Als wir am Felsentore wieder ankamen, neigte sich die Sonne zwar schon dem Untergange zu, aber ich wollte gern sehen, was Abd el Fadl für ein Reiter sei, und uns für unsern morgigen Ritt mit frischem Wasser versorgen. Darum schlug ich ihm vor, noch vor Nacht mit mir nach dem Brunnenengel zu reiten, den er zwar kannte, ohne aber zu wissen, daß sich ein vollgefülltes Bassin unter ihm befinde. Er hatte das nun erst (Seite 150B) von uns erfahren und war sofort und gern bereit, das Innere des hochinteressanten, uralten Wasserwerkes kennen zu lernen. Wir leerten sämtliche Schläuche für Merhameh und nahmen dann alle vier Hunde mit, um volle Wasserlast zurückzubringen.

Abd el Fadl war aus der Übung gekommen, ritt aber nicht schlecht. Wir kamen sehr schnell hin zum Engel, aber nicht so rasch wieder fort. Das Innere des Brunnens beschäftigte meinen neuen Freund in außerordentlicher Weise. Er sagte, daß in der >Stadt der Geister< genau ganz derselbe Engel stehe, ohne daß aber jemand wisse, welchen Zwecken er gedient habe, als die Geisterstadt noch voller Leben war. Als ich ihn fragte, was er unter dieser >Stadt der Geister< verstehe, und wo sie liege, sagte er mir, daß es die alte Hauptstadt von Ardistan sei, die verlassen werden mußte, als der >Fluß des Friedens< plötzlich umgekehrt und nach Dschinnistan und dem Paradiese zurückgekehrt war. Diese herrlichste und ernsteste aller Ruinenstädte der Erde liege zwar nicht auf unserm jetzigen, geraden Wege nach Dschinnistan, aber er rate uns trotzdem, sie zu besuchen, weil sich uns im ganzen Leben niemals wieder ein solcher Anblick bieten werde.

Als wir nach dem Felsentore zurückgekehrt waren, nahmen wir drei, er, seine Tochter und ich, das Abendessen oben ein, während Halef es sich hinunterholte. Er sagte zwar, dies geschehe der Pferde wegen, bei denen er während der Nacht schlafen werde, in Wahrheit aber erschien ihm die Gefahr des Abstürzens in der Nacht noch größer als am Tage, und darum hatte er sich entschlossen, in der sichern Tiefe zu bleiben. Ich aber zog die Höhe vor, erstens um ihretwillen überhaupt, zweitens um der beiden lieben, hochinteressanten Menschen willen, mit denen ich den Abend verbringen wollte, um sie besser kennen zu lernen, und drittens um des vulkanischen Feuers willen, welches man unten nicht sehen, oben auf dem hohen Tore aber jedenfalls noch besser beobachten konnte als auf der zwischen Baumkronen liegenden Tempelzinne der Ussul.

Während ich mit Abd el Fadl beim Brunnenengel und seine Tochter mit Halef allein gewesen war, hatte letzterer die Gelegenheit benutzt, ihr soviel wie möglich von sich und mir zu erzählen. In ihrer Unbefangenheit wiederholte sie während des Essens das alles, damit auch ihr Vater es kennen lernen möge. Als er hörte, daß ich Schriftsteller sei und schon mehr als ein Buch geschrieben habe, schien sich sein Interesse für mich plötzlich zu verdoppeln. Er sagte aber noch nichts, sondern fragte mich zunächst nach dem Zweck und dem Inhalte dieser Bücher. Ich gab ihm Bescheid. Da schlug Merhameh die kleinen Hände zusammen und rief voller Freude aus:

"So schreibst Du ja über ganz dasselbe, worüber auch Vater schon so viel geschrieben hat! Du wirst in Dschinnistan ein lieber und willkommener Gast unsers Palastes sein und da in der Bibliothek die Bücher sehen, deren Verfasser er ist - - ."

Sie hatte wohl noch mehr sagen wollen, hörte aber schon nach diesem Satze auf, weil sie den freundlich strafenden Blick bemerkte, den ihr Vater auf sie warf. Sie errötete. Wahrscheinlich hatte sie nicht verraten sollen, daß er, der hier so einfach, ja ärmlich gekleidete Mann, daheim Paläste und Schlösser besaß und einer der höchsten Würdenträger des Reiches war. Er suchte den Eindruck ihrer Worte sofort wieder zu verwischen, indem er in bescheidenem Tone sagte:

"Ich habe nur ein einziges Buch geschrieben, mit dem ich, ehrlich gestanden, noch gar nicht fertig bin. Der Reichtum des Stoffes erfordert viele Bände."

"Darf ich den Titel erfahren?" fragte ich.

"Kann es nach unsern Gesetzen ein anderer sein als nur mein Name? Du würdest wahrscheinlich >Insanija< sagen, die Menschlichkeit, die Humanität, ich aber, der ich Fadl heiße, sage nur >die Güte<. Du hast Dir die Aufgabe gestellt, in Reiseerzählungen nachzuweisen, daß es in jedem Konflikt des Lebens keine dauernde Siegerin geben kann als nur die wahre Humanität, die wahre Menschlichkeit. Ich behaupte ganz dasselbe von der wahren, menschenwürdigen Güte. Wir sind Brüder, Du und ich! Unser Vater ist der Verstand und unsere Mutter die Güte. Laß uns als Geschwister gegeneinander handeln und auch alle unsere Leser bitten, dies zu tun, Du die Deinen und ich die meinen!"

(Seite 151A) Er reichte mir seine Hand. Wie gern schlug ich da ein!

Nach diesem Anfange konnte das weitere Gespräch sich unmöglich über alltägliche Dinge erstrecken. Ich entdeckte an diesem köstlichen Abende immer neue Vorzüge an dem hochgebildeten Vater unserer lieben, schönen Merhameh. Er war Staatsmann und Gelehrter; er war auch Dichter. Und ebenso war er auch Krieger, und zwar was für ein Krieger! Wir werden es im Verlaufe der Tatsachen erfahren! Er schien für gewöhnlich ein schweigsamer Mann zu sein; heut aber sprach er gern. Und ich hörte ebenso gern zu. Es war für mich eine ganz unerwartete Bereicherung, ein schnelles, freudiges, geistig erhebendes Lernen. Ich erfuhr an diesem Abende über die Psychologie des Orients mehr, als ich sonst in Monaten, ja vielleicht in Jahren erfahren hatte. Dazu verwandelten sich die Rauchwolken des Nordens nach und nach wieder in glühende Flammen. Die Berge warfen ihre großen, strahlenden, ewigen Worte in unser Gespräch. Kurz, es ist mir unmöglich, diesen Abend zu beschreiben. Merhameh saß nur immer mit gefalteten Händen da und sagte nichts, gar nichts. Welch ein Glück, das Kind eines solchen Vaters sein und von Jugend auf in so hoher, reiner Atmosphäre leben zu dürfen!

Ich habe Abd el Fadl einen Staatsmann genannt. Er war ein geborener Diplomat. Er hatte eine so eigene, durch ihre Güte unwiderstehliche Weise, zu erfahren, was er wissen wollte. Obgleich ich eigentlich nur sehr wenig sprach, befand er sich doch sehr bald im Besitze alles Wissens über meine literarischen Zwecke und Ziele und über die im Abendlande noch ungewohnte Art und Weise, in welcher ich diese Ziele zu erreichen suche. Ganz selbstverständlich interessierte er sich besonders auch für die Frage, ob ich die Absicht habe, auch die gegenwärtige Reise zu beschreiben. Als ich dies bejahte, erkundigte er sich:

"Wo wirst Du beginnen? Natürlich schon bei den Ussul, weil sie die fruchtbare Humuserde bilden, aus welcher sich Dein Werk zu erheben hat, um emporzustreben und Blüten und Früchte zu bringen?"

"Allerdings," antwortete ich.

"So wird der erste Teil Deines Buches langweilig werden!"

"Das kann ich leider nicht vermeiden!"

"Der Humus ist ja für den Leser niemals interessant. Und tust Du noch so sehr Deine Pflicht, ihn mit den Wurzeln der kommenden Ereignisse zu beseelen, so wird man Dich trotzdem nicht begreifen. Man wird Dir vorwerfen, mystisch zu sein, weil jede Bewurzelung, auch die schriftstellerische, sich im mystischen Dunkel vollzieht. Man wird Geheimnisse finden wollen, die Du selbst nicht kennst. Man wird Dich tadeln, vielleicht sogar verdächtigen. Aber laß Dich das ja nicht anfechten! Du mußt hacken, düngen, pflanzen und bewurzeln, ganz gleich, ob dies denen, die keine Gärtner sind, gefällt oder nicht! Wenn sich dann die Erde öffnet und die ersten gesunden, frischen Keimblätter erscheinen, aus denen der Stamm emporzuwachsen hat, dann wird man anderer Meinung werden und Dir recht zu geben beginnen. Kennst Du die Stelle, an der diese Blätter sich zeigen werden?"

"Ja."

"Wo?"

"Hier, bei Euch. Die ersten Lebenszeichen, mit denen mein Baum aus der Ussulerde steigt, seid Ihr beide, Du und Deine Tochter, die Güte und die Barmherzigkeit. Aus ihnen wird sich in kurzer Zeit die Kraft des Stammes entwickeln - - -"

"Des Dschirbani?" unterbrach er mich.

"Ja. Denn nur dieser ist es, an dem, mit dem und durch den wir andern alle wachsen werden."

"Du hast es begriffen, Du hast es begriffen!" rief er in aufrichtiger, herzlicher Freude aus. "Laß sie tadeln, laß sie tadeln! Wie das Land der Ussul hinter Dir liegt, so wird auch bald dieser Tadel hinter Dir liegen. Du hast zunächst in den dumpfen Niederungen und den dunklen Wäldern des Moderlandes zu schreiben. Das einzige Licht, das es da gab, kam aus Vulkanen. Kein Wunder, daß man da Dich selbst für rätselnd und für mystisch hält, während Du doch nur von wirklichen, alltäglichen Dingen berichtest, die aber noch niemand kennt. Die Landenge, auf der wir uns heut und hier befinden, führt nicht nur Dich, sondern auch Deine Feder aus dem Lande (Seite 151B) der notwendigen, natürlichen Unklarheiten hinüber in das Land des offenen, ungehinderten Sonnenscheines, wo sich das Leben nicht im Verborgenen, sondern offen und ungescheut vor Gottes Auge und dem Auge der Menschheit vollzieht. Schon morgen werden wir dieses Land betreten. Und von morgen an werden so, wie Deine Leser es wünschen, sich Tausende von Gestalten und Hunderte von Taten und Ereignissen aus der Wüste der Tschoban und aus den Gefilden der Dschunub erheben, um denen, die an Deinem Buche zweifeln, zu beweisen, daß Du in Deiner Schilderung der Ussul ganz richtig gehandelt hast und gar nicht anders konntest! Ich kenne dieses Land. Ich weiß, wie überraschend sich sogar die Wüste zu beleben versteht. Wir wissen auch sonst, was uns bevorsteht. Die Tschoban und die Ussul ziehen heran, um ihre rohen Kräfte miteinander zu messen. Die Dschunub sammeln sich von weitem, um über diese beiden herzufallen. Der 'Mir von Ardistan rüstet gegen dem 'Mir von Dschinnistan. Und hier stehen vier arme, schwache Menschen, welche aber ein so gütiges Wollen und ein so großes Gottvertrauen besitzen, daß sie fest entschlossen sind, den Kampf gegen alle diese Heere aufzunehmen und in Liebe und Versöhnung zu schlichten! Effendi, Du wurdest nicht in dem Erdteile geboren, über den Du schreiben willst; ich aber stamme aus Dschinnistan und weiß, was kommen und sich ereignen wird. Wir werden viel erleben, und Du wirst sehr viel zu erzählen haben. Deine Leser werden zufrieden mit Dir sein!"

Er reichte mir die Hand, als ob er mir ein festes Versprechen gebe. Dann war es Zeit, zur Ruhe zu gehen, denn nach dem Stande der Sterne befanden wir uns schon jenseits der Mitternacht, und am nächsten Tage wollten wir unsern Rekognoszierungsritt in möglichst früher Stunde beginnen. Als ich mich niederlegte, erglänzte der nördliche Himmel von zuckenden, goldenen Strahlen, die wie Engelsflügel nach dem Süden strebten. Und als ich wieder erwachte, stand das Morgenrot im Osten und Merhameh hatte schon das Frühstück gerüstet. Wir nahmen es ein und stiegen dann zu Halef hinunter, der uns erwartete. Die Pferde und meine beiden Hunde waren gesattelt. Die seinigen gingen natürlich nicht mit; sie blieben bei ihm. Ich berechnete unsere Abwesenheit auf zwei Tage, einen hin und einen zurück. Wahrscheinlich hatten wir in diesen zwei Tagen wenigstens vier gewöhnliche Tagesritte zurückzulegen. Das konnte ich unsern Pferden wohl zumuten; ob aber auch meinem Begleiter, das hatte sich erst zu zeigen.

Ich instruierte Halef für alle Fälle, deren Eintritt mir möglich erschien. Merhameh hörte sehr aufmerksam zu. In ihren Augen lag eine so große Offenheit und Ruhe des Verständnisses, daß ich mich auf sie fast ebenso verließ wie auf den Hadschi selbst. Abd el Fadl war heut nicht barfuß. Er hatte leichte, lederne Reitstrümpfe an, durch welche seine arme Habe, die er hier besaß, vervollständigt wurde. Anstatt der Hüftschnur trug er einen breiten Linnengürtel, in dem ein Messer und zwei Pistolen steckten. Als mein Blick auf diese Waffen fiel, sagte er in entschuldigendem Tone:

"Sie sind nicht für den Angriff, sondern nur für die Verteidigung bestimmt, falls es gar nicht anders geht."

Die Sonne stieg soeben aus der See empor, als wir aufbrachen. Der Abschied war kurz. Wir nahmen nicht an, daß wir Gefahren entgegengingen. Die Wasserschläuche waren gefüllt; da gab es keine Not. Und in Beziehung auf den Proviant waren wir auch vollauf versehen. Merhameh hatte uns, während wir schliefen, Mannabrot gebacken und unsern Fleischvorrat so trefflich angebraten, daß er sich ganz gewiß noch bis morgen abend hielt. Um Feuer zum Backen und Braten zu machen, besaß sie Holz genug. Zwar war es unmöglich, dies aus der Nähe zu beziehen, aber die täglich vom Süden heraufsteigende Meeresflut trug aus den Küstenwaldungen der Ussul so viel Brennstoff herbei, daß er niemals fehlte.

Gleich in der ersten Viertelstunde unsers Rittes wurde mir von seiten der Hunde eine Freude zuteil, die ich hier erwähnen muß, weil sie sich auf später sehr wichtig Werdendes bezog. Noch hatten wir uns nämlich, in gerad nördlicher Richtung reitend, nicht weit von dem Engpaß entfernt, so blieben Aacht und Uucht plötzlich stehen und gaben Laut. Sie baten durch Gebärden, nach links hinüber zu dürfen. Abd el Fadl lächelte.

(Seite 152A) "Laß ihnen den Willen!" sagte er. "Sie wollen Dir zeigen, was sie können. Zum ersten Male in ihrem Leben und, wie es scheint, sogleich mit größter Sicherheit."

Wir folgten den Hunden in die angegebene Richtung. Schon nach kurzer Zeit hielten sie an, untersuchten mit gesenkten Nasen den Boden und begannen dann, ihn aufzukratzen, und zwar an einer Stelle, wo sichtbare Spuren bewiesen, daß schon vor uns jemand hier gewesen war und an demselben Punkt nachgegraben hatte.

"Was gibt es da?" fragte ich. "Wohl Manna?"

"Ja," antwortete mein Begleiter. "Das ist die Mannakammer, die wir entdeckt haben, und von der wir seitdem zehren. Ich habe Dir zwar nichts vorher gesagt, aber ich war außerordentlich gespannt darauf, ob sie den Ort finden und uns zeigen würden. Daß sie es getan haben, beruhigt mich für alle fernere Zeit. So lange diese Hunde bei uns sind, werden wir nicht zu hungern brauchen. Schlagen wir unsere Richtung getrost wieder ein!"

Er wollte weiter. Ich aber stieg vom Pferde, um die braven Hunde zu beloben. Ich holte eine Handvoll Mannakörner unter dem Sande hervor, hielt sie ihnen hin, streichelte und liebkoste sie mit der andern Hand und wiederholte dabei den Namen Manna so oft, bis sie einsahen, daß ich damit diese Körner meinte, die sie gefunden hatten. Durch Schweifwedeln, einige fröhliche Sprünge gaben sie zu erkennen, wie sehr sie sich freuten, dies begriffen zu haben. Nun erst stieg ich wieder auf und folgte Abd el Fadl, der bereits vorangeritten war.

Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß er Ben Rih, den Rappen Halefs, ritt, denn auf meinen Syrr hätte ich wohl keinesfalls verzichtet. Die Gegend, durch welche wir kamen, zu beschreiben, kann ich hier unterlassen, weil ich sie später wieder zu berühren habe. Ich will nur kurz in das Gedächtnis zurückrufen, daß der südliche Teil des Tschobangebietes Wüste war, (Seite 152B) der nördliche aber Steppe. Durch beide ging das leere Bett des ausgetrockneten Flusses, das Land in eine östliche und eine westliche Hälfte teilend. Die Zeichen, welche auf der Karte des Dschinnistani Wasser bedeuteten, lagen auf der westlichen Hälfte. Auch Abd el Fadl war der Ansicht, daß dieser Teil des Landes mehr verborgenes Wasser besitze als der andere Teil. Es gab allerdings auch ausgetrocknete Wasserrinnen, welche noch heut davon zeugten, daß es außer dem Hauptstrome hier noch andere Flüsse und Flüßchen gegeben habe. Andere Leute aber, nämlich die Ussul und auch die Tschoban selbst behaupteten, daß die östliche Landeshälfte wasserreicher sei, weil es da eine Anzahl oasenähnlicher Punkte gab, die sich von Zeit zu Zeit mit frischem Grün bekleideten und den Pferden, Kamelen, Rindern, Eseln, Schafen und Ziegen der nomadisierenden Bewohner Nahrung boten. Ich freilich führte das nicht auf eine größere Wassermenge, sondern auf eine andere Beschaffenheit des Bodens zurück, der hier weicher und erdiger war und den oft mehrere Meter langen Wurzeln gewisser Calligonum- und Mimosenarten gestattete, senkrecht in größere Tiefe zu steigen, bis die Grundfeuchtigkeit erreicht ist. Ich hätte also zu jeder Wanderung, sei es nun eine kriegerische oder eine friedliche, den westlichen Teil des Landes vorgezogen; da aber bei den Tschoban der Osten für feuchter galt, so war mit Sicherheit anzunehmen, daß ihr Kriegszug gegen die Ussul nach dort verlegt worden sei. Wir konnten also getrost so tun, als ob der Westen gar nicht vorhanden sei, und unsere Aufmerksamkeit nur auf den Osten richten. Darum ritten wir bis zur Hälfte des Nachmittages genau nach Norden, wobei wir uns in der Nähe des alten Flusses hielten, denn dieser bildete die äußerste westliche Linie, die von dem Heere der Tschoban berührt werden konnte. Wahrscheinlich aber hatten sie einen weiter östlich liegenden Weg gewählt, der von der südlichsten Oase ausging, auf der ihre Tiere die letzte Gelegenheit zur Weide fanden. Darum bogen wir (Seite 153A) nun aus unserer bisherigen Richtung in einem rechten Winkel genau nach Osten ab, um auf alle Fälle unsern Zweck zu erreichen. Denn falls sie schon vorüber waren, so trafen wir ganz unbedingt auf ihre Fährte und wußten dann also, woran wir waren. Und falls wir keine Spuren entdeckten, so waren sie eben noch nicht unterwegs und wir konnten in aller Ruhe auf ihr Kommen warten.

Wir hatten nur einmal kurz nach Mittag, in der größten Sonnenhitze, Rast gemacht und wollten auch nicht eher wieder aus dem Sattel steigen, bis es Abend geworden war oder uns ein besonderer Grund zwang, es zu tun. Gesehen hatten wir bisher nichts, gar nichts. Die Pferde waren zu loben und Abd el Fadl auch; sie hatten sich vortrefflich gehalten. Zwar hatte die Spannkraft ganz selbstverständlich nachgelassen, aber ein Zeichen der wirklichen Ermüdung gab es nicht, obgleich wir bis jetzt, um die Mitte des Nachmittags, eine Strecke zurückgelegt hatten, zu welcher das Heer der Tschoban voraussichtlich über zwei Tage brauchte. Und wir ritten noch einige Stunden weiter, bis die bisher vollständig glatte, langweilige Ebene sich mit jenen Erhöhungen zu beleben begann, welche der arabisch sprechende Beduine mit dem Namen >Shiwahn el Handal< zu bezeichnen pflegt. Dieser Ausdruck bedeutet soviel wie >Koloquintenzelt< und ist aus dem Grunde gewählt worden, weil diese Erhöhungen meist die Form eines größeren oder kleineren, oft riesigen Zeltes besitzen und ihre Entstehung den Koloquinten oder ähnlichen Wüstenpflanzen verdanken. Durch den Widerstand, den der regelmäßige Tageswind an den Ranken der Gewächse findet, wird er bewogen, sie zu übersanden. Die Pflanze ist bemüht, aus diesem Sand emporzusteigen; sie treibt neue Ranken nach der Seite und nach oben, welche der Wind dann wieder bedeckt. Aus diesem Kampf zwischen Wind und Vegetation steigt nach und nach ein Hügel empor, der meist die Form eines runden, oft aber auch vielseitigen Zeltes besitzt und zu bedeutender Höhe gelangen kann. Ist die Unterlage anstatt einer Koloquinte eine Naraspflanze, deren armdicke Ranken und Wurzeln eine Länge von fünfzehn Metern erreichen, so können sich Sanddünen bilden, die zwanzig Meter hoch sind. Eine von solchen >Shiwahn el Handal< durchzogene Gegend bietet von weitem den Anblick eines Zeltlagers, welcher aber nur den Neuling täuschen kann. Aber die seelische Wirkung äußert sich auch auf den Kenner. Wer sich zwischen diesen natürlichen Sandbauten befindet, den überkommt ein Gefühl der Unsicherheit. Es ist ihm, als ob jeden Augenblick ein Feind oder sonst irgend eine unliebe Überraschung zwischen den Zelten hervortreten werde.

Darum war ich eigentlich nicht dafür, inmitten dieser Erhöhungen zu übernachten; aber sie erstreckten sich, so weit der Blick reichte, und nun stand die Sonne schon fast am Verscheiden. Es blieb also nichts übrig, als den Umständen Rechnung zu tragen. Wir suchten daher eine passende Stelle, einen Platz, der rundum von Sandhügeln umgeben war und uns die notwendige Verborgenheit bot. Er war bald gefunden; wir stiegen ab, und ich umging ihn in einem weiteren Umkreise, um mich zu überzeugen, daß sich nicht etwa schon andere Leute in der Nähe befanden. Es zeigte sich keine Spur irgend eines lebenden Wesens, und so sattelten wir ab und machten es nicht nur uns, sondern auch unsern Pferden und Hunden bequem. Sie hatten ihre Pflicht vollauf getan und die Fürsorge gar wohl verdient, die der Mensch so edlen, arbeitswilligen und treuen Geschöpfen schuldig ist. Schon unterwegs hatten wir ihnen die Lippen und Nüstern wiederholt mit Wasser gekühlt; während der Mittagspause waren ihnen, ebenso wie uns, nur einige Schluck gestattet worden; jetzt aber bekamen sie ein vollauf genügendes Quantum zu trinken und dann auch so viel Futter, daß sie gesättigt wurden. Ich darf nicht vergessen, zu erwähnen, daß Aacht und Uucht uns im Laufe des Tages noch zweimal auf Mannalager aufmerksam gemacht hatten. Beide Gelegenheiten waren von mir benützt worden, ihnen das Wort Manna so oft vorzusagen, daß sie es nun genau kannten.

Wir waren nun müde, und schliefen sehr bald ein. Zu wachen brauchten wir nicht, denn wir konnten uns auf die scharfen Sinne und ebenso auch auf die Klugheit der Hunde verlassen. Daß dies der Fall sei, wurde uns gleich heut, am ersten Abend unsers Rittes, bewiesen. Nach dem Stande der (Seite 153B) Sterne war es noch nicht Mitternacht, so weckten mich die Hunde. Das hatte einen Grund. Ich setzte mich auf und lauschte. Zu sehen und zu hören war nichts. Aber ein ganz eigenartig scharfer und bitterlicher, mir bisher unbekannter Geruch war zu spüren, und zwar so leise, daß eine gute Nase dazu gehörte, ihn zu bemerken. Die Stelle, der er entströmte, lag also nicht so in unserer Nähe, daß wir befürchten mußten, entdeckt zu werden. Ich roch, daß er von einem Feuer kam. Es handelte sich ohne Zweifel um Menschen, und so verstand es sich ganz von selbst, daß ich nachschauen mußte, wer und wo sie waren. Ich weckte also Abd el Fadl auf und teilte ihm das Nötige mit; dann ging ich fort, dem Geruch entgegen, der, je weiter ich kam, immer stärker wurde. Die Hunde ließ ich zurück; ich brauchte sie nicht.

Schon nach kurzer Zeit erkannte ich den Geruch. Es war der unangenehme Bitterstoff der Koloquinten. Man hatte die abgestorbenen dürren Wurzeln dieser Pflanzen aus dem Sande gegraben und als Brennmaterial verwendet. Klug war das nicht. Ich schloß daraus, daß wir es nicht mit vorsichtigen und erfahrenen Leuten zu tun hatten. Ich mußte mich zwischen einer ganzen Anzahl von Sandzelten hindurchwinden, ehe ich die Stelle erreichte, um die es sich handelte. Da fand ich drei Menschen, drei Pferde und drei Kamele. Das Feuer war so klein, daß es viel mehr stank als leuchtete. Ich sah und roch sofort, daß es nur dem Zwecke gedient hatte, Kaffee zu kochen. Der war soeben fertig geworden, und nun ließ man das Feuer ausgehen. Es kam mir höchst sonderbar vor, mit stinkendem Koloquintenholze sich aromatisch duftenden Kaffee kochen zu wollen; für uns aber war es gut, daß man es getan hatte, denn wer weiß, was geschehen wäre, wenn uns nicht grad diese Unklugheit in den Stand gesetzt hätte, diese Leute zu entdecken.

Nichts konnte mir beim Heranschleichen und Belauschen förderlicher sein als die Sanderhöhungen, hinter denen man so leicht verborgen bleiben konnte. Der Mond, der an unserm ersten Abend bei den Ussul uns nur als schmale Sichel erschienen war, hatte jetzt den Halbkreis erreicht. Sein Licht genügte, mir das, was ich sah, so deutlich zu zeigen, daß ich mich nicht irren konnte, wenn es auch nicht möglich war, alle Einzelheiten und Kleinigkeiten zu erkennen. Was ich jetzt nicht sehen konnte, das sah ich dann am folgenden Morgen um so deutlicher, und so ist es mir schon heut möglich, unsere neue Bekanntschaft eingehender zu beschreiben, als ich sie jetzt hier liegen sah. Ich fange bei den Tieren an. Die Kamele waren nicht zwei-, sondern einhöckerig; ihr schlanker, lang gegliederter Bau verriet, daß sie nicht Last-, sondern Reitkamele, ja sogar vielleicht Eilkamele seien. Jetzt allerdings wurden sie nicht zum Reiten, sondern zum Lasttragen benützt. Das zeigten die Sättel, die man ihnen abgenommen und neben sie gelegt hatte. Ihre Ladung bestand aus Wasserschläuchen, Proviant und einigen wenigen Kleidungsstücken und Decken. Aus dem Umstande, daß man diese Art von Kamelen gewählt hatte, war zu schließen, daß der Ritt ein eiliger sei. Zwei von den Pferden waren von demselben hohen, knochigen, aber nicht so schweren unbeholfenen Schlage, den ich an den Pferden der drei von uns gefangenen Tschoban beschrieben habe. Sie waren zwar keine Renner, jedenfalls aber gute, ausdauernde Läufer. Das dritte Pferd war edler. Es gehörte zu derselben Perserrasse, zu der die Schimmel des Maha-Lama und des obersten Ministers der Dschunub zu zählen waren. Was nun die drei Männer betrifft, so war einer von ihnen allem Anschein nach ein gewöhnlicher Mensch. Seine Kleidung bestand nur aus einem Kopftuche und einem hemdartigen Haik. Er saß abseits und war, wie ich am nächsten Tage erfuhr, von den beiden andern als Führer mitgenommen. Diese beiden saßen miteinander am Feuer. Der eine von ihnen hatte den Kaffee gekocht und goß ihn jetzt aus der mitgebrachten Bronzekanne in kleine Tassen. Er tat dies mit sehr wenig Geschick. Es war anzunehmen, daß er sonst ganz andere Dinge zu tun hatte, als Kaffee kochen. Ein gewöhnlicher Mann war er nicht. Seine Kleidung war die eines wohlhabenden Nomaden. Die grüne Farbe seines Turbans zeigte, daß er als Nachkomme Mohammeds galt und also den Ehrentitel >Sejjid< führte. Er war ein schon älterer Mann, behandelte aber seinen viel jüngeren (Seite 154A) Genossen mit einer Liebe und Aufmerksamkeit, aus der zu ersehen war, daß der letztere im Range doch über ihm stand. Dieser jüngere kam mir gleich beim ersten Blick bekannt vor. Es war mir, als ob ich ihn schon einmal gesehen hätte. Sein Alter schätzte ich gegen dreißig Jahre. Er trug weißen Turban, Hose, Weste, Jacke und einen mantelähnlichen Umhang in bunten Farben, dazu lederne Halbstiefel mit sehr großräderigen Sporen. Sein Gesicht war äußerst sympathisch, obgleich es durch zwei vorne herabhängende Haarzöpfe einen fremdartigen, fast möchte ich sagen, hunnenhaften Ausdruck bekam. Seine Waffen bestanden, wie auch bei den andern, aus Lanze und Flinte, Pfeil, Bogen und Messer. Als ich ihn so betrachtete, stieg in mir das Gefühl oder vielmehr die Überzeugung auf, daß er zu den nicht sehr oft anzutreffenden Menschen gehöre, die man lieb haben muß, man mag wollen oder nicht.

Seine beiden, vorn herabhängenden Zöpfe verrieten mir, warum er mir so bekannt vorkam. Zwei solche Zöpfe trug unser Gefangener, Palang, der Panther, der >Erstgeborene< des Volkes der Tschoban. Der jetzt vor mir sitzende junge Mann war einige Jahre älter als der Palang, sah ihm aber so ähnlich, daß der Gedanke, er müsse verwandt mit ihm sein, sehr nahe lag. Jedenfalls gefiel er mir aber viel besser als der >Panther<. Aus dieser Ähnlichkeit und aus diesem starkknochigen Bau der Pferde war, wenn auch nicht grad mit Sicherheit, zu schließen, daß die Leute, die ich belauschte, Tschoban seien. Wenn diese meine Vermutung richtig war, so hatten wir es hier vielleicht mit den ersten Vorposten oder Kundschaftern zu tun, die dem Heere vorausgeritten waren. Aber dieser Gedanke erschien mir nicht ganz unbedingt als annehmbar. Die Zeit stimmte nicht. Ich kannte ja den Tag, an dem die Tschoban den Engpaß von Chatar passieren wollten, um vier Tage später auf der Marahka, dem alten Schlachtfelde, einzutreffen. Falls diese Zeit eingehalten wurde, mußten sie schon weiter vorgerückt sein als die drei Männer, die ich jetzt vor mir hatte. Es war ja meine Berechnung gewesen, heut hinter sie zu kommen, um aus ihren Spuren alles ersehen zu können, was uns zu wissen nötig war. Mit unsern schnellfüßigen Pferden konnte es uns dann nicht schwer fallen, ihnen wieder vorauszueilen.

Jetzt tranken beide von dem eingegossenen Kaffee. Sie führten die Tassen fast zu gleicher Zeit an den Mund. So stellte sich die Wirkung auch gleichzeitig auf beiden Seiten ein: sie spuckten das, was sie in den Mund genommen hatten, sofort wieder aus.

"Pfui!" rief der Sejjid aus. "Allah verdammen die Bitterkeit! Wer soll das trinken können!"

Er ließ eine Gebärde des höchsten Abscheues folgen und warf die Tasse in den Sand.

"Ich warnte Dich!" sagte der junge Mann herzlich lachend, indem er sich auch seiner Tasse entledigte, wenn auch in ruhiger, nicht zorniger Weise. "Es ist das erste Mal in Deinem Leben, daß Du Kaffee kochst."

"Und grad mit solchem Holze!" zürnte der Sejjid. "Wie kann der Kaffee so unvernünftig sein, den Gestank und Geschmack der Koloquinten an sich zu ziehen! Ich bin zornig. Nicht meinetwegen, sondern Deinetwegen. Verzeihe mir, o Prinz!"

Prinz? Dieses Wort fiel mir sofort auf. Ebenso auch die Weise, in welcher der Sejjid sprach. Er begleitete alles, was er sagte, durch erklärendes Mienenspiel und durch Hand- und Fingerbewegungen, welche den Zweck hatten, die hörbaren Worte auch in sichtbare umzuwandeln. So pflegt man zu tun, wenn man mit einem Schwerhörigen oder gar Tauben spricht. Man kann sich wohl denken, daß mein Interesse durch die Beobachtung verdoppelt wurde. Prinz wurde ja auch der >Panther< genannt. Und obwohl sich dieser als >Ilkewlad<, also als >Erstgeborener< bezeichnete, war er doch nicht von Geburt Thronfolger, denn er hatte einen älteren Bruder, der eigentlich >Kronprinz< war und nur darum auf die Nachfolge verzichtet hatte, weil ihm durch eine unglückliche Ursache das Gehör geraubt worden war. Man lobte diesen wirklichen Ilkewlad, diesen eigentlichen Erstgeborenen. Man stellte ihn in jeder Beziehung über seinen Bruder. Auf jeden Fall war er beliebter als dieser. Sollte er es sein, dem ich hier mitten in der Wüste begegnete? Welch ein Glück für uns, wenn es so wäre! Eine schnelle, kluge und (Seite 154B) energische Ausnutzung dieses Umstandes konnte in äußerst günstige Folgen für uns umzusetzen sein!

Der Sejjid wollte den Kaffee, der sich noch in der Kanne befand, wegschütten. Da bat der Führer, ihn trinken zu dürfen. Er bekam ihn. Die beiden Herren aber stopften sich ihre Tschibuks, um den Geruch der Koloquinte durch den Duft des Tabaks zu vertreiben.

"Nur einige Züge wollen wir tun; dann müssen wir schlafen," sagte der, welcher Prinz genannt worden war. "Wir müssen schon vor der Sonne wieder auf. Meinst Du, daß wir den Engpaß Chatar dann morgen noch vor Nachts erreichen?"

"Ja," antwortete der Sejjid, indem er zugleich nickte, um verstanden zu werden.

"Da dürfen wir aber unterwegs keine Ruhepause machen," fiel der Führer ein. "Es ist von hier aus bis zum Engpaß so weit, daß unsere Krieger über zwei Tage brauchen würden, um hinzukommen. Ich glaube, daß wir es mit unsern guten Pferden und Kamelen in diesem einen Tage machen; aber sie werden, wenn wir dort eingetroffen sind, so ermüdet sein, daß sie nicht weiterkönnen."

"Was hat er gesagt?" fragte der Prinz, der ihm angesehen hatte, daß er sprach, doch ohne ihn hören zu können.

Der Sejjid übersetzte ihm die Worte des Führers in die Zeichensprache, in der sie beide sich verstanden. Da erkundigte sich der Prinz:

"Und wann hätten wir unsere tausend Krieger erreicht, wenn wir ihnen auf ihrem Wege nachgeritten wären, anstatt diesen direkten und geraden Weg nach dem Engpaß einzuschlagen?"

"Erst übermorgen," antwortete der Sejjid, indem er diese Worte aussprach und zugleich in Zeichen übertrug.

"So war es richtig von uns, diesen schnurgeraden Weg zu wählen, obgleich es da keinen grünen Halm für unsere Tiere gibt. Wir wollen nur hoffen, daß die Tausend nicht unterwegs zu darben haben! Sonst verzögert sich ihr Zug und wir kommen zu spät, um meinen Bruder zu retten. Welch ein Glück, daß die andern, von denen er sich getrennt hatte, ehe er mit seinen beiden Begleitern gefangen wurde, ihm dennoch nachritten, weil sie Angst um ihn bekamen! Und noch klüger war es von ihnen, daß sie keine Zeit auf die vergebliche Mühe verwendeten, ihn zu befreien, sondern sofort in einem Atem heimwärts ritten und es meinem Vater meldeten! Habe ich da recht oder nicht?"

"Du hast recht," antwortete der Sejjid, indem er zustimmend nickte.

"Mein Bruder sollte sich an die Spitze des Kriegszuges stellen," fuhr der Prinz fort. "Nun er aber gefangen ist, hat mein Vater die Führung selbst übernommen, da mir meine Taubheit leider verbietet, dieses wichtigen Amtes zu walten. Nun handelt es sich freilich nicht mehr um den gewöhnlichen Beutezug, sondern um die endgültige Eroberung des ganzen Gebietes von Ussulistan. Wie gern wäre ich dabei, um so viel wie möglich die Härte des Krieges zu mildern und um in Liebe zu erreichen, was im Haß so schwere Opfer kostet! Wehe den Ussul, falls wir siegen! Und daß wir siegen, daran ist nicht zu zweifeln! Ich würde es ihnen verzeihen; ja, ich finde es sogar ganz selbstverständlich und richtig, daß sie meinen Bruder festgenommen haben. Er aber kennt keine Gnade; er wird es ihnen blutig entgelten lassen. Er wird das Leben unserer eigenen Krieger nicht schonen, um Rache an den Ussul nehmen zu können. Es wird zu Kämpfen kommen, die auch auf unserer Seite viele Menschenleben kosten werden. Und doch brauchen wir diese Menschen grad jetzt viel nötiger als sonst - - -"

"Die Dschunub, die Dschunub!" fiel der Sejjid lebhaft ein, indem er mit der Hand nach Norden deutete.

Der Prinz verstand diesen Wink sofort.

"Du meinst Dschunubistan," sagte er. "Ja, wer hätte an einen so plötzlichen Krieg mit den Dschunub gedacht! Und grad jetzt, wo tausend unserer Krieger, und zwar die besten und bewährtesten, nach Süden gezogen sind, den Vater an ihrer Spitze! Er weiß noch kein Wort von dieser Gefahr. Durfte ich ihn durch einen Boten unterrichten?"

"Nein," antwortete der Sejjid, indem er den Kopf schüttelte.

(Seite 155A) "Nein! Die Sache ist zu wichtig. Ich muß ihm diese schlimme Botschaft selbst überbringen, muß mich mit ihm besprechen, muß aus seinem Munde selbst hören, was er bestimmt, damit ich es richtig auszuführen vermag. Das Geratenste ist, daß wir uns möglichst beeilen, Ussulia mit einem schnellen Handstreich zu überrumpeln. Nicht erst nach dem alten Kampfplatz Marahka ziehen und lange, unnütze Reden halten, sondern über die Stadt herfallen wie ein Dieb in der Nacht. Ich bin überzeugt, daß sie sich da ergibt, ohne Widerstand zu leisten. Das bietet uns Grund und Gelegenheit, human und menschlich zu verfahren. Auch wird dadurch mein Bruder sofort frei und kann die Unterwerfung von Ussulistan zu Ende führen, während hingegen mein Vater Zeit gewinnt, schleunigst in die Heimat zurückzukehren und sich gegen die Dschunub zu wenden. Mein Freund, ich ahne, es naht eine schwere Zeit, aber auch eine große Zeit. Es gilt, diese Zeit zu begreifen! Glaube mir, der Säbel ist es nicht mehr, der entscheidet! Ich sage Dir, die Schlachten der Völker wurden früher durch die rohe Faust und später durch die Intelligenz gewonnen. Heut ist auch diese Intelligenz nicht stark genug, den Sieg allein zu erringen. Es kommt noch etwas Neues, etwas in der Kriegsgeschichte bisher Unbekanntes hinzu, nämlich die Menschlichkeit, die Schonung, die Güte und Barmherzigkeit! Ohne diese neue Heldengestalt ist jede Schlacht verloren, selbst wenn man sie gewinnt - -!"

Er sprang von seinem Sitze auf und sprach begeistert weiter. Dabei blieb er aber nicht auf seinem Platze stehen, sondern er ging hin und her. Er kam mir dabei wiederholt so nahe, daß es nur noch eines Schrittes bedurfte, so mußte er mich sehen. Ich hielt es also für geraten, mich zurückzuziehen. Ich hatte ja genug erfahren, und was ich noch nicht wußte, das konnte ich mir durch einiges Nachdenken selbst ergänzen. Übrigens stand es schon jetzt bei mir fest, daß ich mit diesem prächtigen Menschen schon morgen noch ganz anders sprechen würde, als er jetzt mit seinem Sejjid sprach. Ich zog mich also aus meinem Versteck zurück und ging nach unserm Lagerplatz, wo Abd el Fadl auf mich wartete.

Wie erstaunte er, als er hörte, wen ich gesehen hatte! Und wie überrascht war er von dem, was gesprochen worden war!

Als ich meinen Bericht beendet hatte, sagte er:

"Es sind also doch noch mehr Kundschafter der Tschoban in Ussulistan gewesen, als man dachte! Ich habe sie nicht gesehen. Wer feindliche Absichten hat, der passiert den Engpaß meist des Nachts, weil da die Gefahr, jemandem zu begegnen, wegen der Enge des Raumes am allergrößten ist. Sie wissen, daß Prinz >Panther< gefangen ist! Der alte Scheik hat darum den Oberbefehl selbst übernommen! Und hierauf erfährt der in Tschobanistan zurückgebliebene, ältere Prinz, daß die Dschunub es mit den Tschoban grad so machen wollen, wie diese mit den Ussul! Er reitet seinem Vater schleunigst nach, um ihm dies zu melden und ihn zu warnen! Aber er reitet in sehr kluger Weise direkt nach dem Engpaß, während sie sich weiter östlich gehalten haben, um einiger weniger, schlechter Futterplätze willen, die ihnen gar nichts nutzen, sondern ihren Zug nur aufhalten können! Das ist ein Zeichen, daß sie schlecht mit Proviant und Futter versehen sind. Sie rechnen jedenfalls darauf, gleich jenseits des Engpasses verwüsten, brandschatzen und plündern zu können, ganz wie es ihnen beliebt! So haben sie ja stets getan. Wie aber, Effendi, denkst Du über ihren jetzigen Plan?"

"Genau so wie Du! Sie irren sich!" antwortete ich.

"Das meine ich allerdings auch. Was hast Du für heut beschlossen?"

"Wir schlafen ruhig ein und schlafen ruhig aus."

"Ohne uns des weiteren um den Prinzen zu bekümmern?"

"Ja."

"Wird er uns nicht entdecken?"

"Nein. Wir liegen nicht in der Richtung, die er einzuschlagen hat. Er reitet nach Süden; wir aber lagern westlich von ihm. Er will noch vor der Sonne aufbrechen, hat also keine Zeit, sich vorher lange umzusehen."

"So willst Du ihn fortlassen, ohne mit ihm gesprochen zu haben?"

"Ja."

"Und wohl nach weiteren Spuren der Tschoban suchen?"

(Seite 155B) "Nein! Dieser Prinz ist mir wertvoller und nützlicher als tausend Spuren, die wir noch entdecken könnten. Wir suchen nicht weiter, denn wir haben mehr als genug gefunden. Wir kehren also um. Wir reiten ihm nach."

"Um ihn gefangen zu nehmen?"

"Warum das? Der wäre doch wohl ein schlechter Polizist, der sich mit einem Menschen quälen wollte, der ganz von selbst und ohne allen Zwang nach dem Gefängnis läuft. Ich würde nur im Notfall Gewalt anwenden, nur beim Eintritt zwingender Ereignisse, von denen ich jetzt noch nichts weiß. Schlafen wir ganz ruhig wieder ein!"

"Aber wenn wir aufwachen, ist er fort!"

"Das soll er auch!"

"Vielleicht wo ganz anders hin, als Du jetzt denkst! Er kann leicht seine Beschlüsse ändern!"

"So reiten wir ihm einfach nach. Nun ich ihn einmal habe, gebe ich ihn nicht wieder her!"

"Bist Du denn Deiner Sache so sicher, ihm folgen zu können, ohne daß Du ihn siehst?"

"Vollständig! Wie hier die Verhältnisse liegen, wird seine Fährte wie eine feste, unzerreißbare Schnur sein, die ich immer in der Hand behalte. Gute Nacht, mein lieber Freund!"

"Gute Nacht, Effendi!" sagte er, tief Atem holend. "Wenn Du glaubst, zuversichtlich und zufrieden sein zu dürfen, so bin ich es auch. Allah gebe uns Frieden! Nicht nur für diese Nacht!"

Ich schlief schnell wieder ein, und zwar so fest, daß ich nicht von selbst aufwachte, sondern von Abd el Fadl geweckt werden mußte.

"Steh auf, Effendi!" sagte er. "Der Prinz ist längst schon fort."

"Woher weißt Du das?" fragte ich.

"Ich vermute es, weil die Sonne längst schon aufgegangen ist und er doch vorher aufbrechen wollte. Willst Du nicht einmal nachsehen?"

"Sogleich!"

Ich stand auf und schlich mich zu der Stelle, an der die Tschoban gelagert hatten. Sie war leer. Es gab soviel Reste und Beweise ihrer Anwesenheit zu sehen, daß ein arabischer Beduine über eine solche Sorglosigkeit im höchsten Grade erstaunt gewesen wäre. Was es heißt, sich auf dem >Kriegspfade< zu befinden, davon schienen diese Leute keine Ahnung zu haben! Ihre Spuren waren so deutlich, als ob sie mit Absicht gemacht worden seien, und keiner von ihnen hatte sich auch nur die geringste Mühe gegeben, sie wieder zu verwischen. Als wir ihnen eine Viertelstunde später folgten, bedurfte es nicht der geringsten Anstrengung, ihre Fährte zu entdecken. Sie bildete in Wirklichkeit die feste, unzerreißbare Schnur, von der ich gesprochen hatte.

Unsere Pferde gingen ganz von selbst schneller als die ihren. Darum dauerte es gar nicht lange, bis wir ihnen so nahe waren, daß wir sie von weitem sahen; da hielten wir an. Das wiederholte sich so oft und in immer so gleicher, eintöniger Weise, daß es uns langweilig wurde. Wir beschlossen, sie zu überholen, doch nach der Seite hin, so daß sie uns nicht sehen konnten. Wir durften dies sehr wohl tun, weil sie nun stundenlang die Richtung nach dem Engpaß eingehalten hatten und es keinen Grund für uns gab, anzunehmen, daß sie von ihr abweichen würden. Wir wendeten uns also ein Stück nach Norden hinüber, und als wir glaubten, uns weit genug von ihnen entfernt zu haben, bogen wir wieder in die südliche Richtung ein, so daß wir nun eine Linie innehielten, die mit der ihren parallel ging, ihr aber nicht so nahelag, daß sie uns sehen konnten. Infolge unsers rascheren Tempos überholten wir sie sehr bald und kamen ihnen Stunde um Stunde immer weiter voran, so daß wir den Engpaß eher erreichen mußten als sie, obgleich wir zu Mittag eine Ruhepause machten, sie aber nicht. Abd el Fadl war voll des Lobes für unsere unvergleichlichen Pferde. Er behauptete, so etwas noch nie gesehen zu haben. Er hatte sie liebgewonnen und liebkoste und streichelte sie ohne Ende, denn auch zu dem meinigen langte er herüber.

Es war ungefähr zwei Stunden nach der erwähnten Ruhepause, als am Horizont zu unserer rechten Hand ein Reitertrupp (Seite 156A) auftauchte, der uns ein Rätsel war. Zunächst konnten wir, der großen Entfernung wegen, den Trupp eben nur als Trupp sehen, nicht aber die einzelnen Reiter unterscheiden. Als diese Unterscheidung möglich war, zählten wir acht Personen. Sie hatten eine südliche, später mit der unseren zusammenlaufende Richtung eingehalten; als sie uns aber sahen, kamen sie auf uns zu. Hinter ihnen tauchte bald darauf ein zweiter Trupp auf, der aus vielen Kamelen und nur soviel Reitern bestand, wie nötig waren, die Kamele zu dirigieren. Das waren die Wasserschlepper für die acht vorausreitenden Personen. Diese letzteren waren sehr gut beritten, und zwar mit dunkelfarbigen Perserpferden. Nur einer von ihnen saß auf einem Schimmel, der sehr edlen Blutes war. Dieser eine ritt voran. Er war eine sehr langbeinige, aber um so kurzleibigere Gestalt. Fast konnten sich seine Füße unter dem Bauch des Pferdes berühren. Seinem Oberkörper aber fehlte es derart an der Höhe, daß es aussah, als ob ein junger, noch in der Entwicklung stehender Mensch von siebzehn Jahren im Sattel sitze. Natur und Kunst hatten versucht, diesen Mangel durch einen ganz besonders martialischen Ausdruck seines Gesichtes auszugleichen, welches außerordentlich voll- und langbärtig war. Demselben Zweck diente wohl auch die ungewöhnlich hohe, militärische Pelzmütze, auf der ein ebenso hoher Busch von Reiherfedern prangte. Auch seine sieben Begleiter trugen solche Mützen; nur waren die Reiherbüsche von so abnehmender Größe, daß der Busch des sechsten nur aus einer einzigen kleinen Feder bestand, bei dem siebenten aber ganz fehlte. Das war wohl im Rangunterschiede begründet.

Der Eindruck, den diese Leute machten, war ein außerordentlich kriegerischer. Sie waren ganz gleich gekleidet, zwar orientalisch bequem und bunt, aber nach derselben Farbe und auch demselben Schnitt. Wir hatten ihre Anzüge also als Uniformen zu betrachten. Bewaffnet waren sie mit allen im Oriente gebräuchlichen Schuß-, Hieb- und Stechinstrumenten. Eine Ausnahme hiervon machte nur der eine, der auf dem Schimmel saß. (Seite 156B) Er trug einen kostbaren Säbel und im Gürtel eine Pistole, weiter nichts. Als er mit seinen Leuten uns erreichte, kommandierte er ein lautes, gebieterisches "Halt!" Sie gehorchten sofort. Wir zwei aber ritten weiter.

"Halt!" rief er nun auch uns zu.

Wir taten, als hätten wir es gar nicht gehört.

"Halt!" rief er noch einmal, und zwar mit nicht nur lauter, sondern brüllender Stimme. Wir aber ritten eben weiter. Da kam er uns nach; die andern aber blieben halten.

"Warum gehorcht Ihr nicht?" donnerte er uns an. "Haltet an, sage ich; haltet an!" -

Wir ritten trotzdem weiter. Er kam neben uns her und fuhr fort:

"Seid Ihr etwa taub, so sagt es mir! Könnt Ihr hören oder nicht?"

Ich antwortete trotz der Lächerlichkeit seiner Aufforderung:

"Wir sind nicht taub. Wir hören, was Du sagst."

"Warum gehorcht Ihr da nicht?"

"Wer bist Du, daß wir Dir gehorchen müßten?"

"Sag mir erst, wer Du bist!"

"Ich bin Ussul."

Diese Auskunft war ganz richtig, denn ich war ja Ussul geworden.

"Ussul?" - fragte er erstaunt, indem er mich mit verwundertem Blicke musterte. "Ich habe mir die Ussul anders gedacht! Ich will zu ihnen. Ich komme aus Dschunubistan. Weißt Du, daß vor einigen Tagen zwei sehr hohe Herren aus Dschunubistan zu Euch gekommen sind?"

"Ja; das weiß ich sehr wohl."

"Hast Du erfahren, wer sie sind?"

"Der oberste Minister und der Maha-Lama, der höchste aller Priester."

"Das stimmt! Wie sind sie aufgenommen worden?"

"Ganz ihrer hohen Würde und ihren Absichten gemäß."

Da wurde sein Gesicht freundlicher und auch seine Stimme verzichtete auf den zürnenden Ton, als er sagte:

"Das freut mich! Aber Du weißt natürlich nicht, was sie bei Euch wollen!"

(Seite 157A) "Warum soll ich das nicht wissen? Sie wünschen, ein Bündnis mit uns abzuschließen, ein Bündnis gegen die Tschoban."

"Allah!" rief er aus. "Auch dieses stimmt! Wer hat es Dir gesagt?"

"Sie beide selbst."

"Sie beide selbst? Ist das wahr?"

Er musterte mich noch schärfer als bisher.

"Warum sollte ich etwas sagen, was nicht wahr ist?" fragte ich in schärferem Tone.

"Verzeih! Die beiden hohen Herren können solche Mitteilungen keinem gewöhnlichen Ussul machen!"

"Habe ich gesagt, daß ich ein gewöhnlicher sei?"

"Nein! Und Eure Pferde - - -! Maschallah! Was für hochfeine, köstliche Tiere! Ich denke, Ihr Ussul habt nur dicke, unförmliche Ungetüme, welche den Nashörnern und Nilpferden gleichen!"

"Was das betrifft, so wirst Du noch manches andere über uns erfahren, was Dich verwundern wird!"

Er betrachtete während wir immer weiter ritten, uns, besonders aber unsere Pferde noch eingehender als bisher. Der hohe Wert der letzteren leuchtete ihm sichtbar ein. Aber meine nicht ganz einheimische Erscheinung und der ärmliche Anzug meines Begleiters beirrten ihn. Doch kam er zu dem Resultat:

"Solche Pferde, wie diese hier, kann nur ein vornehmer und reicher Ussul besitzen. Ich bitte Dich, mir zu sagen, wer Du bist!"

"Es ist bei uns Sitte, vorher zu erfahren, mit wem man spricht," wies ich ihn zurück.

"Das sollte ich eigentlich verschweigen; aber ich höre, daß Du in das Geheimnis eingeweiht bist, und halte es also für erlaubt, Dir Auskunft zu geben. Ich bin nämlich der Tertib We Tabrik Kuwweti Harbie Fenninde Mahir Kimesne von Dschunubistan."

Da hielt ich mein Pferd an und sagte:

"Wenn dieser Dein Titel etwa noch länger ist, so verzeih, daß ich Dich unterbreche. Schau Dich nach Deinen Leuten um! Sie warten dort, wo Du ihnen Halt geboten hast, auf Deine Erlaubnis, weiterreiten zu dürfen. Wenn Du sie ihnen nicht augenblicklich gibst, werden wir für sie verschwunden sein, noch ehe Du mit Deinem Titel ganz zu Ende bist!"

Sie hielten wirklich noch an derselben Stelle und schauten hinter uns drein, ohne ihrem Vorgesetzten folgen zu dürfen. Dieser überhörte die in meinen Worten liegende Ironie, hob den Arm befehlerisch in die Höhe und schrie zurück:

"Vorwärts, vorwärts; ich erlaube es!"

Da ritten sie weiter. Auch wir setzten unsere Pferde wieder in Bewegung, wobei er uns mitteilte, wer sie waren:

"Wer ich bin, das wißt Ihr nun, nämlich der allerhöchste Offizier von ganz Dschunubistan. Auf Ritten, wie der jetzige ist, haben mich alle Bestandteile des Heeres zu begleiten. Darum seht Ihr hier einen General, einen Oberst, einen Major, einen Hauptmann, einen Leutnant, einen Unteroffizier und einen gewöhnlichen Soldaten."

"So ist der Zweck dieses Deines Rittes gewiß ein sehr militärischer oder, sagen wir, strategischer?" erkundigte ich mich.

Nämlich sein ganzer, langer Titel bedeutete weiter nichts als nur den einen kurzen Ausdruck >Stratege<. Er war, um mich europäisch auszudrücken, wahrscheinlich der Generalstabschef des Scheiks von Dschunubistan.

"Sogar sehr!" antwortete er, indem er mit der Hand an den Säbel schlug und sein Pferd zu einer demonstrierenden Lancade zwang. "Daß die Tschoban Euch überfallen sollen, das weißt Du schon?"

"Allerdings."

"Und daß wir Euch helfen wollen, sie zu besiegen, auch?"

"Ja."

"Dergleichen Bündnisse sind gewöhnlich äußerst geheim zu halten. Unser Scheik aber, der bekanntlich ein berühmter Diplomat ist, beschloß aus wohlerwogenen Gründen, auf diese Heimlichkeit zu verzichten. Wir haben ganz in der Nähe des Scheiks der Tschoban unsere besten Spione. Wir erfuhren, daß er seinen Sohn, den >Panther<, auf Kundschaft nach Ussulia geschickt habe. Diesem >Panther< fällt die Aufgabe zu, (Seite 157B) die Eroberung von Ussulistan zu leiten. Er hat einen älteren Bruder, der ist zwar taub, aber ein außerordentlich kluger Mensch, den wir als Ratgeber zu fürchten haben. So lange er und sein Vater, der alte Scheik, daheimbleiben, sind wir gezwungen, zwei Heere zu halten, nämlich eines zur Beobachtung dieser beiden und eines als Verbündete für Euch. Darum sannen wir auf ein Mittel, den Scheik samt dem tauben Prinzen zu zwingen, an dem Zuge ihrer Krieger nach Ussulistan teilzunehmen. Mit den dann führerlos zurückbleibenden Tschoban hätten wir hierauf leichtes Spiel. Aber wir fanden kein derartiges Mittel. Da plötzlich sandte uns einer unserer Spione einen Eilboten mit der Nachricht, daß der >Panther< von den Ussul ergriffen worden sei und der alte Scheik sich schnell selbst an die Spitze seiner Krieger stellen werde, um den Engpaß von Chatar zu überschreiten und den Gefangenen zu befreien. Wie lieb uns diese Botschaft war, kannst Du Dir denken! Nun handelte es sich darum, auch den tauben Prinzen zu entfernen. Wir waren überzeugt, dies durch den Verrat unseres Bündnisses mit Euch zu erreichen. Wenn der Prinz erfuhr, daß wir Euch zu Hilfe kommen, war er gezwungen, seinen Vater hiervon sofort zu benachrichtigen. Eine so wichtige Botschaft aber vertraut man nicht andern an, sondern man bringt sie möglichst selbst, zumal der Sohn sich unbedingt mit dem Vater zu beraten hat, was geschehen soll, um uns sowohl im Norden bei den Tschoban als auch im Süden bei den Ussul abzuwehren. Darum schickten wir dem Sohne des Sef el Berinz seinen Eilboten schnell wieder zurück und wiesen ihn an, dem Prinzen zunächst unser Bündnis mit Euch mitzuteilen und sodann ihn auf den Gedanken zu bringen, seinem Vater diese Kunde nicht durch einen Boten, sondern in eigener Person zuzutragen."

"Ist ihm das gelungen? Hat er das erreicht?" erkundigte ich mich, als er eine Weile Pause machte.

"Das weiß ich nicht, denn ich hatte keine Zeit, es abzuwarten," antwortete er. "Ich bin aber überzeugt, daß der Prinz jetzt schon unterwegs ist. Aber nicht nur er, sondern ich bin es auch! Weil sie beide nach Süden sind, der Scheik der Tschoban und sein tauber Prinz, brauchen wir kein besonderes Beobachtungskorps im Norden. Unser Heer darf also beisammen bleiben und ist sofort nach dem Süden aufgebrochen, nach dem Engpaß von Chatar, um sich mit Euern Kriegern zu vereinigen. Ich aber bin selbst vorausgeeilt, um Eure Verhandlungen mit unserm Maha-Lama und unserm Minister, falls sie noch zu keinem Resultate geführt haben sollten, schnell zu Ende zu bringen. Vielleicht ist es gut, daß ich schon unterwegs auf Euch gestoßen bin. Was sagst Du dazu?"

Ich stellte mich tief nachdenklich und sagte zunächst nichts. Ich wollte Zeit gewinnen. Die unvorhergesehenen Tatsachen und Verwicklungen stürmten ja förmlich auf uns ein. Es war, als ob es hoch im Norden eine mächtige, starke Hand gebe, die uns die Ereignisse wie Kugeln zuschob, mit denen sie Kegel spielte. Wir aber hier unten dienten als Kegelknaben. Wir hatten weiter nichts zu tun, als jeden Kegel zur rechten Zeit an die richtige Stelle zu setzen.

Vor allen Dingen hatte dieser Tertib We Tabrik Kuwweti Harbie Fenninde Mahir Kimesne einen außerordentlichen, ja unverzeihlichen Fehler begangen, ohne es zu ahnen. Er hatte in seinem Eifer einen Namen genannt, den er gar nicht nennen wollte und durfte. Er hatte damit verraten, daß der Mensch, der die Tschoban an die Dschunub verriet, der Sohn jenes >Schwert des Prinzen< sei, der unser Gefangener war. Hieraus ließen sich Schlüsse ziehen, an die ich mich in diesem gegenwärtigen Augenblicke unmöglich wagen konnte.

Sodann drängten sich dadurch, daß die Tschoban von den Dschunub nicht an der im Norden zwischen ihnen liegenden Grenze, sondern hier im Süden angegriffen werden sollten, die Tatsachen so eng und so zwingend zusammen, daß fast gar keine Zeit zum Überlegen blieb. Heut war nämlich schon Sonntag, und für morgen, also den Montag, stand das Eintreffen der Tschoban am Engpasse bevor, falls es bei dem Plane blieb, den uns der Sef el Berinz auf der Insel, als ich mit dem Scheik der Ussul lauschte, verraten hatte. Was gab es bis dahin noch alles zu tun! Würde der Dschirbani zur rechten Zeit mit seinen Hukara eintreffen? Diese höchst wichtige Frage und viele (Seite 158A) andere, ebenso wichtige, wollten sich mir jetzt aufdrängen; aber ich konnte mich nicht mit ihnen beschäftigen, denn der >Stratege< mit dem langen Titel nahm mich in Anspruch. Er sagte:

"Nachdem ich Euch gesagt habe, wer wir sind, erwarte ich dieselbe Höflichkeit auch von Euch. Ich bitte zunächst Dich, mir Auskunft zu geben!"

Diese Aufforderung war an Abd el Fadl gerichtet. Er antwortete:

"Ich heiße Abd el Fadl."

"Bist auch Ussul?"

"Nein."

"Was dann?"

"Mein Vaterland ist Dschinnistan."

Da fuhr der >Stratege< so hoch im Sattel in die Höhe, wie es bei seinem kurzen Oberkörper möglich war, und rief im Tone des Mißtrauens aus:

"Also ein Dschinnistani, ein Feind von uns? Und gibst Dich für einen Ussul aus?"

"Wann hat er das getan?" fragte ich. "Ihr habt noch kein einziges Wort miteinander gesprochen!"

Er antwortete streng:

"Weil Du ein Ussul bist, mußte ich selbstverständlich auch ihn für einen halten! Ich bitte nun auch um Deinen Namen!"

"Man nennt mich Kara Ben Nemsi."


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