[Sp. 144]

Drittes Kapitel:

Am Thore Chinas.



Dem mit dem Dampfer nach dem Osten kommenden Reisenden treten hier in Penang zum ersten Male chinesische Gestalten, Formen und Gebräuche in der Weise entgegen, daß sein Auge von ihnen gefesselt wird. Er findet das, was er sieht, so überaus fremdartig, seinem gewohnten Fühlen und Denken so fern liegend, daß er sich unwillkürlich fragt, ob es ihm möglich sein werde, unter diesen neuen Eindrücken der Alte zu bleiben. Und er hatte ein Recht, einen schwerwiegenden Grund zu dieser Frage, weil allen diesen Erscheinungen eine Lebensfülle, eine strotzende Kraft, eine überzeugende Selbstverständlichkeit innewohnt, durch welche die Ansicht, daß es sich um altersschwache, kranke Zustände handle, schon in den ersten Stunden arg erschüttert wird.

Freilich, wer ein so groß, dick und fett gepflegtes Vorurteil mit sich bringt, daß sein klares, unparteiisches Urteil von diesem gefräßigen Behemoth vollständig verschlungen worden ist, der wird hier, an der Außenpforte der chinesischen Welt, nichts als den oberflächlichen Eindruck verspüren, daß er jetzt den ersten Schritt in das Land die Bizarritäten gethan habe.

Von den ersten Kinderschuhen an hat man durch alle Klassen der Volks- und höheren und höchsten Schulen über die Chinesen nichts anderes gehört, als daß sie wunderlich gewordene, verschrobene Menschen seien, über welche die Weltgeschichte schon längst den Fluch der Lächerlichkeit ausgesprochen habe. In unzähligen Büchern, Zeitungen


[Sp. 145]

und sonstigen Veröffentlichungen wird dieses billige Urteil breiter und immer breiter getreten; man atmet es ein; man schluckt es hinunter; es wird mit in Chymus und Chylus verwandelt; es geht auf die Knochen, in Fleisch und Blut über und bildet ein so unausrottbares Bestandteil unserer geistigen Existenz, daß wir gar nicht auf den Gedanken kommen, zu fragen, ob es ein wahres und also berechtigtes sei. Ich erlaube mir, meinem Gedankengange durch die Bemerkung vorauszugreifen, daß es den Chinesen ganz in derselben Weise auch mit uns ergeht: sie bekommen von den Kinderjahren an bis in das Greisenalter über uns nur immer die eine, einzige Lehre wiederholt, daß wir wunderliche Narren seien, mit denen die Weltgeschichte nichts mehr anzufangen wisse, weil wir an sie die unerhörte Forderung stellen, uns für ihre Lieblinge zu erklären und die andern Nationen vollständig fallen zu lassen. Mit andern Worten, die Chinesen halten uns für ganz dieselben Thoren, die sie in unsern Augen sind.

Wer mit einer solchen, förmlich in das Wesen übergegangenen Ansicht nach dem Osten kommt, von dem ist nicht anzunehmen, daß er so bald andern Sinnes zu machen sei. Er kann sich jahrelang in China aufhalten und wird nicht nur ganz der Alte bleiben, sondern vielleicht gar noch schroffer als früher denken, wenn seine Voraussetzungen, daß er mit seinen Ideen das weite, fremde Land im Sturm erobern könne, nicht in Erfüllung gehen. Es giebt keiner von beiden nach, und so bleiben beide, wie sie sind. Nur eins ist nicht geblieben: die Erbitterung ist größer geworden! Das ist die einfache Erklärung der sonst unbegreiflichen Thatsache, daß Leute, welche ein halbes, ja gar ein ganzes Menschenalter in China zugebracht haben und also wohl mit Recht behaupten, Land und Leute genau zu kennen, dieses Land und diese Leute genau noch ebenso falsch beurteilen wie einer, der niemals dort gewesen ist. Ihre Kenntnis ist – – – Photographie! Ihr ganzes, vielleicht außerordentlich reiches Wissen besteht aus leb- und seelenlosen Kamerabildern, welche in den aus Europa mitgebrachten Apparaten entstanden sind. Aus dem Vorurteile der kaukasischen Rasse werden die Films geschnitten, denen man die Unmöglichkeit zumutet, uns die chinesische Volksseele in allen, auch ihren tiefsten und geheimnisvollsten Regungen, treu, wahr und aufrichtig darzustellen. Ist es für den Menschen denn gar so schwer, dem Bruder auch eine berechtigte Eigenart, eine gleichwertige Individualität zuzutrauen? Muß denn jeder, der sich erlaubt, anders zu sein, darum gleich als inferior gedacht werden? Man beobachte den Europäer, wie er aus hochmütigen Augen im fremden Lande um sich schaut! Der Schiffsjunge, welcher jetzt wegen unheilbarer Dummheit vom Maate mit dem Tau verhauen wird, geht eine Viertelstunde später mit dem erhebenden Bewußtsein an das Land, daß alle Malaien und Chinesen Penangs nicht wert seien, ihm die ochsenledernen Stiefel zu schmieren, und zwar nur deshalb, weil


[Sp. 146]

er ein Kaukasier aus Dorf Klapperschnalle ist! Ich hatte eine liebe, alte, gute Großmutter, die sagte mir, als ich bereit stand, in die Welt zu gehen: »Bilde dir ja nie ein, daß du besser seist als andere Leute! Hinter jedem Menschen, mit dem du sprichst, steht sein Engel. Du kannst ihn nicht sehen; aber er ist da; er sieht alle deine Gedanken, und wenn sie mißwollend sind, so kränkst du ihn. Und bedenke, daß der Engel des Negers genau so licht, so rein und so dankbar wie der deine ist! – –«

Solche und ähnliche Gedanken beschäftigten mich, als ich nach Tische einen Gang durch Penang machte. In den Straßen und Gassen stieß ein Laden an den andern. Viele hatten gar keine Thür, weil die Vorderwand des Hauses fehlte und es an ihrer Stelle nur Tragpfosten gab. Und vor diesen Läden zogen sich zu beiden Seiten lange Reihen von feilhaltenden Frucht- und andern Händlern hin. Ich sah weder Polizei noch Militär, und doch herrschte überall eine Ordnung, welche einen erfreulichen Eindruck machte. Von dem Völkerbilde sage ich nichts. Es gab dasselbe Kunterbunt der Nationalitäten wie in jeder östlichen Hafenstadt, nur daß hier Indochina vorherrschend war.

Es war außerordentlich heiß. Plötzlich verdüsterte sich der Himmel; es drohte einer jener plötzlich hereinbrechenden Platzregen, welche der Aequatorgegend eigen sind. Ich blieb stehen und schaute mich nach einem Orte um, der mir und meinem Anzuge Rettung bot. Ein Hotel war nicht in der Nähe. Das sah ein an mir vorübergehender Kuli. Er blieb stehen, deutete die Gasse hinab und sagte:

»Sablah kiri, Pilsen Birr!«

Sablah kiri heißt so viel wie »links«. Also links in dieser Straße gab es Pilsener Bier. Der Mann hatte mich ganz richtig abgeschätzt. Ich drückte ihm vor Freude ein Trinkgeld in die Hand und eilte dann die Gasse hinab. Ja, da stand linker Hand ein europäisch aussehendes, nettes Haus, dessen Parterre eine Restauration enthielt. Die breite Thür hatte keine Flügel, sondern leinene Vorhänge, und das Fenster war bis oben hinauf mit Flaschen besetzt. Da konnte man auch, und zwar in deutscher Sprache, lesen: »Echt Hamburger Pilsener Bier«. Ich hatte keine Zeit, stundenlang über diese sonderbare Echtheit nachzudenken, denn soeben prasselte der Regen in der Weise los, als ob an Stelle des Himmels ein sehr weitmaschiges Sieb vorhanden sei. Ich that einen schnellen Sprung zwischen die Vorhänge hinein und entging dadurch zwar vorn, leider aber nicht auch hinter dem drohenden Bade. Es traf, wie der biedere Erzgebirgler sich auszudrücken pflegt, der erste »Schwabb« des Regens meinen Rücken noch dergestalt, als ob mir eine Gießkanne voll Wasser nachgeschüttet worden sei. An der »Vorderhand« vollständig trocken, fühlte ich mich an der »Hinterhand« bis auf die Haut durchnäßt und wurde von dem herzlichen Lachen zweier weiblicher Stimmen empfangen, in welches ich sofort einstimmte. Die beiden saßen am Fenster, die eine, welche die Mutter


[Sp. 147]

war, häkelte an einer weißen Spitze; die andere, natürlich die Tochter, putzte sich eine Feder an den Hut. Ihre Gesichtszüge und besonders ihr Lachen paßten so genau in die Gegend, wo man gern so unbefangen lustig ist, daß ich, anstatt zu grüßen, die Frage aussprach:

»Sie sind Oesterreicherinnen?«

»Ja,« antwortete die Mutter. »Kennen Sie uns?«

»Nein.«

»Woher wissen Sie da, daß wir Oesterreicherinnen sind?«

»Weil Sie ausschauen wir Ihre Majestät die Kaiserin Maria Theresia und ein so liebes, cisleithanisches Lachen haben.«

»Cis – – – cis – – – cis – –! Wie ist das? Wer lacht cis?« fragte die Tochter.

»Lassen Sie das Cis, und geben Sie mir ein Pilsener! Ist es echt?«

»Ja, aus Hamburg. Das aus Pilsen hält sich nicht bei uns.«

Ich kannte das. Man trinkt dieses echte Pilsener aus Hamburg im ganzen Osten; die Flasche wird mit zwei, oft auch mit drei Mark bezahlt. Die Frau war Witwe. Sie erzählte mir ihre Lebensgeschichte, die aber nicht hierher gehört. Beide waren sehr musikalisch. In der Stube stand ein Pianino. Bald saß ich am Instrumente und spielte. Die Damen sangen heimatliche Lieder dazu. Der Regen ging vorüber; wir musicierten aber weiter. Plötzlich schwiegen sie mitten in einer Strophe.

»Herr Tsi!« rief die Mutter.

Welche ein Name! Ich schaute nach der Thür, welche


[Sp. 148]

in das Innere des Hauses führte. Es konnte jeder andere Chinese so heißen, aber er war es, war es wirklich! Er that, als er mich sah, einige schnelle, fast würdelose Schritte, beinahe waren es Sprünge, auf mich zu und begrüßte mich in einer Weise, welche nicht den geringsten Zweifel übrig ließen, daß er sich aufrichtig über dieses unvorhergesehene Zusammentreffen freute. Die Damen waren aufgestanden und setzten sich nicht wieder nieder. Es sprach aus der Art und Weise, wie sie uns stehend beobachteten, eine Hochachtung, welche Weiße, und besonders wenn sie Frauen sind, einem Angehörigen der gelben Rasse nicht zu erweisen pflegen. Als er einige kurze Worte an sie richtete, war er höflich, weiter nichts; dann bat er mich, ihm zu folgen.

Er führte mich aus dem Gastzimmer durch einen schmalen Hausgang in eine Art von Blumenholz, in welchem ein kleines Gebäude als Einzelwohnung stand. Die zu ihr gehörigen kleineren Nebenräume sah ich nicht. Das Wohnzimmer war verhältnismäßig groß und halb europäisch, halb indisch eingerichtet. Auffällig waren die vielen Sessel, die es gab. Es sah ganz so aus, als ob Tsi sehr oft Besuch habe. Auf einem Tische stand das Theegeschirr. Wasser brodelte über einem so großen Spiritusbehälter, daß anzunehmen war, es werde den ganzen Tag im Kochen gehalten. Ich nahm Platz. Er bereitete zwei Tassen Thee und sagte dabei:

»Hier wohne ich. Merken Sie auf, lieber Freund, was ich Ihnen sage! Es ist nicht viel, aber für mich außerordentlich wichtig. Mein Vater ist in die Heimat gereist; ich hatte noch an verschiedenen Orten, jetzt auch hier zu thun! Was das ist, bitte, fragen Sie mich nicht! Ich darf es nicht sagen und möchte doch gerade Sie nicht täuschen. Ich gelte als Arzt, bin es eigentlich auch. Wenn Sie mich als solchen bezeichnen, laden Sie keine Unwahrheit auf Ihr Gewissen, denn ich habe in Montpellier cum laude bestanden. Ich habe viel Besuch zu empfangen und deshalb gerade diese Wohnung gewählt, weil sie verborgen liegt und die zu mir kommenden Personen von etwaigen Beobachtern für Gäste der Restauration gehalten werden. Wer sich darüber hinaus zu legitimieren hätte, der könnte sagen, er habe meine ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Ich lasse mich aus Nützlichkeitsrücksichten auch hier so


[Sp. 149]

nennen, wie man mich in Kairo mißverständlich genannt hat – – Tsi. Ich bin ganz glücklich, Sie wiederzusehen, und bitte Sie, es zu ermöglichen, daß wir uns nicht so bald wieder trennen. Aber heute und morgen habe ich keine Zeit für Sie. Von übermorgen an stehe ich Ihnen von und mit ganzem Herzen zur Verfügung. Sie sehen, ich bin aufrichtig. Wie ich Sie kenne, erkennen Sie gerade aus dieser eigentlich rücksichtslosen Mitteilung, daß meine Freundschaft für Sie keine Höflichkeit sondern Wahrheit ist. Werden Sie mir verzeihen?«

»Aber ganz natürlich! Leider werden wir uns doch bald trennen müssen. Morgen kommt der Dampfer »Coen« der »Koninklijke Paketvaart Maatschappij«, Kommandant Wilkens, der mein Freund ist, von Padang, um nach Singapore zu gehen. Wenn er zurückkommt, wird er mich für Uleh-leh aufnehmen.«

»Sie wollen hinüber nach Sumatra?« fragte er schnell.

»Ja.«

»Und gerade nach Uleh-leh, also Atjeh? Nehmen Sie sich in acht! Man bereitet dort Dinge vor, welche jedem Europäer, der den Kreis der Stadt verläßt, gefährlich werden können. Ich weiß das ganz genau! Doch davon sprechen wir später. Jetzt trinken Sie Ihren Thee und sagen mir, wie es Ihnen gegangen ist und wo Sie nach Kairo überall gewesen sind!«

»Wollen wir nicht auch das für später aufheben? Sie haben keine Zeit, und meine Erlebnisse sind nicht in der Absicht geschehen, Sie hier mit Erzählungen zu stören. Ich komme ja übermorgen wieder, oder suchen Sie mich im East and Oriental Hotel auf, wo ich mit Sejjid Omar wohne.«

»Was? Dieser ist noch bei Ihnen?«

»Ja. Er hat sich brav bewährt und wird sich außerordentlich freuen, Sie zu sehen. Er hielt ja schon in Kairo große Stücke auf Sie und Ihren Vater, wie Sie ja wissen. Jetzt gehe ich, doch nicht, ohne daß ich eine Frage nach unserm Freunde Waller ausgesprochen habe. Wissen Sie, daß er die Absicht hatte, jetzt hier in Penang zu sein?«

»Nein,« antwortete er schnell und indem sein Gesicht den Ausdruck freudiger Ueberraschung annahm. »Ist er etwa hier?«

»Ich weiß es nicht. In meinem Hotel befindet er sich nicht, sonst hätte ich ihn heut an der Tafel gesehen.«

»Dann vielleicht in einem andern. Man muß schleunigst nachfragen!«

Er sagte das außerordentlich eilig und dringend.

»Allerdings,« antwortete ich. »Ich werde mich gleich jetzt im Crag Hotel, Sea View Hotel und Hotel de l´Europe erkundigen.«

»Und mir sofort, sofort Auskunft bringen oder wenigstens senden?«

»Gern!«

»Wollte Miß Mary mitkommen?«


[Sp. 150]

»Ja.«

»Wissen Sie das genau?«

»Ganz genau. Sie wird ihn ja auf dieser Reise nie verlassen. Sie sind in Indien gewesen und kommen von der Ostküste herüber nach Penang.«

»Bitte, wer hat Ihnen das gesagt?«

Der liebe, junge Mann war ganz begeistert. Ich erwiderte ihm:

»Gestatten Sie mir, daß ich einstweilen auch ein Geheimnis vor Ihnen habe! Was Sie wissen wollen, erfuhr ich auf eine Weise, von welcher ich jetzt noch nicht sprechen kann. Erweisen Sie mir den Gefallen, zu schweigen, falls wir Vater und Tochter hier treffen sollten. Sie dürfen nicht erfahren, daß ich von ihrer Absicht, hierher zu kommen, gewußt habe.«

»Aber wenn Sie sie entdecken, geben Sie mir augenblicklich Nachricht?«

»Sofort!«

»Ich danke Ihnen! Und nun gehen Sie! Ich will Sie nicht abhalten, nachzuforschen, zumal ich gerade jetzt einen sehr wichtigen Besuch erwarte. Also, ich bin Doktor Tsi, der Arzt, weiter nichts!«

Wir drückten einander die Hände, und ich ging.

Als ich wieder in das Gastzimmer kam, saß da ein älterer Chinese bei einer Tasse Thee. Er war durchweg in kostbaren Ghilam*) gekleidet, doch ohne alle Rang- oder Standesabzeichen; aber es schien mir, als ob er auf seinem Hute eigentlich einen Knopf zu tragen habe. Kaum war ich eingetreten, so bezahlte er, ohne auszutrinken, und ging den Weg, den ich soeben gekommen war. Tsi wartete auf ihn.

Was ich von diesem erfahren hatte, das klang so geheimnisvoll. Jedenfalls handelte es sich um wichtige Angelegenheiten der Bruderschaft. Ich hatte nichts darnach zu fragen und begnügte mich mit der Freude, meinen jungen Freund Tsi hier so unverhofft wieder getroffen zu haben.

Nun nahm ich eine Rickschah und fuhr nach den genannten drei Hotels. Es hatte in keinem derselben ein Missionar Waller nebst Tochter logiert. Aber als ich nach Hause kam und im Bureau nachfragte, erfuhr ich, daß sie allerdings hier gewohnt hatten, doch bereits wieder abgereist seien. Waller war krank gewesen, so krank, daß er zwei Aerzte zu Rate gezogen hatte, und von diesen war ihm dringend geraten worden, so schnell wie möglich die niedere Küstengegend zu verlassen und Bergland aufzusuchen. Das von hier aus nächste Höhengebiet hatte man an der Nordspitze von Sumatra zu suchen, und so war er mit der Tochter und all seinem Gepäck nach Uleh-leh gegangen, von wo aus die Berge schneller und leichter als von einem Orte der Ostküste aus zu erreichen sind. Das war vor nun fast zwei Wochen gewesen; eine Nachricht hatte man während dieser Zeit nicht bekommen.


*) Chinesisches Seidenzeug.



[Sp. 151]

»Es kam indessen ein Brief aus Ceylon an,« fuhr der Bureauschreiber fort, welcher mir Auskunft gab. »Wir haben ihn mit dem nächsten Schiffe nachgesandt.«

Das war jedenfalls der Brief des Professors Garden aus Philadelphia.

»Nach welcher Stelle haben Sie ihn geschickt?« erkundigte ich mich.

»Hotel Rosenberg in Kota Radscha, der Hauptstadt von Atjeh; Uleh-leh ist nur der Hafenort.«

»Das weiß ich. Der Atjeh-Fluß führt nach Kota-Radscha, und außerdem ist eine Eisenbahn vorhanden. Doch, Hotel Rosenberg? Das kann nicht der richtige Name sein. Ich kenne Rosenberg persönlich. Er ist ein sehr unternehmender Kaufmann und hat lange Zeit einem in Kota Radscha von ihm selbst gegründeten Geschäft vorgestanden; aber die Rücksicht auf die Gesundheit von Frau und Kind zwang ihn, es später aufzugeben. Er lebt jetzt in Wien.«

»Das stimmt. Aber er kehrt zuweilen wieder und pflegt dann bei uns zu logieren. Jetzt steht ein Schwager von ihm an der Spitze des Geschäftes, welches mit einem Hotel verbunden ist. Wir nennen es jetzt noch immer nach dem Namen des Gründers Hotel Rosenberg.«

Nun erkundigte ich mich nach der Art der Krankheit des Missionars, konnte aber nur erfahren, daß er außerordentlich hinfällig gewesen sei. Der Name eines der beiden Aerzte wurde mir gesagt. Ich suchte ihn per Rickschah auf und fand ihn daheim. Er teilte mir mit, daß es sich um einen besorgniserregenden Fall von Dysenterie gehandelt habe. Als Specifikum war Ipecacuanha gegeben worden, als Diät nur Reiswasser und Marantaaufguß, durch Ricinus eingeleitet. Das waren genau dieselben Mittel, mit denen man auch in den Nilländern dieser gefährlichen Krankheit entgegentritt. Man sagt, daß Ipecacuanha gegen die Dysenterie ebenso sicher wirke wie Chinin gegen das Fieber; aber einen schon durch die Krankheit so außerordentlich geschwächten Körper durch Ricinusöl, Reiswasser und Aufguß von Arrowroot, denn Maranta ist nichts anderes als Arrowroot, aufhelfen zu wollen, das konnte ich mit meinen Erfahrungen nicht vereinigen. Ich begann, um Waller besorgt zu werden, und ging mit mir zu Rate, was zu machen sei. Sollte ich Tsi benachrichtigen? Ich hatte es ihm versprochen, und er war ja, wie er mir mitgeteilt hatte, Arzt. Aber wer dem Missionar helfen wollte, mußte ihn in Atjeh aufsuchen, und vor Kapitän Wilkens gab es niemand, der dorthin ging. Man hatte also auf alle Fälle zu warten, und da eine ausführliche Mitteilung an Tsi ihn ganz unnützer Weise aufgeregt hätte, so gab ich ihm durch einige Zeilen nur die kurze Nachricht, daß meine Erkundigungen nach Wallers nicht ganz erfolglos gewesen seien, ich aber bis übermorgen noch ausführlicheres zu erfahren hoffe.

Mein Sejjid Omar befand sich in sehr gehobener Stimmung; er sagte zunächst nichts, aber ich sah es ihm


[Sp. 152]

deutlich an. Er pflegte über solche Dinge nicht eher zu sprechen, als bis er glaubte, sie geistig richtig untergebracht zu haben. Ich konnte überzeugt sein, daß er dann nicht versäumen werde, mir seine Mitteilungen in der ihm eigenen drolligen Wichtigkeit zu machen. Und wie gedacht, so geschah es auch!

Am Abend saß ich im offenen Vorzimmer. Die nahe Brandung predigte zu mir herüber; ein kühler Hauch bewegte die Wipfel der Bäume, zwischen denen die aufgegangenen Sterne zu mir niederfunkelten. Die Fee des Südens stieg aus den Wogen, um in den Gärten Penangs nach offen träumenden Blumen suchen zu gehen. Da gab es aber einen, der die Brandung nicht hörte, die Bäume nicht beachtete, die Sterne nicht sah und von der Fee erst recht keine Ahnung hatte. Dieser eine war Omar, der siegreiche Held der heutigen Tiffinstunde.*) Das, womit er gegenwärtig beschäftigt war, hatte freilich mit diesem seinem Heldentume nichts zu thun. Er hatte ein Licht herausgeholt und sich nicht weit von mir auf den Rasen niedergekauert, um meine hellen Schnürstiefel blank zu machen. Er that dies in ganz ungewöhnlich liebevoller und eingehender Weise. Der Lappen flog nur so, und das Leder stöhnte förmlich. So oft ich glaubte, daß er fertig sei, griff er immer wieder zu der Büchse mit der gelben Salbe, um von neuem zu beginnen. Dabei war auf seinem Gesichte deutlich zu lesen, daß ihn dieses abwechselnde Schmieren und Reiben, Reiben und Schmieren unendlich glücklich mache. Ein Moslem, der einem Christen mit Wonne die Stiefel schmiert. Man denke!

»Ist es noch nicht gut, Omar?« fragte ich, als er das glänzende Werk zum sechsten oder achten Male wieder zerstören wollte.

»Nein,« antwortete er sehr energisch.

»Aber du reibst die Salbe durch; dann werden meine Strümpfe fett und gelb!«

»So ziehst du andere Strümpfe an, und ich wasche dir die gelben! Heut muß das ganze, ganze Fett hinein!«

»Oho!«

»Jawohl! Und du bist selbst schuld daran, Sihdi! Weißt du, was du gethan hast? Wie einen Gentleman hast du mich behandelt, als du mir erlaubtest, mit den Engländern zu speisen. Weißt du, was das heißt? Als Diener habe ich dir die Stiefel nur einmal zu salben; als Gentleman aber salbe ich sie dir so lange, bis ich kein Fett mehr habe. Oder meinst du etwa, daß ein Gentleman undankbar sein darf? Wenn ich dich nicht hätte, so wäre ich noch der alte Sejjid Omar, der ich früher war, und wenn ich dieser wäre, so hätte mich kein General heut eingeladen, mit ihm und seinem Harem Kaffee zu trinken. Das habe ich doch nur dir, nicht mir zu verdanken!«


*) In Indien sagt man Tiffin anstatt lunch oder luncheon.



[Sp. 153]

»Hoffentlich hast du keinen allzugroßen Fehler gemacht!«

»Fehler? Ich gewiß nicht, denn ich weiß, daß ich nur ein armer Eselsjunge bin; aber der Harem des Generales hat sie gemacht.«

»Wieso?«

»Er wollte mich als Diener haben und hat mir mehr geboten, als du mir giebst. Da habe ich geantwortet, wenn man das noch einmal sage, so müsse ich aufstehen und fortgehen, denn es habe noch niemals einen Diener gegeben, der einen solchen Herrn gehabt hat, wie du bist, Sihdi. Ich sagte ihnen, daß ich dir nicht bloß diene, sondern dich auch liebe; ich bin dir also nicht bloß aus Pflicht, sondern auch aus Liebe treu und werde dich für alles Geld der Erde nicht verlassen. Da drückte mir der General die Hand und forderte mich auf, dir zu sagen, daß er sehr bedaure, daß du kein Engländer seist. Am meisten hat ihm gefallen, daß mir sein Harem gefallen hat. Ich habe ihm das ganz aufrichtig gesagt. Bei den Christen sind die Frauen klüger als bei uns, und ich glaube, das ist der Grund, daß dort auch die Männer mehr wissen, als die unserigen wissen.«

»So meinst du, daß die Männer von den Frauen lernen können?« fragte ich. »Das wäre ja ein Gedanke, der bei einem Moslem ganz unmöglich ist!«

»Ich habe jetzt nicht als Moslem, sondern als Sejjid Omar gesprochen. Ich bin zwar beides, aber ich kann doch auch einmal nur das eine oder das andere sein! Bei uns sind die Frauen so unwissend, daß die Kinder nichts von ihnen lernen können, auch die Knaben nicht, und wenn sie ihre Klugheit nicht von der Mutter bekommen können, so kann der Vater sie ihnen auch nicht geben, denn wer sich einen Harem anschafft, der keine Seele hat, der hat selbst so wenig Verstand, daß er für seine Kinder keinen übrig hat. Du hast einmal in Colombo mit dem deutschen Wirte gesprochen, bei dem ich wohnte, und dabei auch das Wort Mutterwitz gesagt. Ich verstand es nicht; aber ich habe darüber nachgedacht. Ein witziger Mann ist doch wohl ein gescheiter Mann, und wenn diese Gescheitheit Mutterwitz genannt wird, so ist sie ihm höchst wahrscheinlich von der Mutter angeboren worden. Warum aber haben wir kein arabisches Wort für Mutterwitz? Weil wir keine klugen Frauen und Mütter haben! Aber, weißt du, zuweilen giebt es eine, doch nur zuweilen. Ich kenne nur eine einzige, und die ist meine Mutter! Ich denke oftmals: Wenn ich ein guter Mensch bin, so habe ich das von ihr geerbt; der Vater hat es nur unter seinen Schutz genommen. Ist das dumm von mir?«

»Nein, lieber Omar, ganz und gar nicht dumm. Du ahnst etwas, was selbst bei uns viele große und gelehrte Männer noch nicht wissen. Du bist fast zu beneiden, daß du, was wir vergeblich suchen, schon so von weitem liegen siehst!«


[Sp. 154]

»Ich werde es wegnehmen, wenn ich vollends hin komme. Meine Gedanken werden nicht abirren, sondern auf diesem Wege bleiben. –– – So, jetzt sind die Stiefel fertig, denn die Salbe ist alle. Hoffentlich giebt es in Penang hier einen Laden, wo ich morgen wieder welche bekommen kann.«

Er hatte seinem lieben, guten Herzen Luft gemacht, trug die Schuhe in das Zimmer und ging dann, eine Wasserpfeife zu rauchen. Das und eine kleine, arabische Tasse Kaffee dazu, zusammen für ihn kaum mehr als zehn Pfennige kostend, war die einzige Luxusausgabe, welche er sich gestattete. Wie kommt es wohl, daß nur »unkultivierte« Menschen so bescheiden und zufrieden sind?!

Am nächsten Frühmorgen wurde ein Spazierritt unternommen, von welchem wir erst gegen Mittag heimkehrten. Nach dem Tiffin ging ich nicht aus, sondern blieb daheim. Ich bin ein eigentümlicher Mensch. Ich kann mich einem Gedanken, welcher mich beschäftigt, niemals eigenmächtig entziehen, sondern ich bin so lange sein Eigentum, bis ich ihn vollständig erledigt habe. Es ist, als stehe ein unsichtbares Wesen bei mir, welches auf diese Erledigung warte und, wenn sie erfolgt ist, mich mit einem Gefühle der Befriedigung belohnt, welches mich mehr als Trank und Speise stärkt. Ich fühle mich dann, selbst nach langer anstrengender Arbeit, während welcher ich nichts genieße, nicht nur geistig, sondern auch körperlich so befriedigt, daß ich kein Bedürfnis nach materieller Nahrung habe. Ist es bloß der Magen, der den Menschen ernährt? Oder findet das, was wir Stoffwechsel nennen, auch noch auf eine andere, geheimnisvolle Weise statt? Ich kann, wenn ich geistig beschäftigt bin, recht gut mehrere Tage ohne Essen und auch Trinken sein, ohne Hunger oder Durst zu spüren. Man sollte diese Erfahrung aufmerksam verfolgen; vielleicht käme man dadurch auf eine ganz unerwartete Erklärung des Bibelwortes, daß der Mensch nicht allein vom Brote lebe; denn, offen gestanden, mache ich die erwähnte Beobachtung meist dann, wenn ich von religiösen Fragen beschäftigt werde. Man wird wahrscheinlich über mich lächeln; ich aber würde mich freuen, wenn ich von anderer Seite erführe, daß ich nicht der einzige bin, der daran zweifelt, daß der Mensch seine körperliche und geistige Entwicklung nur allein dem Verdauungskanale zu verdanken habe.

Die gestrige Beschäftigung mit dem Aufenthalte und der Krankheit des amerikanischen Missionars hatte alles, was in meinem Innern zu ihm in Beziehung stand, wieder in der Vordergrund gezogen, und da stellte es sich denn heraus, daß ich diesem Gegenstande die Erledigung eines Gedankens schuldig geblieben war. Dieser Gedanke war freilich kein sehr wichtiger, und so hatte es kommen können, daß er einstweilen auf die Seite geschoben werden konnte; jetzt aber machte er sich wieder geltend, und jenes


[Sp. 155]

unsichtbare Wesen stand hinter mir und mahnte mich unaufhörlich, diese Lücke aufzufüllen. Ich hatte diese Mahnung schon gestern abend in mir gespürt, war während der Nacht einige Male von ihr aufgeweckt worden, und während des heutigen Rittes hatte sie mich hin- und zurückbegleitet, um mich nun daheim festzuhalten, damit ich daran gehen möge, mich von ihr zu befreien oder, was wahrscheinlich richtiger ist, sie endlich wieder freizugeben. Es handelte sich, wie gesagt, um nichts großes, sondern nur um das Gedicht »Tragt euer Evangelium hinaus«, und wer nicht weiß, was im Seelenleben ein unvollendeter Gedanke zu bedeuten hat, der wird es nicht begreifen, daß man sich von so etwas beunruhigen lassen kann. Wer aber gewöhnt ist, seinen geistigen Himmel immer rein, klar und licht zu sehen, dem wird jeder nur halb fertig gedachte Gedanke zu einer Wolke, welche ihn nicht nur direkt stört, sondern auch auf alle seine anderen Gedanken ihren Schatten wirft. Wenn wir von einem Lichte der innern Welt des Menschen sprechen, so meinen wir damit jene alles durchdringende und das Einzelne zum Ganze fügende Logik, welche den Geist von der Materie zu scheiden und ihn sich


[Sp. 156]

anzueignen hat. Diese Logik duldet nichts Unfertiges, nichts Halbvollbrachtes, weil sie nur aus dem Klargewordenen zu neuer Klarheit schreiten kann. Da giebt es nichts Unwichtiges, nichts Nebensächliches, was man im Dunkel, ohne daß es schadet, liegen lassen darf. Freilich, wer in der Weise nur für das Aeußere lebt, daß er für diese innere Welt keine Zeit und kein Verständnis hat, oder wer gar ein so grasser [krasser] Materialist ist, daß er nicht ansteht, eine unendlich reiche Schöpfung, die er in sich trägt, zu leugnen, dem kann keine Wolke seinen Himmel stören, weil er eben keinen Himmel hat.

Es war mir, als ob dieses Gedicht ein notwendiger Teil meines Verhältnisses zu Wallers sei, als ob ich es unbedingt vollenden müsse, wenn dieses Verhältnis so, wie sein Anfang es versprochen hatte, sich ausgestalten sollte, und so nahm ich mir vor, heute Nachmittag der fertigen ersten Strophe die noch fehlende zweite hinzuzufügen. Aber ob es mir gelingen werde, das wußte ich freilich nicht, denn ich verstehe unter »Dichten« nicht das, was tausend andere damit meinen.

Aber, sonderbar, kaum hatte ich das Papier vor mich


[Sp. 157]

hingelegt, so war es mir, als ob jenes »unsichtbare Wesen« mir die nötigen Worte zuflüstere. Ich brauchte die erste Strophe gar nicht erst wieder zu zergliedern, um ihr die zweite logisch folgen zu lassen, und es dauerte wohl kaum zehn Minuten, so hatte ich geschrieben:

»Tragt euer Evangelium hinaus,

Indem ihrs lebt und lehrt an jedem Orte,

Und alle Welt sei euer Gotteshaus,

In welchem ihr erklingt als Liebesworte.

Gebt Liebe nur, gebt Liebe nur allein;

Laßt ihren Puls durch alle Länder schlagen.

Dann wird ein Paradies die Erde sein,

Denn ihr habt ihr den Himmel zugetragen.«

Nicht lange hierauf lief die »Coen« in den Hafen. Ich ließ mich an Bord bringen, um Kommandant Wilkens die Hand zu drücken. Er war ein tüchtiger, vielbefahrener Seemann, ein lang und stark gebauter, sehr aristokratisch erscheinender und auch wirklich vornehm denkender »Mijnheer« und, last not least, ein seelensguter Mensch, der für seine Passagiere und Untergebenen wie ein Vater sorgte. Er freute sich, als ich mich für die Rückfahrt nach Uleh-leh anmeldete, und bat mich, doch lieber gleich mit nach Java zu gehen. Es sollte aber anders kommen, als ich dachte. Die Einleitung dazu kam, ohne daß ich es ahnte, soeben auf der Route von Laknawa herbeigedampft.

Ich war hinunter in den Speisesaal gegangen, um wieder einmal auf der dortstehenden, prächtigen Orgel zu spielen, welche Wilkens sich aus Amerika hatte kommen lassen. Da unterbrach er mich, indem er durch das geöffnete Oberlicht herunterrief:

»Wenn Sie etwas Schönes sehen wollen, so kommen Sie herauf! Es ist geradezu ein nautisches Ereignis, ein Unikum!«

Ich eilte hinauf. Er stand auf dem Hinterdeck und beobachtete mit bewundernden Blicken ein Fahrzeug, welches leicht und schnell, als ob das Wasser ihm gar keinen Widerstand biete, herbeigeflogen kam. Es war eine Dampfjacht, so scharf und kühn auf den Kiel gesetzt, wie nur die Amerikaner es fertig bringen oder – – brachten, denn wir Deutschen verstehen das jetzt auch! Die Konturen waren zum Erstaunen schön und rein. Die Decklinie stieg vorn und hinten in die Höhe, denn sonderbarerweise war sowohl der Vorder- wie auch der Quarterplatz nach Dschunkenart erhoben, was dem Schiffe etwas Fremdartiges, fast möchte ich sagen, Märchenhaftes gab. Der nach Klipperart schneidig gezogene Bug wurde von einem wunderbar schönen Frauenkopf aus weißem, reinstem Marmor gekrönt, unter welchem auf dunklem Schleier in großen, goldenen Buchstaben der Name »Yin« zu lesen war. Hinten wehte die chinesische Flagge mit dem gelben Sonnenball auf rotem Grunde.

»Wahrhaftig ein Unikum!« rief Wilkens begeistert aus. »Macht wenigstens zwanzig Knoten die Stunde!


[Sp. 158]

Habe so etwas noch nicht gesehen! Eine Vermählung des Leichtesten und des Unbeholfensten, der Schoner- und Dschonkenform, und doch nichts als Linien, welche eiligst vorwärts drängen. Diese Dampfjacht ist ein Meisterstück! Aber daß sie einem Chinesen gehört, ist mir unbegreiflich! Was bedeutet das Wort Yin?«

»Es heißt so viel wie Güte,« antwortete ich; »das wird wohl der Name des schönen Wesens sein, dessen Marmorbild vom Bug getragen wird. Es sind chinesische Gesichtszüge, und doch auch wieder nicht. Diese Jacht ist ein Rätsel, und ich wollte, daß ich es lösen dürfte!«

Es war mir beschieden, daß ich es gar nicht zu lösen brauchte, weil es sich mir freiwillig offenbarte.

Schade, daß das Deck mit der Sonnenleinwand verhangen war! Man sah keinen Menschen, als nur den hochstehenden Kommandierenden, und dieser hatte einen so breitkämpigen [breitkrämpigen] chinesischen Hut auf dem Kopfe, daß die Gesichtszüge nicht zu erkennen waren, zumal die Jacht in ziemlicher Entfernung an der »Coen« vorüberging. Sie that das so zierlich, so anmutig und doch so kraftgewiß, daß nur eine vollständig ausgewachsene Landratte nicht darüber in Entzücken geraten wäre. Man konnte getrost darauf schwören, daß alle Augen, die es hier im und am Hafen gab, jetzt ausschließlich nur auf diese unvergleichliche »Yin« gerichtet seien!

Sie schien gar nicht vor Anker gehen zu wollen, sondern sie drehte nur bei und gab ein Boot mit einem Manne und zwei Ruderern ab, welches Richtung nach dem Lande nahm. Dann dampfte sie wieder mit fast unhörbarer Maschine und vollständig rauchlos atmend, zum Hafen hinaus.

»Wie viele Millionen dieser Chinese wohl besitzen mag!« seufzte Wilkens. »Er selbst aber kommandiert die Jacht jedenfalls nicht! So eine spielende Kurve bei so einer gedankenschnellen Trennung des Bootes, und dann so rund wieder herum und mit Vollkraft hinaus, das bringt kein Chinese fertig; das kann nur jemand, dem ich die Hand dafür drücken möchte, daß ich es habe ansehen dürfen. Die Jacht kam, gab dem Hafen mit dem Boote einen Kuß und ging dann wieder fort. So ist es, nicht anders. Morgen werde ich denken, daß ich diese Marmor-»Yin« nicht gesehen, sondern nur geträumt habe!«

Der Aufenthalt der »Coen« währte nur kurze Zeit. Ihr Kapitän hatte an Land zu thun und bat mich, für diese Zeit bei ihm zu bleiben. Daher mußte ich unterlassen, was ich sonst wohl gethan hätte, nämlich mich, um über die »Yin« etwas zu erfahren, nach dem von ihr ausgesetzten Boote zu erkundigen. Als er seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigt hatte, war von seinem Dampfer aus das erste Zeichen für die Abfahrt schon gegeben worden; er mußte sich beeilen; darum begleitete ich ihn nicht wieder an Bord, sondern nur bis an das Wasser. Der Abschied von ihm war nur für einige Tage, darum kurz und ohne


[Sp. 159]

überflüssige Worte; dann ließ ich mich in einer Rickschah nach dem Hotel fahren. Dort angekommen, erfuhr ich von Omar eine Neuigkeit, welche er mir in sehr mißbilligender Weise mitteilte:

»Sihdi, ich bin zornig; ja, ich bin sogar wütend! Man hat keine Rücksicht auf dich genommen! Du willst ruhig und ungestört hier wohnen; aber man hat gerade die Zimmer, welche über uns liegen, an zwei Inglis abgegeben, die vor einer halben Stunde hier eingetroffen sind. Man hört hier unten jeden Schritt, den sie oben machen, und sie sprechen so laut, als ob sie ganz allein auf der Erde wären. Soll ich hinaufgehen und ihnen sagen, wie sie sich zu verhalten haben?«

»Nein. Jeder hat das Recht, zu wohnen, wo er will. Wenn ich mich von ihnen belästigt fühle, werde ich ein anderes Zimmer nehmen; es sind ja mehr als genug Wohnungen da. Der Mensch hat nicht stets das zu wollen, was gerade ihm beliebt, denn jeder ist auf andere angewiesen. Man muß sich nach der Decke strecken!«

»Decke – – – Decke – – –!« wiederholte er. Das war ein ihm ganz fremdes Gleichnis. Er ging langsamen Schrittes in den Garten hinüber und lehnte sich dort an einen Baum. Seine Lippen bewegten sich. Er lernte die sieben Worte von der »Decke« auswendig und dachte über ihre Bedeutung nach. Das war so seine Weise. Dann pflegte er später nach einer Gelegenheit zu suchen, das Resultat seines Nachdenkens anzubringen.

Als ich in meine Wohnung getreten war, hörte ich allerdings sofort, daß jemand über mir wohnte. Man ging mir starken, ungenierten Schritten hin und her; Tisch und Stühle wurden gerückt; es fiel etwas Schweres mit lautem Krache um. Ich sah Kellner an meiner offenen Thür vorüber eilen, welche mit Küchengeschirr an der nach oben führenden Treppe verschwanden. Die beiden, neu angekommenen Engländer schienen speisen zu wollen. Sie traten jetzt, um der Bedienung Raum zu geben, auf den freien Vorraum heraus, und ich konnte hören, was sie sprachen. Sie sahen den Sejjid stehen.

»Ein prächtiger Kerl dort!« sagte der eine. »Schaut, Sir, was für ein Körperbau, und was für charakteristische Züge! Kein Bildhauer könnte sich


[Sp. 160]

ein besseres Modell wünschen. Jedenfalls ein Muhammedaner vom Himalaja!«

»No!« erklang die Antwort des andern sehr kurz und sehr bestimmt.

»Nicht? Ich glaube doch, Indien und seine Bevölkerung zu kennen! Nur in den Bergen können solche Prachtgestalten wachsen.«

»No

Bei diesem zweiten »No« wurde ich aufmerksam. Der Klang dieses so unendlich bestimmt ausgesprochenen Wortes hatte etwas Bekanntes für mich.

»Nur immer Widerspruch!« tadelte der erste Sprecher. »Woher soll der Mann sonst sein?«

»Aus Aegypten!«

»Kennt Ihr ihn etwa, Sir?«

»No. Habe ihn noch nie gesehen.«

»So habt Ihr Unrecht! Was hätte ein ägyptischer Fellache hier in der Malakkastraße zu thun?«

»Wollen wir wetten?«

»Wieviel?«

»Fünf Pfund, zehn Pfund, hundert Pfund! Mit ganz gleich!«

Jetzt, da gewettet wurde, war ich meiner Sache sicher. Ja, dieser Engländer, der so kurz und so bestimmt sprach und dem hundert Pfund ebenso gleichgültig wie fünf Pfund waren, wenn er nur wetten konnte, dieser Mann hatte nicht nur fünf- und nicht nur zehn- und nicht nur hundertmal mit mir wetten wollen, mich aber nie zu einem Einsatz gebracht. Er war nicht nur ein Bekannter, sondern sogar ein lieber, lieber Freund von mir! Auch die Stimme seines Gefährten mußte ich schon irgendwann und irgendwo gehört haben.

»Lassen wir es bei fünf Pfund,« meinte der Letztere. »Ich weiß, daß ich gewinnen werde, und muß also bescheiden sein.«

»Setzen!« wurde er aufgefordert.

Das war so hochinteressant, daß ich weiter vortrat, um mir kein Wort entgehen zu lassen. Ich hörte Goldstücke klingen; dann wurde Omar, von oben herab in arabischer Sprache angerufen:

»Chod minni, ia Ibn ´arab! Schu beledak – höre, Araber, wo bist du her?«

Omar sah erstaunt zu dem Frager hinauf und antwortete: »Aus Kairo in Aegypten.«

»Well! Komm her! Bis ganz heran, gerade unter mir!«

Der Sejjid folgte dieser Aufforderung.

»Heb den Saum deines Gewandes auf! Ich will dir etwas hinabwerfen!«

Omar that, wie ihm geheißen worden war. Er fing fünf Goldstücke auf.

»So! Dieses Geld ist dein, weil du aus Aegypten bist!«


[Sp. 161]

Hierauf folgte ein zweistimmiges Lachen, welches jedenfalls der unbeschreiblichen Verwunderung galt, mit welcher der Sejjid emporschaute. Er stand ganz starr, das Gesicht nach oben gerichtet und den aufgerafften Saum unbeweglich festhaltend. Dann, als man oben von der Brüstung zurückgetreten war, bewegte er sich langsam auf mich zu, hielt mir die Falten, aus denen die Goldstücke flimmerten, hin und sagte:

»Hast du es gehört, Sihdi? Fünf englische Pfund! Das sind fast tausend ägyptische Piaster! Mir geschenkt, weil ich aus Kairo bin! Rechts macht mich das stolz; links aber ärgert es mich! Diesem Inglis da oben ist Aegypten wert; das freut mich; aber er hält mich nicht für einen wohlhabenden Diener meines Sihdi, sondern für einen armen Teufel, welcher das Gewand aufhebt, um sich Piaster schenken zu lassen. Ich werde hinaufgehen, um ihm das Geld wiederzugeben.«

»Ja, du wirst hinaufgehen, aber das Geld behalten, Omar. Dieser Inglis ist unendlich reich, und er hat dir die fünf Pfund nicht gegeben, um dich zu beleidigen. Er hat dich gesehen und dann gewettet, daß du ein Aegypter seist. Und weil du einer bist, hat er das Geld gewonnen und es dir geschenkt.«

»Maschallah! So bin also ich es, der diese Wette gewonnen hat, nicht er! Denn wenn ich nicht Sejjid Omar aus Kairo wäre, so hätte er sie verloren! Und was ich gewonnen habe, das ist mein; ich werde mich also hüten, es ihm wiederzugeben! Aber du sagtest, daß ich hinaufgehen soll?«

»Ja. Sie werden jetzt speisen. Du teilst ihnen sehr höflich mit, daß ich mit ihnen essen will, sagst aber auf keinen Fall meinen richtigen Namen, auch nicht, daß ich ein Deutscher bin, der Bücher schreibt!«

»Gut! Das werde ich schon machen. Du weißt ja, daß du dich auf mich verlassen kannst! Aber diese fünf Pfund mag ich nicht einstecken. Hebe du sie mir auf, denn bei dir ist mir das Geld lieber als bei mir!«

Er gab mir die Münzen und ging. Es dauerte gar nicht lange, so kam er wieder, und zwar mit einem bitterbösen Gesicht.

»Nun, was hat man gesagt?« fragte ich.

»Ausgelacht hat man mich, und beinahe hinausgeworfen,« zürnte er. »Ich könnte diese Inglis gleich mit beiden Fäusten prügeln, aber du weißt ja, Sihdi, daß man sich nach der Decke strecken muß!«

Ich gab mir Mühe, bei dieser so schnell eingetroffenen Nutzanwendung nicht laut aufzulachen. Er fuhr fort:

»Ich sagte deinen Namen nicht, sondern den, welchen du immer in das Fremdenbuch zu setzen pflegst. Ich sagte nicht, daß du ein Deutscher, sondern daß du mein Sihdi seist; das ist doch mehr, als alle Völker zusammengenommen. Ich sagte nicht, daß du Bücher schreibst, sondern daß du Gedichte machst. Das ist keine Lüge und führt,


[Sp. 162]

wie ich von unsern arabischen Dichtern weiß, den Menschen zur Unsterblichkeit. Und endlich sagte ich, daß dieser unsterbliche Sihdi ihnen sagen lasse, daß er heraufkommen werde, um mit ihnen zu essen.«

Er machte eine Pause. Die Sache machte mit heimlich Spaß; er aber fügte in seinem grimmigsten Tone hinzu:

»Da lachten sie über mich; das will ich ihnen verzeihen. Aber sie lachten auch über dich, und das kann ich ihnen nicht verzeihen! Der eine, welcher viel älter als der andere ist, sagte, wer unsterblich sei, der brauche nicht zu essen, weil der Hunger ihm ja nichts schaden könne. Und der jüngere befahl mir, dir zu sagen, daß er in der Küche ein Essen für dich bestellen und es dir schicken lassen werde. Das beleidigte mich so, daß ich vor Aerger vergaß, mich nach der Decke zu strecken. Ich wurde auch grob und sagte ihnen, daß ich ihnen ihre fünf Pfund wiederbringen werde. Da gaben sie den Kellnern den Befehl, mich hinauszuschaffen; ich bin aber natürlich selbst gegangen. Gieb mir die Goldstücke, Sihdi; ich trage sie hinauf!«

»Nein. Du wirst sie behalten und dennoch noch einmal hinaufgehen.«

»Das fällt mir schwer, Sihdi; aber wenn du es willst, so werde ich es thun. Was soll ich sagen?«

»Merke dir die Worte genau! Du sagst folgendermaßen: »Mein Sihdi läßt Sir John Raffley und die liebe Chair-and-umbrella-pipe grüßen!« Hast du das verstanden?«

»Ja: Mein Sihdi läßt Sir John Raffley und die liebe Chair-and-umbrella-pipe grüßen!«

»Und wenn man dich fragt, woher ich ihn und sie kenne, so antwortest du: »Mein Sihdi war dabei, als sie auf Ceylon verloren ging und auf dem chinesischen Schiffe dann wiedergefunden wurde.« Kannst du dir das merken?«

Er wiederholte die beiden Sätze einige Male, bis er sie sich eingeprägt hatte. Dann fragte er in bedenklichem Tone:

»Was thue ich aber, wenn ich wieder ausgelacht oder gar hinausgeworfen werde?«

»Das wird nicht geschehen, denn du wirst ganz im Gegenteile große Freude anrichten. Die Hauptsache ist, daß du auch wirklich hinein zu ihnen kommst, um deinem Auftrag aufzuführen. Am besten ist es du lässest dich gar nicht anmelden, sondern gehst stracks hinein, ohne dich vorher mit den Kellnern abzugeben.«

Hierauf ging er fort. Ich sah ihm nicht nach, war aber überzeugt, daß er unterwegs einige Male stehen bleiben würde, um das, was er zu sagen hatte, für sich zu wiederholen.

Um mein Verhalten begreiflich zu machen, muß ich auf die schon erwähnte Reiseerzählung zurückkommen, welche in Band XI meiner gesammelten Werke unter dem Titel »Der Girl-Robber« zu finden ist. Ich erzähle da von einem Erlebnisse mit Raffley, welches sich auf Ceylon und


[Sp. 163]

seinem Küstengewässer abwickelte, und sage von diesem »Englishman ohne Furcht und Tadel« folgendes:

»Neben mir lehnte Sir John Raffley. Er bemerkte von all den Herrlichkeiten, welche ich sah, nicht das geringste. Die köstlichen Tinten, in denen der Himmel flimmerte und glühte, das strahlendurchblitzte Kristall der See, der erquickende Balsam der sich abkühlenden Lüfte und die bunte interessante Bewegung auf dem vor uns liegenden Fleckchen der herrlichen Gotteswelt, sie gingen ihm verloren; sie waren ihm im höchsten Grade gleichgültig; sie durften es nicht wagen, seine Sinne auch nur einen Augenblick lang in Anspruch zu nehmen. Und warum? Wunderbare und ganz überflüssige Frage! Was war denn eigentlich dieses Ceylon in seinen Augen? Ein Eiland, eine Insel mit einigen Menschen, einigen Tieren und einigen Pflanzen darauf und rundum von Wasser umgeben, welches nicht einmal zum Waschen oder zur Bereitung einer Tasse Thee geeignet ist. Was ist das weiter! Etwas Sehenswertes oder gar Erstaunliches gewiß nicht! Was ist Point de Galle gegen Hull, Plymouth, Portsmouth, Southampton oder gar London; was ist der Governor zu Colombo, obgleich sein Verwandter, gegen die Königin Viktoria von Altengland, Irland und Schottland; was ist Ceylon gegen Großbritannien und seine Kolonien; was ist überhaupt die ganze Welt gegen Raffley-Castle, wo Sir John geboren worden ist?!

Der gute, ehrenwerte Sir John war ein Engländer im Superlativ. Besitzer eines unermeßlichen Vermögens, hatte er noch nie daran gedacht, sich zu verehelichen, und war einer jener zugeknöpften, schweigsamen Englishmen, welche alle Winkel der Erde durchstöbern, selbst die entferntesten Länder unsicher machen, die größten Gefahren und gewagtesten Abenteuer mit unendlichem Gleichmute bestehen und endlich müde und übersättigt die Heimat wieder aufsuchen, um als Mitglied irgend eines berühmten Reiseklubs einsilbige Bemerkungen über die gehabten Erlebnisse machen zu dürfen. Er hatte den Spleen in der Weise, daß seine lange, knochige Gestalt nur in seltenen Augenblicken einen kleinen Anflug von Genießbarkeit zeigte, besaß aber doch ein außerordentlich gutes Herz, welches stets bereit war, die großen und kleinen Seltsamkeiten, in denen er sich zu gefallen pflegte, wieder auszugleichen. Eine innere Erregung schien bei ihm gar nicht denkbar, und er zeigte nur dann eine lebhaftere Beweglichkeit, wenn er auf eine Gelegenheit stieß, eine Wette einzugehen. Die Wettsucht nämlich war seine einzige Leidenschaft, wenn bei ihm überhaupt von Leidenschaft die Rede sein konnte, und es wäre wirklich geradezu ein Wunder gewesen, hätte er eine solche Gelegenheit versäumt.

Nachdem er aller Herren Länder kennen gelernt hatte, war er zuletzt nach Indien gekommen, dessen General-Gouverneur ebenso wie der Gouverneur von Ceylon ein Verwandter von ihm war, hatte es in den verschiedensten


[Sp. 164]

Richtungen durchstreift, war auch schon einige Male auf Ceylon gewesen und im Auftrage des General-Gouverneurs jetzt wieder hergekommen, um sich wichtiger Botschaften an den Statthalter zu entledigen. Wir hatten uns im Hotel Madras kennen gelernt und uns nach und nach geistig zusammengefunden, und obgleich er mich niemals auch nur zur kleinsten Wette vermocht hatte, war ich ihm doch so befreundet und lieb geworden, daß er trotz seiner sonstigen Unnahbarkeit eine wahrhaft brüderliche Zuneigung für mich an den Tag legte.

Also jetzt lehnte er, völlig unberührt von den uns umgebenden Naturreizen, in denen ich sozusagen schwelgte, neben mir und beschielte den goldenen Klemmer, welcher ihm vorn auf der äußersten Nasenspitze saß, mit einer Beharrlichkeit, als wolle er an dem Sehinstrumente irgend eine welterschütternde Entdeckung machen. Neben ihm lehnte sein Regen- und Sonnenschirm, welcher so kunstvoll zusammengesetzt war, daß er ihn als Stock, Degen, Sessel, Tabakspfeife und Fernrohr benutzen konnte. Dieses Meisterstück war ihm von dem Traveller-Klub, Near-Street, London, als Souvenir verehrt worden; er trennte sich niemals, weder bei Tage noch bei Nacht, von demselben und hätte es um alle Schätze der Welt nicht von sich gegeben. Diese Chair-and-umbrella-pipe, wie er es nannte, war ihm beinahe ebenso lieb wie seine prachtvoll eingerichtete und pfeilschnelle kleine Dampfjacht, welche unten im Hafen vor Anker lag und die er sich für seinen persönlichen Gebrauch auf einem der Werfte von Greenock am Clyde, den in aller Welt berühmten Schiffsbauwerkstätten, hatte bauen lassen, weil er auch auf der See stets mit eigenen Füßen auf eigenem Grund und Boden stehen wollte.« – –

So schrieb ich vor Jahren über ihn. Wir waren Freunde, ohne Freundschaft geschlossen zu haben; wir hatten einander lieb, ohne von dieser Liebe zu sprechen; wir


[Sp. 165]

waren gegenseitig zu jedem Opfer bereit, ohne aber das, was wir für einander thaten, für ein Opfer zu halten. Das lag so in seiner wie auch in meiner Weise. Nach der letzten Trennung schrieben wir uns einige Male, und als dann ich keinen Brief mehr von ihm und er auch keinen mehr von mir bekam, fiel es keinem von uns beiden ein, zu denken, daß er vergessen worden sei, oder dieses Schweigen gar für eine negative Absage der Freundschaft zu halten. Die Treue ist etwas Geistiges, oder noch richtiger, etwas Seelisches, und wer sie nach der Zahl der Briefbogen mißt, der traut sich selber nicht. Wer meiner Freundschaft zumutet, ihm in ganz bestimmten Zeitintervallen eine ganz bestimmte Zahl von Zeilen zu schreiben, der zwingt das Heiligste ins Briefcouvert und kann nur wenig Freunde haben. Schreibselige Menschen begeben sich sehr leicht in die Gefahr, lästig zu werden, und nur der Backfischfreundschaft ist es erlaubt, von dem hohen Werte der Zeit noch nichts zu wissen.

Nun hatte ich meinen John Raffley vorhin sofort an der Stimme erkannt, und jetzt wußte ich auch, wer der andere war, nämlich sein Verwandter, welcher damals die Stelle des Governors von Ceylon bekleidet hatte. Wie kamen sie hierher? Die »Coen« war das einzige Schiff, welches heute Passagiere abgegeben hatte, und ich wußte ja, daß sie mit dieser nicht gekommen waren. Zwar fiel mir da die »Yin« ein, und wie ich Raffley kannte, so war gerade ihm der Besitz einer solchen Jacht wohl zuzutrauen; aber sie trug chinesisches Gewand, während er, wie ich mich sehr wohl erinnerte, nichts weniger als ein Bewunderer chinesischer Verhältnisse gewesen war.

Da hörte ich eilige Schritte draußen von der Treppe her kommen, und eine sehr prestierte [pressierte(?)] Stimme rief:

»Wo denn, wo? Welche Nummer?«

»Zweiunddreißig!«

Das war Omar, der von weitem antwortete.

»Zweiunddreißig? Well! Also links, hier, gleich da! Wonderful!«

Noch zwei Schritte, einen Sprung auf die Holzlage meines Vorzimmers, und da stand er, vom schnellen Laufen rasch atmend, in Hemdärmeln, barhäuptig und, wie früher auch schon immer, den goldenen Klemmer auf der Nase, den er so virtuos bis auf ihre Spitze herunter reiten zu lassen verstand.

»Charley!« rief er aus.

So pflegte er meinen Vornamen auszusprechen. Er stand zunächst ganz still vor mir und betrachtete mich mit Augen, aus denen nichts als Liebe und nichts als Freude strahlte. Seine Lippen zitterten erregt. Dann folgte jenes mir bekannte Spiel der Gesichtsmuskeln, mit welcher er, ohne ihn zu berühren, den Klemmer zwang, langsam bis an das Ende der Nase vorzurutschen und dort so verwegen sitzen zu bleiben wie ein Clown, der auf der äußersten Croupe seines Pferdes hängt. Dann schüttelte er die an


[Sp. 166]

der Schnur hängenden Gläser vollends ab, breitete die Arme aus, zog mich an sich und hielt mich, ohne ein Wort zu sagen, fest umschlungen. Hierauf schob er mich von sich ab, betrachtete mich noch einmal von dem Kopfe bis zu den Füßen herab genau und rief dabei aus:

»Ja, ja, er ist´s; er ist´s in Wirklichkeit! Ein Sihdi, der mit mir essen will! Ein Mensch, welcher Gedichte macht! Stimmt! Daß ich das nicht gleich gedacht und gewußt habe! Charley, wollen wir wetten?«

»Worüber?«

»Daß Ihr nicht ahnt, wen ich bei mir habe!«

»Ich wette nicht, niemals! Das wißt Ihr doch!

»Also noch immer nicht? Miserabel! Ihr seid ein ganzer Kerl, ja, ein famoser Kerl, in allen Sätteln fest und praktisch auf dem Land und auf dem Wasser, aber das eine, das eine, was Euch fehlt, das will noch immer nicht werden: Ihr wettet nicht, und so lange Ihr das nicht thut, ist es nicht möglich, Euch einen vollkommenen Gentleman zu nennen!«

Das war seine alte und einzige Klage über mich, die ich damals unzählige Male hatte hören müssen.

»Ist es ehrlich, zu wetten, wenn man weiß, daß man gewinnen muß?« fragte ich.

»Nein! Aber ich wette ja mit Euch, daß Ihr nicht gewinnen werdet!«

»Ich gewinne! Euer Verwandter, der Governor, ist bei Euch!«

Da trat er zwei Schritte zurück, setzte den Klemmer wieder auf, sah mich erstaunt an und sagte:

»Unbegreiflich! Dieser deutsche »Sihdi, welcher Gedichte macht,« konnte fünf und auch noch mehr Pfund von mir gewinnen und hat nicht mitgethan! Aber – – – was sehe ich!« Er streckte beide Arme nach vorn und sah die Hemdärmel ganz betroffen an. »Wie bin ich gekommen? Wie stehe ich da?! Schrecklicher Mensch, der ich bin! Aber es war so schwül und nur der Governor da! Ist auch in Hemdärmeln! Muß ihn warnen! Kommt herauf, Charley, aber schnell, schnell! Habe vor Freude ganz den Rock vergessen! Ich reiße aus! Pardon!«

Er war wirklich im Gesichte rot geworden, der liebe, gute Mensch! Nun lief er so schnell fort, wie er gekommen war. Der Sejjid hatte draußen gestanden und gewartet; jetzt kam er herein und sagte:

»Dieser Inglis hat mich aber doch hinausgeworfen!«

»Was? Hinausgeworfen?«

»Ja, aber nicht aus Zorn, sondern vor Freude.«

»Wieso?«

»Als ich das von der Chair-and-umbrella-pipe sagte, fragte er mich wirklich ganz so, wie du dachtest, woher du sie kennst. Als er dann erfuhr, daß du auf Ceylon und auf dem chinesischen Schiffe dabeigewesen seist, da sprang er auf und rief: »Das kann nur mein alter, lieber Charley sein![«] Dann packte er mich an, warf mich zur


[Sp. 167]

Thüre hinaus, sich selber aber auch mit, und rannte nach der Treppe. Der andere Inglis rief ihm nach, er solle doch erst den Rock anziehen, aber er hörte gar nicht darauf. O, Sihdi, diese Inglis müssen sehr gute Menschen sein, weil sie dich so lieb haben! Ich bin nur froh, daß ich ihnen die fünf Pfund nicht wiedergegeben habe; das hätte sie denn doch vielleicht gekränkt!«

»Es sind zwei Engländer vom höchsten Adel, Omar. Sei also höflich, sehr höflich mit ihnen!«

»Du brauchst keine Sorge zu haben, Sihdi! Mein Adel ist von Muhammed, also weit über tausend Jahre alt, und adelig sein, das kann man bei uns nicht, ohne auch höflich zu sein! Ich weiß nicht, wie das bei den andern Völkern ist!«

Als ich hinaufkam, standen wohl sieben oder acht Kellner da. Meine beiden Gastfreunde waren also im Hotel hoch abgeschätzt. Ich wurde mit einer so aufrichtigen Freude und einer so wohltuenden Güte empfangen, daß ich mich sofort wie bei Verwandten fühlte, bei denen man zu Hause ist. Man stürzte nicht mit Fragen über mich her; es wurde sogleich gegessen. Es lag überhaupt nicht in der Art dieser beiden Männer, viel Worte zu machen. Was man ihnen nicht ungefragt sagte, das gab es für sie nicht. Natürlich erkundigte ich mich nach dem Schiffe, mit welchem sie gekommen seien.

»Schiff?« antwortete Raffley. »Ach, das weiß dieser Charley noch gar nicht. Kommt schnell heraus nach dem vordern Raume! Da seht Ihr es liegen.«

Er zog mich hinaus, wo man zwischen den Baumkronen hindurch den Hafen sehen konnte, was unten bei mir nicht der Fall war. Er deutete mit der Hand in die betreffende Richtung, und da sah ich, weit entfernt von der Stelle, an welcher der Platz der »Coen« gewesen war – – die »Yin« vor Anker liegen.

»Also doch, doch, doch, die ‚Yin´!« rief ich voller Freude aus. »Ich habe es mir gedacht und konnte es doch fast nicht glauben!«

»Ihr kennt den Namen?«

»Ja. Ich sah sie in den Hafen kommen, hell und leicht und schön wie eine Nymphe! Ein Fahrzeug, wie ich noch keins gesehen habe!«

»Freut mich, freut mich, Charley! Ist ganz nach meinen eigenen Angaben entworfen und gebaut!«

»Aber es wurde doch nur ein Mann im Boot abgegeben; dann gingt ihr wieder fort!«

»Weil ich den Ankerplatz nicht kannte. Mußte mich erst erkundigen, an welcher Stelle ich die Kette fahren lassen konnte, und bin inzwischen wieder hinausgedampft und dann zurückgekehrt. Kommt wieder herein! Müssen auf diese meine ‚Yin´ ein Glas leeren!«

Wir gingen zu dem Governor zurück und stießen mit ihm auf die Jacht an; er that bereitwillig Bescheid. Raffley füllte die Gläser wieder und sagte:


[Sp. 168]

»Und nun auf das Wohl einer andern ‚Yin´, die mir noch tausend-, tausendmal teurer als diese ist! Ich bitte, bis auf den letzten Tropfen leer!«

Ich folgte natürlich dieser Aufforderung; der Governor aber warf Raffley einen verweisenden Blick zu und rührte das Glas nicht an.

»Well! Ganz, wie Ihr wollt!« meinte dieser entschuldigend und begütigend. »Ich werde meine Wette aber doch gewinnen!«

Was war das für eine »andere Yin«? Und was war das für eine Wette? Es gab da einen Punkt, in welchem beide nicht übereinstimmten. Und es mußte sich um mehr, um viel mehr als um eine bloße Wette handeln. Wer, wie der Governor, einer solchen Aufforderung nicht Folge leistet, der macht sich einer Beleidigung schuldig, welche nach den Gesetzen der Kreise, denen diese beiden angehörten, sonst nur einen blutigen Ausgang nehmen kann. Wie kam es, daß Raffley, der in Bezug auf Ehrensachen so außerordentlich empfindliche Edelmann, sie in so ruhiger, ja sogar begütigender Weise hingenommen hatte? War er sich vielleicht einer Schuld bewußt? Ganz gewiß nicht! Dieser Mann trug trotz aller seiner Eigenheiten nicht eine Spur der Möglichkeit in sich, irgend etwas zu thun, was im Codex der guten Gesellschaft als unerlaubt bezeichnet wird. Es konnte sich hier nicht um ein Vergehen, sondern nur um eine Verschiedenheit der Ansicht handeln, zumal der Governor, sobald das Quiproquo vorüber war, sich ganz so unbefangen wie vorher zu ihm verhielt.

Und doch konnte es dem scharfen Beobachter nicht entgehen, daß ein unsichtbares Fragezeichen zwischen dem einen und dem andern schwebte, und dieses Fragezeichen schien ein chinesisches zu sein. Es verstand sich ganz von selbst, daß wir, die wir uns hier am Thore von China befanden, dieses Land auch im Gespräche wiederholt berührten; dann wurde der Governor jedesmal still; man merkte deutlich, daß er sich Reserve auferlegte. Und Raffley war es anzuhören, daß er sich bemühte, seine Aeußerungen abzumessen. Ich selbst befand mich da in einer ziemlich unbequemen Lage. Der Governor war kein Freund der mongolischen Rasse; das stand fest. Raffley war es früher auch nicht gewesen, schien aber seine Ansicht geändert zu haben; jedenfalls gab es für ihn einen Grund, sich nicht so zu äußern, wie er es zu dürfen wünschte. Und ich mußte mich, um nicht anzustoßen, mit oberflächlichen Bemerkungen behelfen, obgleich es in meiner Natur liegt, jeder Sache gern auf den Grund zu gehen. Darum traten zuweilen Pausen ein, welche selbst durch Liebenswürdigkeiten nicht unbemerkbar gemacht werden konnten.

Ich muß sagen, daß Raffley mir jetzt anders vorkam, als er früher gewesen war. Schon körperlich hatte er sich verändert. Seine hagere, knochige Gestalt war voller geworden; die scharfen Linien seines Gesichtes hatten sich ge-


[Sp. 169]

mildert. [gemildert] Die Nase trat nicht mehr so hervor; es zeigte sich alles runder, sanfter, ansprechender als vorher. Er war, um mich so ausdrücken zu dürfen, jetzt bedeutend »hübscher« als vorher. Seine Physiognomie war früher die eines scharfen Denkers, eines sehr willenskräftigen Mannes gewesen, der mit selbstbewußter Rücksichtslosigkeit seine eigenen Wege geht; nun aber schien der Geist sich mit der Seele vermählt zu haben, und das, das freute mich so sehr. Der Spleen war vollständig verschwunden und mit ihm die unendliche Gleichgültigkeit für alles, was nicht Old England und den Sport betrifft. Er zeigte ein lebhaftes Interesse für alles Reinmenschliche, und der starre, rechthaberische Dogmenglaube von früher hatte auch ein anderes, freundlicheres Gesicht bekommen. Damals war er nichts weiter als ein Engländer im Superlativ, ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle; jetzt aber war er mehr, viel mehr, nämlich ein harmonisch denkender Mensch und ein zwar nicht schöner, aber dafür bedeutender Mann.

Indem ich das alles beobachtete, fragte ich mich, durch welche Ursache diese Veränderung wohl hervorgebracht worden sei. Ich hätte wohl gern das »ewig Weibliche« zur Beantwortung herbeigezogen, zumal ich an mir selbst erfahren habe, welchen segensreichen Einfluß diese größte Macht der Erde auf unsere sogenannten »männlichen« Schwächen und Härten hat; aber er war stets so unnahbar maskulin gewesen, daß ich diesen Gedanken fallen ließ, zumal wir jetzt bis zum späten Abend beisammen blieben, ohne daß auch nur ein einziges Wort gefallen wäre, welches mir erlaubt hätte, zu vermuten, daß er jetzt verheiratet sei. Ich stand da vor einem psychologischen Rätsel, dessen Lösung ich nicht meinem Scharfsinn, sondern der Zukunft überlassen mußte.

Und diese Zukunft, wenigstens die naheliegende, unmittelbare, schien durch dieses heutige Zusammentreffen eine Direktion zu bekommen, an welche ich bis zum Erscheinen Raffleys in meiner Wohnung nicht hätte denken können. Ich sagte ihm nämlich, daß ich seine »Yin« von der »Coen« aus gesehen hätte, und erwähnte dabei meine Absicht, auf dieser letzteren Passage zu nehmen.

»Passage?« fragte er. »Auf einem Schiffe, welches »Coen« genannt wird? Fällt Euch gar nicht ein, Charley! Ihr nehmt natürlich Passage auf meiner »Yin«. Basta!«

»Herzlichen Dank, Sir!« antwortete ich. »Aber ich muß mit der »Coen« nach Uleh-leh.«

»Das ist der Hafenort von Atjeh. Was wollt Ihr dort?«

»Eine Geschäfts- oder vielmehr Geldangelegenheit ordnen. Es betrifft nicht eigene Angelegenheit; ein Freund hat mich darum gebeten.«

»Ist es notwendig?«

»Sogar eilig. Es handelt sich zwar um kein großes Kapital; für den Betreffenden aber würde der Verlust groß genug sein, ihn zu ruinieren.«

»So müßt Ihr freilich hin, wenn Ihr´s versprochen


[Sp. 170]

habt. Aber warum mit dieser »Coen«? Meine »Yin« kann auch hinüber, und zwar, sobald Ihr wollt! Nur aber müßt Ihr mir versprechen, dann bei uns zu bleiben.«

»Kann ich etwas versprechen, ohne Euer Ziel zu wissen, Sir?«

»Unser Ziel? Hm! Nun, wir gehen nach China.«

»Bis wohin? Wie weit?«

»Hört, Charley, betrachtet Ihr Euch als meinen Freund?«

»Ich bin es von ganzem Herzen!«

»Well, so fragt einmal jetzt nicht! Ihr wißt, daß ich Herr meiner Zeit bin und daß ich meinen Kurs an jedem Tage ändern kann, wie ich Euch jetzt mit Uleh-leh bewiesen habe. Wenn Ihr es so eilig habt, können wir schon in dieser Nacht in See gehen. Ihr sagt, es handle sich um Geld. Was das betrifft, so weiß ich, daß Ihr ein sehr verständiger Mann seid; aber ich bin doch wohl noch verständiger, denn wer mehr Geld hat, der hat auch mehr Verstand. Ihr seid der »Sihdi, welcher Gedichte macht«, und dieser mein Verstand sagt mir, daß der Mammon und die Seele eines Dichters zwei Dinge sind, die man als Freund so weit wie möglich auseinander halten soll. Es würde mit eine Freude sein, dies thun zu können. Um was handelt es sich denn eigentlich?«

»Um die Sicherstellung eines Kapitales, welches ein Deutscher drüben in Atjeh stehen hat. Ich habe die briefliche Bitte nebst Einlagen in Colombo bekommen.«

»Und wo steckt jetzt diese briefliche Bitte? Darf ich sie einmal lesen?«

Ich kannte meinen Raffley zu genau; da war nichts zu verweigern, wenn es sich nicht um geradezu persönliche Geheimnisse handelte. Ich mußte hinuntergehen und das Schreiben holen. Er las es durch, auch die beiliegende Vollmacht, steckte beides in die Tasche und sagte lächelnd:

»Dachte es mir! Ich habe den größeren Verstand! Wir dampfen nicht nach Uleh-leh, sondern gehen morgen früh miteinander hier auf die Bank, sagen wir »Hongkong and Shanghai Banking Corporation«. Da kennt man John Raffley ganz genau, und in zehn Minuten ist die Sache abgemacht. Basta! Bitte, kein Wort mehr verlieren. Ihr wißt, wenn ich meinen Willen haben will, so habe ich ihn! Und nun hier meine Hand: schlagt ein, daß Ihr mit uns auf meiner »Yin« nach China geht!«

Er hielt mir die Hand hin. Das war ja der reine Sturm! Es kam so unerwartet! Sein Wunsch war nicht nur ehrlich gemeint, sondern mir auch außerordentlich sympathisch, aber ich hatte doch vorher wichtiges zu bedenken und – – – da fühlte ich unter dem Tische eine Berührung; der Governor hatte mich mit dem Fuße gestoßen und nickte mir, als ich ihn ansah, heimlich bittend zu. Auf seinem jetzt von Raffley nicht beachteten Gesichte stand der dringende Wunsch geschrieben, daß ich »ja« sagen möge. Da ließ ich denn alle Bedenken fallen und legte meine Hand in die dargereichte des Freundes, indem ich, halb scherzend und halb ernst, bemerkte:


[Sp. 171]

»Aber, Sir, ich bin nicht allein. Hat die »Yin« auch Platz für meinen Diener?«

»Für diesen Prachtmenschen, der, wie ich gar wohl bemerkt habe, für seinen »Sihdi, welcher Gedichte macht«, durch Wasser und durch Feuer geht? Welche Frage! Natürlich habe ich Platz, denn treuer wie er kann selbst mein alter Tom und auch der Bill nicht sein.«

»Leben beide noch? Sind sie hier?«

»Jawohl! Seit ich die neue Jacht besitze, sind sie avanciert. Ich nenne Tom nicht mehr Steuermann, sondern Kapitän, worauf er ungeheuer stolz ist, und Bill ist Steuerer geworden. Es wird Euch auf der »Yin« gefallen. Ich habe die Photographien ihrer Räume hier; die werde ich Euch zeigen. Ich hole sie.«

Er verließ das Zimmer. Dies benutzte der Governor, mir seine Hand über den Tisch herüber zu reichen, wobei er in herzlichem Tone sagte:

»Ich danke Euch, Sir, daß Ihr eingewilligt habt! Zwischen mir und John steht ein Gespenst, welches denselben Namen wie die Jacht führt, nämlich »Yin«. Wir vermeiden, von ihm zu sprechen, und dadurch entsteht zwischen uns eine leere, schmerzende Lücke, welche durch Eure Gegenwart weniger empfindlich wird. John giebt viel, sehr viel auf Euch; das weiß ich, obgleich Ihr Euch so lange Zeit nicht gesehen habt. Ich hoffe, daß Eure Gegenwart mich unterstützen wird, unsere große Wette, von deren Gegenstand wir aber, seit wir sie eingegangen sind, nicht sprechen, zu gewinnen.«

Wieder die Wette! Es schien eine ganz eigene und jedenfalls sehr wichtige Bewandtnis mit ihr zu haben!

Raffley brachte die Bilder. Er sprach mit heller Begeisterung von seiner »Yin«, und der Governor stimmte, so lange sich dieser Name nur auf die Jacht bezog, in dieses Lob mit ein. Da kam auch die Photographie des Marmorkopfes zum Vorscheine. Raffleys Augen bekamen doppelten Glanz; es war ein Blick der innigsten, der rührendsten Liebe, mit welchem er sie betrachtete. Ich hatte noch nie solche weiblichen Züge gesehen. Waren sie kaukasisch oder mongolisch? Waren das mandelförmige oder geschlitzte Augen? Jedes einzelne Teil dieses ganz eigenartig schönen Gesichtes war eine Frage, welche kein Pinsel und kein Meißel zu beantworten vermochte, und trotzdem oder wohl grad darum kamen mir die Worte über die Lippen:

»Ist das Porträt oder Phantasie?«

Da sah der Governor mich bedeutungsvoll an, und ich las von seinen sich lautlos bewegenden Lippen:

»Das ist das Gespenst!«

Raffley sah diese Mitteilung seines Verwandten nicht; er schien seinen Blick nicht von dem Bilde trennen zu können, schob es dann aber doch zu den andern hin und sagte, indem er die Hände wie in ihn plötzlich überkommender Andacht zusammenlegte:

»Es ist Yin, die Güte! Wißt Ihr, Charley, was Güte


[Sp. 172]

ist? Nein. Niemand weiß es. Oder seid Ihr wissend genug, mir nicht eine kalte Definition des Begriffes zu liefern, sondern mir Eure ganze Persönlichkeit als Offenbarung dieser Güte aufzuopfern?«

Er sah mich, indem er hoch aufgerichtet vor mir stand, an. Dann richtete sein Blick sich zur offenen Thür hinaus in das Freie, wo die Sterne leuchteten und auf den Wogen silberne Lichter fluteten und fügte langsam hinzu:

»Und so eine Offenbarung ist mir geworden! Mein Gott, ich danke dir!«

Der Governor zog die Spitzen seines dichten, grauen Schnurrbartes nervös durch die Finger. Diese Wendung war ihm unangenehm. Vielleicht hatte er ein abermaliges, zurechtweisendes Wort auf den Lippen; aber es wurde nicht ausgesprochen, denn die Kellner kamen und baten um die Erlaubnis, abdecken zu dürfen. Wir hatten eine Stunde auf das Essen verwendet und waren dann noch fast dreimal so lange am Tische sitzen geblieben. Der Governor begleitete mich höflich bis an die Treppe; Raffley aber ging mit bis in den Garten hinab.

»Noch einen Augenblick, Charley,« sagte er, mich zu einer Bank führend. »Setzen wir uns!«

Ich nahm an, daß er mir noch eine besondere Mitteilung zu machen habe; er saß aber längere Zeit schweigend da, ehe er begann:

»Ihr habt Fragen auf dem Herzen. Nicht?«

»Aufrichtig geantwortet: Nein!«

»Well! Ihr seid eben so, wie man sich einen Freund wünschen muß. Nicht wahr, Charley, Ihr habt früher gebetet und betet heut auch noch?«

»Ja.«

»Auch für andere?«

»Wer nicht für andere beten kann, der soll lieber gar nicht beten.«

»Richtig! So bitte ich Euch, tragt dem Herrgott auch für mich ein gutes Wort hinauf! Zweifelt nicht daran, daß ich es nötig habe! Ich möchte unsere Wette so gern, so gern gewinnen. Es ist wohl kein Wortbruch, wenn ich Euch im Vertrauen sage, daß ich Raffley-Castle mit allem, was zu diesem Schlosse und zu diesem Namen gehört, an diese Wette gewagt habe.«

»Unmöglich!«

»Nicht unmöglich, sondern wirklich!«

»Aber, Sir, ich kann es doch nicht glauben! Ich weiß, wie gern Ihr wettet. Bei Eurem ungeheuren Vermögen ist dies unter gewöhnlichen Verhältnissen auch mit keiner Bedenklichkeit – – –«

»Pshaw!« unterbrach er mich. »Daran denke ich nicht. Ich habe ja grad dieses ungeheure Vermögen auf eine einzige Karte gesetzt. Wenn ich verliere, bin ich in Beziehung auf das Geld ein armer Mann, aber in anderer Beziehung vielleicht noch reicher, als vorher. Aber um anderer


[Sp. 173]

willen will und muß ich gewinnen. Darum betet für mich, Charley! Euer Gebet soll nicht meinem Vermögen gelten, sondern etwas ganz Anderem und viel Höherem. Werdet Ihr?«

»Ja, Sir John.«

»Ich danke Euch! Glaubt nicht, daß etwas Schlimmes zwischen mir und dem Governor liegt! Es ist eine einfache Familienangelegenheit, über die er anders denkt, als ich gedacht habe. Und wenn Ihr mich jetzt vielleicht etwas anders findet, als ich früher gewesen bin, so seid überzeugt, daß ich dadurch nicht verloren, sondern gewonnen habe. So, das ist es, was ich Euch sagen wollte. Mögen der ersten »guten Nacht,« die wir uns jetzt nach dem heutigen Wiedersehen wünschen, die guten Tage folgen, in denen der jetzige John Raffley als Mensch das nachholt, was der frühere als Englishman versäumt hat!«

Er drückte mir die Hand und ging. Ich sah ihn so langsam, als ob er an Gedanken schwer zu tragen habe, die Treppe hinaufsteigen.

Wie hatte er so recht, als er meinte, daß er anders geworden sei! Ihn so lange und so zusammenhängend sprechen zu hören, wie jetzt, das war mir früher nie passiert. Er hatte grad durch seine Wortkargheit und Kürze imponiert. Und wie anders hatte er nicht bloß sprechen, sondern auch fühlen gelernt! Es war etwas erwacht, was früher in ihm geschlafen hatte. Wohl der Hand, die es aus dem Schlafe erweckt hatte!

Am andern Morgen kam er mit seinem Verwandten zu mir herunter, um den Kaffee bei mir einzunehmen. Welchen Grades diese Verwandtschaft eigentlich war, das wußte ich nicht und war auch nicht zudringlich genug, danach zu fragen. Sie nannten sich nicht thou, sondern you, sprachen sich mit Sir an, und wenn der Ton einmal intimer wurde, so war ein dear uncle oder dear nephew beliebt. Während wir bei mir saßen, kam Tom, der »Kapitän«, um zu melden, daß man Kohlen eingenommen habe und auf der »Yin« nun alles »all right« sei; das war sein Lieblingswort. Er war lang und hager, hatte die ganze Haltung und den schleppenden Gang, der dieser Art von Leuten eigen zu sein pflegt, und besaß zwei wunderbar kluge, kleine Aeuglein, welche höchst scharf und selbstbewußt über die große, scharfgeschnittene Nase hinwegblickten. Raffley hatte ihn gewöhnt, nie anders als nur in den kürzesten Worten zu sprechen. Er erkannte mich sofort, und als er erfuhr, daß ich mitfahren werde, schlug er mit der rechten Faust in die linke Hand und rief dabei aus: »Das ist ein Wort! Macht mir Freude!« Das war sein ganzer Herzenserguß, dafür aber um so aufrichtiger gemeint.


[Sp. 174]

Nach dem Kaffee suchten wir das Bureau der Hongkong and Shanghai Banking Corporation auf. Als Raffley seinen Namen nannte, konnte ich den Eindruck wohl bemerken, den dieser auf alle Anwesenden machte. Er trat auf, als ob er der Chef dieser Filiale sei, und es erfüllte sich, was er gestern Abend vorhergesagt hatte: in zehn Minuten war die Sache abgemacht. Mein Auftraggeber konnte zufrieden sein!

Eben wollten wir gehen, da trat eine Dame ein, deren Anblick mich zu einem Ausrufe freudigster Ueberraschung zwang – – – Mary Waller. Sie war außerordentlich bleich, sah sehr abgespannt aus und schien sich in einer nicht gewöhnlichen Lage zu befinden, denn ihr Anzug zeigte die Spuren einer Vernachlässigung, welche ihr sonst nicht eigen war, jetzt aber von ihr gar nicht beachtet wurde. Sie war so mit sich selbst beschäftigt, daß sie meinen Ausruf gar nicht auf sich bezog, mich überhaupt nicht sah, sondern mit schnellen Schritten auf den Disponenten zuging und ihm die kurze, hastige Frage vorlegte:

»Kennen Sie mich noch?«

Er sah sie an. Ihr zwar seidener, aber sehr zerknitterter und mit einigen Rissen versehener Mantel wollte ihm nicht gefallen; aber Mary war eine Persönlichkeit, welche man nicht leicht vergessen konnte. Er besann sich und antwortete höflich:

»Ja, ich kenne Sie. Sie sind Amerikanerin und haben vor einiger Zeit zweitausend Gulden bei uns entnommen. Ich glaube, Ihr Herr Vater war dabei.«

»Richtig! Heut brauche ich etwas über fünfzigtausend.«

»Gern. Darf ich bitten!«

Selbstverständlich erwartete er, daß sie ihm irgend ein Kreditpapier vorlegen werde, und hielt ihr die Hand entgegen. Sie aber stieß, halb verlegen und halb


[Sp. 175]

zornig über ihre gegenwärtige Situation, die Worte hervor:

»Ich bitte, mir diese Summe auf mein Wort und meine Ehrlichkeit zu geben. Ich habe keine Anweisung!«

»Thut mir leid; ist principiell unmöglich!«

»Mein Himmel! Ich muß und muß es haben! Mein Vater befindet sich in der Gefangenschaft der Malaien von Atjeh, drüben auf Sumatra. Sie haben uns überfallen und alles abgenommen, auch die Kreditpapiere. Sie verlangen fünfzigtausend Gulden Lösegeld und haben mich in dieser Nacht in einer Praue*) herübergebracht, um diese Summe zu holen. Die Papiere aber verweigerten sie mir!«

Sie hatte diese Worte stoßweise, in wachsender Angst hervorgebracht. Der Disponent schüttelte den Kopf und erwiderte, zwar teilnehmend aber mit geschäftlicher Bestimmtheit:

»Ohne Unterlage wird Ihr Wunsch bei jeder Bank vergeblich sein. Das Unglück, welches Sie betroffen – – –«

Er wurde unterbrochen, den Raffley, welcher keine Ahnung davon hatte, daß ich die Bittstellerein kannte, stellte sich mit einigen schnellen Schritten an ihre Seite und erklärte:

»Ich eröffne dieser Dame hiermit bei Ihnen einen Kredit über sechzigtausend holländische Gulden, und bin überzeugt, daß ich sie wiederbekomme. Zahlen Sie sofort aus, was sie verlangt!«

Und sich vor ihr verbeugend, nannte er seinen Namen und fügte in seiner, sobald er wollte, herzgewinnenden Weise hinzu:

»Mylady, Sie schreiben Ihren Namen auf irgend einen Zettel, den man Ihnen geben wird, und können ihn wiederbekommen, so bald oder so spät es Ihnen gefällt.«

Sie wendete sich ihm zu und sah ihm stumm in das gütig lächelnde Angesicht. In ihrem glücklichen Erstaunen fand sie keine Worte. Nun sie der Stelle, an der ich mich


*) Malaiisches Boot.



[Sp. 176]

befand, den Rücken nicht mehr zukehrte, sah sie auch mich. Sie erkannte mich natürlich sofort, doch war die Wirkung eine ganz andere, als ich wohl hätte vermuten dürfen. Der plötzliche Uebergang von der schwersten Sorge zu der Erkenntnis, daß sie nun geborgen sei, hob die übermäßige Anspannung ihrer Nerven aus; die Kräfte verließen sie. Sie ließ einen lauten Schrei erklingen, schloß die Augen, streckte die Arme aus, um nach einem Halt zu suchen, und wäre hingestürzt, wenn Raffley sie nicht gestützt hätte. Ich sprang hinzu. Sie war ohnmächtig geworden.

Da eilte der Disponent hinaus und kam nach noch nicht einer Minute mit einigen Malaiinnen zurück, welche Mary auf eine leichte Bambusbank betteten und diese mit ihr hinaustrugen.

»Kannte Euch die Dame, Charley?« fragte mich Raffley, ohne sich um die Aufregung zu bekümmern, in welcher sich sämtliche Bankbeamten befanden. »Fast schien es so!«

»Ja, wir kennen uns,« antwortete ich. »Kommt her; ich muß Euch das erklären!«

Ich führte ihn in das nebenan liegende Wartezimmer, in welchem sich grad jetzt niemand befand, und klärte ihn so auf, wie die uns nur kurz zugemessene Zeit es mir erlaubte. Ich sagte ihm natürlich auch, daß ich Wallers unter einem andern Namen bekannt geworden sei, und bat ihn, mich ja nicht bei dem richtigen zu nennen.

»Well! Das verleiht Euch einen Anflug von Romantik, den ich Euch nicht rauben werde,« lächelte er. »Ihr seid ja »ein Sihdi, welcher Gedichte macht,« und solche Leute soll man – – –«

»Halt!« unterbrach ich ihn. »Grad daß ich mich auch mit Gedichten befasse, dürfen Wallers am wenigsten erraten. Ich bitte also, besonders auch hierüber zu schweigen! Den Grund dazu werde ich Euch mitteilen, sobald wir Zeit dazu haben. Ich glaube, man verlangt jetzt nach uns.«

Ich sah eine der Malaiinnen kommen, welche uns mitteilte, daß die fremde Njonja*) wieder zu sich gekommen sei und bitte, mit uns sprechen zu dürfen. Sie führte uns nach einer gegen den Hof liegenden Veranda, wo Mary, auf einem bequem ausgezogenen Sessel ruhend, uns erwartete.

Ich darf mir wohl erlauben, über die erste Viertelstunde dieses Zusammenseins hinwegzugehen. Sie war der Freude des Wiedersehens und unseren Bemühungen gewidmet, Mary zu beruhigen und sie zu überzeugen, daß für sie und ihren Vater alles nur denkbar Mögliche geschehen werde. Hierauf hielt sie es für ihre Pflicht, zu erzählen, was mit ihr und ihm geschehen war. Raffley aber bat sie in seiner mir so wohl bekannten, rücksichtsvollen Weise, sich zu schonen und uns einstweilen nur zu sagen, wo hier ihre Wohnung sei. Sie nannte unser eigenes Hotel, worauf


*) Dame, Herrin.



[Sp. 177]

er ihr, als sie sich stark genug dazu erklärte, einen Wagen bringen ließ und sie bat, uns nach meinem Zimmer melden zu lassen, wann sie sich ausgeruht habe.

Als sie fortgefahren war, ließ er sich die von ihr gewünschte Summe auszahlen, worauf wir ihr per Rickschahs nachfolgten. Im Hotel angekommen, teilte ich dem Sejjid mit, daß Miß Mary Waller hier sei; er möge sich unauffällig nach ihrem Zimmer erkundigen.

»Die Miß aus Amerika?« fragte er erfreut. »Die liebe ich! Ich werde das sehr schnell erfahren.«

Es dauerte allerdings nicht lange, bis er wiederkam. Sein Bericht lautete:

»Sie ist heut in der Nacht zu Fuß und ganz allein vom Hafen hergekommen und hat sehr lange läuten müssen, ehe man ihr geöffnet hat. Sie ist sehr schwach und elend gewesen, hat weder gegessen noch getrunken, sondern sich gleich auf das Bett geworfen und vor Müdigkeit bis vor einer Stunde geschlafen. Dann ist sie in die Stadt gegangen und vor einigen Minuten in einem Wagen zurückgekehrt. Sie wohnt drüben im großen Hause und hat nach einem Arzt geschickt. An ihrer Zimmerthür steht die Nummer Zwanzig.«

»Gut! Geh hin, und warte, bis der Arzt bei ihr gewesen ist; dann bringst du ihn zu mir. Aber sie soll nichts davon wissen.«

Ich vermutete, daß dieser Arzt einer von den beiden sei, welche ihren Vater behandelt und nach Atjeh geschickt hatten, und ich hatte recht, denn als er kam, war er derselbe, den ich besucht hatte, um mich nach Wallers Krankheit zu erkundigen. Er war von Mary gerufen worden, um über den Zustand ihres Vaters, welcher sich in Atjeh verschlimmert hatte, gefragt zu werden, und wir wollten mit ihm sprechen, um, ohne die Tochter damit belästigen zu müssen, etwas über die gegenwärtige Lage des Vaters zu erfahren.

Er konnte uns natürlich nur sagen, was er von ihr gehört hatte, und das war nichts Zusammenhängendes, nichts Ausführliches gewesen. Wallers waren zunächst nach Uleh-leh und von da hinauf nach Kota Radscha gefahren, wo ihnen der Gouverneur infolge eines Empfehlungsschreibens eine Wohnung im Kratong, der früheren Citadelle der Eingeborenen, gegeben hatte. Da dort aber die militärische Besatzung der Holländer liegt, so hatte der Kranke dort die ihm so notwendige Stille und Ruhe vermißt. Aus diesem Grund, und weil Kota Radscha immer noch nahe an der fieberschwangeren Küstenniederung liegt, hatte er sich durch keine Vorstellung und keine Warnung abhalten lassen, noch höher hinaufzugehen, und war mit seiner Tochter und einigen Trägern nach den wilden Höhen des Barissangebirges aufgebrochen. Was nun alles unterwegs und dann auch oben unter den für unbotmäßig gehaltenen Bergmalaien geschehen war, das hatte Mary nicht erzählt, wahrscheinlich um nicht sagen zu


[Sp. 178]

müssen, wir falsch ihr Vater sich zu diesen Leuten verhalten hatte, welche die Weißen als die Räuber ihres Landes und die Unterdrücker ihres Glaubens betrachten und darum eine unversöhnliche Feindschaft gegen sie hegen. Aber Schlimmes, sehr Schlimmes mußten sie erlebt haben, bis es schließlich zu der Katastrophe gekommen war, deren Folge in der Gefangennahme Wallers und seiner Tochter bestand. Er hatte getötet werden sollen, doch war es ihr gelungen, durch unausgesetzte Bitten und Thränen die Bitjara*) zu dem Versprechen zu vermögen, ihn gegen ein Lösegeld von fünfzigtausend Gulden freizugeben. Sie hatte den Auftrag bekommen, dieses Geld zu holen, und war zu diesem Zwecke quer durch das ganze Bergland bis hinunter zur Ostküste geschleppt worden, von wo aus man sie quer über die Malakkastraße gebracht hatte, und zwar in einem malaiischen Fahrzeuge, dessen Beschaffenheit und Besatzung ihr geradezu zur Hölle geworden war. Bei der nächtlichen Landung hatte sie noch einmal versprechen müssen, keinen Namen zu verraten, weil man das mit dem Tode ihres Vaters rächen werde.

»Er ist aber trotzdem verloren,« fügte der Arzt hinzu, »denn ich vermute, daß sie ihn trotz des Lösegeldes umbringen werden, wenn sie es nur erst haben. Diese Malaien sind schon zu gewöhnlicher Zeit ganz treu- und gewissenlose Menschen, und jetzt, wo wir genau wissen, daß sich unter ihnen eine blutige Empörung gegen alle Europäer vorbereitet, werden sie erst recht keinen Pardon erteilen. Und selbst wenn sie ehrlich handelten, was aber ganz ausgeschlossen ist, so könnte man das Leben Wallers nicht mehr retten; er wird der Krankheit und den Anstrengungen und Entbehrungen erliegen, die er so unvorsichtiger Weise auf sich genommen hat.«

»Sie selbst haben ihn aber ja hinübergeschickt!« warf ich ein.

»Ich habe vom Bergland gesprochen, aber nicht von den einsamen Höhen und Schluchten des Barissangebirges, wo keiner der feindseligen Malaien ihn aufnimmt, um ihn gesund zu pflegen!« antwortete der Arzt. »Er war so schwach, daß er getragen werden mußte. Denken Sie sich eine solche Tour durch wildes Gebirge! Keine Bequemlichkeit, keine Nahrung, keine Ruhe, kein Trost! Wenn er heute noch lebt, es ist ein Wunder zu nennen! Dieser Herr hat einen fürchterlichen Eigenwillen und scheint von der Gefährlichkeit der Dysenterie nicht eine Spur von Ahnung zu besitzen!«

Er ging. Kurze Zeit später ließ Mary fragen, ob sie zu mir kommen könne, und folgte dem Boten auf dem Fuße. Raffley ergriff ihre Hand, führte sie zu einem Sitze und nahm ihr, ehe sie zu sprechen begann, das Wort aus dem Munde:

»Mylady, schonen Sie sich! Wir brauchen nur sehr


*) Beratung der Häuptlinge.



[Sp. 179]

wenig zu wissen, und ich bitte um die Erlaubnis, Sie fragen zu dürfen. Es wurde ihnen von den Malaien eine Zeit gesetzt?«

»Ja«, antwortete sie. »Ich habe spätestens mit der »Coen«, Kommandant Wilkens, möglichst aber noch eher nach Uleh-leh zurückzukehren.«

»Well! Sie werden eher zurückkehren! Wohin sollen Sie das Geld bringen?«

»Man sagte mir, daß man mich beobachten werde, sobald ich im Hafen angekommen sei. Es werde ein Eingeborener zu mir treten, um mir die Hälfte einer zackig zerschnittenen Betel-Nuß zu geben, deren andere Hälfte ich bekommen und hier in meiner Tasche habe. Wenn ich sähe, daß die beiden Hälften genau zusammenpassen, solle ich ihm das Geld geben und dabei sagen, wohin man meinen Vater bringen solle. Aber ich möge ja ehrlich sein und keine Hinterlist planen, weil der Häuptling, dem mein Vater übergeben worden sei, sein Wort auch halten werde.«

»Das genügt für jetzt, Mylady. Mehr brauchen wir nicht zu wissen. Ich habe nämlich eine allerliebste, kleine, hübsche Jacht, und auf ihr eine ebenso allerliebste Wohnung für eine Dame. Ich dampfe von jetzt an in vier Stunden nach Uleh-leh. Unser Freund hier geht auch mit, und zwar mit Sejjid Omar, seinem Diener.«

»Wie herrlich!« rief sie aus, für den Augenblick trotz ihrer Lage ganz entzückt.

»In diesen zwei Worten liegt Ihre Zustimmung, daß Sie sich uns anschließen wollen,« lächelte er befriedigt. »Diese vier Stunden bieten Ihnen hoffentlich hinreichend Zeit zur Ergänzung Ihrer Toilette. Ich eile, meinen Befehl zur Jacht zu senden und einen Verwandten zu holen, den ich Ihnen vorstellen muß, weil er auch mit fährt.«

Er entfernte sich. Sie sah mich verlegen fragend an. Ich erriet, was sie wollte. Sie war vollständig mittellos, und er hatte von der allerdings sehr gebotenen Ergänzung ihrer Toilette gesprochen.

»Haben Sie keine Sorge, Miß Mary!« bat ich sie. »Dieser Gentleman weiß immer, was er sagt. Und das, was er thut, stimmt stets und ganz genau mit dem zusammen, was er sagt. Das Lösegeld hat er bereit, und was sonst noch nötig ist, wird Ihnen werden, ehe Sie es brauchen.«

»Welch ein Mann! Als er in der Bank so plötzlich entscheidend zu mir trat, war es mir, als habe Gott ihn mir gesandt!«

»Durch solche Menschen wirken Engel, weil sie auf Böse niemals wirken können.«

Hierauf benutzte ich dieses kurze Alleinsein mit ihr, über Raffley einstweilen so viel mitzuteilen, wie für sie und die ersten Tage nötig war. Er kam sehr bald zurück und brachte den Governor mit, welcher gegen sie die ganze


[Sp. 180]

Liebenswürdigkeit entfaltete, die einem gewesenen Governor von Ceylon nur möglich ist. Wie ich später erfuhr, hatte Raffley trotz seiner kurzen Abwesenheit doch Zeit gefunden, eine Summe in Papiergeld in ein Couvert einzuschließen und auf den Tisch ihres Zimmer legen zu lassen. Sie ahnte das nicht, und als sie sich erhob, um fortzugehen, that sie das vielleicht mit schwerem Herzen, weil er kein Wort von dem gesagt hatte, worüber man gegen Damen keine Worte macht, obgleich es doch so wichtig und so nötig ist.

Kaum hatte sie sich entfernt, Raffley und der Governor waren noch bei mir, so kam Omar, um den Chinesen Tsi anzumelden. Er war heut nun frei, und da ich ihn noch nicht aufgesucht hatte, so war er so klug gewesen, sich auf den Weg zu mir zu machen. Zufälligerweise hatte ich den beiden Engländern gestern Abend bei Tische von ihm und seinem Vater erzählt. Sie kannten mein Zusammentreffen mit ihm und seinem Vater in Kairo, und so wurde er, als er kam, wenigstens von Raffley als halber Bekannter behandelt. Der »dear uncle« aber verhielt sich reserviert. Chinesen waren eben in seinen Augen kein gleichwertiges Menschenmaterial.

Ich ließ den jungen Mann nicht lange im unklaren über Wallers, sonder [sondern] teilte ihm die Verhältnisse, so weit wir sie kannten, aufrichtig mit. Er erschrak.

»Die Dysenterie!« rief er aus. »Schon so lange Zeit! Vielleicht gar schon in Indien! Und da oben auf Sumatra keine Kost, die ihn stärkt, statt dessen aber leibliche und seelische Anstrengung im höchsten Grade! Meine Herren, ich muß mit!«

»Muß! Muß?« fragte der Governor tadelnd.

»Ja! Dieses Wort mag nicht wie eine Bitte, nicht höflich klingen; aber ich bin erregt. Wenn Sie Waller retten wollen, so müssen Sie mich mitnehmen! Nur ich allein kann ihn retten!«

»Sie allein? Wieso?«

»Weil nur ich allein ein sicheres, untrügliches Mittel gegen den Würgengel Dysenterie kenne. Wissen Sie, was Ko-su ist?«

»Nein,« antwortete der Governor.

»Oder Sie, Mylord?«

Er richtete die Frage an Raffley.

»Nein,« antwortete dieser.

»Oder Sie?« fragte er mich.

»Ko-su ist Brucea sumatrana, allerdings das Specifikum gegen Dysenterie,« sagte ich.

»Aber wissen Sie, wie dieses Mittel in so schweren Fällen zu geben ist?«

»Nein.«

»Kennen Sie die Pflanze überhaupt? Haben Sie sie gesehen?«

»Nein.«

»Sie wächst da drüben in Atjeh, stellenweise sogar


[Sp. 181]

massenhaft; aber Sie werden Sie [sie] niedertreten, ohne zu ahnen, daß Sie das Leben Ihres Freundes mit ihr retten könnten! Ich bitte also, mich mitzunehmen! Thun Sie es nicht, so werde ich mir einen Extradampfer mieten, denn auch ein Chinese kann so etwas bezahlen. Aber Ihre Jacht ist schneller als jedes Schiff, welches ich bekommen könnte, und wenn Sie mich nur an Bord zu sich lassen, so will ich mit dem äußersten Winkel fürlieb nehmen, und Sie werden mich nicht eher wieder zu sehen bekommen, als bis in Uleh-leh an das Land gegangen wird. Wo es sich um ein Menschenleben handelt, sollte man doch nicht an Rassenfragen denken!«

Er stand hoch aufgerichtet vor dem Governor, der ihn beleidigt hatte. Seine Augen funkelten.

»Na, so nimm ihn mit!« sagte dieser in einem Tone zu Raffley, als ob es ihm schwer werde, diese Einwilligung zu erteilen.

»Aber ganz selbstverständlich! Sie sind mir sehr willkommen, Mr. Tsi. In drei Stunden dampfen wir ab. Ist das Zeit genug für Ihre Vorbereitungen?« fragte Raffley.

»Wenn es einen Freund zu retten gilt, habe ich keine Vorbereitungen zu treffen. Ich würde mitfahren jetzt, gleich, so wie ich hierstehe! Ich danke Ihnen, Mylord!«

Er machte ihm eine tiefe Verbeugung. Mir reichte er die Hand. Dann drehte er sich nach dem Governor um. Er ließ den Oberkörper langsam, steif und förmlich niedersinken, aber nur bis zu einem halben rechten Winkel; das that er dreimal, ohne ein Wort zu sagen; dann entfernte er sich.

»Fataler, gelber Kerl!« meinte der »Uncle«. »Gebärdet sich wie eine Fürstlichkeit!«

Die war er vielleicht auch, wenigstens sein Vater; nur durfte ich es nicht sagen! Da ließ Raffley seinen Klemmer auf der Schärfe der Nase herunterreiten, stieß ein kurzes, heiteres Lachen aus und fragte ihn:

»Wollen wir wetten?«

»Worüber? Etwa über diesen Chinamann?«

»Yes. Ich behaupte, daß Ihr dicke Freunde werdet!«

»Nie!«

»Well! So wetten wir?«

»Einverstanden!«

»Um wieviel Pfund?«

»Zwanzig. Aber eine Zeit setzen!«

»Schön! Ehe er endgültig unsere Jacht verläßt.«

»Das soll ein Wort sein! Ich werde unbedingt gewinnen!«

»Gut, so setze ich noch zwanzig Pfund, daß du nicht gewinnen wirst!«

»Nein! Doppelwetten sind verboten. Du wärst sonst im stande, deine Einsätze in die reine Unendlichkeit hinein zu machen. Zwanzig Pfund und damit basta!«

Man kann sich denken, daß ich höchst neugierig auf die


[Sp. 182]

Jacht war. Ist es für den Kenner schon eine Freude, ein solches Fahrzeug zu sehen, wie groß muß die Freude erst dann sein, wenn er mit ihm fahren kann, weil es das Eigentum eines Freundes ist! Schon »Swallow«, die frühere Jacht Raffleys, war ein Muster von Eleganz gewesen, und so war es erklärlich, daß ich mir nun von der »Yin« ganz bedeutende Vorstellungen in Beziehung auf ihre Ausstattung machte; aber alles, was ich gedacht hatte, wurde von der Wirklichkeit weit, weit übertroffen.

Als wir an Bord kamen, stand die Mannschaft unter Tom, dem »Kapitän«, in Reih und Glied und hieß uns mit einem dreimaligen »Hip, hip, hurra!« willkommen. Raffley wies mir meinen Raum selbst an. Dieser lag hinten am Stern, war hoch, geräumig, luftig und mit allem Komfort der Neuzeit versehen. Elektrisches Licht verstand sich ganz von selbst; die Maschine lieferte es.

Dann zeigte er mir seine eigene Wohnung, welche mittschiffs unter der Kommandobrücke lag. Sie war einfacher ausgestattet. Man sah ihr an, daß ihr Bewohner das Raffinement nicht liebe und diesen Raum nur der Arbeit und der zu ihr erforderlichen Ruhe gewidmet habe. Es gab keine teuren Meubles hier, aber eine kostbare Bibliothek füllte die Wände aus; ein schwer beladener Ständer hatte die besten Karten aller Länder und aller Meere zu tragen, und auf einer Tafel lagen und standen alle erforderlichen nautischen Instrumente wohl geordnet. Der einzige Schmuck, den es hier gab, war ein Gemälde, aber ein wunderbar schönes, ein Meisterwerk allerersten Ranges, schön in betreff des Sujets, meisterhaft in Beziehung auf die Ausführung.

Es war ein Brustbild jener »Yin«, deren Marmorkopf den Bug des Schiffes zierte. Was der Marmor dort plastisch ahnen ließ, das wurde hier in diesem Farbengedicht entzückend ausgesprochen. Man redet so entschieden von morgen- und abendländischen, von italienischen, englischen, französischen, spanischen, polnischen, deutschen, nordischen, amerikanischen Schönheiten, von Schönheiten aller Länder. Dieses junge Weib hier war unbedingt eine Schönheit und ebenso unbedingt eine Chinesin. Wie kam es doch aber, daß es mir unmöglich war, zu behaupten, daß sie eine chinesische Schönheit sei? Lag der Grund in den Zügen des Originals selbst, oder lag er in der Art und Weise, wie der Künstler diese Züge aufgefaßt und wiedergegeben hatte? War dieser Künstler ein Chinese oder ein Europäer? Beides nicht, und beides doch! Ein Talent auf jeden Fall, vielleicht noch mehr! Der Rahmen war einfach, aus schmucklosem Holze und verschwand fast ganz unter der Menge natürlicher, lebender Rosen, Blumen und Blüten, welche ihn bedeckten. Ich sah später den Schiffsraum, in welchem diese Kinder Floras gezogen wurden, um jahraus, jahrein als Schmuck für »Yin« zu dienen.

Das Bild fesselte mich in ganz ungewöhnlicher Weise. Ich stand lange vor ihm, in Anschauen versunken, und sagte


[Sp. 183]

nichts. Ich hatte das Gefühl, daß man Worte hier zu vermeiden habe. Als ich mich endlich abwendete, fiel mein Blick auf Raffleys Augen, welche mit einem unbeschreiblich glücklichen Ausdrucke auf das Porträt gerichtet waren. Nun sah er mich an – – und ich ihn. Beide schwiegen wir; dann nickte er mir zu; er hatte mich verstanden.

Als wir wieder auf das Deck traten, legte eben das Boot an, welches Mary Waller geholt hatte. Raffley empfing sie in seiner wohlthuenden, dankerweckenden Weise und geleitete sie nach dem für sie bestimmten Logis, welches die ganze Breite des erhöhten Vorderplatzes einnahm. Sie hatte ihre Toilette vervollständigt; eine englisch sprechende Chinesin, welche für diesen Zweck vorhanden zu sein schien, sonst aber in der Küche beschäftigt war, wurde ihr als Dienerin gegeben.

Der Governor hatte es sich auf einem Liegestuhl bequem gemacht. Er rauchte eine Pfeife von der kurzen Art, welche in englischen »Traveller«-Kreisen jetzt so beliebt ist, und schien dieser Beschäftigung seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen.

Tsi war schon vor uns an Bord gekommen. Ich kam an der Kabine, welche ihm von Tom angewiesen worden war, vorüber und sah ihn hinter dem halbzurückgeschlagenen Vorhang sitzen. Da trat er heraus und fragte mich, wann der Anker gelichtet werde. Soeben zog die Maschine die Kette an; ich brauchte also nicht zu antworten, hielt es


[Sp. 184]

aber für geboten, ihm aus einem anderen Grunde eine Bemerkung zu machen.

»Sie meiden das Deck, wie es scheint,« sagte ich. »Sie haben keine Veranlassung, auf freie Bewegung zu verzichten.«

»Ich will den Governor nicht stören,« antwortete er.

»Bitte! Dem fällt es gar nicht ein, sich von irgend einem Menschen stören zu lassen! Seien Sie aufrichtig: er stört Sie! Und das lassen Sie sich einfach nicht gefallen! Habe ich recht?«

Es kämpfte sich ein halb verlegenes Lächeln auf seine Lippen, und ehrlich, wie er immer war, gab er zu:

»Ja; es ist richtig, was Sie sagen. Ich habe ihm sein Verhalten übelgenommen, und also nicht so edel gedacht, wie unsere Religion es von uns fordert. Verzeihen Sie! Wie kann ich es dem Einzelnen entgelten lassen, daß er nicht anders denkt, als seine Allgemeinheit denkt! Ich werde ihm Abbitte leisten.«

»Abbitte? Das halte ich denn doch nicht – – –«

»Natürlich nicht so, wie Sie es auffassen wollen,« unterbrach er mich. »Der Wunsch nach Verzeihung braucht nicht grad über die Lippen zu gehen, um sich verständlich zu machen. Darf ich fragen, als wen und was mich die beiden Gentlemen kennen? Selbstverständlich sind Sie nach mir gefragt worden.«

»Sie sind Dr. med. Tsi, der in Frankreich studiert hat. Ihr Vater hat sie dort abgeholt und ist Ihnen, weil Ihr Beruf Sie veranlaßte, hier zu bleiben, nach China voraus-


[Sp. 185]

gereist. [vorausgereist] Ich habe Sie und ihn in Kairo kennen gelernt. Hoffentlich stimmen Sie dieser Auskunft, welche ich gegeben habe, bei?«

»Es ist die mir liebste, welche Sie geben konnten. Ein junger Arzt ist ein Mann, mit dem man sich nur dann abgiebt, wenn man ihn braucht; ich werde hier also zurückgezogen leben können, und das ist mir lieb. Ich sah Mary Waller an Bord kommen. Weiß sie, daß ich auch mit hier bin?«

»Nein.«

»Sie – – Sie – – – Sie haben ihr nichts, gar nichts davon gesagt?« stotterte er beinahe.

»Kein Wort.«

»Aber, ich bitte Sie! Was soll sie denken, wenn sie sieht, daß ich – – daß – – daß – – –«

Er sprach den angefangenen Satz nicht aus. Das Lächeln, welches ich nicht ganz unterdrücken konnte, machte ihn irr. Er errötete sogar.

»Ja, was soll sie denken?« fragte ich. »Daß sie Ihnen Dank schuldet, weiter nichts! Sie haben sich keinen Augen-


[Sp. 186]

blick [Augenblick] besonnen, sondern alle Ihre Verpflichtungen liegen lassen, um mit uns zu gehen und ihren Vater zu retten. Meinen Sie etwa, daß sie darüber zürnen soll?«

»Nein, das nicht; aber ich hätte sie fragen sollen, ob sie es mir erlaubt.«

»Jede gute That ist erlaubt; ja, man soll sie sogar ohne Erlaubnis thun! Aber es gab ja auch gar keine Zeit zur Frage. Als Sie zu mir in das Hotel kamen, war Miß Mary soeben von uns gegangen, und wir haben sie nicht eher wiedergesehen, als bis sie vorhin an Bord kam. Es war also unmöglich, ihr zu sagen, daß sie außer mir noch einen zweiten Gefährten aus Kairo hier treffen werde. Wünschen Sie, daß ich sie auf diese Ueberraschung vorbereite?«

»Ich bitte sogar darum! Es würde mir außerordentlich peinlich sein, sie in einer für mich nicht erfreulichen Weise überrascht zu sehen. Auch hege ich meines Namens und Standes wegen gewisse Bedenken. Sie weiß da nicht, woran sie mit mir ist.«

»Nicht? Nun, das soll sie sofort erfahren!«

Mary war soeben aus ihrem Raume getreten, um einen Scheideblick auf Penang zu werden, denn die »Yin« begann sich zu bewegen. Ich wendete mich von dem Chinesen ab, um zu ihr zu gehen, hatte meine Worte selbstverständlich nur im Scherze gemeint; da ergriff er meinen Arm und sagte ängstlich:

»Was wollen Sie? Wie wollen Sie zu ihr, zu – – zu – – – –?«

»Ich werde ihr alles sagen, alles!« fiel ich ihm in die Rede und machte meinen Arm frei.

»Aber ich bitte Sie um – – – !«

Mehr hörte ich nicht, weil ich mich schnell von ihm entfernte. Mary kam mir auf halbem Wege entgegen. Sie wollte irgend eine Bemerkung, eine Frage aussprechen; ich ließ ihr aber keine Zeit dazu, sondern erkundigte mich bei ihr:

»Haben Sie vielleicht grad jetzt grausam viel zu thun, Miß Waller?«


[Sp. 187]

»Nichts, gar nichts,« lächelte sie.

»Ich möchte Ihnen einen Herrn vorstellen.«

»Welchen, wo?«

»Bitte, kommen Sie!«

Ich führte sie nach Tsis Kabine, in welche er wieder geschlüpft war. Er sah uns kommen und sah sich also gezwungen, wieder herauszutreten. Welche eine Ueberraschung für die Amerikanerin!

»Das ist Herr Doktor Tsi, welcher in Montpellier Medizin studiert hat und ein untrügliches Mittel gegen Dysenterie kennt,« sagte ich ernst und feierlich, als ob ich überzeugt wäre, daß sie einander noch nicht gesehen hätten. »Dieser junge Arzt,« fuhr ich fort, »ist auch den beiden Englishmen, deren Gäste wir sind, als Doktor Tsi bekannt. Mehr ist wohl auch nicht nötig.«

Hierauf verbeugte ich mich und ging fort. Ich war mir bewußt, Tsi in eine unendliche Verlegenheit gebracht zu haben, war aber so vollständig gefühl- und gewissenlos, mir nichts daraus zu machen. Die letztere Bemerkung hatte ich nicht unterlassen wollen, weil Mary Waller doch wissen mußte, als was unser chinesischer Freund hier auf dem Schiffe zu gelten hatte. Nun wendete ich meine ganze Aufmerksamkeit dem letzteren zu.

Raffley kommandierte selbst. Er war der Mann, welcher bei der Ankunft der »Yin« den großen Strohhut auf dem Kopfe gehabt hatte; er trug ihn jetzt wieder, um seine Augen gegen die Strahlen der schon schiefstehenden Sonne zu schützen. Es war eine wahre Pracht, wie willig das schöne Fahrzeug jeder Silbe gehorchte, welche er in das Sprachrohr hauchte. Die See war heut ziemlich unruhig, aber diese »Yin« machte sich nichts daraus; sie nahm die Wogen mit solcher Leichtigkeit, daß von einer Erschütterung ihres Körpers fast nichts zu spüren war.

Man pflegt, wenn man von Penang nach Uleh-leh geht, nach Durchquerung der Malakkastraße in Edi, Lo-Semaweh und Segli anzulegen. Das sind Militärstationen, welche an der fieberhauchenden Küste angelegt sind, um bei den Kämpfen gegen der Herrscher von Atjeh den kriegerischen Vorstößen in das Innere als Stützpunkte zu dienen. Infolge dieses dreimaligen Anlegens sind zwei Tage notwendig, um von Penang nach Uleh-leh zu kommen. Unsere kleine »Yin« aber konnte die direkte Linie nehmen, und da sie pro Stunde zehn Knoten mehr als die »Coen« meines Freundes machte, so brauchten wir nicht einmal einen vollen Tag, um hinüberzukommen.

Das Wetter war geradezu herrlich; die Luft stand fest; die See ging in langgestreckten Wogen, von denen die eine genau der andern glich. Unsere »Yin« lag ein wenig auf die Seite geneigt und ging so leicht, so frei, so scharf wie der zur Wirklichkeit gewordene Wunsch ihres Besitzers, über die Straße.

In jenen Gegenden, so nahe dem Aequator, wird es regelmäßig kurz nach sechs Uhr Nacht. Als sich nach zwei-


[Sp. 188]

stündiger [zweistündiger] Fahrt die Sonne zum Untergange neigte, stieg Mary Waller die Stufen empor, welche auf die Decke ihres Salons führten. Ich befand mich in ihrer Nähe, und sie winkte mir, ihr zu folgen. Da oben, beim Marmorkopfe »Yins« sitzend, konnte man den Uebergang des Tages in die Nacht am besten beobachten.

Wir sprachen zunächst über ihre Freude, Tsi so völlig ungeahnt hier wiederzusehen. Sie war gerührt von seiner, kein Opfer scheuenden Bereitwilligkeit, sofort mit nach Uleh-leh zu gehen, vermied es aber, viele Worte darüber zu machen. Dann beschrieb sie mir ihre jetzige Wohnung. Sie that das mit wahrem Entzücken und erklärte mir, so etwas noch nie gesehen zu haben. Die Einrichtung sei echt chinesisch, reich aber schön, voller köstlicher Gedanken, ein Gedicht, unbedingt von einem chinesischen Weibe gedichtet, so klar im Ausdrucke und im Reime so rein, keine Silbe zu viel und aber auch keine zu wenig, jede Falte ein wohlklingendes Wort, jeder Sessel ein traulicher Vers, jeder einzelne Gegenstand ein Zeichen höchsten Geschmackes und in seinem Verhältnis zum Ganzen ein Beweis zwar angeborener, aber durch die Ausbildung auch vollendeter Künstlerschaft.

»Ich möchte die Frau kennen, welche diese wunderbare Wohnung, die ihres Gleichen nicht findet, gedichtet hat!« wünschte Mary am Schlusse ihrer Beschreibung. »Sie muß ein schönes, wonniges, harmonisch empfindendes und aber doch scharf und ernst denkendes Wesen sein!«

»Tapezierer!« warf ich hin. »Diese Arbeiten machen in China die Männer, welche sogar waschen und plätten.«

»Tapezierer?« wiederholte sie mein Wort. »Ich begreife allerdings, daß Sie das sagen können; aber kommen Sie, und sehen Sie; dann werden Sie anders sprechen. Ich halte es zwar nicht für unmöglich, daß es ein Tapezierer so weit bringt, in Möbelstoff, in Sammet oder Seide dichten zu können; hier dieses Gedicht aber ist so deutlich fühlbar das Werk einer echten, reinen, edlen Weiblichkeit, daß es fast wehe thut, nur daran zu denken, ob von einem Verfasser anstatt einer Verfasserin, also von einem männlichen Wesen die Rede sein könne.«

Jetzt berührte die Sonne das Meer, und da flutete in einem einzigen Augenblicke eine solche Fülle goldenen Lichtes auf den Wassern zu uns her, als ob der Ball dort im Westen sich aus Liebe aufzulösen beginne.

»Erinnern Sie sich noch des Sonnenunterganges auf dem Dschebel Mokattam damals?« fragte Mary.

»Den Sie gar nicht gesehen haben,« antwortete ich. »Sie ritten zu zeitig fort. Das war die Folge des bösen Wüstenwindes.«

»O nein, sondern die Folge von etwas ganz anderem. Ich fühlte ihn ja nicht.«

Die blickte in die golddiamantene Glut, welche den ganzen Westen bis zu uns her überflammte. Dann sah sie mir mit ihren lieben, ehrlichen Augen so offen und herzlich in das Gesicht und fügte hinzu:


[Sp. 189]

»Wollen Sie mir jetzt eine Bitte erfüllen?«

»So gern!«

»Aber gleich? Ganz gewiß? Ohne sich zu weigern? Ohne zu fragen und zu zögern?«

»Ja.«

»Nehmen Sie sich eine Cigarre aus dem Etui, welches ich da in Ihrer Tasche sehe. Bitte, brennen Sie an!«

Es war ihr ein Herzensbedürfnis, in Erinnerung an das damalige Verhalten ihres Vaters diese Bitte auszusprechen. Dennoch entgegnete ich:

»Da steht die See in Sonnenglut. Denken wir nicht an das Glühen eines Tabakblattes!«

»Und doch; Grad jetzt! Ich bitte Sie; Sie haben es mir versprochen. Es liegt in meinem Wunsche kein Gegensatz zu dieser Schönheitsfülle, die wir sehen!«

Ja, wahrlich nicht; sie hatte recht! Wie leicht und doch wie schwer ist ein Frauenherz zu verstehen! Was uns Männern als Widerspruch erscheint, kann schönste Harmonie bedeuten, und was wir für oberflächlich halten, stammt vielleicht aus der tiefsten, verborgensten Seelenfalte. Das Weib weiß es selbst wohl nicht, wie also kann der Mann es wissen!

{»} »Jetzt brennt es,« lächelte sie so liebenswürdig zufrieden, als ich ihrem Wunsche nachgekommen war. »Nun erzählen Sie mir, wie Sie mit Ihrem braven Sejjid Omar nach hier gekommen sind! Ich schau dabei gegen West, wo Aegypten liegt, und während Sie erzählen, geht hier die Sonne vollends unter, und dort steigt vor meinem geistigen Auge der Mond hinter den Pyramiden auf und zeigt mir fünf Menschen, welche am Wüstenrande rund um den Tisch sitzen, um von dem zu sprechen, welcher Sonne und Mond über Meer und Wüste führt.«

Ich that es. Sie sah mich nicht an, aber ihre Seele folgte meinen Worten. Ich legte ihr die ganze, weite Route vor, welche ich mit Omar verfolgt hatte und von der ich für die vorliegenden Blätter bisher nur Aegypten und Ceylon herausgegriffen habe, weil die anderen von uns berührten Punkte zu den Personen und Ereignissen dieser Erzählung in keiner Beziehung stehen. Ceylon aber erwähnte ich des Professors Garden und meines Gedichtes wegen nicht. Es war mir, als ob das auch weiter ein Geheimnis bleiben müsse.

Grad als ich fertig war, wurde mit dem Gong das Zeichen zum Abendessen gegeben, welches auf dem freien, luftigen, elektrisch erleuchteten Deck eingenommen werden sollte. Mary saß als einzige Dame natürlich obenan. Tsi zögerte, zu kommen. Ich wollte wieder aufstehen, um ihn zu holen; da fragte mich der Governor, warum ich meinen Platz verlasse. Ich teilte es ihm mit.

»Ist ihm gesagt worden, daß er bei uns speist?« erkundigte er sich bei Raffley.

»Nein,« antwortete dieser. »Selbstverständliches sagt man nicht.«


[Sp. 190]

»So bin ich schuld, daß er es nicht für selbstverständlich hält. Habe ihn also zu holen, kein anderer!«

Er ging. Raffley warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu; er dachte an seine Wette mit dem »dear uncle«, dessen für andere verborgenen Eigenschaften er gar wohl kannte. Der letztere kehrte in etwas feierlicher Haltung mit dem Chinesen zurück, den er sogar bis zu seinem Stuhle führte. Der wahre Adel bricht, wenn es geboten ist, durch jede, auch die rauhste Schale!

Ueber das Menu sage ich nichts. Was reiche Leute in jenen Gegenden speisen, das ist ja allgemein bekannt. Hoch über allen diesen Delikatessen stand mir der Ton, in welchem das sehr belebte Gespräch die verschiedenen Gänge begleitete. Besonders hatte ich mich, wenn auch nur im stillen, über Tsi zu freuen. Er aß nur wenig, aber mit Geschmack, und er sprach auch nicht viel, aber was er sagte, das hatte Hand und Fuß. Ueber China wurde geschwiegen; es lag da ein stilles Uebereinkommen vor. Darum mochte der Governor erwartet haben, daß Tsi die für unsere Unterhaltung nötigen geistigen Fonds nicht besitzen werde. Aber da kam, so was man im Volkston einen »Schlager« nennt, bei nächster Gelegenheit noch einer und hierauf wieder einer! Der »uncle« begann zu staunen, sagte aber nichts. Er hatte gar keine Ahnung gehabt, daß das materielle Wissen dieses jungen Mannes weit, weit über das seinige ging und daß es dann nur des Geistes bedarf, um das zu sein, was selbstbewußte Menschen bei andern als »nicht unbedeutend« zu bezeichnen pflegen. Und diesen Geist besaß der Chinese; das bemerkte der Governor immer deutlicher. Sein Benehmen gegen den jungen Mann wurde, ohne daß er es beabsichtigte, immer achtungsvoller. Ich sah, wie Mary sich darüber freute. Sie bemühte sich nach kluger Frauenart, Tsi durch Fragen und Gesprächswendungen Gelegenheit zu geben, zu zeigen, daß er den andern geistig gewachsen sei, und er benutzte das in so bescheidener und diskreter Weise, daß ich wünschte, sein Vater könne bei uns sitzen, um sich über diese schönen Resultate seiner Erziehung mit mir zu freuen.

Nach Tische steckte sich der Governor sofort wieder seine Pfeife an uns spazierte auf dem Decke auf und ab. Als ich mich ihm da für einige Minuten zugesellte, fragte er mich:

»Ist dieser Tsi wirklich nichts als Arzt?«

»Ich weiß nichts anderes,« antwortete ich ausweichend.

»Schreckliche Menschen, diese Mongolen! Falsch, hinterlistig, treulos, alles Edlen bar und dabei rückständig im höchsten Grade. Kann also gar nicht glauben, daß er einer ist! Habe ihn daraufhin angesehen. Augen nur ganz wenig schief; Backenknochen ganz wenig markiert; dazu dieses reiche Wissen und diese Gewandtheit, grad das zu sagen, was er sagen will, weil andere es nicht wissen! Bin darum an dieser Rasse ganz irre geworden. Muß mich genau erkundigen, ob er zu ihr gehört. Muß unbedingt


[Sp. 191]

einige Tropfen kaukasisches Blut in den Adern haben! Man hört diese Tropfen ja ganz deutlich heraus! Und – – – ach, wollte unter vier Augen fragen: haben Sie das Gespenst gesehen?«

»Welches Gespenst?« antwortete ich, obwohl ich wußte, was er meinte.

»Das Bild – – – in der Kajüte.«

»Ja.«

»Wie ist´s?«

»Zum Entzücken schön. Sie haben es doch jedenfalls wie oft gesehen!«

»Noch nicht! Komme nie hinein, weil ich weiß, daß es drinnen hängt. Mag es nicht sehen, nie – – nie – – nie! Das heißt, offiziell! Hm! Wollte zwar schon einmal – – –! Würde vielleicht auch – – –! Raffley aber dürfte es nicht wissen – – – dürfte es nicht einmal ahnen! Hm! Ich weiß, Sie können schweigen. Sagen Sie nichts! Kein Wort! Aber auch nicht, daß dieser Mongole mir gefällt! Raffley würde sonst gleich denken, daß er die Wette gewinnen werde! Fällt mir aber gar nicht ein! Nicht einmal im Schlafe! Bin Englishman, Sir. Wette nur dann, wenn ich ganz sicher weiß, daß ich gewinne. Muß Euch also bitten, ja nicht daran zu zweifeln!«

Hiermit wendete er sich von mir ab und ging nach seinem Stuhle. Die Verschiedenheit der Anredeworte bei ihm ebenso wie bei Raffley erklärt sich aus dem Umstande,


[Sp. 192]

daß sie sich bald der englischen und bald der deutschen Sprache bedienten. Im Deutschen wurde »Sie«, im Englischen aber »you«, also »Ihr« gesagt. Es kam im lebhaften Gespräch sogar nicht selten vor, daß ein Satz in der einen Sprache angefangen und in der anderen zu Ende gesprochen wurde. Man war das so gewöhnt, daß man nicht einmal mehr darüber lächelte.

Vielleicht hatte Raffley darauf gerechnet, daß sich irgend etwas ereignen werde, was geeignet sei, das Urteil seines Onkels über den Chinesen umzustimmen; aber nach dem, was ich jetzt gehört hatte, schien ein solches Ereignis gar nicht nötig zu sein. Wir befanden uns ja erst einige Stunden in See, und doch sprach der Governor in einer Weise von ihm, welche er selbst gewiß für unmöglich gehalten hatte.

Raffley saß mit Tsi beisammen. Sie waren in ein Gespräch vertieft, welches ich schon aus Höflichkeit und sodann auch aus dem Grunde nicht stören wollte, weil ich wünschte, daß der Englishman den Chinesen nicht nur achten, denn das that er schon, sondern auch lieb gewinnen lerne. Mary war wieder auf das Deck ihres Salons gestiegen. Sie konnte so hoch und so ganz vorn sitzen, weil sie nicht zur Seekrankheit geneigt war. Ich wollte sie fragen, ob ich mich zu ihr gesellen dürfe, doch forderte sie mich selbst dazu auf, als sie mich kommen sah.

»Ich möchte Ihnen etwas erzählen,« sagte sie; »etwas,


[Sp. 193]

was ich den anderen nicht mitteilen will, weil sie meinen Vater vielleicht falsch beurteilen werden.«

»Wohl den Grund, warum man ihn gefangen nahm?« fragte ich, um ihr die Ausführung ihrer Absicht zu erleichtern.

»Ja. Er war so gut, so lieb, so mild geworden, fast ganz so, wie Mutter ihn gern hatte. Da kam die Krankheit, welche ihn mürrisch machte, ihm die Lebensfreude raubte und seine Empfindlichkeit verdoppelte. Je schwächer er körperlich wurde, desto mehr gab er sich Mühe, geistig kräftig aufzutreten. Ich will den Vater ja nicht tadeln; er war ja krank! Er sprach wieder von Heidentempeln und von Säulen. Die vier indochinesischen Träger, welche wir mit in die Berge nahmen, hatten keine Religion. Sie hörten ihn an und gaben ihm recht, weil sie von ihm bezahlt wurden. Ich warnte ihn; er aber hörte nicht auf mich, weil er überzeugt war, daß er ihre Bekehrung in kurzer Zeit vollenden werde. Die Bergmalaien stellten sich feindlich zu uns. Niemand nahm uns auf. Wir fanden kein Unterkommen, bis wir ganz hoch oben ein Kampong*) erreichten, dessen Bewohner mit den Weißen noch so wenig in Berührung gekommen und also so friedlich gesinnt waren, daß sie uns gastfreundlich aufnahmen und uns, nicht für Geld, sondern aus reiner, dort gewohnter Gast-


*) Malaiisches Dorf.



[Sp. 194]

lichkeit, [Gastlichkeit] alles boten, was in ihren Kräften stand. Wie froh war ich darüber! Aber diese Freude währte nur einen einzigen Tag.«

»Die Malaien von Sumatra sind in den Küstengegenden und ziemlich weit in das Land hinein Muhammedaner,« bemerkte ich. »Welcher Religion gehörten die Bewohner dieses Kampong an?«

»Der des Konfuzius. Es stand ein Tempel da, nur von Holz gebaut, aber mit mühsamen Schnitzereien verziert und im Innern reich vergoldet, was man der Armut dieser Leute eigentlich nicht zutrauen sollte.«

»Sie sind nicht wirklich arm, sondern nur bedürfnislos. Die überreiche Natur bietet ihnen alles, was sie brauchen, umsonst. Und was die Vergoldung betrifft, so wird das Gold ja auf Sumatra selbst gefunden. Die Berge des Innern, wo Sie waren, bestehen aus vorkarbonischem Schiefer, welcher von goldhaltigen Quarzgängen durchzogen ist. Aber bitte, erzählen Sie weiter!«

»Ich hatte gehört, daß in chinesischen Ortschaften, wo es keine besonderen Gasthäuser giebt, die Fremden in den Tempeln aufgenommen werden. Ganz dasselbe war hier in diesem sumatranischen Kampong der Fall. Man führte uns in den Tempel, welcher zwei Abteilungen hatte, die eine für die Opferungen und die andere für die Besucher. In dieser letzteren sollten wir wohnen. Ich wollte, man hätte uns lieber in die allerkleinste Hütte gesteckt!«

»Ah, ich errate! Heidentempel!«

»Ja. Ihre Vermutung ist leider richtig. Die guten Menschen schleppten alles herbei, um es uns so bequem wie möglich zu machen; sie brachten mehr als reichlich Speise und Trank, und man sah ihnen an, daß sie es gern thaten. Verstehen konnten wir sie zwar nicht, weil wir nicht malaiisch sprachen. Unsere Träger übersetzten uns, was gesprochen wurde, so gut sie eben konnten. Aber von dem Augenblicke an, wo wir uns in dem Tempel befanden, bemächtigte sich des Vaters eine Aufregung, welche mir Angst bereitete. Er sprach von nichts als vom Zertrümmern, vom Einreißen, zuletzt gar vom Wegbrennen dieses Tempels; die Lohe dieses Hauses der Abgötterei müsse als ein Gott wohlgefälliges Opfer zum Himmel steigen. Ich gab mir alle Mühe, ihn zu beruhigen; ich bat ihn, ich beschwor ihn, diese entsetzlichen Gedanken, Liebe mit Haß, Gastfreundschaft mit Feuer zu vergelten, fallen zu


[Sp. 195]

lassen; aber ich hatte nur den Erfolg, daß er nun gegen mich schwieg. In seinem Innern jedoch schrieen die bösen, unchristlichen Stimmen fort. Er konnte ihnen nicht widerstehen.«

»Er war krank, sehr krank!«

»Nichts als nur das! Nur ein Kranker kann glauben, das, was ihm heilig ist, durch die Vernichtung dessen, was andern heilig ist, zu fördern! Das ist stets meine Ansicht gewesen, die ich dem Eifer des Vaters gegenüber mit allen Mitteln, welche einer Tochter erlaubt sind, vertreten habe, und nun ist ihre Wahrheit ihm und mir bewiesen worden. Ich getraute mich nicht, ihn zu verlassen; aber der nächste Tag war ein konfuzianischer Feiertag, der meine Wißbegierde weckte. Die weite Umgebung sandte eine Menge Pilger, welche ihre Opfergaben brachten, in Backwerk, Früchten und einer schier unglaublichen Menge von Blumen bestehend. Der Priester gab uns von allem überreichlich. Das war so rührend, er, dem feindlich gesinnten Missionar, von dem er doch wußte, was er war, denn unsere Träger hatten es ihm gesagt. Vater schien auch gerührt zu sein; er verhielt sich sehr still, und das machte mich so glücklich. Am Nachmittage schlief er sogar ein, was seit einigen Tagen nicht geschehen war. Da glaubte ich, einmal durch das Kampong gehen zu dürfen, wo die Bewohner mit den Festgästen sich an heiteren Spielen erfreuten. Ich wurde überall so freundlich begrüßt, und jeder und jede reichte mir Früchte und Blumen dar, so viel, daß ich sie nicht fassen konnte, sondern wieder an andere verschenken mußte. Da entstand plötzlich große Verwirrung; ich hörte die beiden Worte »Panas«*) und »Klinting«**) rufen und sah, daß alles nach der Gegend eilte, in welcher der Tempel lag. Ich wollte vor Schreck zusammenbrechen, raffte mich aber auf, warf alle Blumen weg und lief, so schnell ich konnte, dorthin zurück, woher ich gekommen war. Als ich hinkam, stand der ganze Tempel in hochlodernden Flammen. Die Hitze war so groß, daß man sich ihm nicht nähern konnte. Unweit davon brannte ein kleineres Feuer, aus welchem der Luftzug verkohlte Zeugreste und glimmende Papierblätter in die Höhe trieb. Mein Vater hatte von den Opfergewändern des Priesters und den heiligen Büchern vor dem Tempel einen Scheiterhaufen errichtet und diesen auch in Brand gesetzt. Er selbst war von einer großen, schreienden Menschenmenge umgeben. Wie es mir gelingen konnte, mich hindurchzudrängen, das kann ich nicht sagen, aber die Todesangst verleiht ja selbst dem schwachen Weibe Riesenkräfte. Ich erreichte ihn grad in dem Augenblick, als man ihn emporhob. Man hatte ihn gebunden und wollte ihn in das Feuer werfen. Ich hielt ihn fest und verteidigte ihn, bis ich zusammenbrach; weiter weiß ich nichts.«

Sie hielt inne. Ihre Gestalt schauderte noch jetzt, in Folge der Erinnerung. Ich sagte nichts, kein Wort; ich konnte nur denken – – denken – – – denken!


*) Feuer.


**) Tempel.



[Sp. 196]

»Als ich wieder zu mir kam,« fuhr sie nach einer Weile fort, »lag ich auf einer Matte. Neben mir saß der Priester und unweit von ihm einer unserer Träger, um den Dolmetscher zu machen. Fern standen oder saßen viele Leute. Der Geruch des niedergegangenen Brandes wurde von weitem hergeweht. Den Vater sah ich nicht. Ich fragte voller Angst nach ihm. Der Priester antwortete mir in einem so milden Tone, daß ich ihn nie vergessen werde, und der Träger übersetzte es mir:

»»Sei ruhig! Er befindet sich wohl, und es ist ihm bis jetzt nichts geschehen. – – – Was hat euch unser Gott, was hat euch unser Land und was hat euch unser Volk gethan? Unser Gott ist auch der eurige! Unser Land hat euch vertraut und euch willkommen geheißen! Und wir selbst, wir haben euch alles gegeben, was wir geben konnten, obgleich wir wußten, daß ihr gegen unsern Himmel wütet! Und was ist euer Dank? Hochmut – – Verachtung – – Zerstörung! Wir gaben euch Blumen – – ihr gabt uns – – was? O ihr Thoren! Wißt ihr denn nicht, daß alles, was ihr andern thut, das thut ihr für die Zukunft an euch selbst?! – – – Fürchte dich nicht vor mir! Ich bin Priester, und ein Priester richtet nicht, sondern er verzeiht! Ich habe für deinen Vater gesorgt, daß ihm einstweilen nichts geschehe. Und ich habe dich hierher bringen lassen, damit du Ruhe habest und ich dir bei deinem Erwachen gleich sagen könne, daß du frei bist. Unser Glaube rächt die Sünde nicht an den Kindern bis in das dritte oder vierte Glied. Ein Gott, der den Unschuldigen straft, kann man sich den wohl denken?««

»Hierauf war er still und sprach nicht weiter, doch bewegte er seine Lippen im Gebete. Von dem Träger erfuhr ich, daß die zum Feste anwesenden Häuptlinge zusammengetreten seien, um über meinen Vater zu Gericht zu sitzen. Die Zeit bis zur Entscheidung wurde mir zur fürchterlichsten Qual, denn ich fühlte, daß – – –«

»Bitte, Miß Mary,« unterbrach ich sie, »quälen Sie sich nicht auch noch jetzt. Sagen Sie mir das, was Sie mir zu sagen haben, so kurz wie möglich; es genügt!«

Sie gab sich Mühe, sich zu sammeln; dann fuhr sie eng summierend fort:

»Er wurde zum Tode verurteilt. Ich bat, vor die Häuptlinge geführt zu werden. Der Priester wagte es, mich hinzubringen, aber der Vater durfte mich nicht sehen. Sie hörten mich so ruhig, so verständig ab. Sie waren gute Menschen. Welche falsche Vorstellung macht sich doch der, der an die eingewachsenen Vorurteile glaubt, von jenen sogenannten »wilden Völkern«! Aber ihre Gesetze forderten den Tod meines Vaters. Welch ein Glück, daß meine Thränen mächtiger als diese Gesetze waren! Man begnadigte ihn zu fünfzigtausend Gulden Schadenersatz für den Tempel, die Gewänder, die Bücher und die Kosten, mich hinunter an die Küste und dann hinüber nach Penang zu bringen. Da aber für einen reichen Mann die Zahlung


[Sp. 197]

einer nicht schwer erschwinglichen Summe eine milde Strafe ist, so wurde sie dadurch verschärft, daß ich abreisen mußte, ohne von ihm noch einmal gesehen worden zu sein. Ein Träger begleitete uns als Dragoman. Ich wurde zu Pferde an den nächsten Fluß gebracht, dem wir per Kahn bis an die Küste folgten, um dann für die Fahrt über die Malakkastraße eine größere Praue zu nehmen. Das übrige wissen Sie. Was ich gelitten habe und noch leide, das ist Nebensache. Ohne Raffley und Sie würde der Vater dennoch sterben müssen. Nun aber ist es mir so frohgewiß, daß er mir erhalten bleibt, wenn – – – wenn ihn nicht die Krankheit inzwischen töten wird.«

»Er wird noch leben, wenn wir kommen,« tröstete ich sie. »Es klingt eine deutliche Versicherung in mir, daß es so ist, und diese Stimme kenne ich. Dann wird Tsi sein Mittel wirken lassen, welches er für untrüglich hält. Ich bin vollständig überzeugt, daß Mr. Waller gerettet wird, nicht nur von dem Spruche der malaiischen Richter und nicht nur von dieser zerstörenden Krankheit, sondern auch von ihren seelischen Folgen, auf welche seine That und seine jetzige Lage zurückzuführen sind. Werfen Sie alle Besorgnis von sich, und versuchen Sie, zu schlafen! Das ist Ihnen jetzt nötiger als alles andere!«

Wir sagten uns hierauf »gute Nacht.« Unten winkte mich Raffley zu sich und nahm mich mit in seine Kajüte. Er hatte uns beobachtet und ganz richtig vermutet, daß sie mitteilsam gegen mich gewesen sei. Ich erzählte ihm, was ich für nöthig hielt. Als ich fertig war, sagte er nichts, sondern öffnete ein Schubfach, aus welchem er nach einigem Suchen ein älteres Zeitungsblatt nahm. Sich mir gegenübersetzend, sprach er dann:

»Ich habe hier eine alte Nummer des »Handelsblad Padangs«, in welcher es kurz und bündig, aber auch ungeheuer deutlich heißt: »Bis jetzt hat der Krieg der Holländer gegen den Sultan von Atjeh 45,600,000 Gulden gekostet. Dafür sind über 40,000 Eingeborene totgeschossen worden; folglich hat jeder derselben den Holländern 1140 Gulden gekostet. Dazu kommen die holländischen Soldaten, welche im Kampfe fielen, zu Krüppeln wurden oder an den verheerenden Krankheiten des Sumpflandes gestorben sind. Falls wir für die verausgabte Summe Grundstücke zum Preise von 1140 Gulden pro Hektar angekauft hätten, so würden wir auf dem friedlichsten Wege zu wenigstens 40,000 Hektaren des besten Landes gekommen sein und wären nicht am Tode von gewiß über 60,000 Menschen schuld.«

Raffley legte das Blatt wieder an seine Stelle und fuhr dann fort:

»Das wurde von einem auf Sumatra gedruckten, holländischen Blatte vor siebenundzwanzig Jahren geschrieben. In welcher Weise sich die angegebenen Summen während dieser Zeit vergrößert haben, wollen wir nicht versuchen, auszurechnen. Wißt Ihr nun, was wir Europäer


[Sp. 198]

unter »civilisieren« verstehen? Es kann mir nicht beikommen, ein einzelnes Land, eine einzelne Nation anzuklagen. Aber ich klage die ganze sich »civilisiert« nennende Menschheit an, daß sie trotz aller Religionen und trotz einer achttausendjährigen Weltgeschichte noch heutigen Tages nicht wissen will, daß dieses »Civilisieren« nichts anderes als ein »Terrorisieren« ist! Was ich, nämlich ich, John Raffley, unter »Civilisation« verstehe, das werdet Ihr sehen, wenn wir nach China kommen; mehr darf ich jetzt nicht sagen! Was in der großen Welt da draußen eben auch im Großen geschieht, das ist jetzt da drüben im kleinen Atjeh mit eurem Freunde Waller eben auch im Kleinen geschehen: der Uncivilisierte hat sich seiner im höchsten Grade civilisiert angenommen, und er, der Hochcivilisierte, hat sich dafür im höchsten Grade uncivilisiert bedankt! Und wie er nun verloren wäre, wenn wir ihn nicht retteten, so wird auch für unsere Civilisation einst die Zeit kommen, in welcher sie um Hilfe aus einer Not schreit, die sie selbst verschuldet hat! Und noch mehr: wie es hier auf meiner guten »Yin« eine von überall her zusammengetroffene Gesellschaft ist, welche Hilfe bringt, Engländer, ein Deutscher, ein Araber, ein Chinese, genau so werden einst die Wohlmeinenden aller Nationen sich zu vereinigen haben, um die unausbleiblichen Folgen dieses »civilisatorischen« Terrorisierens wieder gut zu machen. Denn gut gemacht muß alles Schlimme werden, vollständig gesühnt und bis auf die letzte Ziffer abgebüßt, so will es die göttliche Gerechtigkeit. Dieses scheinbar harte und doch so tröstliche Gesetz gilt für die Gesamtheit des Volkes ebenso wie für den einzelnen Menschen, und wen es nicht schon in der Gegenwart trifft, dem mag für seine Zukunft bange sein! Es giebt für den Schuldigen ein fürchterliches, ein ganz entsetzliches Wort, und das lautet: Sündige ja nicht auf Gottes Langmut hin, denn du rechnest ihm nicht einen einzigen Heller ab! Und nun, mein lieber Charley, wollen wir uns schlafen leben; wir wissen nicht, wie lange wir morgen wachen müssen. Mein alter Tom hält für uns diese Nacht seine Augen offen, und auf ihn können wir uns verlassen.«

Ich ging, um noch einige Worte mit Tsi zu sprechen und mich dann auch einmal um meinen Sejjid Omar zu bekümmern, für den so eine kleine Aufmerksamkeit stets großen Wert besaß. Er unterhielt sich mit Bill, dem Steuermann, und rauchte dabei eine Cigarre, welche dieser ihm geschenkt hatte. Nie stand er anders vor mir als kerzengerade und stramm, wie ein Soldat vor seinem Offizier; das war ein vollständig freiwilliger Ausdruck seiner Achtung, der ihn selbst mit Stolz zu erfüllen schien. Näherte ich mich ihm, wenn er eine Cigarre rauchte, so warf er sie unbedingt weg, auch wenn er sie soeben erst angebrannt hatte. Das wollte er auch jetzt thun; ich verbot es ihm. Er hatte schon mit der Hand ausgeholt. Als er sie wieder sinken ließ, sah ich beim Scheine des elektrischen Lichtes an ihr etwas funkeln, was nicht der glimmende


[Sp. 199]

Brand der Cigarre sein konnte. Ich ergriff diese Hand, um nachzuschauen. Er trug, wie jeder Orientale, gern Ringe an den Fingern; sie hatten zwei für ihn sehr wichtige Eigenschaften: sie waren sehr groß, aber auch sehr billig. Jetzt sah ich einen neuen, der aber keines von diesen beiden Attributen besaß. Er hob die Hand näher an meine Augen und sagte:

»Diese Steine sind echte Almaß*), Sihdi. Man muß sie am Tage in das Licht legen, nicht etwa in den Kasten; dann geben sie es abends wieder.«

Ich dachte mir natürlich gleich, von wem er ihn hatte, fragte aber dennoch:

»Wo hast du ihn gekauft?«

»Gekauft? Ich? O, Sihdi, was du von mir denkst! Ein Ring, für den ich einen halben Franken gebe, geht ebenso weit um meinen Finger herum wie einer, welcher tausend Franken kostet. Ich bin kein Thor. Diesen hier hat mir der Engländer geschenkt, den ich aus dem Wasser geholt habe. Und außerdem mußte ich ihm die Adresse meines Vaters sagen; warum, das weiß ich nicht.«

»Du wirst es erfahren, wenn du wieder nach Kairo kommst. Er will dir dankbar sein.«

»Er mag es sein, aber ja nicht meinetwegen! Ich brauche nichts; aber was die Dankbarkeit thut, das wird bei Allah eingeschrieben und einst dem Menschen tausendfältig zurückgegeben. Darum soll man nie einen Dank zu-


*) Diamanten.



[Sp. 200]

rückweisen, [zurückweisen] und darum habe ich diesen Ring auch angenommen. Ich wollte ihn aufheben, habe ihn aber angesteckt, weil wir uns auf einem so vornehmen Schiffe befinden. Das muß man zu ehren wissen!«

So komisch das auch klingen mag, ihm war es wirklich Ernst damit. Er hatte sich für unsere schöne »Yin« geschmückt. Sein geistiger Horizont war während unserer Reise weiter geworden, doch ohne daß irgend eine seiner guten, liebenswürdigen Eigenschaften darunter gelitten hatte. Uebrigens freute ich mich besonders um seinetwillen über Dilkes Dankbarkeit. Es war das ein nicht zu unterschätzender Gewinn für seine Nächstenliebe und Menschenfreundlichkeit.

Die Nacht verging. Ich schlief sehr gut und lange. Als ich auf das Deck kam, erfuhr ich, daß wir die Spitze von Tanjong Perlak schon hinter uns hätten und uns also in den Gewässern von Sumatra befänden. Später sah man backbordweise den Goldberg in blauer Ferne liegen. Segli wurde doubliert, und dann dauerte es gar nicht lange, so machte Raffley uns darauf aufmerksam, daß wir dem Ziele nahe seien.

Uleh-leh ist nicht groß, fast durchweg nur aus Holz gebaut. Der Stil der Häuser ist darauf berechnet, möglichst luftig zu sein und doch genügenden Schutz gegen die sehr kräftigen Monsunregen zu gewähren. Ein breiter, aus starken Bohlen zusammengefügter Landungssteg reicht in die See hinein. Große Fahrzeuge können sich ihm nicht nähern. Bei der Ankunft von Passagierdampfern entwickelt sich auf ihm ein außerordentlich buntes, hochinteressantes Treiben, bei welchem man die verschiedensten Typen Sumatras in Bewegung sehen kann. Wir kamen unerwartet; darum war er ziemlich menschenleer.

Es war beschlossen worden, uns im Hafen gar nicht aufzuhalten, sondern mit der Bahn hinauf nach Kota Radscha zu fahren, um womöglich, ebenso wie vorher Waller, im Kratong Wohnung zu nehmen. Die mit der Hafenbehörde zu erfüllenden Förmlichkeiten wurden Tom anvertraut. Wir booteten aus. Am Landungsstege wurden wir von einem Beamten empfangen, dessen erste Frage war, ob wir Waffen bei uns trügen; wir hätten sie abzuliefern und würden sie dann beim Einschiffen wiederbekommen. Die Revolver hatten wir bei uns; die Gewehre sollten uns nachgebracht werden. Als wir uns nach der Ursache dieser Maßregel erkundigten, sah der Mann uns forschend an und fragte, ob wir vielleicht Engländer seien. Raffley antwortete mit einem summarischen Ja.

»So kann ich Ihnen nur sagen, daß wir uns um Ihre Personen nicht bekümmern werden,« erklärte der Beamte. »Ich frage nicht einmal nach Ihren Pässen und Namen, denn ich sehe, daß Sie Gentlemen sind. Aber wir haben grad jetzt scharfe Differenzen mit den Eingeborenen, und


[Sp. 201]

es giebt eine europäische Nation, welche ihnen heimlich Waffen liefert. Sie verstehen mich? Sie haben die Wahl, Ihre Gewehre und Munition entweder hier zu deponieren oder sie auf dem Schiffe zu lassen.«

»Well, so wählen wir das letztere,« meinte Raffley.

Wir gaben unsern Bootsleuten die Revolver und konnten dann gehen, wohin wir wollten. Nicht einmal nach verzollbaren Gegenständen wurden wir gefragt.

»Holland handelt sehr anständig,« bemerkte Tsi.

»Ja, aber zwischen ihnen und den Eingeborenen scheint gerade jetzt der Ausbruch eines Kampfes zu drohen,« warf der Governor ein. »Wir kommen nicht zu einer für uns bequemen Zeit. Wer weiß, ob wir unsern Zweck erreichen!«

»Unbedingt!«

Tsi sagte dieses Wort in so bestimmten Tone, daß der Governor sich ihm voll zuwandte und mit einem zwar nicht unfreundlichen aber überlegenen Lächeln fragte:

»Wie kommen gerade Sie zu dieser mutigen Ueberzeugung? Die Auslösesumme ist zwar vorhanden, aber wir brauchen sehr wahrscheinlich mehr als Geld, nämlich Einfluß, Klugheit, Mut und noch vielerlei, was einem Arzte fernzuliegen pflegt.«

Da schaute Tsi ihn frei und heiter an und antwortete:

»Danke, Mylord! Ich kenne Aerzte, welche auch klug und mutig zu handeln wissen; doch, das ist Nebensache. Die Hauptsache ist, daß ich mir versprochen habe, daß Miß Waller ihren Vater wieder bekommen soll, falls er noch lebt, und dieses Versprechen werde ich halten.«

»Auch wenn wir nicht dabei wären?«

»Ja!«

»Wollen wir wetten?«

Da blitzten die Augen des Chinesen auf. Indem der Governor ihm eine Wette anbot, hatte er ihn als gesellschaftlich gleichstehend anerkannt.

»Ja!« erklang die schnelle, kräftige Zustimmung.

»Wie hoch?«

»So hoch Sie wollen!«

Wir hatten im Gehen gesprochen. Der Landungsteg lag hinter uns, und wir befanden uns am Beginn der breiten, links von Häusern und rechts meist von schattigen Bäumen eingefaßte Straße, welche vom Hafen aus linker Hand nach dem Bazar der Eingeborenen und auch nach dem Bahnhofe führt. Da blieb der Governor stehen, musterte den Chinesen wie einen ihm völlig Unbekannten von oben bis ganz unten und fragte im Tone inniger Belustigung:

»Wissen Sie, was Sie da wagen?«

»Ich wage nichts!« antwortete Tsi, wobei diese drei Worte unendlich bescheiden klangen.

»Gut! Sagen wir zwanzig Pfund, fünfzig Pfund, hundert Pfund, tausend Pfund?«


[Sp. 202]

»Zweitausend Pfund, fünftausend Pfund, zehntausend Pfund?« fuhr der Chinese lächelnd fort.

»Mann! Mensch! Chinese, Mongole, du bist verrückt!« rief da der Governor aus.

»Warum gerade ich? Ist nicht bei jedem, der es thut, ein gewissen Teil von Verrücktheit dabei, auf das Wohl oder Wehe, auf Tod oder Leben eines seiner Mitmenschen einen Geldgewinn zu setzen?«

»Mag sein! Aber diese Sache ist so großartig interessant, wie ich noch nie jemals eine andere gefunden habe. Sie muß ausgefochten werden, wenn Sie nicht geradezu wahnsinnig sind! Wenn wir uns doch setzen könnten!«

Er sah sich um, deutete einige Häuser weit nach vorwärts und fuhr fort:

»Dort ist ein Laden. Ich sehe Flaschen. Es stehen Stühle auf der offenen Veranda. Well! Kommt alle mit!«

Er war im höchsten Grade begeistert und eilte uns voraus. Wir andern folgten. Raffley machte ein sehr besorgtes Gesicht und sagte mit unterdrückter Stimme zu mir:

»Soll ich etwa befürchten, Charley, daß Euer Bekannter sich einen Scherz mit meinem Verwandten erlaubt?«

»Das ist ausgeschlossen!« antwortete ich.

»Aber diese Summen!«

»Warten wir es ab! Tsi ist ein Ehrenmann.«

»Well! So ist die Sache allerdings kolossal unterhaltend! Endlich einmal eine anständige Wette, bei welcher nicht geknausert wird! Charley, lieber Charley, thut mir doch den Gefallen und wettet mit, daß Tsi nicht genug Geld hat!«

»Fällt mir gar nicht ein! Ich würde ja gewinnen!«

»Nein!«

»O doch! Dieser Chinese ist kein Faxenmacher!«

»Also Ihr wollt nicht?«

»Nein!«

»Schrecklicher Mensch, der Ihr seid! Aber auch nicht im geringsten bildungsfähig!«

»Hört, Sir, sagt das nicht! Sonst wette ich doch einmal mit Euch, aber so hoch, daß dann höchst wahrscheinlich Ihr es seid, der mir nicht parieren will!«

»Was?« rief er erregt aus. »Mit Euch wette ich um alles, alles, alles, was Ihr wollt!«

»Wirklich?«

»Ja! Ich gebe Euch mein Wort! Denn Euch, Euch, Euch zum Wetten zu bringen, das wäre ja noch viel, viel kolossaler als dieser Pakt zwischen meinem Uncle und Eurem Tsi. Und ich zwinge Euch, Charley; hört, ich zwinge Euch, indem ich jetzt abermals behaupte, daß Ihr ein ganz nutzloser Mensch seid, der keiner Bildung fähig ist!«

»Gut! So wetten wir also!«

»Euer Ernst?« jubelte er auf.

»Ja.«

»Daß Tsi nicht genug Geld hat?«


[Sp. 203]

»Ja.«

»Um was? Schlagt vor! Ich gehe auf alles, alles ein!«

»Abwarten! Wollen uns erst setzen!«

Wir waren an dem betreffenden Hause angekommen. Es hatte, wie die andern neben ihm, ein kleines Vorgärtchen, aus welchem man auf Stufen in die hölzerne Veranda gelangte. Von dieser aus trat man in den sehr sauber eingerichteten Laden, in welchem eine Accuratesse herrschte, als sei er mehr zur Unterhaltung als zum Erwerbe vorhanden. Den Namen des Besitzers nenne ich nicht, und zwar aus Gründen, welche sich aus dem Verhalten unseres Tsi ergeben werden.

Der Governor hatte eiligst Stühle um einen Tisch gesetzt. Wie nahmen Platz. Der Sejjid hockte sich draußen auf der Treppe nieder. Wir konnten Limonade bekommen; sie sollte naturell sein, denn wir wollten nicht das fertige, aber fade Brausewasser trinken. Sie mußte also erst zubereitet werden, und da dies der Besitzer selbst übernahm, so waren wir allein und ohne störende Zeugen.

Tsi hatte sich, ehe er sich setzte, in dem Laden umgesehen, ohne aber mit dem Inhaber ein Wort zu sprechen. Jetzt lag der Ausdruck innerer Befriedigung auf seinem Gesichte. Zufällig begegneten sich unsere Blicke. Da nickte er mir bedeutungsvoll zu. Ich verstand ihn nicht, merkte aber dann später, was er gemeint hatte. Was Mary Waller betrifft, so handelten wir wahrscheinlich etwas rücksichtslos gegen sie; aber sie nahm das nicht übel und war ganz bei der Sache. Sie sah übrigens heut schon bedeutend wohler aus als gestern.

»Also, ordnen wir unsere Angelegenheit!« begann der Governor. »Wieviel setzen wir?«

»Soviel Sie wollen!« erwiderte Tsi.

»Gut! Ich will Sie nicht unglücklich machen. Sagen wir also tausend Pfund. Haben Sie – – –«

»Halt! Still!« fiel da schnell Raffley ein. »Bis hierher habt Ihr sprechen dürfen; nun aber komme ich mit Charley an die Reihe.«

»Wieso?«

»Ich werde mit ihm wetten.«

»Fällt ihm nicht einmal im Träume ein!« behauptete der »dear uncle«.

»Ist ihm aber schon eingefallen! Sogar im Wachen!«

»Ich wette aber mir dir, um was du willst, daß er nicht mitmacht!«

Da wollte Raffley schnell zugreifen, um noch eine dritte Wette fertig zu bringen; ich fiel ihm aber dazwischen, indem ich dem Governor erklärte:

»Ich bin allerdings zu einer Ausnahme von der Regel bereit. Es ist aber die erste und zugleich die letzte.«

»Ihr wollt wetten? Wirklich, Ihr wollt?« fragte er ungläubig.

»Ja.«


[Sp. 204]

»Prächtig! Herrlich! Unvergleichlich! Welch ein schöner Tag, heut! Fast der schönste meines Lebens! Aber sagt mir da nur nicht, daß dies die erste und zugleich die letzte Ausnahme sei! Wer einmal angefangen hat, der hört nie wieder auf!«

»Pshaw! Dieses Mal nicht! Wer diese unsere Wette verliert, wird niemals wieder wetten; dafür ist gesorgt!«

»Bin sofort bereit, mit Euch zu wetten, daß er wieder wettet! Aber sagt, wie ist das gekommen, und worauf bezieht es sich?«

Da antwortete John Raffley an meiner Stelle:

»Das habe ich zu sagen, weil Mr. Tsi es Charley übelnehmen könnte. Ich habe nämlich behauptet, daß Mr. Tsi die Summe nicht setzen kann, und Charley wettet für das Gegenteil. Unsere Wette muß also eher festgestellt werden als die eurige. Also, was setzen wir? Ich bin zu allem bereit.«

»Kein Geld,« antwortete ich.

»Nicht? Warum?«

»Auf diesem Gebiete stehe ich Euch nicht gleich. Wir müssen uns auf ein anderes begeben, wo der Unterschied nicht so bedeutend ist.«

»Einverstanden! Die Sache wird von Minute zu Minute schöner! Also, weiter!«

»Ja, Ihr strahlt vor Freude am ganzen Gesichte; mir aber ist diese Wette kein Spiel, sondern Ernst. Ich sagte, wer diese Wette verliert, werde nie wieder wetten. Ihr nehmt jeden Einsatz an?«

»Ja. Halte stets Wort!«

»Gut! Setzen wir also Gewohnheit gegen Gewohnheit. Ich fordere nämlich von Euch Eure Gewohnheit, zu wetten!«

Da nahm sein Gesicht schnell einen andern Ausdruck an. Er sah mich einige Zeit lang wortlos an und sagte dann langsam:

»Ah, also ein Attentat, ein echtes, wirkliches, wohlüberlebtes Attentat!«

»Das ist es allerdings!«

»Charley, Ihr wagt da viel! Ihr setzt unsere ganze Freundschaft auf das Spiel!«

»Das weiß ich; ich weiß aber auch, warum!«

»Nun, warum?«

»Das könnte ich Euch höchstens unter vier Augen sagen!«

»Ich will es aber jetzt wissen! Ich befehle Euch, es zu sagen!«

Die vorher so heitere Situation war mit einem Schlage ernst geworden.

»Gut, Ihr befehlt, und ich gehorche, denn – – –«

»Halt, nicht so!« fiel er schnell ein. »Ich danke Euch, Charley, daß Ihr darüber hinweggehen wolltet! Ich habe Euch gar nichts zu befehlen; ich sprach unüberlegt. Aber ich bitte Euch, uns Euern Grund zu sagen!«


[Sp. 205]

»Er lautet sehr einfach: Ihr sollt verlieren, weil diese Wettsucht Eurer nicht würdig ist.«

»So – so – so – – – so! Also doch Attentat!’

»Ja, gewiß! Ihr habt mich gezwungen und müßt es Euch nun gefallen lassen, daß ich das Erzwungene so vollständig thue, daß nichts übrig bleibt. Ich wette nie; das habe ich Euch hundertmal gesagt. Aber wenn ich einmal wette, so will ich nicht nur diese eine, sondern zugleich auch alle zukünftigen Wetten meines Gegners gewinnen.«

»Schauderhaft! Fast teuflisch!«

»Nein, sondern des Gegenteil! Ihr habt mir wiederholt und in vollem Ernst erklärt, daß meine Abneigung gegen das Wetten ein Schandfleck an mir sei. Ich hingegen teile Euch aufrichtig mit, daß es in meinen Augen keinen vollkommeneren Gentleman als Sir John Raffley geben würde, wenn es ihm gelänge, der Gewohnheit zu entsagen, sich bei jeder Gelegenheit gegen den edlen Wert des Geldes zu versündigen. Das Geld ist nicht nur Metall; es stecken in ihm die Arbeiten und Sorgen, die Anstrengungen und Entbehrungen aller Eurer Vorfahren und ihrer Unterthanen. In diesen Goldstücken ist der ganze Schweiß und sind alle Thränen verstorbener Generationen materialisiert. Dieses Geld ist Gotteslohn und zugleich auch Teufelslohn, je nach der Weise, in welcher es errungen wurde. Euch allein ist es möglich, es dem Satan zu entreißen und nur allein dem Guten und dem Edlen zu widmen. Ihr könnt die Thränen des Kummers, welche in ihm stecken, in Freudenthränen verwandeln. Das thut man aber nicht, indem man wettet. Ich will Euch dieses Wetten abgewinnen, und wenn Ihr es verliert, werdet Ihr in dieser einen Wette mehr gewinnen, als Ihr in Euerm ganzen Leben gewonnen habt und noch gewinnen könntet. Ihr habt Euch Euern Reichtum nicht erworben und kennt also die bösen Geister nicht, die in ihm wohnen. Indem Ihr mit dem Reichtum spielt, spielt Ihr mit diesen Geistern. Ich will Euer Spiel in heilig schönen Ernst verkehren, damit diese bösen Geister sich für Euch in gute verwandeln! Sir John Raffley, Ihr steht vor einem ernsten Augenblicke. Wollt Ihr noch mit mir wetten oder nicht? Ich will Euch erlauben, noch zurückzutreten!«

Da sah er mir mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke in das Gesicht, nickte mir lächelnd zu und antwortete:

»Ich halte Wort; ich wette mit; ich setze, was Ihr fordert. Aber was setzt Ihr dagegen? Natürlich auch eine lieb gewordene Gewohnheit?«

»Mehr als das. Ihr wißt, daß ich ebenso gern rauche, wie Ihr gern wettet; das eine hat für Euch genau denselben Wert wie das andere für mich; aber ich gebe mehr: ich setze meine Gewohnheit, Bücher zu schreiben. Sie ist mehr als nur eine Gewohnheit, sie ist mein Beruf, der mich ernährt. Verliere ich, so bin ich ein armer Mann. Ich setze also mehr, viel mehr als Ihr, und das


[Sp. 206]

muß Euch beweisen, wie sehr mir daran liegt, Euch für den wahren Wert des Geldes zu gewinnen. Es kann und wird in Euern Händen dann zum Segen für Tausende werden.«

»Mein Charley!« rief er aus. »Alter, lieber, guter Kerl! Well! Es gilt! Abgemacht?«

»Ja.«

»Und ohne spätern Zorn?«

»Unbedingt!«

»Einschlagen!«

Wir legten die Hände ineinander. Da hielt der Governor es für an der Zeit, Raffley zu beruhigen:

»Seid unbesorgt, dear nephew; Ihr werdet mit mir gewinnen! Aber es ist heut wirklich wundervoll. Zwei solche Wetten sind noch nie so eng beisammen gewesen. Wollen nun die Bedingungen der unserigen feststellen.«

Jetzt wurden die Limonaden gebracht; sie waren klein, und wir hatten wegen der Hitze Durst; wir tranken aus, bestellten neue und gaben dadurch dem Besitzer des Ladens Ursache, sich wieder zu entfernen. Hierauf wendete sich der Governor an Tsi:

»Also ich setze tausend Pfund.«

»Ich auch,« nickte der Chinese.

»Aber nicht auf Kredit, sondern sofort und bar zu erlegen. Charley macht den Kassierer!«

»Einverstanden!«

»Was? Wie? Wirklich? Ach, Ihr wißt wahrscheinlich nicht, wieviel das in anderem Gelde macht! Also sofort zu erlegen, gleichviel, woher man es nimmt oder bekommt?«

»Ich stimme bei.«

»Well! Und auf welche Bedingungen setzen wird das? Sie behaupteten doch wohl, den Vater von Miß Waller freimachen zu können?«

»Ja, das wollte ich.«

»Ohne unser Lösegeld?«

»Ja.«

»Ohne unsere Hilfe?«

»Ja.«

»Ganz allein?«

»Ja.«

»Bis wann?«

»Schneller, viel schneller, als Sie es können, Mylord!«

Die Zuversicht des Chinesen irritierte den Governor ungeheuer.

»Was für ein sonderbarer junger Mann!« rief er fast zornig aus. »Und darauf wollen Sie tausend Pfund setzen?«

»Gern!«

»Hören Sie, handeln Sie ja mit Bedacht! Ich werde streng auf Erfüllung dieser Bedingungen bestehen! Noch ist es für Sie Zeit, zurückzutreten. Ich will nachsichtig sein! Ich weiß, daß die Chinesen zuweilen ziemlich unüberlegt handeln.«


[Sp. 207]

Das klang beinahe beleidigend; Tsi aber antwortete in seinem höflichsten Tone:

»China bedarf der Nachsicht Englands auf keinen Fall und in keiner Weise!«

»Gut, also abgemacht!« entschied der Governor in strengem Tone. »Jetzt legen Sie das Geld!«

»Nach Ihnen, denn Sie sind Lord, und ich bin Gast Ihres Schiffes!«

Der »dear uncle« fühlte gar wohl, daß er von seinem Gegner Hieb für Hieb geschlagen wurde. Er zog seine Börse heraus und begann zu zählen. Dann wendete er sich an Raffley:

»Ich habe natürlich nur soviel mit, wie ich glaubte, hier und für heut zu brauchen. Ich bitte um tausend Pfund.«

Da sah der »nephew« den »uncle« erstaunt an, ließ seinen Klemmer vor bis auf die Nasenspitze rutschen und antwortete:

»Was denkt Ihr, Sir? Auch ich habe natürlich nicht den ganzen Inhalt meiner Kasse mit, sondern nur so viel, wie wir für heut und morgen brauchen werden.«

»Well! Aber das Lösegeld? Das habt Ihr doch wohl bar bei Euch!«

»Allerdings; aber es gehört nicht mir, sondern Miß Waller, und von einer Dame borgt kein Gentleman. Und selbst wenn sie es Euch freihändig anbieten wollte, würde ich dagegen sein, denn wir dürfen es nicht angreifen, weil wir es für ihren Vater brauchen.«

»Fatal! Höchst fatal! Und Ihr, Charley?«

»Mir ebenso fatal!« antwortete ich. »Ich kann hier nur mit zweitausend Gulden dienen, und das ist nichts. Mein Cirkular-Kreditbrief ist doch nicht bares Geld!«

Da holte der Governor tief, tief Atem und sagte:

»Da muß ich freilich eingestehen, daß ich nicht setzen kann! Aber Sie, Sie werden es gewiß auch nicht können?«

Tsi, an den diese Worte gerichtet waren, zog sein Portefeuille aus der Tasche, entnahm ihm tausend Pfund in Noten und legte sie gerade in dem Augenblicke auf den Tisch, als der Ladenbesitzer die Limonaden brachte. Dabei sprach er:

»Mit viel mehr Bargeld kann ich auch nicht dienen; aber, Mylord, Sie haben ja selbst die Bedingung gestellt, daß es gleichgültig sei, woher man es bekommt?«

»Das ist richtig, nützt mir aber nichts,« antwortete der Governor.

»O doch; es wird Ihnen nützen.«

Und sich an den Besitzer wendend, fragte er diesen:

»Kennen Sie mich?«

»Nein,« antwortete der Gefragte. »Ich habe noch nicht die Ehre gehabt, Sie zu sehen.«

»Haben Sie tausend Pfund im Hause?«

»Nein.«

»Es wäre aber doch wohl zu beschaffen?«

»Hm – – –! Ja – – –! Wenn – – – wenn!«


[Sp. 208]

Er wurde verlegen. Ein vollständig fremder Mensch verlangte eine bedeutende Summe von ihm, der sie nicht einmal hatte!

Da lächelte mir Tsi in bezeichnender Weise zu, nahm aus dem Portefeuille ein kleines, ledernes Couvert, öffnete es, hielt es dem Manne hin und sagte:

»Ich bitte um tausend Pfund englisch gegen Unterschrift! Wie lange dauert es, das zu besorgen?«

Da verbeugte sich der Gefragte tief, sehr tief und antwortete ebenso schnell wie sichtlich erfreut:

»Nur zehn Minuten. Es steht ja grad ein Wagen da. Ich eile!«

Er sprang die Stufen hinab, durch das Vorgärtchen und auf den Wagen zu, welcher sich im raschen Trabe mit ihm entfernte. Es giebt in Uleh-leh und Kota Radscha eine Art sehr leichter Droschken, welche mit kleinen, aber sehr schnellen, edlen Batak-Ponies bespannt sind.

Was Tsi vorgezeigt hatte, war sein »Pu« gewesen. Er steckte es in einer Weise ein, als ob der Vorgang ein für ihn ganz gewöhnlicher sei. Aber Raffley und der Governor konnten ihr Erstaunen doch nicht ganz verbergen, wenn sie ihm auch keine Worte gaben. Der letztere fragte in sehr herabgestimmtem Tone:

»Was thun wir nun aber mit der Wette?«

»Sie gilt,« antwortete Tsi.

»Ich kann aber doch nicht setzen!«

»Ich bitte, warten Sie!«

Es trat eine Verlegenheitspause ein, welche ich mit Tsi auszufüllen suchte. Es gelang uns aber doch nicht ganz. Da kam der Wirt zurück und zählte die geforderte Summe in guten Papieren auf den Tisch. Tsi legte sie dem Governor hin, indem er bat:

»Das ist für Sie, Mylord, damit Sie setzen können. Bitte, nehmen Sie es von mir an, bis wir wieder an Bord kommen!«

Hierauf entfernte er sich mit dem Ladenbesitzer, um ihm Quittung zu schreiben. Der Uncle schob mir die zwei Tausend zu und sagte:

»Nehmen Sie das Geld, Charley! Sie sind ja der Kassierer. Ich weiß nicht, was ich sagen soll! Wer und was ist denn eigentlich dieser Doktor Tsi? Braucht dem ersten, besten unbekannten Mann auf Sumatra nur ein ledernes Etwas vorzuzeigen, um tausend Pfund zu bekommen, rund zwanzigtausend Mark oder fünfundzwanzigtausend Franken!«

»Pshaw!« fiel Raffley ein. »Diese Frage beschäftigt mich weniger. Wißt Ihr denn, dear uncle, daß ich meine Wette an Charley verloren habe?«

Da sah ihn der Gefragte zunächst ganz erstaunt an, denn an diese Wirkung seiner eigenen Wette hatte er jetzt noch gar nicht gedacht. Dann kam ihm das Bewußtsein dessen, was John seinetwegen verloren hatte. Er sprang erschrocken auf und rief aus:


[Sp. 209]

»Armer, armer Teufel! Wie ist das nur gekommen? Nun dürft Ihr ja nie wieder eine Wette eingehen!«

»Ja, nie, niemals wieder!« nickte Raffley ernst.

»Welch ein Unglück! Das ist ja gar nicht auszuhalten! Ihr dürft nicht wieder wetten, aber dieser Charley darf weiterhin seine Bücher schreiben, so lang er will!«

Da ergriff Mary Waller das Wort, indem sie mich zu meinem Schrecken fragte:

»Sie schreiben Bücher? Das habe ich ja noch gar nicht gewußt! Ich staunte, als Sie vorhin beim Eingehen der Wette davon sprachen, daß Sie diesen Beruf haben. Sie sind also Schriftsteller?«

Welch eine Unvorsichtigkeit von mir! Was sollte ich antworten? Das war wieder einmal ein Beweis, daß jede Unaufrichtigkeit wie überhaupt jede Sünde sich ganz von selbst bestraft! Die beiden Engländer begriffen meine Lage. Sie kannten mich; sie wußten, daß ich, falls ich selbst die Antwort übernehmen müßte, nun unbedingt die Wahrheit sagen würde. Darum fiel der Governor schnell ein:

»Wie? Was? Schriftsteller? Fällt ihm ja gar nicht ein. Ja, er hat einmal ein Buch geschrieben, ein sehr gelehrtes sogar; ich glaube über{«} – – über – – – über irgend eine astronomische Hauptfrage. Dieses Buch bringt ihm in seinen Auflagen so viel ein, daß er zuweilen eine Reise machen kann; das nennt er nun seinen Beruf oder von seinen Büchern leben! Sie wissen ja, wer einmal ein Buch verbrochen hat, der pflegt nichts lieber zu thun, als von seiner »Feder« und von seinem »Berufe« zu sprechen.«

So fadenscheinig diese Hilfeleistung war, sie genügte doch, mich aus der Gefahr, entdeckt zu werden, zu erlösen. Wie groß diese Gefahr gewesen war, das zeigte Marys Antwort:

»So, so ist es? Schon glaubte ich, ohne es zu wissen, mit einem Kollegen meines Lieblingsschriftstellers verkehrt zu haben.«

Sie nannte nun meinen Namen.

»Den lesen Sie? Ich auch!« bemerkte John. »Seine Bände stehen alle in meiner Schiffsbibliothek.«

»Wirklich? Das hätte ich wissen sollen! Ich hätte Sie um einen gebeten, den ich noch nicht gelesen habe.«

»Welcher ist das?«

» »Am Jenseits.« Man sagte mir, der Inhalt entspreche diesem Titel in einer Weise, daß es gar keiner besonderen Einbildungskraft bedürfe, sich an die Pforte, welche der Engel des Todes uns öffnet, zu versetzen.«

»Sie können diesen Band haben. Sollten wir länger, als ich denke, oben in Kota Radscha bleiben, so werde ich Ihnen das Buch vom Schiffe holen lassen.«

Jetzt kehrte Tsi mit dem Wirte zurück. Er sagte, daß er sich erlaubt habe, die Limonaden zu bezahlen. Wir konnten also gehen.

Es ist von da aus gar nicht weit bis zum Bahnhofe,


[Sp. 210]

und es fügte sich, daß der Zug, als wir dort ankamen, soeben rangiert wurde. Der Verkehr ist nur bei Ankunft der Dampfer ein größerer. Heut aber waren wir die einzigen Passagiere unserer Klasse.

Man fährt nur sehr kurze Zeit bis hinauf. Unterwegs meinte der Uncle, daß wir nicht alle zugleich zum Governor gehen könnten; er werde ihm diesen Besuch allein machen, und wir könnten im Hotel auf seine Rückkehr warten. Er hatte recht, anzunehmen, daß man ihm, dem gewesenen Governor von ceylonisch Indien, die Bitte um ein anständiges Unterkommen für uns eher gewähren werde, als jedem anderen. Wir trennten uns also, als wir in Kota Radscha angekommen waren, von ihm und gingen nach dem sogenannten Hotel Rosenberg.

Es liegt an einem freien Platze und ist mit einem Kaufladen verbunden, welcher bedeutend größer als der unten in Uleh-leh ist, wo wir die Limonaden getrunken hatten. Wir setzten uns in den luftigen Laubengang, welcher rund um den Speisesaal führt, und ließen uns wieder Limonade geben, das beliebteste Getränk jener heißen Gegend. Als sie gebracht wurde, fragte Mary den Bediensteten, ob vor einiger Zeit ein Brief aus Kolombo für Reverend Waller angekommen sei. Er sei nach Penang, East and Oriental Hôtel, adressiert worden, und sie habe dort erfahren, daß man ihn hierher gesandt habe. Der Mann sagte, daß er nachfragen wolle.

Ich hatte geglaubt, sie habe ihn schon erhalten, noch ehe sie mit ihrem Vater in die Berge gegangen war; nun hörte ich aber, daß ich mich geirrt hatte. Es dauerte nur einige Minuten, so kehrte der Diener zurück und brachte den Brief. Er war, was man einen Doppelbrief nennt, und ich sah gleich an seinem Formate und an seiner Stärke, daß er das Notizbuch enthielt. Indem sie ihn öffnete, machte sie die an mich gerichtete Bemerkung:

»Wir trafen in Indien mit einem lieben Bekannten, einem Professor aus Philadelphia, zusammen, bei welchem ich mein Notizbuch liegen ließ. Der Verlust hätte mir nicht nur seines Inhaltes, sondern auch noch eines andern Grundes wegen leid gethan. Erinnern Sie sich der vier Zeilen, welche mir im Continental-Hotel in Kairo vom Winde zugeweht wurden?«

»Ja,« antwortete ich.

»Nun, dieses Blatt steckt mit in dem Buche. Ich habe diese Zeilen geradezu liebgewonnen. Es spricht mich aus ihnen eine Seele an, die mir bekannt sein muß, obgleich ich mich ihrer nicht erinnern kann. Ja, hier ist es noch. Wie freut mich das!«

Sie legte das Blatt, welches sie aus dem Notizbuch genommen hatte, auf den Tisch und las dann den Brief des Professors. Als sie damit fertig war, legte sie ihn in das Buch und wollte auch das Blatt dazuthun. Da aber kam ihr der Impuls, es zu öffnen. Sie faltete es auseinander. Ich beobachtete ihr Gesicht, natürlich un-


[Sp. 211]

auffällig. [unauffällig] Sie war zunächst nur darüber überrascht, acht Zeilen anstatt nur vier zu finden. Dann las sie. Sie sann und sann.

»Sonderbar, höchst sonderbar!« sagte sie. »Hier, bitte, lesen Sie!«

»Ich kenne es ja schon. Sie zeigten es mir später,« antwortete ich.

»Lesen Sie es dennoch, und sagen Sie mir dann, was Ihnen auffällt!«

Ich folgte ihrer Aufforderung.

»Nun?« fragte sie.

»Die Strophe hat jetzt acht Verse, während sie früher nur vier hatte, glaube ich.«

»So ist es. Ich kann mir das nicht erklären!«

»Aber ich! Der Professor hat es gelesen und dann die vier Zeilen hinzugedichtet.«

»Der? Dichten? O nein! Sehen Sie übrigens da seine Schrift und diese hier. Es ist ganz, ganz genau dieselbe Hand! Und nicht nur das, sonder auch derselbe Geist, dieselbe Seele, dieselbe Liebe! Professor Garden würden nie, nie in seinem Leben auf die Wendung kommen:

»Grad weil sie einst für euch den Tod erlitt,

Lebt sie durch euch, um weiter fortzulieben.«

Er hat auch Seele, aber diese nicht, nein, diese nicht! Es spricht hier eine Stimme zu mir, fast wie die Stimme meiner verstorbenen Mutter. Ich stehe vor einem Rätsel, welches – – –«

Sie wurde unterbrochen. Es kam ein Malaie über den Platz zu uns herüber und bot ihr einen Blumenstrauß zum Kaufe an. Das war hier etwas ganz Gewöhnliches und fiel uns gar nicht auf. Nun aber folgte etwas, was wir nicht erwartet hatten. Ich gab ihm nämlich eine hinreichende Münze, worauf er den Strauß vor Mary auf den Tisch legte, aber nicht nur ihn, sondern auch die Hälfte einer eigentümlich zerschnittenen Betelnuß!

In diesem Augenblick kam der Governor. Er sah die halbe Nuß, griff hastig nach ihr und forderte Mary auf, ihm die andere Hälfte zu geben. Beide paßten ganz genau zusammen. Da wandte er sich an den Malaien:

»Sprichst du englisch?«

»So viel, wie ich hier brauche,« antwortete der Mann. Er sah furchtlos zu ihm auf.

»Was thust du, wenn ich dich arretieren lasse?«

»Nichts. Ich komme wieder frei, aber der Tuwan*) aus Amerika ist verloren!«

Da wendete sich der Governor an Tsi:

»Sie wollen ihn ohne unser Geld und ohne unsere Hilfe befreien. Nun, thun Sie das! Es handelt sich um unsere Wette.«

»Nach Ihnen, Mylord!« lächelte der Chinese. »Ich bitte, diesen Mann auszufragen! Sie müssen doch erst


*) Herr.



[Sp. 212]

sehen, wie leicht oder wie schwer es ist, Mr. Waller wiederzubekommen.«

Da ergriff Raffley das Wort, indem er den Malaien fragte:

»Woher kennst du die Lady, und wie kommst du hierher?«

»Ich war mit bei dem Brande des Tempels, auch mit bei der Beratung der Häuptlinge und habe die Tochter des Fremden genau gesehen,« antwortete der Eingeborene. »Dann wurde ich hierher geschickt, um sie zu erwarten. Ich wartete in der Nähe des Hauses, wo sie Limonade trank. Ich ging mit nach dem Bahnhofe; ich fuhr mit hierher, und ich kaufte die Blumen, um sie ihr zu bringen.«

»Wo ist ihr Vater?«

»Das darf ich nicht sagen. Er ist sehr krank; aber er lebt; er sehnt sich nach ihr und wird ihr gebracht werden, wenn ich das Geld bekomme.«

»Du wirst es nicht eher erhalten, als bis du ihn gebracht hast.«

»Das ist nicht möglich. Die Häuptlinge geben mir den Tuwan nur dann, wenn ich ihnen das Geld so hinzähle, daß kein einziger Gulden fehlt.«

»So gehen wir mit dir, um selbst mit ihnen zu sprechen!«

»Es ist mir verboten, jemand mitzubringen. Ich habe genug gesprochen und sage nun weiter kein Wort. Hier stehe ich und erwarte den Bescheid. In zehn Minuten gehe ich; dann aber wird der Tuwan sterben. Ich sagte die Wahrheit und schweige nun!«

Er trat einige Schritte zurück und steckte die Hand unter seinen Sarong, wo er wahrscheinlich einen Kri*) stecken hatte. Der Sarong ist ein langes Stück Zeug, welches wie ein Frauenrock um die Hüften geschlungen wird und bis herunter auf die Knöchel reicht.

Mary hatte Angst bekommen, doch sagte sie nichts.

»Da ist nichts zu machen,« erklärte Raffley. »Wenn wir Mr. Waller nicht in die größte Gefahr bringen wollen, müssen wir das Geld zahlen!«

»Miserable Situation! Aber es geht wirklich nicht anders!« stimmte der Governor bei. »Man sieht es diesem Kerl hier an, daß er kein weiteres Wort sagen und sich nach zehn Minuten entfernen wird. Und wenn das Geld fort ist, so können wir Tausend gegen Eins wetten, daß sie es nehmen, ohne uns ihren Gefangenen auszuliefern. Was sagt Ihr dazu, Charley?«

»Verlassen wir uns auf Mr. Tsi!« antwortete ich.

Da zog der Chinese sein Portefeuille wieder aus der Tasche. Ich dachte, er werde wieder nach dem »Pu« greifen, hatte mich aber geirrt. Er riß ein Blatt heraus und malte mit einem Tuschestift, den er mit der Limonade befeuchtete, zwei von oben nach unten gehende Reihen


*) Malaiischer Dolch.



[Sp. 213]

fremder Charaktere darauf. Dann fragte er den Governor:

»Werden wir im Kratong wohnen, Mylord?«

»Ja. Der holländische Mijnheer war sehr bereitwillig. Wir haben eine ganze, neben einander liegende Reihe von guten Zimmern, die eigentlich nur für eingeladene Gäste sind.«

»So komm her zu mir!« befahl da Tsi dem Malaien in einem Tone, der keinen Widerspruch duldet. »Schau dieses Papier! Kennst du das erste Zeichen obenan?«

Der Mann nahm den Zettel in die Hand, schaute ihn an und verbeugte sich dann dreimal so tief, wie es ihm möglich war.

»Ich kenne es, Sahib,«*) antwortete er.

»Trag dieses Papier zu den Häuptlingen! Sie werden dir den fremden Tuwan geben. Wir wohnen im Kratong, und du wirst ihn uns bringen. Aber du wirst ihn sehr vorsichtig behandeln, wie einen sehr hohen und sehr kranken Herrn! Wann können wir dich mit ihm erwarten?«

Der Malaie verbeugte sich wieder und antwortete dann im Tone tiefster Unterwürfigkeit:

»Wir haben ihn sehr vorsichtig in einer Mahala**) von den Bergen heruntergetragen. Er ist nicht weit von hier. Wenn zwei Stunden vergangen sind, werden wir ihn bringen. Diesen weißen Männern hier hätte ich die Zeit unserer Ankunft nicht mitgeteilt; wir trauen keinem Christen. Du aber bist ehrlich. Von dir haben wir nichts Böses zu erwarten. Ich eile!«

Er verbeugte sich zum dritten Male und ging dann schnellen Schrittes fort.


*) Bei diesen Malaien »Herr« mit militärischen Würden.


**) Sänfte.



[Sp. 214]

»Sehr ehrenvoll für uns!« zürnte der Governor. »Uns traut man nicht; weil wir Christen sind! Ist das nicht unerhört?«

»Nicht dieses Mißtrauen ist unerhört,« antwortete Raffley, »sondern das Verhalten der Europäer, welches die Schuld an diesem wohlberechtigten Argwohn trägt. Gehen wir, dear uncle

»Ja, gehen wir! Wenn Ihr auf dieses Thema kommt, dear nephew, so ist es eben am klügsten, daß man geht.«

Sie standen beide auf. Der Vorgang zwischen Tsi und dem Boten der Häuptlinge hatte sie in Staunen versetzt; er war ihnen ebenso unerklärlich wie die »Pu«-Scene unten in Uleh-leh; aber sie hielten es nicht für wohlangebracht, ihrer Verwunderung Worte zu geben, weil dies wie eine zudringliche Aufforderung, das Geheimnis mitzuteilen, geklungen hätte.

Wir bezahlten unser Getränk und begaben uns dann nach dem Kratong. Mein Sejjid, welcher in einiger Entfernung von uns auch bei einer Limonade gesessen und unser Gespräch mit dem Malaien beobachtet hatte, folgte uns.

In der Citadelle angekommen, fanden wir holländische Soldaten auf uns wartend, welche zu unserer Bedienung kommandiert waren. Mit den Zimmern konnten wir zufrieden sein. Sie waren sehr sauber gehalten und mit bequemen Möbeln ausgestattet. Nach einiger Zeit besuchte uns der Gouverneur, um nach etwaigen Wünschen zu fragen. Der Uncle hatte ihn ganz treffend als »holländischen Mijnheer« charakterisiert. Er hatte natürlich erfahren, was mit Waller geschehen war, vermied es aber, davon zu sprechen. Wir waren so vernünftig, einzusehen, daß dieses Schweigen wohlberechtigt sei.

Daß wir der Ankunft des Missionars mit Spannung


[Sp. 215]

entgegensahen, brauche ich nicht zu sagen. Mary war es unmöglich, im Zimmer zu bleiben. Sie wanderte draußen im Freien ruhelos hin und her.

Tsi war, nachdem er sein Zimmer gesehen hatte, gleich wieder fortgegangen. Als er wiederkam, folgte ihm ein Malaie, der einen großen Pack Pflanzen trug. Es war Brucea sumatrana, das Ko-su der Chinesen, welches Tsi in der Nähe in hinreichender Menge gefunden hatte.

Ich saß mit den beiden Engländern zusammen, und es versteht sich ganz von selbst, wovon wir sprachen. Was waren das für Zeichen auf dem Zettel gewesen? Warum hatten sie diese überraschende Wirkung hervorgebracht? Wer war dieser Tsi denn eigentlich? Diese und noch andere Fragen wurden durchgenommen, natürlich ohne Resultat.

Dann hörten wir endlich Marys Stimme draußen laut erklingen. Weiter vortretend, sahen wir, daß ihr Vater gebracht worden war. Vier malaiische Träger standen bei der Sänfte, welche sie niedergesetzt hatten; daneben der Fünfte, der bei uns gewesen war. Die Sänfte war verdeckt. An der einen Seite kniete die Tochter, deren Oberkörper sich aber im Innern bei dem Vater befand. Auf der andern sahen wir Tsi, welcher den Eingeborenen ein Geldgeschenk verabreichte. Sie drückten es, ehe sie es einsteckten, an ihre Lippen. Als Mary ihren Vater begrüßt und sich wieder erhoben hatte, ging sie weinend


[Sp. 216]

neben der Sänfte her, welche in das Haus getragen wurde. Wir hörten sie bei uns vorüberpassieren.

Nun dauerte es längere Zeit. Dann kam endlich Tsi zu uns, um uns Bericht zu erstatten. Das geschah sehr kurz, denn er hatte keine Zeit. Es galt ein schnelles Einschreiten, wenn Waller am Leben erhalten werden sollte. Ko-su als Bad, Ko-su als Lavement und Ko-su als Getränk, das war es, was allein ihn retten konnte.

»Die Lady läßt sich entschuldigen,« fügte er seinem Bericht bei. »Ihr Vater wird sie ganz ausschließlich in Anspruch nehmen, und auch ich habe ihm meine ganze Aufmerksamkeit zu widmen.«

»Wie lange wird er hier bleiben müssen?« erkundigte sich Raffley.

»Das wird sich erst morgen entscheiden, wenn ich weiß, welche Lebenskraft ihm noch geblieben ist. Gegenwärtig liegt er in vollständiger Apathie. Es war die höchste Zeit!«

»Muß er dann später etwa wieder in die Berge, selbstverständlich unter andern, bessern Verhältnissen?«

»Nein. Ko-su und Seeluft; weiter brauche ich nichts, außer kräftigender Diät.«

»So muß er auf unsere »Yin«, anders nicht! Er will ja nach China, genau wie wir.«

»Bitte, bestimmen Sie nicht so schnell! Ich bin sein Arzt und werde gerade diesen Patienten nicht eher verlassen, als bis ich ihn mit gutem Gewissen freigeben kann.«


[Sp. 217]

Die beiden Englishmen verstanden ihn sofort, und zu meiner Freude beeilte sich der Governor, zu antworten:

»Das ist ja selbstverständlich! Sie fahren mit, Mr. Tsi! Sie sind uns ja willkommen! Charley, geben Sie ihm das Geld! Er hat die Wette gewonnen. Es ist heut kein guter Tag für uns gewesen.«

Als ich ihm die Banknoten hinreichte, griff er nicht zu, sondern fragte mich:

»Wollen Sie mich zu großem Dank verpflichten? Sie haben ja Zeit; ich aber muß bei dem Kranken sein.«

»Ich stehe gern zu Diensten.«

»Geben Sie mir nur das eine Tausend, und nehmen Sie einen Poniewagen, um das andere nach Uleh-leh zurückzubringen! Der Kaufmann mag Ihnen meine Unterschrift in verschlossenem Couvert zurückgeben.«

»Ich fahre mit,« erklärte Raffley. »Nun ich weiß, daß wir wenigstens einige Tage hier oben bleiben, können wir für einige Minuten an Bord gehen, um die Weisung zu geben, die uns hier fehlenden Gegenstände heraufzubringen.«

»Und ich? Was thue ich?« fragte der Uncle. »Ich dränge mich Euch auf, wenn ich nicht auf der Stelle tausend Pfund bekomme!«

Raffley, welcher seine Absicht erriet, antwortete lachend:

»Jetzt haben wir Mr. Waller ohne Lösegeld; ich kann Euch also diesen Wunsch erfüllen.«

Er zählte ihm die Summe vor, allerdings in Guldenscheinen. Der Governor nahm sie, hielt sie Tsi hin und sagte in fast herzlichem Tone:

»Sie haben ganz genau als Gentleman gehandelt, als Sie mir, Ihrem Gegner, den Einsatz borgten. Ich danke Ihnen!«

Tsi steckte das Geld zu sich, verbeugte sich, ohne ein Wort zu verlieren, und ging.

»Ganz Edelmann! Geld spielt bei ihm keine Rolle! Sehr, sehr tüchtiger junger Mann!« gestand der Uncle, fügte aber schnell und vorsichtig hinzu: »Habe aber ja nicht etwa gesagt, daß ich ihn liebgewonnen und die gestrige Wette also verloren habe! Fällt mir ganz und gar nicht ein!«

Nun hatte er seine Schuld bezahlt und brauchte die fürchterliche Drohung, sich uns aufzudrängen, nicht auszuführen. Er blieb da. Ich aber ging mit Raffley fort, um einen Wagen zu nehmen. Grad als wir den Kratong verließen, kamen einige belastete Malaien. Sie brachten – – – das Gepäck, welches Waller und Mary mit oben im Gebirge gehabt hatten. Welch eine Ehrlichkeit! Raffley griff in die Tasche und beschenkte sie. Dann, als wir auf gut gepflegten Wegen am Wasser hinab nach dem Hafen fuhren, ließ er die Bemerkung hören:

»Die Redlichkeit dieser Leute verbietet ihnen, sich an Wallers Sachen zu bereichern. Haben sie seine Person frei-


[Sp. 218]

gegeben, [freigegeben] so dürfen sie auch seine Effekten nicht behalten; so denken sie in ihren uncivilisierten Köpfen. Und zu solchen Leuten kommt der Europäer, um seine »christliche Faust« auf ihre Rechte und ihr Land zu legen! Was sagt Ihr dazu, Charley?«

»Nichts!«

»Das ist bequem und vielleicht auch wohl – – klug!«

Ich entledigte mich bei dem Kaufmann meines Auftrages, ohne ihm merken zu lassen, daß ich mich in Beziehung auf das »Pu« nicht ganz in Unkenntnis befinde. Dann ließen wir uns nach der »Yin« rudern, wo John die Gegenstände bezeichnete, welche uns sofort hinauf nach Kota Radscha geschickt werden sollten. Als wir hierauf am Lande den Wagen wieder bestiegen, war es inzwischen Abend geworden.

»Habe es nicht vergessen,« sagte John, indem er auf ein kleines Paket zeigte, welches er mitgenommen hatte.

»Was ist´s?«

»Euer Buch »Am Jenseits«. Ist mir der liebste Band von Euch. Ungeheuer ernst und wichtig! Wird aber leider erst dann verstanden werden, wenn die Species »Dutzendmensch« ausgestorben ist!«

Wieder im Kratong angekommen, erfuhren wir vom Governor, daß uns ein besonderer Koch bestellt worden sei, mit welchem er für heut und morgen den Speisezettel habe anfertigen müssen. Das war sehr aufmerksam von dem Statthalter. Am allerbesten aber gefiel es uns von ihm, daß er, so lange wir hier waren, zwar von weitem sehr freundlich für uns sorgte, uns aber persönlich konsequent fern blieb. Wir waren dadurch frei von jedem Etikettezwang.

Bei Tische erschien Tsi nur für kurze Zeit, Mary natürlich aber gar nicht. Man mußte ihr und dem Kranken die möglichste Selbständigkeit bewahren. Ueber den letzteren erfuhren wir, daß er noch immer apathisch sei, doch zuweilen halblaut vor sich hinspreche. Seine Tochter beachte er gar nicht und scheine sich nur mit imaginären Personen zu beschäftigen.

Eine fließende Unterhaltung kam zwischen uns dreien nicht in Gang. Die beiden anderen vermieden es, von den Wetten zu sprechen, was doch eigentlich das interessanteste Thema für sie gewesen wäre, und auf anderes gingen sie auch nur wie gezwungen ein. Es war, als ob wir uns unter einem ungewöhnlichen geistigen Luftdrucke befänden. Wir verabschiedeten uns darum zeitig voneinander.

Ich ging noch ein Stück in das Freie spazieren. Auf einer langen Bank, an welcher ich vorüberkam, saßen Soldaten, der Sejjid mitten unter ihnen. Als er mich sah, war ich schon nahe. Er stand schnell auf, und ich hörte ihn sagen:

»Daar komt onze Mijnheer – da kommt unser Herr!«

Er begann also schon, holländisch mit ihnen zu radebrechen. Sie sprangen ebenso wie er auf und machten ihr


[Sp. 219]

Honneur; darum gab ich ihm Geld zu Cigarren, welche er unter sie verteilen sollte; ich wußte, daß ich ihm damit einen großen Gefallen that. Er gab überhaupt sehr gern, aber wenn die Gabe von »unserm Herrn« kam, doppelt gern.

Es standen überall Posten. Ich ging ziemlich weit, denn der Abend war wunderbar mild und schön. Eine Straße entlang schlendernd, welche nach einem vor dem Orte liegenden Wäldchen führte, wurde ich von einem Posten angehalten, welcher mir sagte, ich könne zwar gehen, wohin ich wolle, aber es sei seine Pflicht, mich zu warnen. Kein Bewohner von Kota Radscha gehe jetzt abends über den Umkreis des Ortes hinaus, der Eingeborenen wegen, welche sich seit einiger Zeit in verdächtiger Weise um die holländischen Stationen zusammenzögen. Ich dankte ihm und kehrte selbstverständlich um.

Als ich heimkam, begegnete mir Tsi im Korridor. Ich fragte ihn nach Waller.

»Ich habe mein Ko-su angewandt, und es beginnt bereits, günstig zu wirken,« sagte er. »Aber der Geisteszustand ist ein ganz sonderbarer. Wollen Sie den Kranken sehen?«

»Ist das möglich, ohne daß ich störe?«

»Jetzt, ja. Sie werden sich wundern, was er thut!«

Er ging voran und öffnete die Thür. Das Zimmer war groß; der schöne Abendhauch hatte ungehindert Zutritt. Auf dem Tische brannte eine halb verhangene Lampe. Der Kranke lag unter einer leichten Decke lang ausgestreckt im Bette, an welchem Mary saß. Als sie mich sah, stand sie auf.

»Wie recht, daß Sie kommen!« sagte sie leise. »Sie werden ihn kaum wieder kennen; aber ich bin nicht mehr traurig, sondern froh, denn Herr Tsi hat mir versichert, daß Vater gerettet sei. Er kennt mich noch nicht, ist aber in den Zwischenräumen tiefer Apathie geistig ungemein be-


[Sp. 220]

schäftigt. [beschäftigt] Womit, das werden Sie nicht erraten. Kommen Sie, nehmen Sie Platz!«

Tsi schob mir einen Stuhl an die Seite des ihrigen. Waller hatte allerdings ein fast leichenhaftes Aussehen. Das Gesicht war zum Erschrecken eingefallen. Ich sah das Skelett eines Kopfes vor mir, und die Hände bestanden auch nur bloß aus Knochen, um welche sich die Haut in lockeren Falten legte. Wir sprachen nicht. Es wäre nur schwer geworden, bei diesem Anblicke Worte zu machen.

Der leise, nicht unangenehme Duft des Ko-su erfüllte den Raum, so ähnlich, wie wenn Weihrauch durch die Halle eine Kirche getragen worden ist, und wie dieser Gott geweihte Ort an andere, höhere Welten mahnt, so zog auch hier das Ringen einer zwischen dem Diesseits und dem Jenseits schwebenden Menschenseele unser Denken und Empfinden nach der Grenze hin, an welcher alles aufzuhören scheint, weil alles dort beginnt. Seelenäußerungen, an dieser Grenze für die zurückliegende Erde in Menschenworte gekleidet, sollen dem, der diese Worte hört, nicht anders als nur heilig sein!

Es herrschte tiefe Stille im Zimmer; auch draußen regte sich nichts; der Kranke lag wie tot. Nach einiger Zeit gab Mary mit der Hand ein Zeichen. Ich sah, daß er die Lippen bewegte. Dann klang es langsam und leise zwischen ihnen hervor:

»Ich sehe dich, und ich höre dich, mein Lieb! Du bist nicht tot, du bist in meiner Seele. Du hast es mir gesandt, weil ich´s vergessen hatte:

»Tragt euer Evangelium hinaus,

Um aller Welt des Himmels Gruß zu bieten.«

Hier hielt er inne. Er bog den Kopf zur Seite, als


[Sp. 221]

ob er auf irgend etwas lausche. Dann fuhr er ebenso leise und ebenso langsam fort:

»Vergieb! Ich war vom Antichrist bethört! Er that, als ob er unser Jesus sei! Ich habe nur auf ihn, auf ihn gehört und glaubte mich von allem Irrtum frei. Du warntest mich; du hattest ihn durchschaut, sahst ihn in seiner ganzen Häßlichkeit; in deiner Stimme ward mein Engel laut, der Engel unsrer ganzen Christenheit – – –«

Mary hatte, vielleicht es gar nicht wissend, ihre Hand auf die meine gelegt.

»Er spricht mit Mama,« flüsterte sie mir zu. »Er that es schon vorhin, aber nicht in dieser – – dieser – – – wunderbaren Weise. Hören Sie! Still!«

Sie nahm meine Hand fester, als ob sie für das nun Folgende nach einem Halte suchen müsse. Ihr Vater sprach nach dieser Pause weiter:

»Du gingst von mir – – ich war mit ihm allein, mit ihm, vor dem du mich so oft gewarnt, und darum konnte es nicht anders sein: er hat mich vollends, durch mich selbst, umgarnt. O glaube mir, ich hab es nicht gedacht, daß Christi Wege andere Wege sind; der fromme Dünkel hat mich irr gemacht; er ist der Hölle größtes Lieblingskind – – –«

Hier holte er zum ersten Male tiefer Atem, so daß man seine Brust sich bewegen sah. Seine Züge waren bisher während des Sprechens unverändert geblieben; nun wurden sie von dem Ausdrucke seelischer Pein bewegt, als er fortfuhr:

»Doch achtet jedes andere Gotteshaus;

Ein wahrer Christ stört nicht den Völkerfrieden.«

Nach diesen Worten schlug er die hagern Hände zusammen, riß die Augen auf, starrte über sich empor und sprach, lauter und schneller als bisher:

»Ich sehe, wie die Flamme aufwärts steigt, die ich entfacht mit frevlerischer Hand. Ich sehe, daß sich weinend zu mir neigt der Engel, den du mir herabgesandt. Ich sehe dich; ich seh dein teures Haupt. Wie trauert doch dein liebes Angesicht! Was that ich doch! Was habe ich geglaubt! Ist Feuerbrand denn wirklich Christenpflicht?«

Mary war tief, tief ergriffen. Sie wollte sich beherrschen; aber es ging ein Schauer über ihren Körper und trieb ihr Thränen aus den Augen.

»Welch eine Scene!« flüsterte Tsi. »Hier höre ich auf,


[Sp. 222]

Arzt zu sein und darf nur noch als Mensch den Engel hören!«

Jetzt nahmen die scharfen Züge des Missionars einen freundlicheren Ausdruck an; die ängstlich verschlungenen Hände lösten sich, und es erklang in ruhigerem Tone aus seinem Munde:

»Ich danke dir; ich danke dir wie sehr, daß du mit nahst, du lichtes Himmelsbild. O komme doch, o komme zu mir her, und schau mich an wie früher, warm und mild. Bring mir den Segen, den der Himmel giebt, und sage doch, daß mir verziehen ist. Lehr´ so mich lieben, wie der Herr uns liebt – – – –«

Er hielt inne. Indem er tief, tief Atem holte, breitete sich ein schönes, glückliches Lächeln über sein Antlitz, und mit froh erhobener Stimme fügte er hinzu:

»Dann bin ich, was ich niemals war – – ein Christ!«

Hierauf schloß er die Augen, faltete die Hände auf der Brust und sprach nicht wieder. Er schien zu schlafen.

Es ist unmöglich, zu beschreiben, wie tief wir ergriffen worden waren. Wir saßen noch minutenlang ganz still und unbeweglich, bis Tsi leise zu Mary sagte:

»Bitte, Mylady, geben Sie mir einmal das Blatt, auf welchem das Gedicht steht! Ich kenne die neuen vier Zeilen noch nicht.«

Sie erfüllte seinen Wunsch. Er trat mit dem Zettel an die unverhüllte Seite der Lampe, um zu lesen; dann winkte er uns, ihm hinaus auf den Balkon zu folgen. Dort setzten wir uns für diese Augenblicke nieder. Er gab Mary das Blatt zurück und sprach, natürlich so, daß es im Zimmer nicht gehört werden konnte:

»Es wird tausend, tausend Aerzte geben, welche so etwas noch nie erlebt haben. Und wenn sie es erlebten, so würden sie gewiß in großer Verlegenheit darüber sein, an welcher Stelle in ihrem Register psychischer Vorgänge diese Scene einzureihen sei. Ja, sie würden nicht einmal wissen, ob man es hier mit einem krankhaften Zustande zu thun hat oder nicht.«

»Ist er es?« fragte Mary schnell und besorgt.

»Nein!« antwortete der Chinese sehr bestimmt. »Ihre europäischen Aerzte würden Ihnen gewiß fast alle mit verschiedenen Fremdwörtern aufwarten, welche meist mit der Vorsilbe »Psych« beginnen und etwas nicht Wünschenswertes


[Sp. 223]

bedeuten. Ich aber habe eine ganz andere Ansicht, welche in dem begründet ist, was Sie so fälschlicherweise unsern »Ahnenkultus« nennen. Es handelt sich hier nicht um einen krankhaften, sondern um einen sehr gesunden, sogar außerordentlich gesunden Zustand, um welchen Ihr Vater eigentlich zu beneiden ist. Ich bin ganz glücklich darüber, zumal das, was wir ihn sagen hörten, in einer so befriedigenden Weise ausgeklungen ist. Ich bin überzeugt, daß dieser Vorgang sich wiederholen und einen starken, glücklichen, geistigen Einfluß auf die körperliche Genesung des Patienten ausüben wird. Ihre heimischen Aerzte würden diese Wiederholung mit allen Mitteln zu vermeiden suchen; ich aber heiße sie willkommen und bitte Sie sogar, Mylady, mich in dieser meiner gewiß ganz und gar »uneuropäischen« Behandlung des Kranken zu unterstützen.«

»Wie gern will ich das! Sagen Sie nur, was ich thun soll!«

»Es ist etwas in mir, was mir geradezu befiehlt, der bisherigen Wirkung dieser geheimnisvollen Verse eine Fortsetzung zu geben. Ihr Vater kennt die zweiten vier Zeilen noch nicht?«

»Nein.«

»So muß er sie auf alle Fälle und so schnell wie möglich kennen lernen, ganz ungeachtet seiner großen Schwäche. Lesen Sie ihm die neuen Zeilen vor, bis er sie auswendig kann!«

»Doch nur, wenn er bei voller Besinnung ist?«

»Nein, nicht nur dann! Auch wenn er in dem sogenannten traumhaften Zustande, welcher aber etwas ganz anderes ist, die ihm bekannten ersten vier Zeilen repetiert, lesen Sie ihm als Anschluß hieran die zweiten vor, langsam, deutlich, mit gutem Ausdrucke und einer kleinen Pause nach jeder Zeile. Ich weiß schon im voraus, welche Wirkung das auf ihn machen wird.«

»Eine gute?«

»Eine sehr, sehr gute; ich gebe Ihnen mein Wort! Ich


[Sp. 224]

spreche nicht etwa als Psychiater, sondern als ein ganz, ganz anderer, von dem Sie keine Ahnung haben. Ich behandle den Körper Ihres Vaters mit dem geradezu wunderbar wirkenden Ko-su und seine Seele mit diesem Gedichte, von dem Sie zwar behaupten, daß es Ihnen nur der Wind zugeweht habe, welchem ich aber ein solches Vertrauen schenke, daß ich um meines Patienten willen viel, sehr viel darum geben würde, nicht nur die erste Strophe, sondern auch die folgende zu besitzen. Denn daß es nicht nur aus dieser einen besteht, das ist aus Gründen der Poetik als sicher anzunehmen. Der Dichter hat eine Anschauung ausgesprochen, welche der bisherigen Ihres Vaters vollständig entgegengesetzt ist, aber in den Tiefen desjenigen Christentums, welches Jesus lehrte und lebte, ihre Wurzeln schlägt. Der Kranke steht vor einer Sinnesänderung, die ihn vom Irrtum zur Wahrheit führen will. Diese acht Zeilen sind die Hälfte der Leiter, auf welcher er zur letzteren emporsteigen soll, und es thut mir so leid, daß wir die andere, obere Hälfte nicht zur Verfügung haben.«

Da schlug Mary die Hände zusammen und sprach in kindlichem Wunsche:

»Wenn doch wieder so ein gütiger Hauch wie der in Kairo oder so ein Brief aus Colombo käme, um das Fehlende zu bringen!«

»Das wird wohl ausgeschlossen sein! Ich bin auch ohnedies überzeugt, daß wir alles erreichen werden, was zu erreichen möglich ist. Vertrauen Sie dem Himmel! Man wirft uns Chinesen vor, daß wir keinen Himmel haben. Nun, unser »Thian«*) ist größer, viel größer als der Ihrige; das können Sie mir glauben. Gott hat ihn nicht bloß für uns allein, sondern für die ganze Menschheit und für alle, alle, die ihn haben wollen, jenseits dieses Lebens aufgebaut! – – –«


*) Himmel.


----------


Kapitel 4


Inhalt


Einführung zu "Et in terra pax / Und Friede auf Erden!"


Verfügbare May-Texte


Titelseite

Impressum Datenschutz