"O nein, gewiß nicht. Es wäre vielmehr ein Wunder, wenn es ihn nicht gäbe. Aber hoffentlich sondert auch Ihr diese Kranken ab."

"Natürlich, man weiß es gar nicht anders."

"Und mit solchen Aussätzigen hat man den Dschirbani zusammengesperrt?"

"Immer und jahrelang!"

"Das klingt ja genau so, als ob man gewünscht hätte, daß er aussätzig werde!"

Diese Worte entfuhren mir gewissermaßen in der Eile. Kaum hatte ich sie ausgesprochen, so hielt die Frau des Scheiks ihr Pferd an, wendete sich mir voll zu, reichte mir die Hand und sagte:

"Ich danke Dir, Effendi, ich danke Dir! Du hast da ganz meinen Gedanken ausgesprochen, der mich bis jetzt gepeinigt hat. Er hat mich oft mit dem Scheik entzweit, der mir sonst alles zuliebe tut, aber grad dieses eine nicht zu können scheint, nämlich den Sahahr einer derartigen Rache für fähig zu halten. So oft es dem Dschirbani gelang, der entsetzlichen Gefangenschaft zu entfliehen, habe ich im stillen gejubelt; doch die Freude dauerte immer nur kurze Zeit, dann brachte man den Armen gebunden und gefesselt wieder, oder man fand ihn, zum Tode erschöpft, im tiefsten Walde liegen. Kein Ussul getraute sich, ihn bei sich aufzunehmen, und wenn der Unglückliche versuchte, sich in das Land der Tschoban hinüberzuretten, so galt er bei diesen erst recht für ansteckend krank und wurde von ihnen wieder über die Grenze herübergetrieben. Nun hat man ihn gar in den Stachelzwinger gesperrt und läßt ihn von den Blut- und Bärenhunden bewachen. Da gibt es kein Entrinnen, so lange er überhaupt lebt!"

"Oho!" rief da der kleine Hadschi aus.

"Was?" fragte sie ihn. "Wozu dieser Ruf?"

"Ich glaube nicht, daß es keine Hilfe gibt."

"Wer sollte da helfen?"

"Mein Effendi! Es gibt weder einen Blut- noch einen Bärenhund, vor dem er sich fürchten würde. Wenn er den Dschirbani aus dem Stachelzwinger heraus haben will, so holt er ihn heraus; darauf kannst Du Dich verlassen!"

(Seite 65A) "Wirklich?" fragte sie.

"Ja, wirklich!" nickte er. "Auch ist mein Sihdi doch nicht allein da, sondern ich stehe an seiner Seite und helfe ihm. Du willst mich zwar verachten, aber wenn es darauf ankommt, diesem armen Enkel eines rachsüchtigen Zauberers Hilfe zu bringen, so glaube ich, wohl imstande zu sein, mir Achtung zu verschaffen."

Inzwischen war der Sahahr in seinem Zorne weit vorausgeritten. Als Taldscha jetzt ihr Pferd anhielt, um mir die Hand zu geben, hielt auch ich und Halef an; der Scheik aber ritt in dem bisherigen Schritte weiter. So befanden wir uns für diese kurze Zeit mit seiner Frau allein, und so kam es, daß wir mit ihr jetzt einige Worte wechseln konnten, die er nicht hörte.

(Seite 66A) Taldscha warf zuerst einen forschenden Blick auf Halef, dann sagte sie in ihrer aufrichtigen, fast möchte ich sagen, hochherzigen Weise: "Es war falsch von mir, Dich verachten zu wollen. Ich will Euch nicht verhehlen, daß ich auch heute noch auf der Seite des Dschirbani stehe, doch hat der Sahahr in diesem Falle die größere Macht in den Händen, weil er so klug gewesen ist, diese Angelegenheit auf das religiöse Gebiet hinüberzuspielen, wo es nicht geraten ist, sich ihn zum Feinde zu machen. Wie dankbar würde ich Euch sein, wenn Ihr mir helfen könntet, mir und ihm!"

"Wir wollen!" versprach Halef. "Ich bin während Eurer ganzen Unterredung still gewesen; aber es ist mir kein Wort davon entgangen. Ich bin weder ein Arzt, noch ein Priester, noch ein Zauberer, aber Allah hat mir gewiß nicht weniger Verstand in den Kopf gelegt als Euerm Sahahr. Und dieser Verstand sagt mir, daß dem Dschirbani großes Unrecht geschehen ist und heute noch geschieht. Ich bin bereit, alles für ihn zu tun, was mir möglich ist, und wenn es so ist, wie ich mir es denke, so brauche ich gar keinen anderen Menschen dazu, sondern mache es ganz allein!"

Er sagte das in seinem überzeugungsvollsten Tone. Sie schaute ungläubig auf den kleinen Kerl hernieder und fragte:

"Du ganz allein! Gegen die Stachelwände? Gegen die Bärenhunde? Gegen den Willen des Scheiks? Gegen die Macht des Sahahr? Und gegen die vielen Menschen alle, die an ihn glauben und auf ihn schwören? Du, der Fremde, der heute erst zu uns gekommen ist und uns also noch gar nicht kennt! Ja, der sich eigentlich als unsern Gefangenen zu betrachten hat! Und Du sprichst davon, ehe Du unsere Stadt auch nur gesehen hast, einen Gefangenen von dort zu befreien!"

Da lachte Halef fröhlich und sagte:

"Wir Eure Gefangenen? Es ist gewiß nicht höflich, eine Frau Deines Ranges auszulachen, aber wenn Du diese Worte wiederholtest, würdest Du mich zwingen, diese Unhöflichkeit dennoch zu begehen. Ich habe es weder mit den Stacheln und Bluthunden noch mit dem Scheik und den Ussul, die an ihren Zauberer glauben, zu tun, sondern ganz allein nur mit diesem Zauberer selbst. Sage mir, Herrin der Ussul, ob der Sahahr den Tod verachtet?"

"Das tut er keineswegs; er liebt im Gegenteil das Leben sehr," antwortete sie.

"Ah! Hast Du gesehen, was für einen Eindruck es auf ihn machte, als ich ihm sagte, daß ich mit keinem anderen kämpfen wolle, als nur mit ihm?"

"Ich habe es gesehen."

"Es schien ihm gar nicht angenehm zu sein."

"Gewiß nicht. Er ist überhaupt niemals ein Held im Kampf gewesen, und seit er trotz seiner überlegenen Körperstärke damals von dem Dschinnistani besiegt worden ist, hat sich (Seite 66B) seine Vorsicht gesteigert. Er hat die Wirkung Eurer Waffen kennen gelernt, und es konnte ihm nicht entgehen, daß Ihr alles anders, besser und erfolgreicher als wir, in die Hand zu nehmen wißt. Ich zweifle gar nicht daran, daß er sich vor einem Kampfe mit Dir fürchtet."

"Und dieser Kampf ist unvermeidlich?"

"Eigentlich, ja. Aber es wurde schon davon gesprochen, ihn Euch zu erlassen, da Ihr ja genügsam bewiesen habt, daß Ihr würdig seid, Freunde und Verbündete der Ussul zu sein."

"Wie gütig! Wie freundlich!" scherzte Halef. "Aber die Sache liegt für uns ganz anders, als für Euch. Wir beanspruchen dieselben Rechte wie Ihr. Das heißt, daß der Sahahr zu beweisen hat, daß er würdig ist, unser Freund und Verbündeter zu sein. Wenn er so furchtsam ist, uns den Kampf schenken zu wollen, so sind dagegen wir mutig genug, ihn zu bestehen!"

"Welch ein Gedanke!" wunderte sie sich. "Aber Du hast ganz recht."

"Und höre mich weiter! Es ist Allahs Gebot, daß der Mensch in genau derselben Weise bestraft wird, in der er gesündigt hat. Als der Sahahr damals mit dem Dschinnistani kämpfte, wagte er es, den Kampf bis auf Leben und Tod zu treiben. Er wußte, daß seine Körperkräfte größer waren, als die des anderen, und war so töricht, die Kräfte der Seele und des Geistes nicht in Berechnung zu ziehen. Darum wurde er besiegt. Das war die einfache Folge, aber noch nicht Strafe. Diese eigentliche Strafe kommt erst jetzt, wo er einen ganz ähnlichen Kampf bestehen soll. Ich verlange nämlich genau so wie damals er, daß es um Tod oder Leben gehe. Was daraus folgt, kannst Du Dir denken!"

"Was?" fragte sie, in hohem Grade gespannt.

Halef antwortete:

"Entweder bittet mich der Sahahr, von diesem Verlangen abzustehen, dann werde ich es nur unter der einen Bedingung tun, daß er dem Dschirbani die Freiheit gibt. Oder er schämt sich, so feig zu sein, und geht dann auf meine Forderung ein. Nun, so kommt es eben zu einer Entscheidung auf Leben und Tod, und mein Effendi wird mir gern bezeugen, daß da nur ein einziger Ausgang möglich ist, nämlich der, daß der Sahahr stirbt. Ist der aber tot, dann wird wohl niemand den Dschirbani länger quälen wollen."

"Diese Deine Gedanken sind nicht übel," erklärte sie; "aber der letzte ist falsch. Nämlich der Dschirbani würde auch nach dem Tode des Sahahr für ansteckend räudig gelten. Man glaubt daran, und was sich im Kopfe solcher Menschen festgesetzt hat, das ist nur schwer zu beseitigen. Ich spreche mit Euch noch weiter über diese Sache. Jetzt müssen wir dem Scheik nacheilen, er wartet."

"Noch eines möchte ich gern wissen," bat Halef.

(Seite 67A) "Und das ist?"

"Was ist aus dem Dschinnistani, dem Vater des Dschirbani, geworden?"

Im Weiterritte antwortete sie:

"Er ritt jährlich einmal, genau zur Zeit der Sonnenwende, hinauf nach Dschinnistan zu denen, die ihn liebten. Dort holte er Bücher, die er las und aus denen er Weib und Kind unterrichtete. Von dort brachte er nach und nach auch jene weißen Steine mit dunklen Worten mit, die heut auf der Insel der Heiden zu sehen und zu lesen sind. Der Sahahr war ganz dagegen, daß diese Steine aufgerichtet würden. Er bezeichnete ihre Inschrift als die größte Verrücktheit, die es geben kann; aber weil die Insel Eigentum des Dschinnistani geworden war und seinem Sohne heute noch gehört, hatte der das Recht, dort zu tun, was ihm beliebte. Er stellte die Schriftsäule in die Nähe seines Lotosweihers und beschattete sie mit duftenden Nelken- und Magnolienbäumen."

"Warum hast Du diesen Ort die Insel der Heiden genannt?"

"Weil er eine Insel ist und weil der Dschinnistani nach unsern Begriffen ein Heide war, denn wer nicht an den Gott der Ussul glaubt, der ist ein Heide."

"So ist also auch sein Sohn, der Dschirbani, nach Deiner Ansicht ein Heide?"

"Ja."

"Und dennoch liebst Du ihn?"

"Ganz gewiß! Ist es bei Euch wohl anders? Haßt und verfolgt Ihr Eure Heiden? Haltet Ihr sie vielleicht gar für schlechtere, für minderwertige Menschen?"

"Ja, das tut der Islam allerdings."

"Wie falsch!"

"Falsch? Ist es wohl richtiger, sie für räudig oder für verrückt zu erklären?"

Die Frau des Scheiks ging in echter Frauenweise über diese Frage hinweg, als hätte sie sie gar nicht gehört, und sagte:

"Du wolltest wissen, was aus dem Dschinnistani geworden ist, und ich teile Dir mit, daß er jährlich hinauf nach seiner Heimat geritten ist. Einst kehrte er nicht mehr zurück. Man hat ihn nie wieder gesehen. Alle Nachforschungen sind vergeblich gewesen. So war man gezwungen, anzunehmen, daß er unterwegs in die Hände der Tschoban gefallen ist, die ihn ermordet haben. Hierüber ist seine Witwe, meine Freundin, vor Schmerz und Gram zugrunde gegangen. Ihr Sohn hat sie auf der Insel der Heiden bestattet und ihr mitten unter Blumen einen Stein gesetzt, auf dem geschrieben steht:

>Das Erdenleben ist ein Läuterungsfeuer, aus dem Dich nur der Glaube befreien und zum wahren Menschen erheben kann!<

Wenn Ihr es wünschet, werde ich Euch nach dieser Insel führen, um Euch das Grab und die Schriftsäule zu zeigen. Jetzt aber sprechen wir nicht mehr davon; der Scheik hat es nicht gern."

Wir hatten diesen nämlich jetzt eingeholt und erreichten bald hernach auch den Sahahr, der sich inzwischen beruhigt hatte und nun über die Raschheit seines Temperaments verlegen zu sein schien. Die sich jetzt entspinnende Unterhaltung vermied den bisherigen Gegenstand. Ich beteiligte mich fast gar nicht an ihr, denn, was ich über den Dschirbani gehört hatte, beschäftigte meine Gedanken und Empfindungen vollständig. Ich begann zu ahnen, daß sich mir hier bei den Ussul eine Welt erschließen werde, welche bis jetzt der meinigen größtenteils fremd gewesen war.

Etwas über die Mitte des Nachmittages kam uns eine Menge Reiter entgegen, die uns von der Stadt aus zu begrüßen hatten. Es waren die Ältesten und allerlei Beamte oder sonstwie Leute, die irgend eine nicht ganz gewöhnliche Stellung inne hatten. Sie waren über uns unterrichtet, denn sie hatten die gestrige Botschaft ihres Scheiks erhalten. Daß der >Erstgeborene< der Tschoban ergriffen worden sei, war für sie eine Neuigkeit von allergrößter Wichtigkeit. Sie waren uns entgegengeritten, um ihn so bald wie möglich zu sehen. Und nicht minder groß war ihr Interesse für die beiden Fremden, denen sie diesen Fang zu verdanken hatten. Sie sahen uns wie Wunderwesen an, und als ich während des Weitermarsches gelegentlich einige gut gezielte Schüsse abfeuerte, wuchs ihre Bewunderung ins (Seite 67B) Riesenhafte. Ich meinerseits verhielt mich zurückhaltend gegen sie; ich brachte ihnen zunächst nur ein allgemeines, wissenschaftliches Interesse entgegen. Sie zeichneten sich alle durch ungewöhnliche Körpergröße und Behaarung aus. Man gewann wirklich den Eindruck, daß es bei ihnen keine Ehre sei, Gesichter zu haben wie die unserigen. In ihrer Kleidung und Bewaffnung glichen sie dem Scheik. Die ganze Truppe, die über vierzig Personen stark war, zählte nur fünf schlechte Gewehre. Ihre Gäule glichen Smihk, dem Dicken, doch muß ich aufrichtig gestehen, daß dieser noch der schönste und der edelste von allen war.

Der kleine Hadschi verhielt sich ganz anders als ich. Kaum hatte er sie gesehen, so wurde er auch schon vertraulich mit ihnen. Die Achtung, mit der sie ihn trotz seiner geringen Körpergröße behandelten, gefiel ihm ungemein. Als sie den Wunsch äußerten, die drei Tschoban zu sehen, erklärte er sich sofort bereit, mit ihnen zurückzubleiben, um sie ihnen zu zeigen und hierbei zu erzählen, wie es uns gelungen sei, sie zu besiegen und festzunehmen. Ich hütete mich, ihn hiervon abzuhalten, denn daß er nur bestrebt sein werde, ihre Hochachtung zu vermehren, anstatt sie zu vermindern, das wußte ich ganz genau. Er wartete also mit ihnen, um unsern eigentlichen Trupp mit den Gefangenen herankommen zu lassen. Nur die Ältesten, fast lauter hochbejahrte Leute, blieben bei uns und kehrten um, uns zu begleiten.

Die Einsamkeit, die uns bisher begleitet hatte, minderte sich. Schon tauchten hier und da Leute aus dem Volke auf, und es zeigten sich größere und kleinere Herden von Pferden, Rindern, Schafen, sogar von Ziegen. Hirten standen dabei. Auch etwas Ähnliches wie Felder trat auf. Bei uns in Deutschland würde man freilich derartige Stellen für vollständig verwahrlost und verwildert halten. Der Wald begann zurückzuweichen. Wo Bäume standen, waren es entweder Überreste des Waldes, oder man hatte sie aus Nützlichkeitsrücksichten neu gepflanzt. Wir erreichten ein Netz von Kanälen, an deren Ufern man zuweilen eine Hütte liegen sah, manches Häuschen war auf Pfählen im Wasser errichtet und bestand ausschließlich aus zusammengefügten Stämmen, Hölzern und Knüppeln, deren Zwischenräume zugestopft und verschmiert worden waren. Die Türen und Fenster waren, zumal für Ussulgestalten, fast lächerlich niedrig, schmal, eng und klein. Diese Pfahlbauten lagen anfangs weit auseinander; erst allmählich näherten sie sich und die eigentliche Stadt begann. Nun hielten auch wir an, um die Zurückgebliebenen mit den Gefangenen zu erwarten, denn es war ein >großer Einzug< geplant.

Noch ehe diese zu uns gestoßen waren, erschienen auch vor uns Leute, denn das Gerücht von unserer Ankunft hatte sich rasch verbreitet. Diese Leute wurden zahlreicher, aber keineswegs in der lauten, energischen und frohen Weise, in welcher der Deutsche einen derartigen Auflauf zu veranstalten pflegt, sondern still, langsam und schwerfällig, als ob es in der Seele gar nichts gebe, was die Arme und die Beine zwingen könne, sich auch einmal etwas lebhafter zu bewegen als gewöhnlich. Diese Menschen glichen ganz und gar dem geräuschlosen, stauenden Wasser ihres Landes. In dieser innerlichen und äußerlichen Schwere lag es auch, daß man im Kriege lieber hier sitzen blieb und sich von den heranziehenden Tschoban belagern und aushungern ließ, als daß man ihnen entschieden und schnell zuvorkam, um sie schon gleich an der Grenze zurückzuschlagen. Wenn ich hoffte, sie zu diesem letzteren Verhalten begeistern zu können, so unterlag es gar keinem Zweifel, daß dies nur unter Anwendung ganz besonderer Mittel zu erreichen sei.

Endlich holten die Zurückgebliebenen uns ein. Halef nickte mir schon von weitem zu. Er lächelte beinahe übermütig und zeigte überhaupt ein sehr befriedigtes Gesicht. Als sich der Zug nun wieder in Bewegung setzte, ritten wir beide nebeneinander, und da sagte er:

"Sihdi, es steht alles gut, sehr gut! Ich habe es vortrefflich eingeleitet!"

"Was?" fragte ich.

"Den Kriegszug nach dem Engpaß Chatar. Ich habe erzählt, was damals in dem Tal der Stufen geschah. Ich habe berichtet, was Du damals ganz allein ausgerichtet und vollendet (Seite 68A) hast. Ich habe geschildert, wie die feindlichen Stämme der Dschowari, der Abu Hammed und der Obeide damals von Dir an ihren langen Nasen in die Gefangenschaft geführt worden sind. Ich habe ihnen versichert, daß es uns ganz gewiß nicht schwer fallen wird, so Ähnliches auch hier zu tun. Sie wissen schon alles. Sie kennen sogar schon die Länge, Breite, Höhe und Schwere des Löwen, den Du damals in der Nacht geschossen hast, ganz allein, während Hunderte in den Zelten steckten und sich fürchteten. Sie staunen über Dich, alle, alle! Über Deine Klugheit und Bedachtsamkeit, über Deinen Mut und Deine Stärke! Sie werden Dir gern gehorsam sein und alles tun, was Du von ihnen verlangst."

Das klang wohl sehr befriedigend, nur kannte ich leider meinen kleinen Hadschi Halef Omar allzugut, als daß ich seine Rede wörtlich genommen hätte. Wenn er sagte >Deinen< Mut und >Deine< Klugheit, so war dieses >Deine< sicherlich in >meine< umzuwandeln. So stille und sinnende Leute, wie die Ussul waren, pflegen aber ein scharfes Auge und Ohr für Übertreibungen zu haben. Ich hütete mich also, mich an der Begeisterung Halefs zu erwärmen, und tat, als ob die Umgebung, durch die wir kamen, mich vollauf beschäftigte, so daß ich für seine Worte keine Aufmerksamkeit mehr übrig habe.

Die Stadt lag auf einer ebenen Fläche, die nicht die geringste Erhebung zeigte und durch unzählige Kanäle und kleinere Gräben in Vierecke eingeteilt wurde. Zuweilen bildete sich auch, wenn mehrere Gräben zusammenstießen, entweder ein Drei- oder Mehreck. An den Außenseiten der Stadt hatte jede derartige Landfigur nur ein einziges Gebäude zu tragen; im Innern der Stadt aber rückten die Wohnungen einander näher. Da standen oftmals zwei, drei oder auch mehrere zusammen. Stets aber bestanden die Häuser und Hütten aus dem schon beschriebenen Material und glichen einander vollkommen in der Bauart. Mauern waren unmöglich; auch trennende Zäune gab es nicht, weil ja Gräben vorhanden waren. Wer nicht ganz und gar offen vor den Augen des Nachbars wohnen wollte, der schützte sich durch Büsche und Sträucher, die alle den wasserliebenden Pflanzenarten angehörten. Der Baumschlag war sehr spärlich. Obstbäume nach unseren Begriffen sah man nicht. Wo sich Baum oder Busch mit Früchten zeigte, schien er mir unmittelbares Naturerzeugnis, nicht aber Veredelung zu sein. Weil der Verkehr der Einwohner unter sich nur auf dem Wasser bewerkstelligt werden konnte, nahmen wir alle möglichen Arten primitiver Ruderfahrzeuge wahr, vom großen Einbaum im Flusse an bis zu dem kleinen, aus zusammengebundenen Weidenruten bestehenden Flosse im seichten Graben herab. Brücken waren auffallend wenige zu sehen. Jedenfalls liebte man diese Art der Verbindung nicht. Was man nicht einfach überspringen konnte, das wurde durch Rudern oder Schwimmen überwunden. Wir sahen nicht nur Kinder, die wie die Fische schwammen und tauchten, sondern auch Erwachsene, die ganz dasselbe taten. Daß dabei ihre allerdings spärliche Bekleidung naß wurde, daran lag ihnen offenbar nichts.

Unser Weg führte nach dem sogenannten >Schlosse< oder >Palaste<, der in der Mitte der Stadt direkt am Flusse lag. Dieser Weg war einer der wenigen wirklichen >Wege<, die es gab. Die Anwohner desselben standen zu unserem Empfange bereit, mit ihnen zahlreiche andere Leute aus jenen Stadtteilen, die unser Einzug nicht berührte. Aber alle verhielten sich außerordentlich still. Da war keine Spur jener Freuden- oder gar Jubelrufe, welche anderorts bei derartigen Gelegenheiten erschallen. Auch die Kinder verhielten sich ruhig. Wo wir uns zeigten, wichen sie furchtsam zurück und sperrten die Mäuler auf. Sie hätten mit ihren behaarten Gesichtern fast komisch gewirkt, wenn diese höchst bedauerliche seelische Unbeweglichkeit nicht gewesen wäre. Um nicht undankbar zu sein, muß ich erwähnen, daß allerdings einige Male ein schüchterner Versuch gemacht wurde, unserem Empfange ein festliches Gepräge zu geben. Das geschah nämlich dann, wenn wir an einem vorüberkamen, der ein Gewehr besaß. Dieses wurde dann abgeschossen, aber unter solchen Vorbereitungen und mit einer derartigen Wichtigkeit, als ob es sich um ein ganz außergewöhnliches staatserrettendes Ereignis gehandelt hätte. War dann der Knall verpufft, so fiel die zurückgekehrte Stille doppelt auf. Der voranreitende (Seite 68B) Scheik aber blickte nach jedem dieser Schüsse nach uns zurück, um sich von der Wirkung zu überzeugen. Halef lächelte hierüber. Er mochte an den Empfang denken, den wir bei seinem Stamm, den Haddedihn, finden würden. Da krachten sicher Tausende von Flinten, und das Pulver blitzte zentnerweise in die Luft! Und welch ein Jubel! Welches Geschrei! Und nun dagegen hier! Das Lächeln verschwand indes nach und nach von seinem Gesichte. Er wurde ernst.

"O Sihdi," sagte er, "was sind das für arme Leute! Sie haben nur so wenig Flinten, und das Pulver scheint bei ihnen sehr teuer zu sein. Aber das ist bei ihnen nicht der einzige Grund. Die Hauptursache liegt in ihrer Seele; das sehe ich ihnen nun an. Sie können auch innerlich nicht! Auch im Lande ihrer Seelen gibt es keine Gewehre, und auch in ihrem Charakter und ihrer Natur ist das Pulver teuer! Was kann, was soll, was wird aus solchem Volke werden?"

"Hm! Soeben erst hast Du mir versichert, daß sie mir gerne gehorsam sein und alles tun werden, was ich verlange!"

"Das glaubte ich, glaubte es wirklich. Jetzt aber kommt es mir vor, als ob ich es nicht mehr glauben dürfe. Die, mit denen wir bisher sprachen, sind die Obersten, die Klügsten und also auch die Lebendigsten ihres Volkes. Die konnte ich begeistern, wenn auch wahrscheinlich nur für kurze Zeit. Aber die unter ihnen stehen, nämlich diese da, die uns anstarren, ohne einen einzigen Laut hören zu lassen, die sind wohl schwer, sehr schwer zu veranlassen, mit uns nach dem Engpaß Chatar zu reiten, um ihre Feinde niederzuringen! Meinst Du nicht auch?"

"Warten wir es ab! Man darf nicht so, wie Du es tust, zwischen Hoffnungen und Befürchtungen hin und herschwanken, sondern man muß lernen, mit den gegebenen Kräften zu rechnen, Du mußt diese guten Leute nicht mit Deinem, sondern mit ihrem Maßstabe messen. Es liegt in ihrer Natur, daß sie nur schwer in Gang zu bringen sind; aber wenn sie erst einmal laufen, dann kannst Du sicher sein, daß sie nicht bei der geringsten Veranlassung gleich wieder stehen bleiben werden."

Während ich dies sagte, hielt Taldscha, die mit dem Scheik voranritt, ihr Pferd an, bis ich sie eingeholt hatte. Dann setzte sie den Ritt fort und sagte:

"Wir kommen bald an dem Gefängnisse vorüber, und zwar an dem hinteren Teil desselben, wo sich der Stachelzwinger befindet. Der andere Teil grenzt an den Fluß."

"Der Stachelzwinger?" fragte ich. "Derselbe, in dem der Dschirbani steckt?"

"Ja."

"Kann man ihn im Vorbeireiten sehen?"

"Den Zwinger, ja; den Dschirbani aber nur dann, wenn er am Tor des Zwingers steht, um nachzuschauen, wer vorüberkommt."

"Ob er wohl merkt, daß sich etwas hier ereignet?"

"Ganz gewiß. Er hat die Schüsse gehört, die hier überaus selten sind, und nun hört er am Getrappel der Pferde, daß wir näherkommen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß er an das Gitter getreten ist, um nach der Ursache dieses Lärmes zu schauen."

"Willst Du, daß wir ihn retten?" fragte der Hadschi.

"Ja, ich wünsche es!" gestand sie ein.

"Gut! So holen wir ihn gleich jetzt, sofort heraus!" versicherte der kleine Kerl in seiner gutherzigen, aber unbedachten Weise.

"Das nicht, das nicht!" wehrte sie ab. "Die Hunde würden Euch und ihn zerreißen! Wenn Ihr ihn retten wollt, so muß es auf andere Weise geschehen. Durch List, durch Zwang! Aber nicht durch einen Kampf mit den Hunden! Die sind abgerichtet!"

"Von wem?"

"Vom Sahahr. Wegen ihrer Gefährlichkeit sind auch sie von den Menschen getrennt, durch den einzigen durchsichtigen Zaun, den es hier in der Stadt gibt. Nur dadurch, daß man sie von außen sieht, wird man abgehalten, sich ihnen zu nähern. Wer sich hinter diesen Zaun wagte, der würde ebenso schnell und sicher zerfleischt wie der Dschirbani, falls er so tollkühn wäre, den seinigen zu durchkriechen oder zu überklettern. Seht! Da drüben, links, beginnen beide Zäune!"

(Seite 69A) Sie deutete nach der genannten Richtung hinüber. Meine und Halefs Blicke, von einem großen, unwiderstehlichen Interesse getrieben, folgten sofort dem Fingerzeige. Um das, was nun geschah, zu verstehen, muß man sich die Örtlichkeit vergegenwärtigen. Unser Zug bestand aus der Reiterschar und einer Menge von Fußgängern, welche hinter uns herliefen. Er bewegte sich auf dem schon erwähnten Wege, der eigentlich einem Damme glich, weil er zu beiden Seiten von Kanälen eingefaßt wurde, die breiter waren, als die Sprungweite eines guten Pferdes beträgt. Ein Ussulgaul, wie Smihk, wäre gewiß nicht bis zur Hälfte hinübergekommen. Jenseits dieses Wassers lag ein Rasenplatz, der auf eine Breite von vielleicht zwanzig Schritten freigelassen, dann aber von einem Stangenzaun umgeben war, dessen Höhe etwas mehr als Manneshöhe betrug. Die Zwischenräume dieser Stangen ließen alles deutlich sehen, was sich hinter ihnen befand. Jenseits dieses Zaunes gab es eine zweite Einfriedung, die also innerhalb desselben lag; sie wurde von dicht verschlungenen und hochgewachsenen Dorn- und Stachelgewächsen gebildet. Man konnte weder durch sie hindurch noch über sie hinwegsehen, und ihre natürlichen Nadeln und Schneiden waren so spitz und so scharf, daß es für einen Menschen unmöglich war, sich ohne besondere Werkzeuge hindurchzuarbeiten. Das Morgenland ist an solchen von der Natur bewehrten Pflanzen bekanntlich überreich. Diese undurchdringliche Umfassung schloß den Platz ein, den die Frau des Scheiks als >Stachelzwinger< bezeichnet hatte. Es gab in dieser Umhegung nur eine einzige schmale Lücke, die als Ein- und Ausgang diente und von einer hölzernen, über zwei Meter hohen Lattenpforte verschlossen wurde. Der Riegel war an der Außenseite angebracht, so daß es dem Gefangenen unmöglich war, ihn zu öffnen. Aber selbst wenn er dies gekonnt hätte, wäre er unmöglich entkommen, weil sich zwischen den beiden Zäunen die Hunde befanden, die freien Lauf rund um den Zwinger hatten und den Dschirbani also an jeder Stelle, wo er etwa ausbrechen wollte, mit den Zähnen fassen konnten.

Wir waren dem Orte jetzt so nahe gekommen, daß wir die Hunde sahen. Es waren ihrer drei, so hoch, so groß und riesenstark gebaut, wie ich noch niemals einen Hund gesehen hatte, selbst meinen starken, furchtlosen Dojan nicht, den meine Leser kennen. Ihr dickes, zottiges Fell und der Bau ihres breiten, mächtigen Schädels rechtfertigten den Namen Bärenhund, doch waren sie bedeutend höher als Bären zu sein pflegen. Auch ihre kurze, weit sich spaltende Schnauze und das kleine tückische Auge erinnerten an den Bären; aber ganz unbärmäßig waren die großen, weit herabhängenden und immer triefenden Lefzen. Die Tiere hatten eine mächtig breite Brust und außerordentlich kräftige Schenkel, deren breite Füße mit scharfen Klauen und sehr ausgebildeten Schwimmhäuten versehen waren, doch war dieser Brust und diesen Schenkeln mehr Kraft und Ausdauer als Sprungfertigkeit und Schnelligkeit zuzutrauen. Man brauchte diese mächtigen Geschöpfe nur anzusehen, so war man hinlänglich gewarnt. Sie hinterließen außer dem Eindruck der überaus rohen, physischen Kraft auch den der Arglist und Verschlagenheit, und nie ist mir bei dem Anblick eines Tieres der Ausdruck >Bestie< so klar geworden, als in dem Augenblicke, da ich diese Blut- und Bärenhunde sah.

Sie hatten uns kommen hören und sich, um uns sehen zu können, grad so nach vorn an den Zaun gesetzt, daß wir sie sehr deutlich wahrnehmen mußten. Zwei von ihnen waren bedeutend strammer, derber und schwerer gebaut als der dritte, der etwas schlanker und jedenfalls jünger und behender war als die andern. Ob für ihn die Höhe des Stangenzaunes genügte, ihn festzuhalten, das wäre für mich eine sehr wichtige Frage gewesen. Kam es einem so blutgierigen, auf den Menschen dressierten Vieh in den Kopf, über den Zaun und dann noch über das Wasser zu springen, so war das Unglück, welches hierdurch entstehen konnte, gar nicht abzusehen. Das war nun aber Sache des Sahahr; er mußte wissen, wie weit er diese Bestien in der Gewalt hatte oder nicht. Wie ich später erfuhr, war er der eigentliche Züchter und Abrichter dieser Riesenhunde, denen nur durch Qual und Pein, durch immerwährende Hiebe und Schläge jener Haß gegen die Menschen aufgezwungen werden konnte, der ihnen dann als Vorzug angerechnet wurde. Priester, (Seite 69B) Zauberer und Bändiger von Bluthunden! Wie sonderbar dies zusammenklang. Aber nun wurde mir sein grausames Verhalten gegen Tochter und Enkel erst erklärlich. Wer imstande ist, einen treuen, gehorsamen, liebesbedürftigen und dankbaren Hund zum blutgierigen Menschenhasser zu verquälen und zu verprügeln, der ist wohl auch imstande, gegen seinesgleichen so zu handeln, wie der Sahahr gehandelt hatte.

Grad als mich dieser Gedanke beschäftigte, wurde ich von dem Sahahr angesprochen. Er sah, daß Halef und ich mit Aufmerksamkeit nach dem Stachelzwinger schauten; er erinnerte sich seines Zornes über unser Gespräch und da kehrte dieser Zorn ihm zurück. Er wendete sich uns zu, deutete über das Wasser hinüber und sagte:

"Da drüben steckt der Mensch, von dem Ihr ganz gewiß noch viel gesprochen habt. Wollt Ihr ihn sehen?"

"Ja," antwortete Halef sofort, obgleich er sehr wohl wußte, daß diese Frage nur höhnisch gemeint war.

"So reitet hinüber!" lachte der Zauberer.

"Über das Wasser?" fragte der Kleine.

"Ja," lachte der andere.

"Ist das Dein Ernst?"

"Mein voller Ernst!" versicherte der Sahahr, der es für vollständig unmöglich hielt, daß man einen solchen Sprung wagen könne.

"Wohlan! Dir zu Gefallen werde ich es tun!"

Im nächsten Augenblicke flog Halef auf seinem prächtigen Assil Ben Rih durch die Luft und landete drüben auf festem Boden, ohne daß die Hufe seines Pferdes auch nur einen Tropfen des Wassers berührt hatten. Ringsum war ein Schrei des Schreckes erschollen; jetzt erscholl ein zweiter, nämlich ein Schrei der Anerkennung, der Bewunderung. Die drei Riesenhunde richteten sich sofort an der Innenseite des Zaunes empor und erhoben ein drohendes Bellen und Heulen.

"Da bin ich!" lachte Halef herüber. "Was soll ich nun noch tun?"

"Zurück, augenblicklich zurück!" befahl ihm der Sahahr.

"Fällt mir ja gar nicht ein! Du hast mich herübergeschickt, den Dschirbani zu sehen, und das werde ich jetzt tun!"

"Nein, nein! Es ist verboten!"

"Verboten? Von wem?"

"Von mir!"

"Unsinn! Grad Du hast es mir erlaubt! Oder glaubst Du etwa, ich lasse mit mir spielen?"

Er wendete sein Pferd dem Zaune zu.

"Um Gottes willen, die Hunde, die Hunde!" warnte die Frau des Scheiks voller Angst.

"Die möchten ihn fressen!" rief der Sahahr. "Aber er soll ihn nicht sehen! Er darf ihn nicht sehen! Denn er würde mit ihm sprechen! Und das will, das will ich nicht! Also zurück, zurück! Herüber!"

"Fällt mir, wie ich Dir schon sagte, gar nicht ein!" Und um den Zauberer ganz sicherlich zu ärgern, fügte Halef hinzu: "Ich spreche mit ihm! Ich hole ihn sogar heraus!"

Da griff die Frau des Scheiks besorgt nach meiner Hand und bat:

"Ruf Du ihn zurück, ruf Du! Dir wird er gehorchen! Sonst ist er verloren!"

Da bat ich sie:

"Hab keine Angst um ihn! Er wird nichts Schädliches unternehmen, denn er weiß, ich bin dabei!"

Der Zauberer aber brüllte dem kleinen Hadschi zornig zu:

"Das darfst Du nicht! Das kostet Dir Dein Leben! Kehr augenblicklich zurück! Sonst komme ich hinüber!"

"So komm! Oder bist Du zu feig dazu?"

Halef drehte sein Pferd herum und sah zu ihm herüber. Da machte der Sahahr seine Drohung wahr und ritt hinüber. Er konnte das wohl ganz ohne alle Gefahr, so meinte er, denn er war ja der Herr der Bluthunde, ihm mußten sie gehorchen. Dies war ihnen durch Kette, Hunger und Schläge beigebracht worden. Und dafür hatten sie jetzt, da sie frei von der Kette waren, ihn noch zu lieben. Aber er hütete sich wohl, seinen dicken, ungefügen Urgaul zum Sprunge zu bewegen, denn der wäre auf alle Fälle viel zu kurz geraten. Er trieb den Gaul (Seite 70A) hübsch langsam in das Wasser hinein, paddelte hinüber und kam ebenso hübsch langsam drüben wieder heraus. Halef sah ihm lachend zu, dann fragte er:

"So! Nun bist Du da! Wie willst Du es jetzt verhüten, daß ich den Dschirbani sehe und mit ihm rede?"

"Indem ich es Dir verbiete!" antwortete der Gefragte.

"Sag doch nicht so lächerliche Dinge! Wer mir etwas verbieten will, der muß ein anderer Kerl sein als Du! Ich reite zu ihm hin!"

Er wendete sein Pferd wieder dem Eingange des Zaunes zu. Da zog der Sahahr sein Messer und rief:

"Du bleibst! Sonst renne ich Dir diese Klinge in die Brust."

Schleunigst hatte Halef seine Pistole in der Hand, hielt sie ihm entgegen und antwortete:

"Wage es! Aber bedenke, daß meine Kugel schneller ist als Dein Messer!"

Dieser laute, ja zornige Wortwechsel hatte unter fortwährendem Geheul der Hunde stattgefunden. Sie waren schon bei Halefs Annäherung am Zaune emporgesprungen. Als der Sahahr, ihr Peiniger, folgte, verdoppelte sich ihre Wut. Sie versuchten, den Zaun zu überspringen, was ihnen jedoch nicht gelang, denn sie waren zu schwer; sie fielen immer wieder zurück, was ihren Grimm steigerte. Der dritte war indes nicht nur der schlankere, sondern auch der intelligentere. Als er sah, daß ihm der Sprung nicht gelang, versuchte er es mit dem Klettern. Auch das mißlang. Nun verband er das Springen mit dem Klettern. Er nahm einen Anlauf und tat einen Sprung, der ihn bis zu drei Viertel der Zaunhöhe emporbrachte, rutschte aber wieder ab, weil es ihm für diesesmal nicht gelang, sich mit den Hinterfüßen an der Querstange festzuhalten. Brachte er dieses fertig, so kam er bei einem zweiten Sprung sicher über den Zaun und war dann gewiß ebenso gefährlich wie ein Panther oder Tiger. Der zweite Versuch gelang schon besser als der erste. Vorsichtshalber rief ich jetzt Halef zu:

"Zurück! Schnell zurück! Bewahre das Pferd vor dem Hunde!"

Eben hatte er das Pistol gezogen, fest entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Er hätte mir wahrscheinlich nicht gehorcht, wenn ihn nicht die Liebe zu Ben Rih beeinflußt hätte. Persönlich fürchtete er sich ganz und gar nicht vor diesen Hunden; aber seinen geliebten Rappen unnötig ihren Zähnen preiszugeben, so töricht war er nicht. Er warf also nur noch einen kurzen Blick nach dem Zaune, wo der Hund jetzt grad zum letzten Sprunge ansetzte, und beeilte sich, meinem Befehle nachzukommen. (Seite 70B) Eben als Ben Rih mit seinem Reiter wieder über das Wasser sprang, kam der Hund über den Zaun herübergeflogen. Ich griff, um Unglück zu verhüten, zum Henrystutzen, war aber nicht so schnell, wie es hätte sein sollen. Der Bluthund hatte diesseits des Zaunes kaum Boden gefaßt, so stürzte er sich auf seinen Herrn. Er stieß dabei ein Geheul aus, wie aus Freude, seinen Quälgeist nun endlich, endlich einmal vor sich zu haben, ohne durch Ketten, Stricke, Stacheln und Peitschen an der Vergeltung behindert zu sein. Die Bestie sprang am Pferd empor, faßte den Reiter, dem vor Schreck das Messer entglitt, am Oberschenkel, riß ihn auf die Erde herab und hätte ihm ganz gewiß zunächst die Gurgel zerfleischt, wenn ich dem Vieh nicht schnell eine Kugel in den Leib gejagt hätte. Es gleich mit diesem ersten Schusse zu erlegen, war mir unmöglich, weil ich kein sicheres Ziel hatte. Auf Kopf oder Brust der Bestie konnte ich nicht anlegen, da ich anstatt des Hundes sehr leicht den Menschen treffen konnte. Darum hatte ich nur auf den Körper gezielt, um den Hund von seinem Opfer wegzubringen. Dieser Zweck wurde erreicht. Kaum war der Hund getroffen, so ließ er den Sahahr los, tat einen Seitensprung und sah sich nach dem neuen Feinde um. Sein Auge fiel auf mich, der ich noch fest im Anschlage lag, um ihm die zweite Kugel, die nun töten mußte, zu geben. Nun nahm er alle seine Kraft zusammen. Mit zwei Sprüngen kam er an das Ufer, beim dritten flog er über das Wasser herüber. Das gab mir ein gutes Ziel. Meine Kugel traf ihn im Fluge, und zwar so tödlich, daß er, als er diesseits den Erdboden erreichte, sofort zusammenbrach und liegen blieb. Ein kurzes, konvulsivisches Zucken lief über den riesigen Körper, der sich streckte, und dann war die Bestie verendet.

Drüben heulten die beiden anderen Hunde. Zwischen Zaun und Wasser brüllte der vor Schmerz sich windende Zauberer um Hilfe. Und hüben gab die Menge der Ussul ihre Freude über diesen Schuß durch laute Zurufe kund. Man sah, daß auch sie zu begeistern seien, nur bedurfte es hierzu so seltener und kräftiger Mittel, wie dieses Ereignis war. Wir hatten gar nicht Zeit, auf diesen Beifall zu achten. Es war vor allem nötig, dem Sahahr zu Hilfe zu kommen. Er schien zwar nur am Schenkel verwundet zu sein, aber falls etwa eine wichtige Ader verletzt worden war, konnte es sich immerhin um Tod und Leben handeln. Halef setzte also wieder über den Kanal hinüber, und ich folgte ihm auf meinem Syrr, der das Hindernis mit einer so eleganten Leichtigkeit nahm, daß er ringsum laut bewundert wurde. Halef sprang von seinem Pferde, um sich (Seite 71A) zu dem Sahahr niederzubücken und nach seinen Verletzungen zu sehen, dieser aber schrie ihn giftig an:

"Weg! Fort mit Dir! Rührt mich nicht an! Ich mag Euch nicht sehen! Ihr seid schuld daran, daß ich verstümmelt worden bin! Hättest Du mir gehorcht, so wäre ich drüben geblieben! Fort, sage ich! Fort, fort mit Dir!"

Er rief zu den Ussul die Namen einiger Leute hinüber, die er haben wollte. Diese folgten seinem Zurufe in ganz derselben Weise, in der er vorhin den Kanal durchquert hatte, sie gingen also sehr gemächlich in das Wasser und paddelten herüber. Dann stiegen sie von ihren Gäulen und begannen sich mit ihm zu beschäftigen. Unser Reiterzug und die ihn begleitende Menge blieb stehen, um sich die Sache weiter anzuschauen.

Halef schwang sich wieder in den Sattel, weil er infolge der Abweisung, die er erfahren hatte, annahm, daß wir sofort zum Zug zurückkehren würden. Damit zögerte ich aber, denn mir lag daran, den Dschirbani zu sehen. Es war jetzt die beste, vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit dazu, und es wäre ein Fehler gewesen, sie unbenutzt verstreichen zu lassen. Darum ritt ich nach der Türe des äußeren Zaunes, hinter dem sich die beiden Bluthunde befanden. Halef kam hinter mir her. Er nahm sein Gewehr von der Schulter und sagte:

"Sie können freilich nicht heraus; aber bei derartigen Ungetümen muß man auf alles gefaßt sein. Wenn sie uns gefährlich werden, schieße ich beide sofort nieder."

Das sah der Sahahr. Trotz seiner Verletzung nahm er sich die Zeit, sich um uns zu kümmern; er schrie dem Hadschi zu:

"Wage es ja nicht, zu schießen! Wer mir einen dieser Hunde tötet, der bekommt es mit mir zu tun! Macht Euch von dannen! Was habt Ihr dort zu suchen? Ich verbiete es Euch!"

Wir achteten auf diese Worte nicht, weil er allein sich unserer Annäherung an den Stachelzwinger widersetzte. Alle andern, der Scheik und die Ältesten dabei, hatten nicht nur nichts einzuwenden, sondern waren sogar gespannt darauf, was jetzt wohl geschehen werde. Wir näherten uns also der bezeichneten Türe, ritten aber nicht ganz dicht hinan, um die Hunde nicht noch mehr aufzuregen; sie bellten und heulten nicht nur, sie brüllten und gebärdeten sich, als ob sie den Zaun in Stücke reißen wollten. Sogar Halef, der Mutige und oft sogar Übermutige, ließ sich einschüchtern und hielt sich ein wenig hinter mir.

"Das ist fürchterlich! Fast gar nicht auszuhalten!" schrie er mir laut zu. Er mußte so rufen, sonst hätte ich ihn infolge des entsetzlichen Lärmes der Hunde nicht verstanden. "Diese Scheusale sind gar nicht von der Erde, sondern sie stammen aus der Hölle!"

"So schlimm ist es nicht," rief ich zurück. "Schau unsere Pferde an! Siehst Du etwa, daß sie sich fürchten?"

"Nein! Sie sind so ruhig wie immer! Wie das wohl kommt?"

"An ihrer Abstammung liegt das nicht. Auch das edelste Geschöpf hat Furcht vor der Bestie. Sie scheinen die Hunde also nicht für Bestien zu halten. Und betrachte die letzteren genau! Besonders ihre lang herabhängenden Lippen, sie sind feucht und nässend wie immer. Aber siehst Du eine Spur von Geifer?"

"Nein!"

"Oder gar von Schaum?"

"Noch weniger!"

"So kannst Du Dich darauf verlassen, daß diese Tiere nicht halb so schlimm sind, wie sie erscheinen. Auch ich habe sie überschätzt, aber nur bis jetzt. Nun ich sie aus solcher Nähe sehe, möchte ich behaupten, daß sie nur infolge ihrer Erziehung, nicht aber von Natur aus so wüten."

"Das ist wohl möglich, aber mich ganz darauf verlassen, das würde ich wohl nicht! Doch schau, Sihdi! Da drüben kommt jemand!"

Er deutete mit der Hand über den Stangenzaun in den Stachelzwinger hinein. Ich habe schon erwähnt, daß sich in dem Dorn- und Stachelwerke nur eine einzige Lücke befand, und dort war die Türe. Da wir hoch zu Pferde saßen und die beiden Türen mit uns in einer Linie lagen, so konnten wir (Seite 71B) nicht nur durch ihre Zwischenräume hindurch-, sondern auch über sie hinwegsehen. Das Innere des Zwingers lag also zu einem beträchtlichen Teile vor unsern Augen. Wir überschauten einen freien, grasbewachsenen Platz, auf dem eine Gestalt langsam geschritten kam, um sich der Türe zu nähern. Es schien, als ob dieser Mensch sich um den Lärm in seiner Nähe bisher gar nicht gekümmert habe und erst jetzt im Begriffe stehe, ihn zu beachten. Er war von außergewöhnlich hoher, imponierender Gestalt. Sein langsamer Gang und seine Haltung waren von einem ganz eigenartigen, charakteristischen Stolz. Seine Kleidung bestand aus einem weiten, bequemen Haik, der um die Hüften durch einen schmalen Ledergürtel zusammengefaßt wurde. Sein Kopf war unbedeckt. Ein starkes, fast übervolles Haar, hing ihm weit über den Rücken herab. Auch sein Gesicht war lang behaart, von der Stirn bis auf den Hals herab, ganz wie bei den Ussul, aber so dünn und fein, daß man wie durch einen zarten, langmaschigen Schleier hindurch die Züge des ungewöhnlich edlen und ganz eigenartig schönen Gesichtes sehen konnte. Wie er, den Blick zur Erde gesenkt, so allmählich sich der Pforte näherte, hatte es den Anschein, als ob seine Gestalt mit jedem Schritte immer höher und breiter, immer bedeutender und eindrucksvoller werde. Ob dies nur in seiner Persönlichkeit lag oder zum Teil auch mit in der örtlichen Perspektive, das fragte ich mich nicht. Ich nahm die Wirkung in mir auf, ohne nach ihren Ursachen und Gründen zu forschen.

(Seite 72A) Der Dschirbani hatte die Pforte fast erreicht; er ließ den Blick auf uns gleiten. Es war keine Spur von Überraschung an ihm zu bemerken. Das große, dunkle Auge ruhte forschend auf uns, und als ich die Hand zum Gruß gegen Brust und Stirn erhob, antwortete er mir in der gleichen Weise. Da fragte ich ihn mit lauter Stimme:

"Bist Du der Sohn des Dschinnistani?"

Ich unterließ es natürlich, ihn Dschirbani zu nennen, weil dies >der Räudige< bedeutet. Ich mußte wegen der Hunde so laut rufen, daß man es rundum hörte. Er antwortete ebenso laut:

"Ich bin es."

Mein kleiner Halef war von der außerordentlichen Erscheinung dieses Mannes, der trotz seiner Jugend einen solchen Eindruck machte, ebenso ergriffen wie ich. Halef war gewohnt, sich derartigen Gefühlen augenblicklich hinzugeben, und so eilte er auch hier sehr schnell zum Worte, ohne daran zu denken, daß dies jetzt mir allein zustehe.

"Du bist der Enkel des Sahahr?" erkundigte er sich.

Der Dschirbani nickte.

"Wünschest Du frei zu sein?"

Da hob der Gefragte die Hände bis zur Höhe seines Gesichtes, schlug sie beteuernd zusammen und rief:

"Von ganzem Herzen!"

"So holen wir Dich heraus! Sofort! Wir schießen die Hunde nieder!"

Der Zauberer und alle bei ihm hatten jedes dieser Worte gehört. Er wollte sein Verbot wiederholen und richtete sich, so weit es sein Zustand erlaubte, in die Höhe, um uns zuzurufen, brachte es aber nur zu einigen unartikulierten Lauten und fiel dann wieder nieder. Seine Verwundung schien also doch gefährlicher zu sein, als ich angenommen hatte. Die Ussul um ihn sprachen auf ihn ein. Diese Leute gehörten, wie sich ganz von selbst versteht, zu seinen nächsten Freunden und Anhängern. Der eine von ihnen kam jetzt zu uns heran und teilte uns mit:

"Ihr seid Fremde, und Fremden ist es verboten, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen. Selbst wenn Ihr schon unter die Ussul aufgenommen wäret, hättet Ihr kein Recht, Euch mit diesem Gefangenen zu beschäftigen. Nur der Sahahr allein hat über ihn zu verfügen. Nicht einmal der Scheik besitzt nach den Gesetzen unsers Volkes ein Recht, in dieser Angelegenheit eine Änderung eintreten zu lassen. Aber weil Ihr den Ussul einen großen Dienst erwiesen habt, weil Ihr gewillt seid, uns auch fernerhin mit Eurer Hilfe beizustehen, und endlich weil der Sahahr Euch liebgewonnen hat und dies Euch zeigen will, aus allen diesen Gründen hat er beschlossen, Euch zu Willen zu sein und den Dschirbani für immer freizugeben, wenn Ihr die eine einzige Bedingung erfüllt, die er daran knüpft."

(Seite 72B) "Welche Bedingung?" fragte Halef.

"Ihr müßt die Wächter bezwingen, ohne sie zu beschädigen."

"Die Bestien? Die Hunde?"

"Ja, die Hunde. Sie dürfen weder verwundet noch getötet werden. Es ist Euch streng verboten, ihnen Schaden zu tun. Ihr habt also, bevor Ihr mit ihnen kämpfet, alle Waffen abzulegen und Euch ganz allein nur auf Eure Hände zu verlassen. Auch dürft Ihr nicht zu zweien zu ihnen hinein, sondern der Emir aus Dschermanistan wird beginnen, und erst dann, wenn er von den Hunden zerrissen worden ist, darf der Scheik der Haddedihn ihm folgen!"

"Das ist ja allerliebst!" rief Halef aus. "Warum ist es denn nicht umgekehrt? Nämlich so, daß die Hunde nicht miteinander auf uns los dürfen, sondern daß der zweite sich erst dann mit uns befassen darf, wenn wir den ersten aufgefressen haben!"

Er hätte in dieser Weise wohl weitergesprochen, wurde aber von andern Zurufen übertönt. Auch der Ussul hatte nämlich laut reden müssen, und zwar so laut, daß er auf der einen Seite von dem Dschirbani und auch von den auf der Straße befindlichen Ussul gehört wurde. Von dort aus rief die Frau des Scheiks uns warnend zu:

"Ich bitte Euch bei Allah, das nicht zu tun! Wenn Ihr es wagtet, wäret Ihr verloren!"

Und der Gefangene selbst, so sehr er seine Befreiung wünschte, warf uns die gewiß selbstlose Mahnung herüber:

"Ich weiß nicht, wer Ihr seid; aber hütet Euch, auf den Vorschlag des Sahahr einzugehen. Er kann bloß beabsichtigen, Euch zu verderben! Ich bin doch wohl stärker als Ihr, aber ich bleibe doch lieber gefangen, als daß ich es wage, ohne Waffen mit diesen Ungetümen zu kämpfen!"

"Hörst Du es?" fragte der Ussul, der an Stelle des Sahahr sprach. "Nun ist es wohl mit Euerm Mut zu Ende?"

Ohne diese Verhöhnung zu beachten, fragte ich ihn:

"Würdet Ihr Wort halten und den Sohn des Dschinnistani für immer freigeben, wenn es mir gelänge, die Hunde waffenlos zu besiegen, ohne sie zu verletzen?"

"Ja," antwortete der Gefragte.

"Ja," antworteten seine Gefährten.

"Ja," antwortete sogar auch der Zauberer, den der Gedanke, daß ich mich von den Hunden zerreißen lassen werde, für den Augenblick alle Schmerzen vergessen ließ.

Da wandte ich mich an den Dschirbani:

"Ich brauche Zeugen hierzu. Hast Du gehört, was mir versprochen worden ist?"

"Ja," versicherte er. "Aber Du wirst doch nicht etwa so tollkühn sein - - "

Ich ließ ihn nicht ausreden, sondern richtete an unsere Reitgefährten und an die anwesende Menge die Frage:

(Seite 73A) "Habt auch Ihr es gehört, und wollt Ihr es mir bezeugen?"

"Ja, ja, ja, ja - - -!" ertönte es wie aus einem Munde, doch sofort erhoben sich auch Stimmen, um mich zu warnen, auf einen ebenso ungewöhnlichen wie ungleichen Kampf einzugehen.

Ich achtete nicht darauf, sondern stieg vom Pferde und gab die Zügel desselben Halef in die Hand. Der sah mich mit weit aufgerissenen Augen an und rief:

"Allah sei uns gnädig! Willst Du es wagen, wirklich wagen, Sihdi?"

"Ja," antwortete ich.

"Trotz der entsetzlichen Gefahr, in Stücke gerissen und dann aufgefressen zu werden?"

"Trotzdem! Aber diese Gefahr ist bei weitem nicht so groß, wie Du denkst."

"Hättest Du doch recht!" seufzte er unter einem tiefen, lauten Atemzuge auf.

"Ich habe recht!" versicherte ich. "Hast Du aufgepaßt, als der Hund, den ich erschoß, sich auf seinen eigenen Herrn stürzte?"

"Ich habe es gesehen, aber erst dann, als der Sahahr bereits am Boden lag."

"Das war zu spät; da war das, was ich sagen will, schon vorüber. Ich habe genau aufgemerkt, wie diese Hunde dressiert sind. Sie reißen den Menschen vorher nieder, und erst wenn dies geschehen ist, beißen sie drauf los. Die Hauptsache ist also erstens, sich nicht werfen zu lassen, und zweitens, zu verhüten, daß sie an Hals und Gurgel kommen. Auch wird der Dschirbani mir helfen."

"Der? Wieso?"

"Er muß die Hunde so beschäftigen, daß sie sich trennen, damit sie nicht beide zugleich nach mir springen."

"Allah sei Dank! Dieser Gedanke ist gut. Meine Sorge um Dein Leben vermindert sich bereits. Dennoch aber sage ich Dir: Ich nehme Deinen Stutzen zur Hand, und wenn es einem dieser Hunde gelingen sollte, Dich niederzureißen, so bekommt er augenblicklich so viele Kugeln in den teuflischen Leib, daß er gar nicht Zeit hat, sie zu zählen!"

Ich gab Halef meine Waffen. Dann band ich mir den Gürtelschal von den Hüften und wand ihn mir, so lang er war, um den Hals.

"Er will! Er will! Er wird! Er wagt es! Er tut es!" klang es vielstimmig bei den Ussul, als sie meine Vorbereitung sahen.

Die Warnungen wiederholten sich. Auch der Dschirbani rief mir mahnend nochmals herüber. Ich aber antwortete ihm:

"Fürchte nichts! Wenn Du mich unterstützest, werde ich siegen."

Dies hatte ich nur so laut gesprochen, daß er es hören konnte. Da trat er ganz nahe an die Pforte heran und fragte mich mit unterdrückter Stimme:

"Wie gern möchte ich Dich unterstützen! Aber wie könnte ich das?"

"Indem Du stark an Deiner Türe rüttelst, als ob Du herauswollest. Wenn Du das tust, so hoffe ich, daß einer der Hunde sich gegen Dich richtet und ich es also nicht mit beiden zugleich zu tun haben werde."

"Wie gern will ich das tun, wie gern! Aber wann? Sag mir den Augenblick!"

"Jetzt gleich! Du kannst sofort beginnen!"

Ich stand mehrere Schritte von der Türe des äußeren Zaunes entfernt. Er befand sich den Hunden also viel näher, und als er jetzt an seiner, der inneren Türe, zu arbeiten, zu stoßen und zu pochen begann, wendeten sich beide gegen ihn, mir aber den Rücken zu. Sie heulten überlaut. Das war der rechte Augenblick für mich. Ich sprang zur Türe, schob den Riegel weg und riß sie auf. Da hörte man einen einzigen, aber vielstimmigen, großen Schrei des Schreckens rund umher; dann aber trat plötzlich tiefe Stille ein. Die Entscheidung war da, sie stand unsichtbar neben mir, an der geöffneten Türe, durch welche zu treten ich mich sehr wohl hütete. Sie war nicht breit genug für zwei so große, starke Hunde. Es konnte nur einer allein heraus. Indem ich draußen blieb, sicherte ich (Seite 73B) mir den Vorteil zu, daß mich nur einer von ihnen angreifen konnte. Momentan achteten sie aber gar nicht auf mich. Ihre ganze Aufmerksamkeit war nur allein auf die Pforte gerichtet, an welcher der Dschirbani rüttelte. Daß ich die meine geöffnet hatte, das sahen sie nicht eher, als bis ich durch einen lauten Ruf ihre Blicke auf mich zog.

Es kann nicht meine Absicht sein, durch die Erzählung dieses Ereignisses nach einem Ruhm zu trachten, den ich nicht verdiene. Was ich jetzt tat, war nämlich kein so großes Wagnis, wie es schien. Schon Hunderte und Aberhunderte hatten es gewagt und zwar oft mit Erfolg. Das war drüben in Nordamerika, als in den Süd- und Mittelstaaten der Union noch die Sklaverei bestand. Wie viele jener armen Menschen waren da ihren mitleidslosen, grausamen Herren entflohen! Wie viele dieser Flüchtlinge hatte man mit Bluthunden gehetzt, die eigens für diese Negerjagden dressiert worden waren! Die Schwarzen waren gewöhnlich unbewehrt. Ihre einzige Waffe gegen die gefährlichen Hunde bestand in dem Trick, ihnen in dem Augenblicke, in dem diese nach der Kehle schnappen, die Arme fest um den Hals zu schlagen und die Gurgel derart zusammenzupressen, daß ihnen der Atem verging. Ließ man sie dann fallen, so waren sie erstickt. Freilich durfte dieser Druck der Arme keinen Augenblick zu früh oder zu spät kommen, sonst war der Flüchtling verloren. Jeder Sklave, der auf Flucht sann, übte diesen Griff und Druck. In den Turnvereinen geschah dasselbe. Von jedem Hundehändler bekam man gegen Entgeld irgend eine alte, sonst nutzlos gewordene Bestie geliehen, um sich mit ihrer allerdings höchst unfreiwilligen Beihilfe in den Stand zu setzen, mit unbewaffneten Händen einen feindlich anspringenden Bluthund zu ersticken. Das, was ich mir jetzt vorgenommen hatte, war also nichts Außerordentliches. Es gewann nur dadurch an Schwierigkeit, daß es sich um zwei Hunde handelte, anstatt nur um einen, und daß diese Ungeheuer bedeutend größer und kräftiger als die amerikanischen Negerfänger waren. Dieser Nachteil wurde aber durch die Beihilfe des Dschirbani wieder ausgeglichen. Er besaß denjenigen Grad der Intelligenz, der hiezu nötig war, in ganz vollkommener Weise.

Er hatte, wie ich schon erwähnte, die Aufmerksamkeit der Hunde auf sich allein gezogen. Als ich dann vor der geöffneten Türe stand und den lauten Ruf ausstieß, mit dem ich mich den Hunden bemerkbar machte, kam es darauf an, daß der Dschirbani einen von ihnen drüben bei sich festhielt. Das gelang ihm vortrefflich. Sobald mich beide sahen, wollten sie sich auf mich stürzen; da aber wiederholte er sein Rütteln und Schütteln mit solcher Stärke, daß der eine Hund sich ihm rasch wieder zuwendete, während der andere, ohne sich irre machen zu lassen, auf mich zugeflogen kam. Es wurde mir leicht, den ungeheuern Anprall, der mich unbedingt umgerissen hätte, abzuschwächen, und zwar mit Hilfe der Türe, die ich schnell halb wieder schloß, so daß sie den ersten Stoß auffing und ich zum Angriff übergehen konnte. Das Tier geriet nämlich mit einem Hinterfuße in die Zwischenräume der Latten. Anstatt sich zu befreien, bohrte es ihn in seiner Hast nur noch weiter hinein, und so gelang es mir ohne alle Mühe und fast gefahrlos, ihm die Arme um den Hals zu schlagen und diesen so fest an mich zu drücken, daß dem Hunde der Atem auszugehen begann. So riß ich ihn von der Türe los. Er hing, mit dem Rücken nach mir gewendet, mit der Kehle in meinen Armen, heulte vor Todesangst und versuchte vergebens, mich mit den Hinterkrallen zu fassen. Als der andere Hund das Angstgeheul hinter sich hörte, ließ er von dem Dschirbani ab und drehte sich um, jedenfalls in der Absicht, seinem Gefährten zu Hilfe zu kommen und mich zu packen. Was nun geschah, war im hohen Grade interessant. Schon setzte er nämlich zum Sprunge gegen mich an, da sah er den andern Hund, halb tot und in höchster Atemnot zuckend, in meinen Armen hangen. Er bekam einen Schreck. Ich trat gegen ihn vor, in die Türöffnung hinein. Wollte er an mich kommen, so stieß er nicht auf mich, sondern auf die in meinen Armen hängende Bestie. Er wich zurück. Ich trat weiter vor, er wich weiter zurück. Ich folgte ihm, und nun begann er, der riesige Blut- und Bärenhund, vor Angst zu winseln, zog den Schwanz ein und machte Miene, davonzulaufen. Das mußte ich benutzen. (Seite 74A) Es galt, ihn nun völlig und für immer einzuschüchtern. Ich schleuderte also den andern Hund von mir ab, und zwar so, daß er lang auf ihn fiel. Der Getroffene heulte vor Schreck laut auf, rannte davon und blieb erst in sicherer Entfernung wieder stehen, wo er, sich niedersetzend, zurückschaute und durch Seufzen und Stöhnen zu erkennen gab, daß er zwar ganz leidlich entkommen sei, sich aber über das Schicksal seines Gefährten große Sorge mache. Dieser lag vollständig bewegungslos. Nur über die Brust ging ein leises, zitterndes Heben und Senken. Das Maul war weit geöffnet und die Zunge hing heraus. Der Hund war dem Ersticken nahe gewesen. Ich stand neben ihm, bereit, ihn genau wieder so zu fassen wie vorher. Als der erste Lufthauch wieder in die Lunge drang, streckte sich der mächtige Körper. Die sich verglasenden Augen gewannen wieder Blick. Er erhob sich langsam und schwer, als ob ihm seine Glieder den Gehorsam noch verweigerten. Das war der kritische Augenblick. Ich öffnete die Arme, um sie, falls er sich wieder auf mich stürzen würde, abermals um ihn zu schlagen. Da hob er das Auge. Er sah mich vor sich stehen. Er erblickte die drohend geöffneten Arme. Zugleich hörte er das ängstliche Wimmern des andern Hundes. Er drehte den Kopf nach ihm um. Als dieser das sah, steigerte er sein Wimmern zum Heulen, und zwar zu jenem ganz eigenartigen, langgezogenen Heulen, mit der Fistelstimme, welches man meist nur dann zu hören bekommt, wenn irgendwo Feuer ausgebrochen ist. Da stimmte das vor mir liegende Ungetüm ein. Es legte, anstatt etwas Feindliches gegen mich zu unternehmen, den Hals und Kopf lang auf die Erde nieder, machte die Augen zu und ließ Jammer- und Klagetöne hören, die anfangs ganz unartikuliert erschienen, dann aber deutlicher und immer deutlicher wurden. Bei jeder Pause, die er machte, sah er mich an, als ob er fragen wolle: >Hast Du es gehört?< Nun sprach ich auf ihn ein. Er schwieg und hörte mich an. Dann antwortete er, indem er weiterheulte. Sobald er fertig war, begann wieder ich, und dann auch wieder er. So sprachen wir miteinander, er heulend und ich begütigend. Er verstand weder meine noch ich seine Sprache, aber in den Tönen lag etwas, was nicht durch Worte ausgedrückt werden konnte. Ich kniete zu ihm nieder und wagte es, ihm den Kopf mit der Hand zu streicheln. Er duldete es. Ich klopfte ihn zärtlich. Ich strich ihm über den Rücken. Das nahm er mit großem Behagen hin. Als ich mich dann wieder erhob, stand auch er auf und schob mir seine Schnauze in die Hand, um sich weitere Liebkosungen zu erbitten. Als das der andere sah, stellte er sein Jammern ein und verließ seinen Platz, doch nicht etwa, um weiter zu fliehen, sondern um sich mir zu nähern. Das geschah langsam und zagend, so ungefähr wie bei einem gutherzigen Knaben, der bestraft worden ist und sich dann nach und nach wieder an den Vater heranzuschlängeln sucht. Ich unterstützte diese seine erfreuliche Taktik dadurch, daß ich meine Zärtlichkeiten gegen seinen Gefährten fortsetzte und ihm dann mit diesem gar entgegenkam. Der Erfolg war, daß ich schließlich zwischen beiden Hunden stand und ihnen die dicken, nie gekämmten Felle derart klopfte und zauste, daß sie vor Wonne stöhnten. Ich versuchte nun, hin und her zu gehen. Sie gingen mit. Wenn ich umkehrte, taten sie es auch. Da wendete ich mich weiter, rund um den ganzen Stachelzwinger herum. Sie folgten mir. Ihre Augen waren mild und freundlich. Von der früheren Menschenfeindlichkeit gab es keine Spur mehr. Als ich dann von der andern Seite nach der Türe zurückkehrte, an welcher der Dschirbani stand, verhielten sie sich so gleichgültig, als ob sie das, was vorher ihre Pflicht gewesen war, vollständig vergessen hätten. Ich zog den Riegel weg, um die Türe zu öffnen.


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