommen war. Der Kopf glich dem eines Riesenelkes, besonders in Beziehung auf das Maul, oder richtiger ausgedrückt, auf die Schnauze. Die (Seite 20B) Mähne war außerordentlich reich und lang, aber von so kräftiger Struktur, daß sie nicht aus Haaren, sondern aus Bindfaden zu bestehen schien. Ihre Farbe, wie überhaupt die Farbe des ganzen Tieres, war schwer zu bestimmen, denn sie war unter einem dicken, panzerartigen Schmutzüberzug vollständig verschwunden. Solche Schlammfutterale hatte ich an den nordamerikanischen Büffeln gesehen, die sich in Schmutz zu wälzen pflegten, um den Insektenstichen zu entgehen. Ganz besonders erwähnenswert an dieser auffälligen Kreatur waren die Augen und der Schwanz. Ob der letztere lange Haare hatte oder nur eine Quaste an der Spitze, das konnte ich nicht sehen. Viel Haare aber waren es jedenfalls nicht, und das Wenige, was man sah, war mit einer solchen Kruste von Schorf, Grind und Unrat überzogen, daß man viel eher an einen verunglückten Biberschwanz als an das edle Behänge eines Pferdes denken konnte. Und das Erstaunlichste hierbei war, daß dieser Schwanz trotz seiner Festigkeit und Kompaktheit in einer unausgesetzten, nicht endenwollenden Bewegung war. Er hing nie still, sonder regte und rührte sich immerfort, und zwar meist im Kreise. Es sah ganz so aus, als ob ein unsichtbarer Musikant das Pferd für einen Leierkasten und den Schwanz für den Drehling hielt. Dieser Unsichtbare stand nun hinter dem Tiere und drehte den Schwanz mit einer Begeisterung und einer Ausdauer, die geradezu ideal zu nennen war. Und eben weil man ihn nicht sah, sondern nur den immer in einer und derselben Richtung kreisenden Schwanz, machte diese Bewegung auf den Beschauer einen Eindruck, der ganz unmöglich zu beschreiben ist. Von ganz derselben Rastlosigkeit waren auch die beiden Augen. >Augen< ist eigentlich Übertreibung, es muß >Äuglein< heißen. Sie waren viel, viel zu klein für den Koloß, dessen Körper das Fleisch von zwei ausgewachsenen Ochsen in sich vereinigte. Diese Äuglein waren ganz unbegreiflich ruhelos. Es erschien fast als unmöglich, sagen zu können, wohin sie schauten. Nach rechts, nach links, nach oben, nach unten, nach hüben, nach drüben, überallhin schauten sie, und zwar, wie es schien, in demselben Augenblick. Man sah immerfort das Weiße des Augapfels. Das wirkte so außerordentlich ungewohnt, so pfiffig, ja fast beängstigend. Es sah aus, als ob in diesem dicken, plumpen, ungeschlachten Körper eine Seele wohne, die während ihres früheren Lebens irgend einem Tausendkünstler oder Geheimpolizisten angehört habe. Gleich beim ersten Blick, den man auf diese überall allgegenwärtigen Äuglein warf, mußte man sich sagen: Mit dieser Bestie darf man nur in Liebe verkehren, über das Ohr hauen läßt sie sich nicht.

Doch nun zu dem anderen Wesen, welches als Reiter auf dem soeben beschriebenen Tiere saß!

Das war ein Mensch, ja, aber was für einer? Wer ihn sah und die Bibel kannte, der mußte an Goliath, den Philister, denken, von dem die Heilige Schrift erzählt, daß er sechs Ellen (Seite 21A) und eine Hand breit hoch gewesen sei. "Und er hatte einen ehernen Helm auf seinem Haupte und war mit einem schuppichten Panzer angetan, und das Gewicht des Panzers war fünftausend Seckel Erz. Und er hatte eherne Schienen an seinen Beinen, und ein eherner Schild bedeckte seine Schultern. Und der Schaft seines Spießes war wie ein Weberbaum, und selbst das Eisen seines Spießes hielt sechshundert Seckel Eisen."

Dieser Goliath war höchst wahrscheinlich nicht größer und auch nicht stärker gewesen, als der Reiter, den ich jetzt vor mir sah und der um anderthalben Kopf länger war als ich, mit dementsprechender Schulterbreite und Muskulatur. Er trug zwar keinen ehernen Helm auf seinem Haupte und keinen erzenen Panzer um den Riesenleib, aber die Lanze in seiner rechten Faust glich auch einem Weberbaum, und das Messer, welches in seinem Gürtel steckte, hatte eine derartige Form und Schwere, daß es zugleich als Beil, wenn nicht gar als Axt gebraucht werden konnte. Auf dem Rücken hing ihm ein sehr gewichtiger, aus Krokodilsrücken gefertigter Bogen und darunter ein für Wurfspeere und Pfeile undurchdringlicher Köcher aus Schildkrötenschale, der infolge seiner Größe auch als Schild zu verwenden war. Die Füße steckten bis herauf an das Knie in dicken, stiefelähnlichen Baströhren, die dadurch festeren Halt bekamen, daß man sie mit breiten Lederriemen umwunden hatte. Die Sohlen waren von einer solchen Länge und Breite, daß sie die Größe der Stapfen im Grase mehr als hinreichend erklärten. Die Oberschenkel steckten in sehr festen, ledernen Hohlzylindern, die man unter Zuhilfenahme der Phantasie als Hose bezeichnen könnte. Von Leder war auch die Bekleidung des Leibes, eine Art von Koller, welches vorn sehr weit offen stand und eine vollständig und sehr dicht behaarte Brust sehen ließ. Man hatte bei diesem Anblicke das Gefühl, daß auch der ganze übrige Körper in der gleichen Weise behaart sein müsse. Dementsprechend war der unbedeckte Kopf durch einen dunklen Haarwald geschützt, der wie eine Mähne bis halb über den Rücken herunterhing, und vom Gesicht waren nur einige kleine Stellen Haut zu sehen; das andere alles war Bart, der vorn fast noch weiter herniederreichte als hinten das Haar des Hauptes. Die Augen dieses Mannes konnten, genau wie diejenigen seines Pferdes, nur als >Äuglein< gelten; sie waren viel zu klein für diese Hünengestalt, für diesen Riesenkopf und für dieses breite, ja fast überbreite Gesicht, in dessen Behaarung sie fast ganz verschwanden. Einen Sattel gab es nicht, Steigbügel auch nicht, und das Zaumzeug bestand sehr einfach aus einem Riemen, der dem Pferde um das Maul geschlungen war, so daß der Reiter die beiden Enden in den Händen hatte. Metallteile gab es auch nicht. Das war sehr bequem für das Tier, nicht aber für den Reiter, dem in dieser Weise weiter nichts als nur der Schenkeldruck zur Verfügung stand, sich das Pferd gefügig zu machen.


Inhaltsverzeichnis

Übersicht der verfügbaren May-Texte.

Titelseite KMG

Impressum Datenschutz