"Darfst Du das wagen?" fragte der Dschirbani.

"Ja. Komm!" antwortete ich, indem ich, um ihm Platz zu machen, zurücktrat.

Die Hunde standen rechts und links von mir, ganz eng an mich gedrückt. Ich war so vorsichtig, jeden von ihnen fest an einem Ohre zu halten.

"Auf Dein Wort hin will ich es tun, Ssahib!" sagte er.

Bei diesen Worten stieß er die Türe auf und trat heraus. Hierbei öffneten sich die unteren Säume seines Haik, und ich (Seite 74B) sah, daß er unter demselben die eigentliche, lederne Kleidung trug. Auch die stiefelartige Fußbekleidung war von Leder, nicht von Bast, wie bei den meisten anderen Ussul. Die Hunde sahen zu ihm auf, ohne ein Zeichen des Hasses oder des Zornes. Auch ich schaute zu ihm auf, ja wirklich, zu ihm auf. Denn er überragte mich nach allen Dimensionen, in der Stärke, in der Höhe, in der Breite. Was war das für ein Mensch! Wie hehr, wie stolz, wie schön! Mir war, als ob in diesem Augenblicke seine Seele hinter ihm stehe, ihm unbewußt, und mir zurufe: >Schau her, und liebe ihn; er ist von königlichem Geschlecht!< Bis jetzt war der Zaun, war die Pforte zwischen uns gewesen. Wir standen uns nun also zum ersten Male ohne Hindernis gegenüber. Der erste Blick, den er frei auf mich richten konnte, war lang, erwartungsvoll und forschend. Während er mich ansah, senkte sich die Wimper für einen kurzen Moment, um sich gleich wieder zu heben, und das geschah dann sofort auch noch ein zweites Mal. Hierdurch wurde der eine, lange Blick in drei kürzere Teile geschieden, genau so, wie Schakara mir gesagt hatte, und so senkte auch ich meine Augenlider zweimal schnell hintereinander, um ihm das Zeichen, welches er mir gab, zu bestätigen. Da ging es wie ein warmer, verklärender Sonnenschein über sein Gesicht, und er sagte:

"Du bist ein Insan? Gehörst zur Insanija? Ich dachte es mir! Als ich Dich da draußen vor dem Zwinger halten sah, bevor Du abgestiegen warest, Dein Pferd viel kleiner als die unserigen, aber unendlich feiner und edler, und auch Du um so viel kleiner als ich, aber um so sicherer im Sattel und um so geistiger in allem, was Du tust, da kamst Du mir vor wie eine Vision, die mir der Himmel sendet. Weißt Du, was eine Vision ist?"

"Ja," antwortete ich.

"Und weißt Du, daß man mich den Wahnsinnigen nennt?"

"Ja."

"Der Mensch, der Visionen hat, ist von Gott begnadet. Solange er dies weiß, bringt er der Menschheit Segen, man mag an ihn glauben oder nicht. Sobald er dies vergißt, ist er wahnsinnig geworden und gleicht nur noch einer Vision, die nicht in Erfüllung geht."

"Woher weißt Du das?" fragte ich erstaunt.

"Es steht in meinem Buche hier."

Er deutete auf die Mitte der Brust, etwas unterhalb des Halses, wo man das >Hamail< zu tragen pflegt. Es war also anzunehmen, daß dort das Buch unter seinem Haik hing. Dann fuhr er fort:

"Als ich Dich sah, war es mir in meiner Vision, als ob Du, der scheinbar Kleinere, zu mir, dem scheinbar Größeren, herniederkämest von den Sternen, den scheinbar kleinen, die aber immer größer werden, je mehr man sich ihnen nähert. Ich sah es Dir sofort an, daß Du gekommen seist, mich zu befreien, und daß Dir das, was jeder andere für unmöglich halten muß, wie spielend, kinderleicht glücken werde. Dann, als die Vision vorüber war und mein Auge zur Wirklichkeit zurückkehrte, sah ich in Dir nur noch den Menschen und hatte Angst um Dich. Es ist gelungen! Aber wie! Ohne alle Waffen! Ohne jede Strenge! Und in so kurzer Zeit! Ssahib, ich bitte Dich, mir zu sagen, wie es Dir gelingen konnte!"

"Denke nach!" antwortete ich. "Die Lösung ist sehr einfach. Ich möchte, daß Du sie ohne meine Hilfe findest."

Er sah mir einige Augenblicke lang in das Gesicht, wie um nach den Gründen dieser meiner Antwort zu suchen. Dann sagte er:

"Ich danke Dir! Du handelst richtig. Was der Mensch sich durch eigenes Nachdenken verdienen kann, das soll er sich nicht schenken lassen! Ich frage Dich nicht, wer Du bist und woher Du kommst. Du bist Insan, und das genügt. Aber eines möchte ich wissen: Wo wirst Du wohnen?"

"Wahrscheinlich beim Scheik, denn ich bin sein Gast."

"So trennen wir uns jetzt. Aber wünschest Du, daß ich Dich wiedersehe?"

"Von Herzen!"

"Ich ebenso. Kannst Du nach meiner Insel der Heiden kommen?"

(Seite 75A) "Ja. Ich komme sehr gern. Aber wann?"

"Morgen früh, um die Mitte des Vormittags. Ich werde dort auf Dich warten."

"Muß ich allein kommen? Oder darf ich meinen Begleiter mitbringen?"

"Den kleinen Mann, der Dein Pferd hält?"

"Ja. Er ist mein Vertrauter. Ich habe ihn lieb."

"So bringe ihn mit, aber nur ihn allein. Nun laß mich gehen!"

Wir wendeten uns der Türe des äußeren Zaunes zu. Ich wollte die Hunde innen zurücklassen und die Türe dann von außen verriegeln. Aber als sie meine Absicht bemerkten, drängten sie sich mit aller Gewalt heraus, so daß ich es nicht verhindern konnte. Das hätte mir Sorge machen müssen, denn jetzt, wo sie losgelassen waren, konnte ihre Wildheit ungeheuren Schaden anrichten. Aber es war nicht die geringste Spur von Wildheit zu sehen und sie zeigten so wenig Lust, von mir wegzugehen, daß ich ihrer vollständig sicher zu sein glaubte. Ich hielt nur höchstens das Eine für nötig, sie wieder, wie vorhin, an den Ohren zu halten, und das ließen sie sich gerne gefallen. Jetzt versuchte auch der Dschirbani, sie zu liebkosen. Sie duldeten es nicht nur, sondern sie sahen dankbar zu ihm auf, und dabei gewannen ihre Augen einen rührend treuen und ehrlichen Ausdruck, der nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem frühern hatte. Da sagte er:

"Und solche Tiere zu verderben, gibt sich der Mensch so große Mühe! Wer steht da höher, er oder sie! Komm Ssahib!"

Wir gingen zunächst dorthin, wo Halef mit den Pferden hielt. Er war abgestiegen. Der Dschirbani blieb stehen, schaute ihm in das Gesicht und sprach:

"Ja, den bring mit morgen, wenn Du kommst!"

Dann betrachtete er die Pferde, still, lange Zeit und aufmerksam, mit bewundernden Blicken.

"Gefallen sie Dir?" fragte Halef, der es nicht über sich brachte, hierzu so lange zu schweigen.

Der Dschirbani lächelte zu dieser Frage, antwortete aber doch:

"Sie stammen nicht aus diesem plumpen Lande. Sie gehören zur Vision. Welch ein Glück für uns, wenn sie zur Wahrheit werden könnte!"

Wir gingen weiter, dem Kanale zu. Wir mußten an der Stelle vorüber, an welcher der Sahahr lag. Er hielt die Augen geschlossen. Den bei ihm befindlichen Männern war es noch nicht gelungen, das Blut zu stillen. Der Dschirbani trat hinzu; ich folgte ihm. Da sprangen sie auf und wichen zurück, um aus der Nähe des >Räudigen< zu kommen. Man hatte die Kleidung des Sahahrs aufgeschnitten und nun sahen wir die Wunde; sie sah gefährlich aus. Der untere Teil des Oberschenkels war zerfleischt und die Kniescheibe zerknirscht und zermalmt. Der Dschirbani griff in seinen Haik, zog ein Päckchen sehr breiten Bastes aus der Tasche und sagte:

"Wenn diese Wunde nicht sehr sorgfältig behandelt wird, muß er an ihr sterben. Ich werde ihn verbinden."

"Verstehst Du das?" fragte ich.

"Mein Vater war der berühmteste Arzt, den es gab. Ich bin sein Schüler."

Er wollte sich zum Sahahr niederbeugen; da öffnete dieser die Augen, richtete sich in sitzende Stellung auf, streckte dem Dschirbani beide Hände mit weit ausgespreizten Fingern entgegen und rief ihm im Tone höchsten Abscheues zu:

"Zurück mit Dir! Rühre mich nicht an! Du bist verflucht!"

Da richtete sich der Dschirbani empor und antwortete, trotz der Beleidigung, im ruhigsten Tone:

"Es gibt außer mir hier keinen, der solche Verletzungen richtig zu behandeln versteht. Wirst Du aber schlecht verbunden, so tritt Brand und Gift hinzu, und Du mußt sterben!"

"So sterbe ich!" schrie der Sahahr. "Fort, fort! Laß Deine Hand von mir! Ich habe mit Dir, dem Räudigen und Wahnsinnigen, nichts zu schaffen!"

Der Dschirbani steckte den Bast wieder zu sich und ging, ich mit ihm.

"Schrecklich!" rang es sich über meine Lippen. Ich wollte schweigen, doch konnte ich nicht. Dieses eine Wort wenigstens mußte ich sagen. Dieser Haß war nicht nur abstoßend häßlich, (Seite 75B) sondern geradezu unnatürlich. Aber der von seinem Großvater abgewiesene Enkel belehrte mich:

"Nicht schrecklich ist es, sondern im Gegenteile ganz natürlich. Er leidet an dem Selbstbetruge, daß ich verwandt mit ihm sei. Nun weißt Du aber bereits: wer die Lügen seiner Einbildung für Wahrheit hält, ist wahnsinnig. Nicht also ich bin irr im Kopf, sondern er ist geisteskrank. Was noch gesund in ihm ist, bäumt sich gegen diese Lüge auf, und es ist nur eine Folge seines Wahnsinnes, daß er diesen berechtigten Widerspruch in Haß und Empörung kleidet. Es wäre ungerecht, ihn wegen dieses Hasses nun gleich für einen bösen Menschen oder gar für einen unwürdigen Zauberpriester zu halten. Sein Haß entstammt dem Wahn; sein Glaube an Gott aber ist echt und wahr und frei von jeder Lüge. Ich bitte Dich, ihn zu achten!"

Wir hatten jetzt den Kanal erreicht. Da brachte man ein Floß gerudert. Es hatte in der Nähe gelegen und war vom Scheik herbeibeordert worden, um den verwundeten Sahahr nach seiner Wohnung zu schaffen. Das benutzte der Dschirbani, um über das Wasser hinüberzukommen. Sobald das Floß angelegt hatte, bestieg er es. Aber der Ruderer stieß einen Schrei des Schreckens aus und sprang an das Land, damit ihn der >Räudige< nicht berühre. Dieser achtete gar nicht hierauf, sondern richtete seine Aufmerksamkeit nur auf mich.

"Ich bedanke mich jetzt nicht bei Dir, Ssahib," sprach er. "Wer derart handelt, wie Du an mir gehandelt hast, dem sagt man nicht Dank, sondern man lebt ihm Dank. Auch gebe ich Dir nicht die Hand, um Deinetwillen. Man würde sich scheuen, Dich zu berühren!"

Hierauf trieb er durch einen kräftigen Fußtritt gegen das diesseitige Ufer das Floß nach dem jenseitigen hinüber, stieg aus, stieß es wieder herüber und ging von dannen, langsam, ruhigen Schrittes, hoch aufgerichtet wie ein Herrschender, ohne nach rechts oder links zu schauen. Er schien die Menschen, die ihm, sobald er sich ihnen näherte, schleunigst Platz machten, indem sie vor ihm wie vor einem durch und durch Aussätzigen auseinanderprallten, gar nicht zu bemerken. Hier und da aber war es, als ob ihm nicht aus Furcht und Scheu, sondern aus Ehrerbietung Platz gemacht werde. Ich glaubte, dies deutlich zu sehen; es fiel mir auf.

Nicht weniger auffällig war das allgemeine Schweigen, mit dem man seine Befreiung entgegengenommen hatte. Wie gefährlich die Hunde gewesen waren, zeigte die Verletzung ihres eigenen Herrn. Anderwärts hätte man den waffenlosen Sieg über sie wahrscheinlich mit lautem oder gar stürmischem Beifall begrüßt. Hier hatte man nicht ein einziges Wort, einen einzigen Ruf gehört. Diese Stille beim glücklichen Erfolg stach ganz ungemein gegen die vielen, lauten und wohlgemeinten Zurufe ab, mit denen ich vorher gewarnt worden war, das Wagnis zu unternehmen. Welchen Grund das hatte, konnte ich mir wohl denken. Nun der Dschirbani seine Freiheit zurückerhalten hatte, lag es wieder wie ein Alp auf dem ganzen Volke, und da sich dieses vor der Ansteckung fürchtete, nahm es das, was ich getan hatte, nicht als Wohltat, sondern als etwas geradezu Gegenteiliges auf. Ich, der ich ihnen bisher so sehr willkommen, hatte ihnen gleich bei meinem ersten Schritt in die Stadt etwas außerordentlich Störendes und Unwillkommenes aufgezwungen. Daher die allgemeine Lautlosigkeit, die man wohl am besten als >Stille der Verlegenheit< bezeichnen kann. Denn daß es eine Verlegenheit nicht nur der einzelnen Person, sondern auch großer Menschenmassen gibt, versteht sich ganz von selbst.

Mein kleiner Halef schien sich mit ganz ähnlichen Gedanken zu beschäftigen. Er stand, die Zügel der Pferde in den Händen, neben mir, schaute dem sich entfernenden Dschirbani mit leuchtenden Augen nach und brummte, als dieser verschwunden, fast zornig vor sich hin:

"Undankbares Volk! Du hast Dein Leben doppelt und dreifach auf das Spiel gesetzt, und nun es Dir gelungen ist, sind alle Mäuler stumm. Aber nachmachen kann es keiner! Und schau nur die Augen, die sie auf uns richten! Eindruck hast Du doch auf sie gemacht! Da hast Du Dein Pferd und Deine Waffen. Wir müssen wieder hinüber!"

Wir stiegen wieder auf und ließen uns von unseren Pferden über das Wasser setzen. Die Frau des Scheiks befand sich noch (Seite 76A) immer an der Stelle, wo wir sie verlassen hatten. Sie nahm uns wieder auf. Sie war die einzige, die beabsichtigte, uns ihren Beifall zu zollen. Eben wollte sie damit beginnen, da deutete sie erschrocken auf das Wasser des Kanals und rief:

"Die Unholde! Die Ungeheuer! Sie kommen hinter Dir her! Nimm Dein Gewehr! Schieß sie nieder!"

Die beiden Hunde waren hinter uns in das Wasser gegangen und schwammen herüber. Alles drängte voller Angst nach vorn und nach hinten, denn nach der anderen Seite konnte man nicht entweichen, weil da auch Wasser war. So wurde die Stelle, nach welcher die Hunde trachteten und wo ich mich mit Taldscha und Halef befand, frei. Jeder, der in der Nähe war, griff nach seiner Waffe, nach Messer, Pfeil oder Spieß, um sich zu schützen. Da hob ich warnend den Arm empor und rief:

"Hütet Euch, sie anzugreifen, zu verletzen! Sie würden dann wieder unbändig, wie zuvor! Ich stehe gut für sie!"

"Wenn Du Dich verbürgst, so bleibe ich bei Dir," antwortete die Frau des Scheiks beherzt.

Ich sprang vom Pferde und trat an das Wasser, um die Hunde liebkosend zu empfangen. Da leckte mir der eine die ihm entgegengestreckte Hand, und der andere beeilte sich, diesem Beispiele zu folgen. Ich wartete, bis sie sich das Wasser aus den Zotteln geschüttelt hatten, und band sie dann mit Hilfe zweier Riemen rechts und links an meine Steigbügel. Sie ließen sich das nicht nur gefallen, sondern gaben durch ein befriedigtes Winseln sogar ihre Freude darüber zu erkennen. Sie betrachteten es als den Beweis, daß sie nun zu mir gehörten. Das hatten sie ja gewollt, und als ich nun wieder in den Sattel stieg und das Pferd sich in Bewegung setzte, bellten sie laut und gingen fröhlich nebenher.

(Seite 77A) Die Frau des Scheiks blickte mich mit dem Ausdrucke unverhohlenen Erstaunens an."Welch ein Wunder!" rief sie. "Du bist auf alle Fälle ein größerer und unendlich geschickterer Zauberer als der Sahahr!"

"Durch Verstand und Liebe gut zu machen, was der Unverstand und Haß verschuldet hat, dazu bedarf es nur des guten Willens, nicht aber eines Wunders oder gar der Zauberei," antwortete ich. "Ein Wunder ist es nur, daß Ihr das Selbstverständliche und Natürliche für ein Wunder haltet. Bei allem, was soeben geschehen ist, beschäftigt mich nur die eine Frage, ob ich unnütz gehandelt habe oder nicht."

"Unnütz? Wieso?"

"Ist der Dschirbani nun wirklich frei?"

"Ja, wirklich!" versicherte sie.

"Für wie lange?"

"Für immer!"

"Er kann nicht wieder eingesperrt werden?"

"Als Aussätziger und Wahnsinniger nie wieder. Der Sahahr hat ihn freigegeben, und zwar unter Bedingungen, die von Dir erfüllt worden sind. Er ist also von jetzt an, bis er stirbt, ein freier Mann, dem niemand etwas anhaben darf, so lange er sich nicht in anderer und neuer Weise gegen die Gesetze der Ussul vergeht. Ich habe seine Freiheit gewünscht. Ich habe Dich um sie gebeten. Ich möchte nun gern von meinem Dank sprechen; aber ich habe nun gehört, was er hierüber sagte, nämlich daß man solchen Dank zu leben hat und nicht nur von ihm reden soll. Ich halte seine Ansicht für klug und weise und richte mich nach ihr, indem ich für jetzt schweige, um von nun an durch die Tat mit Dir zu sprechen. Das, was Du wünschest, soll mir nicht weniger wert sein, als mein Wunsch Dir gewesen ist. Ich bitte Dich, mich Deine Freundin nennen zu dürfen!"

"Du darfst nicht nur, sondern ich bitte Dich sogar darum, und zwar recht herzlich! Es ist mir eine große Beruhigung, zu wissen, daß diese Befreiung des Dschirbani für das ganze Leben gilt. Auf den Vorwurf, daß er wahnsinnig sei, habe ich ihn noch nicht prüfen können, aber einen Ausschlag hat er keineswegs. Ich habe ihn daraufhin sehr scharf betrachtet. Seine Haut ist unter und zwischen dem Haar nicht nur vollständig rein und blütenweiß, sondern an den Wangen rosig angehaucht wie bei einem jungen Europäer, durch dessen Adern noch keine Spur von Sünde und Krankheit rollt. Ihn gar als räudig zu bezeichnen, ist unbedingt eine Lüge!"

"Das nicht, das nicht!" entgegnete sie. "Der Ussul kann sich irren, lügen aber nicht. Wenn der Sahahr von einer Krankheit spricht, die er als Räude bezeichnet und ansteckend nennt, so hat er das für wahr gehalten - - -"

"Aber nur in seinem Wahnsinn!" unterbrach ich sie.

"Wahnsinn?" erkundigte sie sich. "Hält ihn der Dschirbani etwa für geisteskrank, für irr?"

(Seite 77B) "Ja."

"Sonderbar! Seine Frau ist derselben Meinung."

"Wessen Frau?"

"Des Zauberers Frau. Haben wir noch nicht von ihr gesprochen?"

"Nein, ich erfahre erst in diesem Augenblicke, daß er eine Frau hat."

"Und zwar eine, die bedeutender ist als er. Sie ragt hoch über ihn empor. Ich möchte sagen, daß sie die Seele, er aber nur der Körper ist. Ich verkehre viel mit ihr. Du wirst sie kennen lernen, vielleicht sogar schon heute. Aber sag, was schaust Du so erstaunt um Dich?"

Diese Frage bezog sich auf eine Beobachtung, die ich erst jetzt machte, weil wir nun in das Innere der Stadt, in ihre bewohnte Gegend, gekommen waren. Hier wurde der Weg, den wir ritten, viel breiter als bisher, zuweilen hörten die Kanäle auf, und es gab freie Plätze, an denen die Wohngebäude der Reichen und Vornehmen standen. Hier hatten sich viel mehr Menschen aufgestellt, als bisher, und unter ihnen bemerkte ich auffallend viel Verletzte, Verunstaltete und Krüppel, die, wenn sie auch nicht zusammen, sondern allein standen, doch infolge einiger Eigentümlichkeiten ihrer Kleidung als zusammengehörig erschienen. Sie hatten nämlich alle sehr hohe, lederne Stiefel an, die denen unserer Kürassiere und Gardereiter glichen. An diesen Stiefeln steckten ungeheuere Reitsporen mit riesigen Rädern, die bei jedem Schritte laut klirrten, und darauf schienen die so armen Leute außerordentlich stolz zu sein. Auf dem Rücken trug jeder von ihnen einen schwer gefüllten, rucksackähnlichen Ranzen aus Hundefell. Den Inhalt konnte man nicht sehen. Hierzu kamen zwei eiserne Nachbildungen von Kanonenrohren, auf jeder Achsel eines, natürlich in verkleinertem Maßstabe. Die Rohre hatten etwas mehr als die Länge der Achselbreite. Sie ragten also noch ein wenig über die Schultern hinaus, was der betreffenden Person den Ausdruck größerer Körperentwicklung und Kraft verlieh. Man hat sich diesen Schmuck oder diese Auszeichnung so ungefähr als Achselklappe oder Epaulette zu denken, unter der auf der linken Seite in heller Schrift >Wir sterben für< und auf der rechten Seite >den 'Mir von Ardistan< zu lesen war. Wie ich später sah, gab es nicht nur solche eiserne, sondern auch versilberte und sogar vergoldete Kanonenrohre, je nach der Höhe des Ranges, den diese Leute auf der Stufenreihe ihrer öffentlichen Geltung einnahmen. Alle, die ich während unseres Einzuges hier stehen sah, hatten ein sehr hilfsbedürftiges Aussehen. Dennoch hielt ich sie nicht für gewöhnliche Krüppel, sondern für eine Art von Kriegsinvaliden, die es verdienten, daß man sie achtete. Darum widmete ich ihnen im Vorüberreiten meine besondere Aufmerksamkeit, die von der Frau des Scheiks bemerkt worden war. Daher ihre Frage, warum ich so um mich schaue.

(Seite 78A) "Dir scheinen unsere Soldaten aufzufallen," fuhr sie fort.

"Soldaten?" fragte ich. "Du meinst Veteranen, die Gebrechlichen, die Siechen, die Verabschiedeten?"

"O nein! Sie sind Soldaten, wirklich Soldaten!"

"Das heißt, sie sind nicht als invalid zu betrachten? Sie kämpfen noch?"

"Ja, sobald ein Krieg entsteht. Dazu sind sie da. Sie sind es auch, welche das eigentliche Heer bilden werden, wenn es so weit kommt, daß wir den Tschoban entgegenziehen."

"Und so sind sie es wohl auch, die Euch verteidigt haben, so oft Ihr von den Tschoban belagert wurdet?"

"Gewiß! Auch das waren sie! Sie sind ja für nichts anderes zu brauchen!"

"So! Hm! Für nichts anderes zu brauchen! Bei Euch nimmt man also zum Kriegführen nur Leute, die sonst unbrauchbar sind?"

"Natürlich! Ist das etwa bei Euch anders?"

"Ja! Da sucht man grad die besten, die kräftigsten, die gesündesten heraus!"

"Wie schade, jammerschade! Ich habe geglaubt, daß bei Euch alles so klug, so weise, so wohlüberlegt gehandhabt wird, und nun erfahre ich von Dir grad das Gegenteil!"

"Kannst Du mir beweisen, daß Ihr in dieser Sache mehr Klugheit und mehr Überlegung zeigt als wir?"

"Ja! Sofort!"

"So tue es!"

"Sehr gern! Du weißt, es gibt Krieg und es gibt Frieden. Welches von beiden ist der natürliche Zustand, den Gott will und den auch wir wollen?"

"Der Friede."

"Du gibst also zu, daß der Krieg nur die unglückliche Ausnahme von der glücklichen Regel ist?"

"Ja."

"Sehr gut! Doch weiter: Es gibt nützliche Menschen und es gibt unnütze, ja, sogar schädliche Menschen. Welcher Zustand von beiden ist der natürliche, der erstrebenswerteste Zustand: nützlich zu sein oder unnütz, wohl gar schädlich zu sein?"

"Der erstere."

"Wie würdest Du wohl einen Menschen nennen, der anstatt das Gute zum Guten und das Nützliche zum Nützlichen zu fügen, das Böse zum Guten und das Schädliche zum Nützlichen gesellt? Würdest Du ihn für klug, für weise, für wohlüberlegt halten?"

"Nein."

"Also gehören die nützlichen Menschen, die gesunden, die arbeitsfähigen, zum Frieden, die andern aber für den Krieg! Es ist eine unverzeihliche Unklugheit und Sünde, grad die Ernährer des Volkes dem Feinde entgegenzusenden, damit er sie vernichte! Wir tun das Gegenteil: wir behalten sie daheim -"

"Und werdet darum fast regelmäßig geschlagen!" warf ich ein.

"Nein! Nicht regelmäßig, sondern nur meist! Aber bedenke, daß die Tschoban nur kommen, um Herden zu stehlen. Ich nehme an, daß sie uns überfallen und tausend Ochsen rauben. Ich kann das verhüten, indem ich ihnen zweihundert oder dreihundert junge, kräftige Männer opfere, die im Kampfe mit ihnen getötet werden. Effendi, ich sage Dir, daß mir die Wahl zwischen diesen tausend Ochsen und dreihundert Jünglingen nicht schwer fallen kann. Ich werde mit Freuden die Ochsen geben, um die Menschen zu retten! Es kann uns nicht einfallen, dem 'Mir von Ardistan grad unsere besten und auserwähltesten Leute zu schicken, zumal der Tribut, den er außerdem von uns verlangt, kaum zu erschwingen ist."

"Ihr zahlt Tribut?" fragte ich.

"Ihr etwa nicht?" fragte sie entgegen.

"Nein," antwortete ich.

"Wie nennt Ihr es sonst?"

"Steuern."

"Das ist genau dasselbe. Steuern sind erzwungener Tribut. Keiner gibt sie gerne. Werden sie für Werke des Friedens verwendet, so bringen sie Segen. Verlangt man sie aber für den Krieg, so bringen sie Fluch. Die Steuer, die wir dem 'Mir von Ardistan bezahlen, ist nur für den Krieg. Wir haben genau soviel zu entrichten, wie die Unterhaltung seiner Leibgarde kostet. Diese Leibgarde besteht nur aus hochgewachsenen Ussul, (Seite 78B) mit denen er prangt, und vor denen sich alle fürchten. Die haben wir ihm natürlich auch zu liefern. Wir rechnen also folgendermaßen: Wir haben die Leibgarde und alles zu liefern, was zu ihrer Unterhaltung erforderlich ist; folglich liefern wir nur solche Leute, die wir los sein wollen oder die wir auch hier in der Heimat ohnedies unterhalten müßten, ohne daß wir Nutzen davon hätten. Das sind die Kranken, die äußerlich und innerlich Kranken, die Faulen, die Leichtsinnigen, die Unzuverlässigen, die Lügner, die Diebe. In dieser Weise verhindern wir Verbrechen und ersparen Gefängnisse. Nur darum konnten wir Dir versichern, daß kein Ussul Dich belügen werde, denn die Schlechten sind bei dem 'Mir, nicht aber mehr bei uns."

"Fügen sie sich denn diesem Brauche, Soldat zu werden?"

"Mit Freuden!"

"Und auch körperlich Kranke sendet Ihr?"

"Ja. Nur müssen sie die vorgeschriebene hohe Statur besitzen. Es gereicht ihnen fast stets zum Nutzen. Sobald sie aus unsern niedrig liegenden, feuchten Wäldern heraus in die Sonne und hinauf in die Berge kommen, werden sie gesund. Auch die sittlich Kranken pflegen gesund zu werden. Die Zucht des 'Mir von Ardistan ist streng. Wer sich hier nicht fügt, der geht zugrunde. Daher kommt es, daß alle diejenigen seiner Leibgardisten, die er auf ihren Wunsch ausscheidet und in die Heimat schickt, sehr brauchbar gewordene und bewährte Menschen sind, die ihren Stolz dareinsetzen, hier bei uns geachtet zu werden. Wir haben es für vorteilhaft gehalten, aus ihnen unser kleines, stehendes Heer zu bilden, und ich bin überzeugt, daß Du uns sehr bald dafür loben wirst. Du wirst eine ganze Abteilung von ihnen sehen, die bereitsteht, uns zu empfangen, denn unsere Ankunft ist gemeldet worden. Nur noch zwei Minuten, so sind wir am Palast. Erlaube mir, mich wieder zum Scheik zu gesellen!"

Sie trieb ihr Pferd an und befand sich nach wenigen Augenblicken an der Seite ihres Gemahls. Ich war nun wieder mit Halef allein in Reih und Glied. Dieses Glied im Zuge nahm allerdings beträchtlich mehr Raum ein als die andern Glieder, und zwar wegen der Hunde. Man traute ihnen nicht. Voran ritt der Scheik mit seiner Frau, dann folgte die Hälfte der Ältesten, hierauf kamen wir beide. Hinter uns hatten wir die andere Hälfte der Ältesten, denen sich der übrige Zug mit der abschließenden Menge Schaulustiger anfügte. Die vordere Hälfte beeilte sich derart, aus der Nähe der Hunde zu kommen, und die hintere Hälfte zögerte so sehr, sich ihnen zu nähern, daß ich mit Halef mitten in einer großen Lücke ritt, die sich nicht schließen wollte. Die Leute, an denen wir vorüberkamen, konnten uns also sehr bequem und deutlich von allen Seiten betrachten. Der Eindruck, den wir hervorriefen, schien keineswegs ein solcher zu sein, daß wir uns etwas auf ihn zu gute tun durften. Wir und unsere Pferde waren ihnen zu klein. Man konnte das ihren Bewegungen entnehmen, die eine Enttäuschung aussprachen. Die Kunde von uns war uns vorausgeeilt. Was Halef von uns erzählt und berichtet hatte, war höchst wahrscheinlich schon überall bekannt. Und nun konnten diese guten Menschen, die gewohnt waren, nur nach der Körpergröße zu urteilen, das, was sie gehört hatten, mit unsern kleinen, zerbrechlich erscheinenden Gestalten nicht in Einklang bringen.

Jetzt tauchten vor uns zwei große, turmartige Bauwerke auf, die um so massiger zu werden schienen, je mehr wir uns ihnen näherten. Unser bisheriger Weg nahm ein Ende. Er mündete auf einen großen, freiliegenden Platz von genau quadratischer Form. Die uns gegenüberliegende Seite wurde vom Fluß begrenzt und schien den Hauptlandeplatz zu bilden. An den beiden übrigen Seiten, also rechts und links von uns, standen die erwähnten Türme, die einander vollständig glichen, nur daß der eine Fenster hatte, der andere aber nicht. Sie bildeten genau nach dem Zirkel gebaute Mauerringe im äußern Durchmesser von vielleicht hundertfünfzig Schritten. Die Höhe der Mauer betrug ungefähr zwanzig Meter; aber die Höhe der Türme war viel beträchtlicher, denn aus der Mauer stiegen viele aus sehr starken Holzstämmen gezimmerte Säulen empor, welche das Dach trugen. Dieses Dach zeigte die Form eines riesigen Regenschirmes, dessen Stock aus den stärksten Bäumen zusammengesetzt war und im Innern der Türme genau auf dem Mittelpunkt (Seite 79A) des Kreises stand. An diesem Stock führte eine aus einzelnen Gliedern bestehende Holztreppe nach der Höhe empor, nach einer kleinen, mit Geländer versehenen Plattform, die hoch oben auf der Spitze des Schirmdaches lag. Die Säulen, auf welchen das Dach ruhte, waren nicht durch Zwischenwände verbunden, sondern standen frei und ließen eine solche Fülle des Lichtes in das Innere fallen, daß man auf Fenster allerdings verzichten konnte. Dennoch war das Innere vollständig gegen den Regen geschützt, weil das Dach rundum weit über die Mauer hinausgriff und dadurch den Regen verhinderte, hereinzufallen. Auch die beiden sehr hohen und breiten Tore glichen einander vollständig; sie besaßen die allereinfachste Steinrahmung und enthielten keine Spur eines künstlerischen Schmuckes oder Gedankens.

Der Turm rechts von uns, der nur die nackte Mauer und kein einziges Fenster zeigte, war der sogenannte >Tempel<; der andere, zur Linken von uns liegend, war der >Palast<. Letzterer hatte rundum vier Reihen von Fensteröffnungen, aber klein, schießschartenähnlich und ohne Glas und Rahmen. Dieser Turm war innerlich ausgebaut, mit Balken und Wänden von Holz. Die Zimmer, Stuben, Gemächer oder wie man sie sonst nennen will, lehnten sich an die Mauer. Jedes von ihnen hatte ein, zwei oder auch mehrere Fenster. Es gab auch einige größere Räume, welche als Säle dienten. Die Zimmer füllten aber nicht den ganzen Innenraum, sondern es blieb in der Mitte, also um den Stock des Regenschirmes herum, ein freier Platz, so eine Art Innenhof, auf dem sich zwei mächtige Feuerherde befanden; die auf dem Boden liegenden Matten und Kissen deuteten darauf hin, daß er bei schlechtem Wetter die Versammlungs-, Beratungs- und Unterhaltungshalle bilde.

So viel über den >Tempel< und den >Palast< der Ussul. Es hatte ihnen genügt, zwei steinerne Gebäude von dieser Größe zu besitzen. Von einer Architektonik war keine Rede. Aber diese Türme wirkten doch und zwar grad durch ihren Mangel an Ausdruck und Geist. Man sah, dieses Volk hatte architektonisch reden wollen, aber es nicht vermocht und es nur zu diesem einen gewaltigen Schrei, zu diesem einen, großen, unartikulierten Ausruf gebracht; dann war es in das frühere Schweigen zurückversunken und fortan stumm geblieben. Stumm, vollständig stumm? Doch nein! Ein zweiter Versuch war noch gemacht worden, wenn auch nicht auf architektonischem, sondern auf mehr rein plastischem Gebiete. Nämlich zwischen den breiten Turmmassiven, grad auf dem Mittelpunkte des freien Platzes, an dem sie lagen, stand auf einem hohen Backsteinunterbaue die nicht ganz übel gelungene Statue eines gesattelten Pferdes, welches aus starken Holzteilen zusammengesetzt und dann durch Farbe vor den zerstörenden Angriffen des Witterung geschützt worden war.

Massig, schwer und wohlbeleibt, so stand das Pferd hier auf seinem Postament. Es war, wie gesagt, nicht übel geraten, aber wenn man den Kopf nur ein ganz wenig veränderte und hüben und drüben ein Horn ansetzte, so war es ein Ochse. Aber daß es keinen Ochsen, sondern ein Pferd vorstellen sollte, ersah man schon daraus, daß es einen Reiter trug, wenigstens grad in dem Augenblick, als wir den Platz erreichten. Dieser Reiter war lebensgroß, das heißt, nach den Maßen der Ussul. Das Pferd aber war über lebensgroß, und darum erschien der Reiter viel zu klein für dieses außerordentlich wohlbeleibte Roß. Man fragte sich, wie der Künstler auf so ein Mißverhältnis hatte kommen können. Und auch über einen noch anderen Punkt war man sich bei Betrachtung dieses Denkmals nicht klar, nämlich über das Material, aus dem man den Reiter gefertigt hatte. Das Pferd bestand, wie bereits gesagt, aus Holz. Der Stoff aber, aus dem die darauf sitzende Gestalt bestand, war nicht zu erkennen, denn die Gestalt war vollständig bekleidet und mit wirklichen Kleidungsstücken angetan. Auch das Gesicht verriet das Material nicht, weil es über und über behaart war. Der Bildhauer hatte diese Behaarung so vorzüglich, so außerordentlich gut getroffen, daß man versucht war, auch sie für natürlich zu halten. Auf dem Kopfe des Reiters saß ein heller, großer, indisch gewundener Turban mit einem sehr hohen Agraffenbusch aus Reiherfedern. Die Gestalt war in eine Art von Krönungsmantel eingehüllt, der aus rotem Zeug gefertigt, am Kragen und längs des unteren Saumes mit weisem Pelz besetzt (Seite 79B) war. Infolge der großen Länge und Weite dieses Mantels bedeckte er nicht nur die ganze Figur des Reiters, sondern auch noch den hinteren Teil des Pferdeleibes; man sah nicht einmal die Steigbügel mit den Füßen.

"Ein Denkmal!" sagte Halef erstaunt. "Hier bei den Ussul! Also von Kunst haben sie auch etwas. Wer hätte das gedacht! Den Reiter sehe ich mir noch genauer an. Wie schade um den schönen roten Mantel und um den weißen Turban mit dem Federbusch, wenn es regnet! Jetzt haben wir leider keine Zeit dazu, ihn aufmerksam zu betrachten!"

Das war richtig. Denn der Scheik hatte, sobald die beiden Türme in Sicht kamen, sein Pferd in Trab gesetzt, und wir mußten in demselben Tempo folgen. Er wollte hierdurch den Eindruck erhöhen, den wir zu machen hatten. War doch der große Platz ebenso wie seine Umgebung mit einer bedeutenden Menschenmenge derart angefüllt, daß wir nur noch Raum für uns und die Ältesten fanden, um hindurch zu gelangen; die übrigen mußten bleiben, wo sie waren.

Alles war still. Diese Schweigsamkeit war mehr als musterhaft zu nennen; sie hatte etwas Enttäuschendes, fast gar Beängstigendes. Doch sie fiel nur uns beiden Fremden auf; die Einheimischen waren das gewohnt. Übrigens wurden wir zwei durch das rund um uns vorhandene Menschengedränge nicht im geringsten belästigt. Man hielt sich der Hunde wegen in möglichst großer Entfernung von uns.

Als wir uns dem Tore des >Palastes< näherten, sahen wir zu beiden Seiten desselben je eine Kanone aufgepflanzt; bei jeder standen vier Soldaten von der bereits beschriebenen Art. Der eine hielt die brennende Lunte, der zweite den Schrupper zum Auswischen des Rohres, der dritte und der vierte einen Sack voll Pulver und das Zündkraut bereit. Seitwärts war die >ganze Kompagnie< Soldaten aufmarschiert, von der die Frau des Scheiks gesprochen hatte. Wir hielten nahe vor ihrer Front an, um den militärischen Pomp zu genießen, den man uns zugedacht hatte. Der Scheik und seine Frau hielten sich neben uns, um uns nötigenfalls Auskunft zu erteilen. Die Kompagnie zählte vierzig Mann, die mit langen Schleppsäbeln und Feuersteingewehren ausgerüstet waren. Sie bildeten nicht eine Doppel-, sondern eine einfache Linie. Das war länger und imponierte also mehr. Diese Leute waren alle barhaupt, hatten aber die schon erwähnten hohen Reiterstiefel mit mächtigen Sporen an und den gewaltigen, wohlgefüllten Rucksack auf dem Rücken. Es gab da alle möglichen Blessuren, Verwundungen und Krüppelhaftigkeiten zu sehen: ein- und anderthalbbeinige, ein- und anderthalbarmige Leute. Da war kaum ein Körperteil oder Sinneswerkzeug, das nicht bei einem oder einigen entweder fehlte oder doch wenigstens verletzt worden war. Aber sie standen alle höchst wohlgenährt und stramm in Reih und Glied, und als sie nun zu exerzieren begannen, waren ihre Bewegungen so frisch und lebhaft, daß man sah, sie seien mit ganzem Herzen bei der Sache. Zwei waren um einen Schritt vor die Front herausgerückt; sie trugen kein Gewehr, sondern hielten den gezogenen Säbel in der Hand.

"Das sind die Leutnants," erklärte mir der Scheik. "Du siehst, ihre Kanonenrohre auf der Achsel sind nicht schwarz, sondern versilbert."

Einer stand noch weiter voraus, grad in der Mitte. Der hatte auch einen Säbel, aber hochrote Achselrohre.

"Wer ist das?" fragte ich.

"Das ist der Oberst," belehrte man mich.

"Da fehlen doch der Oberleutnant, der Hauptmann, der Major und andere!"

"Ja, die fehlen allerdings," gestand er ein. "Die haben wir nicht, weil uns das viel zu viel Geld kosten würde."

"Aber ich habe nur von eisernen, von versilberten und vergoldeten Achselrohren gehört, nicht aber von roten!"

"Ja, das ist auch richtig! Als Oberst müßte er eigentlich vergoldete haben, die aber waren mir zu teuer. Da habe ich sie ihm rot anstreichen lassen, und ich finde, daß sie ganz gut aussehen. Er freute sich sogar selbst darüber und sagte, das sei noch niemals dagewesen. Weißt Du, Soldaten haben ist eigentlich gar nicht übel. Man kann dann doch zeigen, wer man ist. Aber sobald es aufhört, einträglich zu sein, und anfängt, (Seite 80A) Geld zu kosten, so will ich lieber verzichten! Man kann sich doch ganz unmöglich große Kosten machen, um Leute zu erhalten, die im Grunde genommen nur dazu da sind, andere umzubringen! Doch merkt jetzt auf! Das Schießen beginnt! Zunächst mit Kanonen! Alles Euch zu Ehren!"

Er hatte diese seine Ansicht über die Daseinsberechtigung des Soldatenstandes in einem so unbefangenen, ehrlichen Tone ausgesprochen, als ob man überhaupt gar nicht anders denken könnte. Halef, dem der Anblick von Truppen stets Freude bereitete, lächelte mich heimlich an. Ich antwortete nicht. Was ich hier zu entgegnen hatte, konnte ich später viel besser sagen als jetzt, wo augenscheinlich sehr große Dinge vorbereitet wurden. Der Oberst wendete sich den Kanonieren zu, erhob den Säbel hoch und rief:

"Paßt auf!"

Um zu zeigen, daß sie dieses Kommandowort auf sich bezogen und auch erfüllen wollten, warf jeder der acht Feuerwerker den Kopf so weit wie möglich in den Nacken.

"Laden!" befahl der Oberst.

Kaum hatte er das gesagt, so sprangen die acht Artilleristen mit einem Eifer auf die Geschütze ein, als wollten sie die ganze Welt in Grund und Boden schießen. Wer nicht wußte, um was es sich handelte, der hätte glauben können, daß es ihre Absicht sei, einen Kriegstanz oder Ringelreigen aufzuführen. Dabei wurde gestoßen, geschoben, geklopft, gepocht, geschüttet, gerüttelt, gewischt, geächzt, gestöhnt, gestrampelt und gesprungen, daß ihnen der Schweiß aus allen Poren brach.

"Es wird Großartiges geleistet!" rief der Scheik voll Anerkennung aus, zu mir gewendet. "Zehn Schüsse! Bedenke, zehn Schüsse! Wie teuer! Und alles Euch zu Ehren!"

Endlich standen die Kanoniere wieder still. Der Mann mit der Lunte blies diese kräftig an.

"Paßt auf!" befahl der Oberst wieder.

Abermals flogen die Köpfe hintenüber. Die Menge aber, auf welche die Läufe gerichtet waren, duckte sich unwillkürlich.

"Feuer!" brüllte der Oberst mit aller Macht.

Da tippte der Mann mit der Lunte die Kanone von hinten an, einmal - zweimal - - vier- und fünfmal - - - doch vergebens! Und genau wie bei der einen, war es auch bei der anderen Kanone! Es fiel weder der einen noch der anderen ein, zu tun, was ihnen zugemutet wurde.

"Was ist denn los?" fragte der Kommandeur.

"Es geht nicht los - !" antworteten die beiden Luntenleute.

"Warum denn nicht?"

"Das Pulver ist ganz naß!" erklärte der eine, und der andere fügte hinzu: "So habe ich also recht? Ich habe gleich von allem Anfang gesagt, daß es nicht zünden wird! Du wolltest es aber nicht glauben!"

Dieser Vorwurf war an den Obersten gerichtet. Der warf einen verlegenen Blick auf den Scheik und klagte:

(Seite 80B) "Es ist ein wahres Unglück mit dem ewig nassen Pulver hier in diesem feuchten Lande! Was kann man da tun? Was soll ich machen?"

Da wendete sich der Scheik an mich:

"Du weißt, daß die Schüsse nur Euch gewidmet sind. Und Du hörst, daß das Pulver nicht Feuer fangen will. Bestehst Du auf den zehn Schüssen, die ich Dir versprochen habe, so müssen wir es trocknen!"

"Wie lange dauert das?" erkundigte ich mich.

"Drei oder vier Tage."

"So bitte ich Dich, diese tapfere Artillerie ja nicht unnütz zu bemühen! Denn das Pulver würde ja doch wieder feucht."

"Allerdings. Du bist also bereit, zu verzichten?"

"Ja."

"Ich danke Dir! Zehn Schüsse kosten doch immerhin Geld."

Er sagte das so laut, daß auch die Soldaten es hörten. Darum rief nun der Oberst zu ihm herüber:

"So sind wir mit der Batterie wohl fertig?"

"Ja," nickte der Scheik.

"Und das Exerzieren der abgestiegenen Gardereiter kann beginnen?"

"Ja!"

Jetzt wendete sich der Oberst der langen Linie zu und donnerte sie an:

"Paßt auf!"

Ein jeder von ihnen gab sich einen kräftigen Ruck, um dem Befehle nachzukommen. Hierauf folgten höchst eindrucksvolle Bemühungen, um zu zeigen, wie man einen Menschen tot schieße. Die Sache wurde sehr anschaulich gemacht. Das Pulver schien hier bedeutend trockener zu sein als bei der Artillerie, denn von den vierzig Gewehren gingen ungefähr zwanzig bis fünfundzwanzig wirklich los, wenn auch nicht zugleich. Immerhin aber ergaben jene Flinten, die nicht losgingen, eine Pulverersparung von über vierzig Prozent, was den Scheik in eine derartige gute Laune versetzte, daß er immerfort schallend Beifall (Seite 81A) rief. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in seine Begeisterung einstimmte. Halef gab sich alle Mühe, ihn und mich zu überschreien. So wurden auch die Ältesten angesteckt, daß sie anfingen, mitzuschreien. Und nun öffnete auch Smihk, der Dicke, sein Maul und brüllte in allen möglichen Tönen mit, daß es über den ganzen, weiten Platz erschallte. Das wirkte überwältigend. In der Menge wurden erst einige und dann immer mehr mit fortgerissen, bis sich endlich alles an dem Heidenlärm beteiligte. Das ergab einen Spektakel, der gar kein Ende nehmen wollte. Alles war entzückt. Und als sich das Getöse endlich zu legen begann, schritt der Oberst in seiner stolzesten Haltung auf uns zu, machte Honneur und fragte den Scheik:

"Bist Du zufrieden?"

"Ja," antwortete dieser.

"Und Du?" wurde auch ich gefragt.

"Sehr zufrieden! Sage Deinen tapferen Truppen, daß ich mich über sie freue!"

"Und Du?" wendete er sich nun auch an Halef.

"Ich bewundere Euch!" lobte dieser. "Ich bitte Dich, Deinem Heere zu berichten, daß wir es für unüberwindlich halten!"

Der Kommandant kehrte zu seinen Leuten zurück, um ihnen diese Anerkennung mitzuteilen. Über dieses Lob waren sie so erfreut, daß die >abgesessenen Gardereiter< diejenigen Flinten, die losgingen, noch einmal abschossen, ohne den Befehl hiezu erhalten zu haben. Auch die beiden Luntenträger von der Artillerie machten noch einen sehr ernstlichen Versuch, ihr feuchtes Pulver anzuzünden. Aber es gelang nicht. Und nun war der feierliche Empfang vorüber. Ich bedankte mich bei dem Scheik und seiner Frau für diese ungewöhnliche Ehrung. Halef folgte meinem Beispiele, und dann wurden wir gebeten, von den Pferden abzusteigen und mit in das Innere des >Palastes< zu gehen, um den >Willkommen< zu essen und zu trinken. Ich bedeutete den Hunden, bei den Pferden zu bleiben; sie verstanden mich sogleich, setzten sich nieder und blieben bis zu unserer Rückkehr sitzen.

(Seite 81B) Das Innere des >Palastes< sah beinahe wie ein Zirkus aus, in dem man sich nur auf der runden, in der Mitte liegenden Arena bewegen kann, weil der ganze Zuschauerraum ringsum von unten bis oben mit Brettern verschlagen ist. Hinter diesen Brettern lagen die ein-, zwei- und mehrfenstrigen Stuben und Räume, von denen ich bereits gesprochen habe; zu den oberen führten schmale Holztreppen empor. Der Mittelplatz, zu dem man uns geleitete, erhielt sein Licht nur von oben. Auf den beiden Herden brannten mächtige Holzfeuer, an denen mehrere Rinderviertel und kleinere Fleischstücke brieten. Gekocht wurde in großen, irdenen Töpfen. Auch gebacken wurde, und zwar lange, schmale Brote, die beinahe so dünn wie Kuchen waren.

"Großartig, Sihdi! Großartig!" sagte Halef entzückt, indem er mit der Zunge schnalzte.

Ihm bereitete nämlich der Geruch und Genuß von neubackenem Brote das denkbar größte Behagen.

"Was meinst Du da, das Fleisch oder das Brot?" fragte Taldscha, als sie seine Worte hörte.

"Das Brot!" antwortete er und machte dabei ein Gesicht, das in lauter Wonne glänzte.

Sie lachte und sprach:

"Des Brotes wegen haben wir Euch ja in dieses Haus geführt. Ihr sollt den >Willkommen< essen, und der besteht aus Salz und Brot. Erlaubt, daß ich Euch gebe!"

Sie ging an den Herd, auf dem die noch warmen, duftenden Brote lagen, bestreute eines mit Salz und brach es dann für uns vier Personen in ebenso viele Teile. Die üblichen Worte, die sich auf die Rechte und Pflichten des Wirtes und des Gastes beziehen, wurden gegenseitig ausgewechselt, und dann aß jeder seinen Bissen.

"Noch ein Stück, aber ein ganzes!" bat Halef.

Taldscha erfüllte diesen Wunsch mit Wonne, sah lächelnd zu mir herüber und fragte:

"Auch Du noch eins, Effendi?"

"Ja, bitte, ein ganzes!" antwortete ich.

Sie holte uns das Gewünschte. Da setzte sich Halef gleich auf den ersten besten Bastdeckel nieder, der an der Erde lag, und begann zu schmausen.

"Komm, Sihdi!" sagte er, indem er ein wenig zur Seite rückte, um mir Platz zu bieten. "Setz Dich mit her! ich stehe nicht eher wieder auf, als bis ich fertig bin!"

Ich folgte dieser Aufforderung ungesäumt. Das war allerdings im höchsten Grade unzeremoniell gehandelt, aber der Scheik und seine Gattin freuten sich darüber, und später äußerte man sich meinem kleinen Hadschi gegenüber, daß wir uns durch die ungezwungene Aufrichtigkeit, mit der wir ihre Backkunst ehrten, die Herzen aller Anwesenden im Nu gewonnen hatten.

(Seite 82A) Taldscha entfernte sich für kurze Zeit. Als sie zurückkehrte, hatte sie einen großen Steinkrug in der einen und vier kleine, chinesische Porzellantäßchen in der andern Hand. Die letzteren gehörten jedenfalls zu ihrem kostbarsten Besitz.

"Der >Willkommen< wird bekanntlich nicht nur gegessen, sondern auch getrunken," sagte sie. "Ich bringe Euch also auch den Simmsemm, der hierbei üblich ist."

Sowohl Simm als auch Semm heißt: Gift; Simmsemm bedeutet also Doppelgift. Das klang nicht sehr verführerisch. Die Flüssigkeit, die sie in die Täßchen goß, war durchsichtig hell und roch sehr stark nach Spiritus. Der Scheik sprach einige begrüßende und bewillkommnende Worte und trank sodann seine Tasse in einem Zuge aus. Halef antwortete ihm in seiner höflichen Weise und schluckte dann das Zeug ebenfalls mit einem Male hinab. Ein gewaltiger Hustenanfall war die Folge. Auch Taldscha trank aus; ich sah aber, daß sie sich nur sehr wenig eingegossen hatte. Leider durfte ich dieses messerscharfe Getränk nicht fortschütten; es mußte getrunken werden, weil es eben der >Willkommen< war. Ich tat es so langsam wie möglich und darf der Wahrheit gemäß gestehen, daß ich bis hierher noch niemals etwas so ätzend Widerliches getrunken hatte.

"Verzeihung, o Scheik!" bat Halef, als er seinen Hustenanfall überwunden und die ihm aus den Augen perlenden Tränen abgetrocknet hatte. "Ich habe keineswegs die Absicht, diese Art, uns willkommen zu heißen, zu tadeln, aber ich muß Dich wenigstens bitten, mir zu sagen, was für ein Höllentrank und Teufelswasser das ist, damit ich es später verhüte, mein Inneres nach außen und mein Äußeres nach innen wenden zu müssen!"

"Das ist Simmsemm," antwortete der Gefragte. "Ihr habt den Namen bereits gehört. Dieser Trank wird aus viel Getreide und wenig Wurzelwerk gemacht und pflegt nur starken Leuten zu bekommen. Ich trinke ihn sehr gern!"

"Leider ja!" tadelte seine Frau, indem sie freundlich warnend den Finger hob. "Wer seinen Stamm dadurch glücklich machen will, daß er ihm mit gutem Beispiele vorangeht, der darf solches Zeug nicht trinken. Gott hat dem Menschen das Getreide gegeben, daß er das Brot, nicht aber Gift daraus bereite. Wer seinem Nächsten Gift anstatt des Brotes gibt, der tut, was er nicht soll! Wie gut schmeckt Euch dieses Brot, und wie wohl wird es Euch bekommen! Wie häßlich dagegen schmeckt dieser Simmsemm, der jeden, der ihn oft genießt, in bösen Rausch oder schlimme Krankheit stürzt! Und doch sind beide, der Segen und der Fluch, aus ganz denselben Früchten und Körnern gemacht! Hast Du schon einmal hierüber nachgedacht, Effendi?"

"Schon oft, sehr oft!" antwortete ich.

"Wie mag es nur kommen, daß der Mensch sich so energisch bemüht, den Segen, den Gott ihm sendet, in Fluch zu verwandeln? (Seite 82B) Und hat er das getan, so pflegt er dieses sein Werk noch dadurch zu krönen, daß er den Fluch als Genuß empfindet! Sogar Amihn, der berühmte Scheik der Ussul, hat soeben eingestanden, daß auch er ihn gern trinke!"

Die letzten Worte wurden in scherzhafter Weise gesprochen, waren aber ernsthaft gemeint, und so kam es dem Scheik sehr gelegen, daß wir unser Brot mittlerweile gegessen hatten und es ihm nun erlaubt war, dieses ihm nicht ganz behagliche Thema abzubrechen.

"Der Willkomm ist vorüber," sagte er, "ich werde Euch nun nach Eurer Wohnung führen. Sie liegt nicht hier im Schlosse, sondern in einiger Entfernung von ihm am Strome."

"Wir taten das zu Eurer Bequemlichkeit," erklärte seine Frau, um dem Verdacht zu begegnen, daß es ihnen an der uns schuldigen Achtung fehle. "Der immerwährende Lärm des Palastes würde Euch in Eurem Wohlbefinden stören; auch wäre es für Euch nicht möglich, Eure Pferde bei Euch zu haben. Darum werden wir Euch nach einem ruhigen und bequemen Hause bringen, wo es Euch besser gefallen wird, als hier bei uns. Ich gehe mit."

Wir verließen also den allerdings sehr geräuschvollen Palast und kehrten zu unsern Pferden zurück. Die Menschenmenge war inzwischen beinahe verschwunden. Es gab nur noch einige kleine Gruppen, die stehen geblieben waren, um uns vor Nacht doch vielleicht noch einmal sehen zu können. Indem wir unsere Blicke über den Platz und diese Leute schweifen ließen, rief Halef plötzlich mit einem lauten Schrei der Überraschung:

"Maschallah! Was sehen meine Augen? Es geschehen hier Zeichen und Wunder!"

Er deutete nach dem Reiterstandbilde. Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Arme nach dieser Richtung, und nun sah ich, daß der Reiter sich auf dem Pferde zu bewegen begann. Er schlug den langen Mantel auseinander und ließ ihn auf das Postament herunterfallen. Dann blickte er sich um, erst nach rechts und links, hierauf hinter sich. Bisher hatte er vollständig unbeweglich nur immer grad vor sich hingestarrt. Als er sich nun aber überzeugte, daß der Platz vollständig leer geworden, hielt er es für überflüssig, länger sitzen zu bleiben. Er zog das rechte Bein nach hinten in die Höhe, schwang es über das Pferd herüber und kletterte dann zur linken Seite auf den Ziegelunterbau herab.

"Der lebt! Der lebt!" rief Halef aus. Er fühlte sich so urkomisch berührt, daß er zu lachen begann. "Der lebt! Der lebt! Ein lebender Reiter auf einem hölzernen Pferde!"

Er lachte immer lauter und lauter. Ich mußte mich stark beherrschen, um nicht mitzulachen.

"Was gibt es da sich zu wundern?" fragte der Scheik, halb erstaunt und halb beleidigt. "Welche Kunst ist wohl größer, Menschen oder Holz in Bildsäulen zu verwandeln?"

(Seite 83A) Diese Frage verblüffte Halef. Er begriff, daß sein Lachen beleidigend war. Nun senkte er den Blick und schämte sich. Gleich aber sah er wieder empor, wobei er in seiner aufrichtigen, freimütigen Weise antwortete:

"Verzeihe, o Scheik! Aber ich habe so etwas wirklich noch nie gesehen!"

"So bist Du also gewohnt, zu lachen, wenn Du etwas siehst, was Du noch nie gesehen hast? Da werde ich Dir hier bei uns fast gar nichts zeigen dürfen, denn Du würdest da sehr wahrscheinlich so viel Unbekanntes sehen, daß Dein Lachen gar nicht zu Ende käme!"

Dieser Hieb saß fest, aber Halef war viel zu stolz, sich dies merken zu lassen. Er tat, als ob er nicht getadelt, sondern gelobt worden sei, und fragte:

"Was hat denn diese ganze, sonderbare Sache vorzustellen?"

"Eine Übereilung, weiter nichts," antwortete Taldscha an Stelle ihres Mannes. "So oft Fremde zu uns kamen, oder ein Ussul aus der Ferne zur Heimat zurückkehrte, hörten wir, daß andere Völker ihre berühmten und verdienten Männer dadurch ehren, daß sie ihnen ein Denkmal setzen. Es soll sogar vorkommen, daß man Personen ein Denkmal stiftet, die sich weder Berühmtheit noch Verdienste erworben haben. Da begannen die Ussul, sich zu schämen. Sie glaubten, schon viele große und verdiente Männer gehabt zu haben, aber keinem einzigen unter ihnen war noch ein Standbild errichtet worden. Da traten die Ältesten zusammen, um hierüber zu beraten. Es wurde beschlossen, diese schöne Sitte mitzumachen und jedem berühmten und verdienstvollen Verstorbenen aus dem Volke der Ussul ein Reiterbild zu setzen, ganz gleich, ob er ein schlechter oder ein guter Reiter gewesen. Die Hauptsache ist doch nicht das Reiten, sondern das Verdienst, welches man ehren will. Es verstand sich ganz von selbst, daß man mit der Reihe der Scheiks beginnen mußte und erst später die anderen großen Geister zu bringen hatte. Es wurden zwei Ausschüsse gebildet, nämlich ein erster Ausschuß für die Erbauung des Denkmals im besonderen und ein zweiter Ausschuß für die Feststellung der Reihenfolge, in welcher die Abzubildenden einander zu folgen hatten, denn es galt, in dieser Beziehung die Berühmtheit und die Verdienste eines jeden einzelnen mit peinlichster Gewissenhaftigkeit gegen die der anderen abzuwägen, damit ein jeder genau an die Stelle komme, die ihm gebühre. Also handelte es sich zunächst darum, welcher Scheik der größte, der berühmteste und der verdienteste sei, denn nur mit diesem durfte man beginnen. Während der zweite Ausschuß mit den Vorarbeiten und Studien begann, welche zu einer ebenso gerechten wie bestimmten Ausführung einer solchen Wahl erforderlich sind, ging auch der erste Ausschuß an seine Arbeit, indem er den Sockel für die erste Säule errichtete. Als dieses fertig war, hatte sich der zweite Ausschuß noch nicht über den Reiter geeinigt, sondern nur erst über das Pferd. Darum wurde weitergebaut. Man begann mit dem Pferde. Als dieses vollendet auf dem Platze stand, war der andere Ausschuß zu der Überzeugung gekommen, daß man grad dem allerberühmtesten Scheik kein Denkmal setzen könne, weil er ganz ohne Verdienste sei und vielmehr sein Volk an den Rand des Abgrundes gebracht habe. Auch gab es mehrere Ussul, die zwar keine Scheiks gewesen waren, aber an Berühmtheit und guten Werken hoch über ihm standen. Nun begannen Spaltungen, die immer weiter griffen und sich über den ganzen Stamm verbreiteten. Der eine wollte Denkmäler nur für Krieger, der zweite hingegen nur für friedliche Leute; der dritte war für beide. Der vierte verlangte Pferde, der fünfte keine. Der sechste forderte diese, der siebente die andere Reihenfolge. Der achte - - doch kurz und gut, seit das Pferd hier auf dem Platze stand, glaubte jedermann, daß entweder einer seiner Ahnen oder gar er selbst, natürlich erst nach seinem Tode, hinaufzusetzen sei. Es herrschte soviel Zank und Streit und Haß und Zorn, wie es noch nie gegeben hatte. Wir Frauen kannten unsere Männer und Söhne gar nicht mehr. Es gab nur noch Wüteriche, Besessene und Narren. Da traten wir Frauen zusammen. Wir bildeten auch zwei Ausschüsse. Der erste Ausschuß hatte nachzuweisen, wie alle diese berühmten und verdienten Männer aussehen, wenn sie von Frau und Kind betrachtet (Seite 83B) werden. Der zweite Ausschuß verlangte, daß an Stelle dieser entlarvten Berühmtheiten nur brave und verdiente Frauen Denkmäler zu bekommen haben, und hatte zugleich nach solchen Frauen zu forschen. Da stellte es sich denn sehr bald heraus, daß es viele Tausende gab, die es verdienten, auf einen Sockel gestellt zu werden, und es wurde schleunigst damit begonnen, die Reihenfolge unter ihnen festzustellen. Jetzt gingen den Männern die Augen auf. Sie erkannten an der Dummheit ihrer Weiber, wie dumm sie selbst gewesen seien und waren gern bereit, den Frieden zwischen dem männlichen und dem weiblichen Heerlager wieder herzustellen. Die zwei Ausschüsse von hüben traten mit den zwei Ausschüssen von drüben zusammen. Es wurde nun mit Verstand und Herz beraten, und da fand man denn, daß es bei den Ussul noch niemals weder eine männliche noch eine weibliche Person gegeben habe, die es verdient hätte, durch ein Denkmal hoch über die andere, die keins bekommen, erhoben zu werden. Da hieraus zu schließen war, daß sich auch fernerhin niemand finden werde, der in dieser Weise auszuzeichnen sei, so wurde allerseits beschlossen und genehmigt, von der Errichtung von Denkmälern im Lande der Ussul für alle Zukunft überhaupt abzusehen."


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