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WOLF-DIETER BACH

Fluchtlandschaften

»Eine Landschaft soll man fühlen wie einen Körper.«
Novalis

Die engste Heimat, Ernstthal und Hohenstein, bestätigte durch den Wortsinn des Doppelorts dem blinden Kind das imaginäre Bild seiner Welt. Aus Ardistan, dem Jammertal, will es entfliehen ins Nächste, das hinter der Nacht vor Augen doch so planetenfern ist: Dschinnistan, das hochgelegene Land. In Ardistans Ernst und Enge bedrückt proletarische Realität; auf Dschinnistan konzentrieren sich die Hoffnungen, der Wunsch nach erhebendem Leben und erfüllter Lust mit freiem Blick aus hoher Geborgenheit. Stark wirkten in dieser entzweiten Welt die schleichenden Zwänge von Triebunterdrückung und Triebsublimierung. Die letzte Stufe in der Entwicklung frühkindlicher Sexualität, die ödipale Phase, hat May noch als Blinder erlebt - falls seine Blindheit mehr war als nur Metapher für einen psychischen black-out. Doch Schmecken, Tasten, Riechen und Lauschen, die erotischen Primärsinne, sind bei ihm virulenter geblieben als bei Menschen, in deren früher Prägung das Optische dominiert; diese scheiden schärfer, sind kritischer haben mehr Augenmaß. Fluktuierend und fatamorganenhaft wie die verwischten Hintergründe früher Filme erscheinen daher Mays Landschaftsbilder, als zöge sie jemand aus Erinnerungsalben fertig an den Augen vorbei. Sein unstet schweifender Blick verweilt nicht auf den Details, an denen gebändigte Phantasie erst zu körnigem Realismus kristallisiert; alle Beschreibungen bleiben schwebend und flüchtig. Flüchtigkeit in dschinnistanische Höhenluft erhaben wabernder Fantasia wo die Schmalbrüstigen aus dem Elend leichter atmen - Flüchtigkeit vor ardistanischer Beschwerung mit einer trostlosen Realität.

Der Zwang zur Sublimierung frühkindlicher Libido und die Fluchtbereitschaft aus der Erbärmlichkeit Ardistan-Ernstthals mußten sich in Wechselwirkung verstärken. Gleichgültig, ob Karl May gewußt hat,


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daß die Dschinn einst die Nymphen und Satyrn der Wüste waren, daß die arabische Literatur voll Geschichten ist, die Liebeshändel zwischen Dschinn und Menschen schildern (1). Seine spezifische Sublimierung bleibt deutlich genug in der Eros-Sphäre: Menschenliebe - doch solche Sublimierung ist überformt von Momenten gesellschaftlichen Seins. Denn zur Menschenliebe führt May auch die Flucht aus der sozialen Realität, die aller Menschenliebe Hohn ist. Nie hat er die Möglichkeit eines freien, friedlichen, glücklichen Lebens schnöd vergessen; er hat andererseits auch nicht versucht, die Gründe zu erkennen, die dieser Möglichkeit die Realisierung verwehren. Seine Menschenliebe blieb von kindlicher Erotik rosig gefärbt, hautwarm und naiv.

Eng verschränkt ist so das Empfinden sozialen Unrechts mit der Ahnung einer anderen Beraubung. Nicht nur als Opfer einer schlechten Gesellschaft stellt das Werk den Autor dar, sondern - in Kassibern, die an die Nachwelt sich richten - als Opfer von Versagungen frühkindlicher Liebeswünsche. Letztlich aber ist auch die Familie Gesellschaft. Daß Psychoanalyse eine notwendige Ergänzung aller Theorien und Praktiken ist, die auf Veränderung der Gesellschaft zielen, hat die Neue Linke erkannt. Der Zusammenhang von Frustration in der Liebe und von Frustration im gesellschaftlichen Existieren wurde freilich auch schon in früheren Zeiten vage erspürt. Im »Babylonischen Hiob«, der wie der biblische Stoff auf sumerische Quellen zurückgeht, artikuliert sich die schwermütige Frage, warum denn den Guten Sohmerz heimsuche. Und hintereinander folgen die wunschenthüllenden Stellen des zwischen Entschluß und Resiguation schwankenden Dialogs mit dem unterschiedslos allem zustimmenden Diener: »Ich will eine Revolte machen« und kurz darauf: »Ich werde eine Frau lieben« - beide Aussagen im Textgefüge durch analoge Positionen als vergleichbar ausgezeichnet (2). Der große Orientalist Alfred Jeremias, der sein Hauptwerk dem Andenken seiner Mutter widmete, brachte darin den Morgenstern, die Waffe vieler Freiheitskriege, in Zusammenhang mit Venus, dem anderen Morgenstern, denn: »Ischtar-Venus ist die Bringerin der neuen Zeit.« (3) Die Madonna aber erschien der Volksbefreierin Jeanne d'Arc ebenso wie dem Pauker von Niklashausen, der 1476 im Taubergrund zum Aufstand rief (4). Noch in der Neuzeit geschah die Verkündigung von Mariendogmen in solchen Jahrzehnten, die große politische Um-


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wälzungen gesehen hatten; selbst jene, die von Revolution nichts wissen wollen, setzen die mater materiae neben den Thron des männlich gestrengen Geist-Gotts (5). Wie andrerseits alte Symbole der Großen Mutter Embleme einer Revolution wurden, die sich dialektisch auf die Materie als Grund aller Erscheinungen beruft: der Stern, die Sichel, die Ähre und selbst der Hammer des vulkanischen Werk-Gotts, der Gatte der Liebesgöttin war.

Solche Hintergründe sich zu vergegenwärtigen ist wichtig für das Verständnis der Werke Mays, des Mannes aus dem Proletariat, in denen Sexus und Menschenliebe, individuelles und soziales Schicksal nicht zu trennen sind. Kaum weit genug ausholen kann ein Versuch der Erklärung angesichts dieser Fabeln, die alles mögliche sein dürften und doch das eine immer mit Gewißheit sind: Mythen aus der Grundschicht der Psyche. Literarische Wertung muß beiseite bleiben: Zwischen Goethes Faust und Mays Volksbüchern gibt es nichts in der deutschen Literatur, was sich in ähnlicher Fülle und Deutlichkeit mit Archetypen beladen ins Herz des Lesers wälzt. Goethe mochte sich für den letzten Homeriden halten; Karl May i s t der letzte Homeride gewesen. Im Untergrund der Kolportage, im Maquis eines imaginären Wilden Westens kämpfte der unbändige Mythos weiter, als er aus der Kultur der herrschenden Klasse bereits eliminiert war oder in ihr feinsinnig aufgeputzt ein parasitäres Dasein fristete. Der in die Subkultur geflohene Homer ist Karl May.

Landschaften der Flucht und der Zuflucht sind die Schauplätze seiner Handlungen: Fluchtlandschaften als Gegenwelten zur gesellschaftlichen Realität, in der zu leben er verdammt war, und gleichzeitig Zufluchtlandschaften als Imagines leiblicher Geborgenheit durch die Mutter. Sie sind beides in vielfach verschränkter Weise.

Imaginativer Kondensationskern dieser Fluchtlandschaften, das Sandkorn, um das in irisierenden Perlmutterschichten seine Phantasie sich legt, ist das Leseerlebnis eines Kolportageromans aus der Ablegerschaft des »Rinaldo Rinaldini«: »Die Räuberhöhle an der Sierra Morena oder Der Engel der Bedrängten«. Karl May in a nutshell. In »Mein Leben und Streben« - Ernst Bloch hat die Stelle vor ein Kapitel in »Das Prinzip Hoffnung« gesetzt (6) - beschreibt May, wie er nächtens heimlich aufbrach aus der Ernstthaler Kümmernis, um in Spanien Hilfe bei den edlen


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Räubern zu holen. Ihr sollt euch nicht die Hände blutig arbeiten, steht auf dem hinterlassenen Zettel.

Doch Spaniens Himmel breitet seine Sterne bald weiter aus als nur über die iberische Halbinsel. S e i n Spanien findet May später in ferneren Räumen wieder, die Spanien gleichen. Sie lassen sich geomorphologisch beschreiben als »Trockenräume«, als »aride Gebiete«. Charakteristische Formen sind baumlose Hochplateaus, umgeben von Randketten, sind Beckenlandschaften, verkarstete Flächen - wie im amerikanischen Westen, im Orient, auf dem Balkan. Anstehendes kahles Gestein herrscht da vor, der nackte Mutterboden; doch dazwischen liegen eingesprengt Oasen, kleinere Waldpartien, bergende Schluchten und Felskessel. Viel Licht und freien Ausblick bietet solche Landschaft, und doch ist sie reich an Verstecken, an Orten heimlicher Geborgenheit. Weder die Tropendschungel der Regenwaldzonen, noch die geschlossenen Urwälder Kanadas und Sibiriens haben in ihrer endlosen, dämmerigen Undurchdringlichkeit dem Lichthungrigen zu landschaftlichen Prototypen werden können. Vor allem aber: In diesen Wäldern ist Wasser allzu häufig. May aber bevorzugt Landschaften des Durstes und der aufzufindenden Wässer, Weltgegenden, deren geomorphologischer Charakter Wasser zur Seltenheit, ja zur Kostbarkeit macht. Wasser erhält so Signalwert, ebenso jene Stätten in offener Landschaft, die Zuflucht ermöglichen. Dies ist der Grund, warum der offene Ozean, der doch die Bedingung der freien Sicht und freien Bewegung erfüllt, sowenig wie die Urwälder aller Erdteile und Zonen, für May ein exemplarischer Schauplatz sein konnte, wiewohl er doch nicht weniger gut fürs Abenteuer sich eignet als die geschilderten Trockengebiete.

Kein typisches Environment für Karl May sind auch die großen Städte der damals schon mächtig entfalteten Industriewelt, die so vielen Publikumsschreibern in der Nachfolge von Sue als Kulissen abenteuerlicher Verwicklungen dienten. Mays Abenteuer gehen von Städten aus, führen über Städte, enden wohl einmal dort. Aber diese Städte sind nicht viel mehr als Stützpunkte, wie die Prärieforts, wo man sich Proviant oder Ausrüstung kauft, wo der Knoten der Handlung sich schürzt, kommende Dinge sich vorbereiten - meist mit Schurken im Spiel, die h i e r noch mächtig sind. Selten dienen Städte zu mehr als


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zu einer Exposition der Handlung, sie sind nur Stationen im Streckennetz der abenteuerlichen Verflechtungen. Und Schauplatz werden sie so recht nur im Orient, fernab Europens bürgerlicher Zivilisation und ihrer nordamerikanischen Außenposten. Voll entfalten aber kann das Abenteuer Mays sich erst außerhalb urbaner Eingrenzung. Darin steckt Unbehagen an der Kultur; May ist ein literarischer outdoorman.

Doch welcher Durst steckt hinter den Kulissen arider Landschaft? Und welche heimliche Bedingung hält bestimmte Trockenzonen der Erde - etwa Australien - aus dem Repertoire der Szenerien heraus?

Mays Fluchtlandschaften bestehen aus mehreren Schichten; sie sollen weit weg führen und andererseits auch heim. So schildert er in ihnen auch immer das Erzgebirge mit, schildert ein Elbsandstein-Colorado und in den Talkesselfluchten der Rocky Mountains den Plauenschen Grund. Über die Heimatschicht breitet er aus Lexika abgeschriebene exotische Landschaftsszenerie. Doch noch unter dem erzgebirgischen Horizont, in archetypischer Tiefe, ist längst vor alledem, wie Swinegel vor dem Hasen, die infantil erlebte Leiblandschaft der Mutter an Ort und Stelle des Panoramas. In dieser Schicht sind Mays Trockenlandschaften und wasserberieselte Labetäler endgültig zuhause.

Exotik und Erotik - das klingt fast gleich und zielt aufs Selbe, nicht nur bei May. Der ganze Exotismus im 19. Jahrhundert verrät diese Verbindung, in Literatur, Malerei, Musik, in den Intereurs der Salons. Und nicht selten mischt ein Element von Rebellentum sich dazwischen, wenn nicht gar von Revolution. Bei Freiligrath wird in Deutschland das Doppelgesicht von Flucht in exotische Ferne und Protest gegen die Zustände der Gesellschaft ringsumher am deutlichsten: »Meine erste Phase, die Wüsten- und Löwenpoesie, war im Grunde auch nur revolutionär; es war die allerentschiedenste Opposition gegen die zahme Dichtung, wie gegen die zahme Sozietät«, schrieb er an den Verlag Brockhaus (7).

Kaum ein deutscher Dichter ist May so verwandt wie der Lehrerssohn aus Detmold, der Anwalt des Proletariats, - nicht zuletzt auch in der heimlichen Wahlverwandtschaft zur Kolportage, in der ein Nerv in ihm etwas von der wahren Verfassung der bürgerlichen Welt witterte. Der Vater Carl Hagenbecks, des Begründers der Freiland-Zoos, hat Freiligraths Gedicht vom Löwenritt in gruselig-groteske Schaubuden-


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exotik übersetzt: ausgestopft Schimmel wie Löwe, die Blutspur mit Siegellack aufgeträufelt - ein Denkmal der ganzen Epoche (8). Aus der Welt der Panoramen und Panoptiken sog auch May. Die Atmosphäre von orientalisierendem Jahrmarkt - »Budenorient« hat Ernst Bloch sie genannt - , von Völkerschau und Buffalo Bill's circensischem Wildwest hat unverkennbar auch seine Phantasie mit flitterrealistischen Details angereichert. Die Entsprechungen zwischen ihm und Freiligrath sind bis in einzelne Bilder zu verfolgen, mit denen hier in Prosa, dort in Versen, die Imagination um die exotischen Sujets wuchert. Das furiose Finale der Ölbrand-Erzählung Mays, dessen eine Fassung an die Waberlohe um Brünhild erinnert (9), hat seine Entsprechung in Freiligraths schulbubenhaft genialischem Erstlingsgedicht »Moosthee«, das den Ausbruch des Hekla auf Island schildert. Beidemale ist das eruptive Feuer ein imaginäres Jubelfest gestauter Libido, das am Muttersymbol des Berges sich entzündet - bei Freiligrath mehr phallisch überprägt, eine Vorform bereits des späteren aggressiven Protestes gegen die Gesellschaft: wie Raketen sollen die wilden Lieder als vulkanische Bomben in fremden Herzen zischend niederfallen. Überall durchflackern, wie Hartmut Kühne gezeigt hat (10), Feuer und Brände auch die Texte Mays. In den psychologischen Theorien Leopold Szondis lassen sich Hinweise finden auf den charakterologischen und familiengeschichtlichen Zusammenhang zwischen prophetisch-priesterlichen Menschen, Revolutionären, aufs Feuer bezogenen Berufen und Pyromanen, den ausberstenden Feuerköpfen. Vor allem die Sprachen - nicht nur jene des indogermanischen Kreises - reflektieren solche Verbindungen. Wo Brunst sich verinnerlicht, sublimiert, entsteht Inbrunst. Unter extremen Verdrängungsdruck sucht gestaute Libido ein Ventil in herostratischer Tat: die Feuersbrunst, die den Tempel der vielbrüstigen Muttergöttin zu Ephesos in Asche legte, ist hierfür historisches Exempel. Nicht nur im Dialekt Oberbayerns bezeichnet das Wort »Brand« unstillbaren Durst. Die Trockenlandschaften Mays werden deutlicher diagnostizierbar: als Widerspiegelungen ungestillten frühkindlichen Durstes, einer unbefriedigten Säuglingslibido, die auf die Brüste der Mutter als Quellen der Lust sich richtet.

Flamboyante Metaphern bezeichnen in vielen Sprachen Liebe (bei Frustration deren Gegenteil: Haß). Etwa: »Feurige Mädchen befeuern


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männliche Liebesglut« - wer hört im Bündel der Klischees nicht die Kastagnetten klappern? Auch solche Assoziationen haben wohl Mays Pan-Hispanien mit aufgebaut; im kleinbürgerlichen Bewußtsein des 19. Jahrhunderts galt Spanien als das Land glühender erotischer Temperamentsausbrüche. Dazu aber ist es das Land der anarchischen Freiheit und einer Gerechtigkeit, die sich der Einzelne auf eigene Faust oder mit verschworenen Genossen erstreitet - eine Gegenwelt zur »zahmen Sozietät« mit ihrer moralischen und legalen Einengung.

Dieses Traum-Spanien weitet sich in den Werken Mays wie das Reich Karls V.: Zwischen Kalifornien und Kurdistan geht die Sonne nicht unter. Die germanischen Wälder, das nordische Niflheim grauen Alltags werden zurückgelassen, doch vertraute Elemente der Heimat tauchen auf unter dem Fremdlicht, grell verwandelt. Schon in das Bild der Sierra Morena dürften Assoziationen hineingewirkt haben, die keiner realen Geographie entstammen. Das spanische Wort »morena« heißt auch »schwarzbraunes Mädel«, und des Gebirges lateinischer Name, »montes mariani«, läßt auf die Madonna sich beziehen. Als Hintergrundsbild kehrt das Erzgebirge fatamorganisch wieder, unkenntlich und doch wiederum kenntlich in einer Art Umkehrung. Denn als »auf seinen Höhen dürres, in den Thälern morastiges« Gebirge schildert der Brockhaus von 1830 die Sierra. Im Erzgebirge aber sind die Täler trocken, die Höhen von Hochmooren bedeckt. Doch Silberbergbau ist hier wie dort in der Gegend präsent, ebenso wird Quecksilber in beiden Gebieten bergmännisch genutzt. Der Hauptort der Sierra heißt Carolina, nach Karl III., unter dem Olavides um 1770 die menschenleere Region mit deutschen Kolonisten besiedelte (11). Unter Karlisten spielt der »Gitano« Mays. Ein Karlsfeld in jenem höchsten Teil des Erzgebirges, dem der Ruf eines »sächsischen Sibiriens« (12) anhing, mochte dem geographisch phantasierenden Knaben schon früh eine heimliche Hauptstadt namensvetterlich vorgegaukelt haben.

So dient die Flucht in die Ferne doch nur der Erreichung der Heimat. Das Nächste bleibt zurück im doppelten Sinn dieses Wortes: es liegt hinter dem Autor, in der Vergangenheit seiner Kinderjahre, und doch schleppt er es mit sich herum als unauflöslichen Rest, als einen Rückstand, den auch die exotischste Sonne nicht aufschmilzt. Insofern bleibt Karl May immer Heimatdichter, ist er es nicht nur in jenen Romanen,


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die im deutschen Mittelgebirge spielen. Seine Expandierung der deutschen Heimat wirft andererseits ein Licht auf psychische Komponenten, aus denen dem deutschen Imperialismus, dessen Epoche Mays Werk angehört, durchs deutsche Kleinbürgertum so viel gefühlsduselige Unterstützung zuteil wurde. Sich nicht lösen können aus der Gebanntheit unter die Autorität von Vater und Vaterland, deshalb die familiären oder national-provinziellen Maßstäbe auch draußen in der Welt zur Norm erheben zu wollen - das ist letztlich der Kern der albernen Forderung, am deutschen Wesen habe die Welt zu genesen. Bei May klingt dies noch ohne imperialistische Schärfe an, ist wegen des vorwiegenden Bezugs zur Mutter durchwirkt von einem weiblich weichen Humanitätsideal, das gegen klirrenden Nationalismus fast immun macht. Immerhin sind seine Helden auffällig häufig Deutsche, spielen deutsche Siedler keine geringe Rolle - allerdings nicht als Kolonialherren, sondern als Auswanderer aus heimischer Not oder gar als politische Flüchtlinge der gescheiterten Revolution von 1848. Bei aller Vertracktheit einer unbewußten psychischen Dialektik, die im Fernsten das Vertraute wiederzufinden sucht, im Abenteuer Vaterschutz und Mutterliebe, weshalb sie der Welt die eigene Heimat überzustülpen sucht, erweist sich die pangermanische Tendenz in Mays Werken im Ganzen gesehen als frei von hurrapatriotischem Getöne. Sichtbar wird hier, daß die psychologischen Projektionen des Individuums geformt werden durch das Bewußtsein der sozialen Klasse, der ein Mensch angehört. Der aus dem Weberproletariat stammende May hat die soziale Wirklichkeit Deutschlands nicht anders als negativ erfahren können - weshalb ihm eine globale Germanisierung allein über Emigranten möglich schien. Dadurch aber fängt er Realität ein: jene Deutschen, die seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Welt am deutschen Wesen wenn auch nicht genesen, so doch in positiver Weise partizipieren ließen, sind zumeist Emigranten gewesen. Alle Kritik, die an May als einem harmlos verkappten Propagandisten imperialistischer und nationalistischer Ideen Anstoß genommen hat, stieß sich wegen mangelnder Sehschärfe. Bismarcks Sachsenwald wirft seine Schatten zwar auch in Mays Sachsenwelt hinein, doch nur über deren Ränder, hie und da.

Emigration ist eine der Formen, in denen Mays Leitmotiv - die Flucht - in der Handlung konkret wird. Nicht nur, daß die Vereinigten


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Staaten des 19. Jahrhunderts Fluchtland aus sozialem und politischem Elend waren: der Wilde Westen war dies noch pointierter, als das Refugium für jene Bürger der USA, die den Zwängen einer schnell sich entwickelnden monopolkapitalistischen Industriegesellschaft zu entkommen hofften - freilich auf Kosten der Indianer, dieser nur noch in ihren Tod fliehenden Rasse. Auch die Nomadenwelt des Orients ist fluchtbestimmt, in mehr als einer Hinsicht. Da ist die Flucht aller vor allen im wechselvollen Kleinkrieg der Stämme; da ist die Flucht vor der Dürre und vor der Härte des Klimas, die immerfort zu Ortsveränderungen zwingt - zur Zuflucht an Wasserstellen oder auf kühleren Hochflächen und Bergen. Nicht zuletzt aber ist es die Zeit des islamischen Orients, die mit einem Fluchtereignis beginnt: mit der Hedschra, Mohammeds Auswanderung von Mekka nach Medina. Genau bedeutet das Wort das Verlassen des eigenen Stammes, also Emigratio; meist wird es mit »Flucht« übersetzt. So enthalten die Wahlhintergründe Mays bereits, was in den Handlungen mit Vorliebe ausgesponnen wird. Wenn aber einmal eine Landschaft auftaucht, die an die idealen Flucht-Räume Wildwest und Orient zunächst schwer anzuschließen scheint - etwa Sibirien - , so ist in ihr das Handlungsmotiv Flucht besonders augenfällig herausgestellt. Der milde Beziehungswahn, der in der ständigen Ausweitung und Multiplikation des Fluchtmotivs zum Ausdruck kommt, dieses monomanische Angesaugtsein durch alles, was irgendwie mit Flucht sich in Verbindung setzen läßt, ist nur durch frühkindliche prägende Erfahrung zu erklären. Nicht nur die Phantasiefiguren, auch das eigene Leben wurde von früh an in stets neue Fluchtkonstellationen gezwungen. May wurde kriminell, weil er den Anlaß zur Flucht brauchte, weil ihm Leben nicht anders möglich schien, denn als Leben der Flucht. Die Absicht, zur Räuberhöhle in der Sierra Morena zu fliehen, hat schon der Knabe May gefaßt - die Flucht ins Räuberleben auf sächsischem Heimatboden ist sekundäre Variante. Weniger läßt sich Mays Werk aus Waldheim erklären als umgekehrt: in Mays Werk sind die Hinweise verborgen, die zeigen, warum er jene Zuchthausjahre verbringen mußte.

Sein Fliehen wuchert phantastisch hinaus in die Welt. Wie bei der Ausweitung erzgebirgischer Szenerie ins Spanische die ursprünglich vertraute Lokalität eine räumliche Inflation erfährt, wobei die Heimat auf


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die Höhen einer fremden Sierra hochgestapelt wird, deren Lokaltradition solch donquijoteskem Unterfangen exakt entspricht, so nimmt auch die Ausdehnung in Orient und Wildwest spanische Reminiszenzen mit. Ähnlich kann in der Musik ein mehrmals variiertes Thema bei erneutem Auftauchen im Fortgang der musikalischen Entfaltung Momente der früheren Variation in die nächste Variation hinüberführen. Mays Imagination ist durchaus fluktuierend, eine musikalische Komponente wirkt deutlich in seiner Phantasie. So spinnt sich das Fluchtmotiv immer weiter aus, greift in stets fernere Räume über - doch trotz aller Fluchtbereitschaft gelingt nicht die Lösung von der Vergangenheit, weil diese andererseits ja wiederum Fluchtziel ist. Denn die Unerträglichkeit der sozialen Bedingungen führt zur Regression in die Kindheit, aus der er durch Aufnahme reifer sozialer Beziehungen, welche die dualistische Autarkie der Mutter-Kind-Beziehung sprengt, sich eigentlich befreien müßte. Dadurch wird nicht nur der frühkindliche Konflikt zwischen Libidowünschen und ihrer Versagung oder Tabuierung dauernd wach gehalten, sondern zusätzlich ein zweiter Konflikt erst geschaffen: der Konflikt zwischen dem Drang, aus der Mutterbindung auszubrechen und reif zu werden, und dem im Erschrecken vor der Gesellschaft sich einstellenden Angstwunsch, in den Schutz der Mutter wieder zurückzukehren. Diese Unvereinbarkeit starker psychischer Impulse schafft die Situation des Neurotikers par excellence.

Mays Fluchten sind also verzweifelte Springprozessionen einer auf Gnade hoffenden Seele, drei vor, zwei zurück. Dieser Antagonismus in den Richtungstendenzen der Psyche mußte zu einer Zerspaltung der Persönlichkeit führen, die seine Vita deutlich belegt, die sein Werk mit allen Facetten spiegelt. Wie seine Gestalten meist als Doppelfiguren erscheinen, so eignet auch seinen Fluchtlandschaften Doppeldeutigkeit. Ein Rest-Spanien ist in allen enthalten. Hadschi Halef, der donquijoteske Sancho-Pansa-Typ, der die von der Idealperson abgesprengte trivialrealistische Seite des Kara ben Nemsi verkörpert, hat seine Wurzeln im Maghrib al-Aksa - wörtlich: Far West - der arabischen Welt, dem einst auch das islamische Spanien zugeordnet war. Der Far West Nordamerikas westlich des Mississippi wiederum stand bis 1763 unter spanischer Herrschaft. Die erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die USA den Mexikanern abgezwungenen Staaten des


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Südwestens sind bevorzugte Schauplätze der Mayschen Fahrten, wie ja auch die hispanischen Trockenhochländer Mexikos und Südamerikas.

Doch noch feinere Silberketten verbinden in Mays Imagination Orient und Wildwest. Nicht nur das Fliehen an sich, sondern auch die magnetnadelhafte Zielgerichtetheit von Zufluchtfahrten, denen der Ort ihrer Bestimmung in der Ferne des Raumes präfixiert ist, kann als typisch für die Menschenwelt beider Großräume gelten, ist hier wie dort durch Normen des sozialen Verhaltens, durch allgemein gültige Institutionen und gängige Vorstellungen alltägliche Wirklichkeit. Im Orient holt die Pilgerfahrt nach Mekka das im spanischen Raum einst als Ersatz für Jerusalem zum Hauptwallfahrtsort der Christenheit erhobene Santiago de Compostela unverändert-verändert ins Landschaftsbild ein. Die Wallfahrt der Muslims gilt dem verhüllten Felsen der Kaaba, dem in die Mauer des Kubus eingelassenen legendären Meteoriten, einem Gestirn auf Erden. Sitara, dieser iranische Name der Mayschen Utopia, bedeutet eigentlich »Erzstern«, etymologisch verwandt mit dem griechischen Wort »sideros« (Eisen) und dem lateinischen »sidera« (Gestirne) (13). Die Kaaba wäre so für May letztlich ein verhülltes Erzgebirge en miniature, und sie verhüllte wiederum das psychische Erz-Gebirge des Autors, sein Arche-Gebirge: die Mutter. Das Sternmotiv dürfte aber auch im spanischen Zielort der Pilgerfahrt aufblitzen. Nicht weniger falsch als andere Wortequilibristik Mays wäre eine Etymologie, die aus Compostela ein Campostella machte, ein Sternfeld - oder gar eine Sternau, den Familiennamen einer Prä-Shatterhand-Figur. Erinnert sei daran, daß die Santiago-Pilger des Mittelalters die Jakobsmuschel zum Zeichen ihrer Peregrinatio wählten - ein gesichertes Symbol des Ewig-Weiblichen (14), dessen Funktion als Wassergefäß der Durstigen den Komplex um eine weitere Maysche Note bereichert. Mit unbeirrbarer Archetypenwitterung hat May den tieferen mythischen Inhalt der mohammedanischen Pilgerfahrt und des Kults um den zu küssenden schwarzen Stein erfaßt, den Maqrizi als menschenköpfig beschrieb (15). Dieser geheiligte Stein in der »Mutter der Orte«, Mekka, wo bis ins Mittelalter Goldstaub, deadly dust, geprägte Währung ersetzte (16), ist durch zahlreiche Parallelen im semitischen Raum - und nicht nur dort - als Kultmal der Magna Mater zu erkennen (17). So berichtet Arnobius in »Adversus Nationes« vom Felsen Agdos, der zur großen Mutter wurde (18). Analoge Gleichsetzungen


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von Felsberg und Muttergestalt kennt der Hindumythos (19), aber auch die deutsche Tannhäusersage (20). Apart fügt sich in diesen Zusammenhang, daß eine lamaistische Variante der indischen Allmuttergöttin Devi just - Sitatara heißt, zu deutsch: weiße Erlöserin (21). Da May einen Maha-Lama ins sonst vorderorientalisch verkleidete Reich Ardistan hineinwirken läßt, sind wohl auch tibetanische Assoziationen in Betracht zu ziehen.

Nach allen Lesarten des global verbreiteten Monomythos - also auch in jenen Varianten, die Karl May fabulierte - quillt aus oder im Mutterfelsen eine Aqua benedetta. Nicht von ungefähr hat der erzgebirgische Hakawati das gebenedeite Wasser zum Titel- und Schlüsselwort einer Novelle gewählt. Das erquickende Wasser des bei der Kaaba gelegenen Brunnens Zem-zem, dessen Genuß zur Pilgerpflicht gehört, schätzte besonders Hadschi Halef. Halef heißt »Nachfolger«, auch »Nachkomme«, gleichen Stammes und gleicher Bedeutung wie Khalif. Den Brunnen Zem-zem verbindet die arabische Tradition mit Hawwa, der arabischen Eva (22). Und ganz deutlich wird der archetypische Komplex Fels-Wasser-Mutter in Mekka nochmals durch das legendäre Hügelpaar al-Safa und al-Marwa topographisch verkörpert. Beide Namen bedeuten soviel wie »Stein« oder »Steine«. Siebenmal lief Hagar, die Stammutter der Araber, deren Grab in Mekka gezeigt wird, zwischen den beiden Hügeln hin und her, um eine Wasserquelle für ihren Sohn Ismael zu erspähen, nachdem Abraham sie in die Wüste verjagt hatte. Statuen aus Erz, devot zu betasten, zeichneten in vorislamischer Zeit die geheiligten Kuppen aus (23).

Die enge Verbindung der Hagar mit Brunnen ist aus der biblischen Tradition bekannt (24). Der Name eines der Brunnen aber - »Brunnen des Lebendigen, der mich ansieht« - läßt als Metapher für den mütterlichen Milchbrunnen sich entschlüsseln; im Weiteren natürlich auch als Quell der Liebe im anagogischen Sinne, fons amor dei. Paulus setzte im Gleichnis für Hagar den Feuerberg Sinai und ebenso Jerusalem (25), dessen Namen die jüdische Hagada-Tradition als die Zusammenziehung zweier Bergnamen zu einem Wort erklärt, das wiederum einen Berg, den Moria, bezeichnet (26). Jerusalems Felsendom - Wollschläger hat Mays »Hohes Haus« mit diesem Sakralbau in Verbindung gebracht (27) - ist über dem Felsaltar des salomonischen Tempels errichtet, unter dem Höhle


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und Brunnen liegen. Mohammed erschien hier vor nächtlicher Himmelfahrt auf der mädchengesichtigen Stute Burak, deren Name gleichen Stammes ist mit dem arabischen Wort »bark«, das »Blitz« bedeutet (28). Barkh heißt auch das Pferd Hadschi Halefs ...

Der Orient ist also durch seine paradiesisch-mütterlichen Fixpunkte als Entfaltungsraum des Mayschen Monomythos von seiner Realität her prädestiniert. Das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, die Heimat der Schammar, die Halefs Heimat wurde, gerät inmitten der beiden Ur-Paradiesströme zur paradiesischen Insel - übereinstimmend mit den ältesten Traditionen der Menschheit. Leicht läßt sich zeigen, daß der Wilde Westen Mays nichts anderes ist als ein Spiegelbild solchen Orients, keinesfalls, wie Arno Schmidt meint, die »andere«, die linke Hälfte im Abgesicht der Mayschen Psychowelt. Der Wilde Westen hat ebenso wie der wilde Osten seinen real vorgegebenen, den ganzen Raum wie ein Magnetfeld durchwirkenden Richtungstrend, der auf Paradiese zielt.

»Go west young man!«, die Losung der Epoche, enthielt für die Mehrzahl der bibelkundigen Binnenauswanderer der USA auch die Verheißung eines Gelobten Landes. An die Aufrichtung des Berges Zion in der westlichen Hemisphäre glaubten die »Saints of the Rocky Mountains«, die Mormonen (29), harrend der Erneuerung der Erde zu paradiesischer Herrlichkeit und polygam wie nur je Mohammedaner. Der biblische Orient protestantisch-schriftgläubiger Färbung wirkt allenthalben in den Wilden Westen hinein, aus dessen Ortsnamen sich unschwer eine Landkarte zur Bibel erstellen ließe. In solcherart vorbereitetem Terrain finden die Helden Mays ihre bergenden Talkessel oder umfriedeten Gehege, erquickenden Wasserquellen, Depots voll nährendem Vorrat - und nicht zuletzt die Nuckel-Nuggets, die zwar auch ihre analen Aspekte haben, doch nicht wie bei Arno Schmidt als Indizien für Homosexualität, sondern im Zusammenhang des kindlichen Vorstellungskomplexes von Nahrungsaufnahme und Nahrungsausscheidung. Denn im Leitwort »deadly dust« scheint der primäre orale Bezug deutlich hervor: tödlicher Staub suggeriert Trockenheit, auch wenn die Verbindung von dust und Durst durch Gleichklang unbewußt bleibt. Die grundsätzliche Ambivalenz des frühen oralen Erlebens zwischen der elementaren Frustration der Versagung und des Urglücks der Stil-


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lung ist nicht nur bei May durch das Bild vom gefährlichen Schatz, vom mühsam errungenen Goldfund dargestellt worden. Gerade im Wilden Westen, der etwas weniger dicht mit traditionsschweren Zeichen des Paradieses ausgestattet ist als der altparadiesische Orient, gehört das Gold zu den Geländemarken Neu-Edens - wie schon bei Kolumbus und den El-Dorado-Suchern unter den Konquistadoren (30).

»Das Umschließende gibt Heimat«, bemerkt Ernst Bloch im Hinblick auf architektonische Utopien (31). Die von Felsen umschlossenen Talgehege des Wilden Westens sind bei May Präarchitekturen, Robinsons Höhle vergleichbar, und sie haben ihre Realkorrespondenz in verwirklichten Archetypen der Baukunst, etwa in den umarmenden Kolonnaden vor der Mutterkirche der Christenheit, die auch den Felsen im Namen trägt, oder in den Arkadenhöfen der Moscheen, die den Brunnen umschließen. Sehr deutlich wird die Spiegelbildlichkeit von Nahem Osten und Fernem Westen bei May, sobald die Vergleiche in die Details gehen. Bei Mekka liegt der Berg Arafat, dessen Aufsuchung zur Pilgerpflicht aller Mekkawaller gehört. Auch er ist ein Mutterberg: Auf seinem Gipfel befand sich bis ins 18. Jahrhundert ein Kuppelheiligtum, das der Umm Salima, der »Heilen Mutter« geweiht war (32). In der dem Berg Arafat vorgelagerten gleichnamigen Ebene versammelten sich die Pilger - wie die Indianerstämme vor dem Mount Winnetou, der in »Winnetou IV« einmal verräterisch als D s c h e b e l Winnetou aufscheint (33), und mit dem Arafat den Stufenbau seiner Tektonik teilt. Burton aber - diesen Namen trägt May-Shatterhand als Pseudonym in »Winnetou IV« - hieß jener britische Forschungsreisende, der 1853 als Pilger verkleidet Mekka besuchte, den Arafat detailiert beschrieb, und der in späteren Jahren die Rocky Mountains überquerte, um die »City of the Saints«, die Wüstenhauptstadt der Mormonen, zu besuchen. Wie sein pseudonymischer Namensvetter ließ der echte Burton sich auf späteren Fahrten von seiner Frau begleiten (34). Der Name des Berges Arafat, der auch Dschebel al-Rahmat (»Berg der Barmherzigkeit«) heißt, wird nach islamischer Tradition abgeleitet vom arabischen Verbum ta'arafa, »wiedererkennenen«. Adam soll hier, nach seiner Vertreitung aus dem Paradies, Eva wiedererkannt haben (35). Voll Szenen des Wiedererkennens ist auch »Winnetou IV«. Es erscheinen die Frauenfiguren von einst - Anamnesis des frühen Mutterbilds.


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Almaden alto ist eine weitere Ortsmetapher, mit der May Fernen Westen, Nahen Osten - und Spanien dazu verbindet. Mehr noch: auch das Erzgebirge spielt deutlich herein, denn al-Maden, das arabische Wurzelwort, heißt »Erz« oder »Erzbergwerk«. Als Ortsname in hispanischen Landen hielt sich der arabische Terminus bis heute an vielen Stätten. Zum Gebirgssystem der Sierra Morena gehört eine Sierra de Almaden (36). Zu Almaden kann spanisch »alma« (Seele, geliebtes Herz) und »madre« (Mutter) assoziiert werden; das letzte Wort gleicht bis auf die Metathesis dem persischen »mader« (Mutter), wie oft in deutscher Schrift transkribiert wird. Ähnliche Etym-Spiele läßt die Transkription des arabischen Wortes »Mahdi« zu, das lautgetreuer mit »Machdi« wiederzugeben wäre, in der herrschenden Umschrift aber die verbreitete falsche Phonation mit Dehnungs-H geradezu provoziert. Ihr folgend hat Sascha Schneider auf den von ihm entworfenen Titeltildern das Wortspiel Mahdi/Made durch Malerei fast surrealistisch beim Wort genommen: Maden kreuchen als weiße Riesenwürmer, ragen phallisch empor, einmal herrisch eingewiesen von der barbusigen Großen Mutter mit Peitsche, die hier ihre negativen, dämonischen Züge zeigt, das andere Mal von ihr überragt, während sie die Kette der libidinösen Fesselung der armen Würmchen, das Zeichen der seelischen Sklaverei, demonstrativ hoch über dem eklen Gewürm schwingt (37), das durch's Tabu als solches erscheint - wie jene Schlange auch, der die Madonna den Kopf zertritt. Al-Mahdi heißt: »der Geführte« - geführt aber werden Kinder, weshalb auch das Land des Mahdi eine Fluchtlandschaft der frühkindlichen Erinnerung ist. Deutlich aber wird, daß die Imago der Mutter nicht nur Inbild der Zuflucht ist, daß sie auch als Fesselung erfahren werden kann. Quecksilber, diese Maysche Leitsubstanz, ist einerseits lebendiges, erquickendes Silber und Milch der Erzmutter (38) - andererseits aber auch Gift, Maden-Gift, Almaden-Gift der Alma Mater. Es ist so ambivalent wie die Gestalt der Judith Silberstein (alias Silberberg) und wie viele archetypischen Mutterbegegnungen Mays, wie archetypische Mutterbegegnungen allemal - Arno Schmidts Großmuttertheorie erklärt nichts, was nicht weniger apart die bekannten Theorien der Tiefenpsychologie über die Zwieschlächtigkeit der Mutterimago zwischen Fee und Hexe erklären (39). Aus dem Psycho-Bergwerk von Almaden alto, das eine Schürfgrube für reiche Funde aus Mays


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Unterbewußtem ist, läßt eine ganze Kette von Silbrigkeiten sich zutage fördern: Silberbauer, Silbersee, Silberlöwe, der Silberstrom des Rio de la Plata mit Lopez Jordan als rebellisch getöntem Eponymos des Grenzstroms am Gelobten Land - vor allem aber die Silberbüchse. In dieses Phalluszeichen vernagelter Sexualität sind die Quecksilbertropfen der Erz-Milch als bleibender Niederschlag empfangener Libidofreuden des Kleinkinds eingenietet, dort ist es selbst festgehämmert: Mutterbindung. »Phallada da du hangest«, so könnte Arno Schmidt wohl sagen, »wenn das deine Mutter wüßte ...« - doch der witzige Mann hat die falsche Theorie.

Die Fernwaffen der Mayschen Gestalten gehören, da raumbeherrschend, mit in den landschaftlichen Zusammenhang. Der Bärentöter ist ausdrücklich bezogen auf den s i l b e r h a a r i g e n Grizzly, und der Bär ist in vielen Mythen das Leibtier der Großen Mutter, ja identisch mit ihr. Die Zweiläufigkeit des archaisierten Schießzeugs symbolisiert Zweiläufigkeit der Libido: zurück zur Mutter und voran zur Frau. Der Henrystutzen dagegen ist als perfektere, modernere Waffe Zeichen einer ausgereifteren Sexualität. Vom alten Büchsenmacher Henry als Phallus-Vermächtnis übernommen, drückt er den Wunsch aus, dem Vater gleich zu werden; der hieß Heinrich. Der Bärentöter freilich trug weiter in der Landschaft - weiter zurück in der Zeit. Distanzen, horizontale wie vertikale, sind bei May als Chiffren zu lesen für die zeitliche Entfernung vom lustvollen Urerlebnis. Doch wenn auch der Henrystutzen auf eine reifere Stufe in der Entwicklung der Mayschen Sexualität verweist, so wird in seiner donjuanesken Vielschüssigkeit, die doch nur Überkompensierung einer primären s e e l i s c h e n Impotenz ist, die psychische Fixierung nochmals transparent.

Mays Landschaften sind immer Jagdgründe. Die Jagd gilt Bösewichten wie wilden Tieren; beide sind Aspekte des Unterbewußten. In den Bösewichten nehmen negative Emotionen Gestalt an, die durch Frustration infolge von Liebesentzug geweckt wurden. Die Tiere verkörpern die auf das Liebesobjekt gerichteten Wünsche oral-gastrischer Art, ja oft auch das Liebesobjekt selbst. Sofern sie libidinöse Wünsche des Kleinkinds darstellen, gehen die von Bösewichten und Wildtieren repräsentierten Inhalte des Unterbewußten fließend ineinander über, sind letztlich identisch. Bei den Bösewichten aber ist die negative Be-


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setzung dieser Wunschinhalte stärker, sie tun Verbotenes und weisen dadurch deutlich auf Tabuisierung hin. Auch hier lassen Parallelen aus dem Mythos sich nennen; so wenig wie May ein Jäger, waren die Kulturvölker der Antike Gesellschaften, die auf Jägerei basierten - und doch gibt es kaum einen griechischen Mythos, in dem nicht Jagd eine Rolle spielte. Die Überwindung von Unholden wie von Ungetier war gleichermaßen Aufgabe des Heros. In der Symbolik Altägyptens gelten die Jagdtiere sogar als »Rebellen«, die der Vater-Pharao besiegt (40) - also Bekämpfung libidinösen Auf-Begehrens, die ödipale Situation, in der Rivalität um die Liebe der Mutter sich in Vaterhaß äußert, während die Übermacht des Vaters und die zu ihm ja auch bestehende Liebe doch gleichzeitig die Verteufelung allzu heftiger Libidowünsche gegenüber der Mutter erzwingt. Sander, der Mörder des Winnetou-Vaters, der Wüstentrockenheit drohend im Namen trägt - jenes Versickern und Versanden, das so viele Talkessel zeigen - , personifiziert wie der Gewaltmensch Abu Kital (richtig: Vater der mordenden Bekämpfung) die frühkindlichen Eifersuchtsregungen gegen den Vater. Im Brüderpaar der Sandersöhne wird die Ambivalenz der Affekte zwischen Liebe und Haß deutlich. Der rachedurstige Sebulon (biblisch ein Sohn des israelitischen Urvaters Jakob) steht unter Mordzwang. Hariman verkörpert das besiegte Böse, er ist der altiranische Ahriman, dem die Begnadigung des Satans zuteil wird (41) - ein Gedanke, der völlig in der Tradition orientalischer Gnosis steht, wie so merkwürdig vieles bei May. In der frühen Namensvariante Santer, durch welche die Morderfamilie die Möglichkeit einer Heiligung in den Namen eingesprochen bekam, erscheint jener Gedanke vorweggenommen, den das Spätwerk dann tatsächlich ausführt. Die ganze Sander-Familie und ihr Anhang demonstriert das Zwangsspiel von Jagen und Gejagtwerden, in das ja alle Figuren Mays in irgend einer Form hineingerissen werden, auf exemplarische Weise. An ihr aber wird auch die psychische Motivierung der permanenten Jagdsituation unmittelbar deutlich. Ein vergleichender Blick auf den Mythos zeigt, daß die Magna Mater oft zur Göttin der Jagd schlechthin wurde - und dann tabuiert als strenge Jungfrau erschien, wie Artemis. In den Jagdgründen des Wilden Westens, die fast schon ewige Jagdgründe sind, Paradies auf indianische Art, geht Jung Schüttermund zu den Müttern.


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Arno Schmidt hat in »Sitara« geomorphologische Charakteristika dieser Jagdgründe einläßlich geschildert, ihren sexualsymbolischen Charakter erkannt, doch die typischen Landschaftsbilder als homosexuell anvisierte Männerpopos gedeutet. Arno und Po - difficile est S i t a r a m non scribere, wäre man, Juvenal variierend, hier fast zu bargfeldern versucht. Doch nur Arno Schmidt würde in solchen fließenden italiänischen Etym-Affinitäten einen Anlaß finden, sich selbst homoerotischer Neigungen zu verdächtigen, gemäß jener Methode, die er an May zwerchfellerschütternd demonstriert hat. Vielleicht ist dem verdienten Wortmetzen die humoristische Fündigkeit seiner Deutung Hauptsache gewesen; jedenfalls hat er von Homosexualität so wenig Ahnung wie May, versteht sich dafür aber gut auf schlichte Analität. Der Riecher für Etyms hängt just mit dieser Phase der frühkindlichen Entwicklung zusammen: Im Alter vorwiegender Analität, ums zweite Lebensjahr, beginnt mit der Reinlichkeitserziehung die Ausbildung sprachlichen Vermögens; die Verbindung von Lautung und Bedeutung ist da noch unfest und variabel. Nur insofern, als bei dem ganz auf seine Kindheit fixierten May die in jedem Menschen vorhandene anale Charakterkomponente besonders stark durchschlug, treffen Schmidts anale Mutmaßungen zu. Der psychische Hintergrund der Mayschen Berg- und Tallandschaften aber ist richtiger im Sinne der Schillerschen Brüste-Metapher von den »Halbkugeln einer besseren Welt« zu deuten (42).

Schmidts kurioser und amüsanter Irrweg war durch die Primärdeutung des Mayschen Welteilands Sitara als eines camouflierten Popos ab initio festgelegt. Eine solche Deutung ist bei der notorischen Unschärfe der Lokalbeschreibungen in allen Werken Mays nach dem Wortlaut zur Not möglich - plausibel nicht. Auch anders lassen sich die Dinge sehen: Sitara als Löllelbiskuit, mit schmälerem Mittelteil, der Ardistan mit Dschinnistan verbindet. Das entspräche den Körperformen einer Frau mit eingezogener Taille. Doch selbst eine solche Deutung, mag sie den psychischen Hintergrund auch nicht verfehlen, wäre allzu flächig und zweidimensional verkürzt, wäre vor allem allzu naturalistisch. Das Kleinkind erlebt die Leiblandschaft seiner Mutter nicht wie einen anschaubaren Gegenstand, nicht wie ein Objekt, zu dem es in Distanz steht. Es hat Emotionen, und Emotionen sind es, die das Unterbewußte später in anschaubaren Bildern reproduziert: umschlie-


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ßende Talkessel statt des Gefühls »Geborgenheit«, Ansteigen des Geländes statt der abstrakten Kurve sich steigernder Emotion. Flach aber fiel im konkreten Sinn des Wortes bei Schmidts Sitara-Deutung das für May so kennzeichnende »Empor«, in dem die ausgeführte Bewegung, die signalisierte Distanz, das anabatische Pathos weitaus interessanter für jegliches Verständnis sind als die von Schmidt mit Jagdhundeifer erwitterten analen zwei Buchstaben p und o. May selbst schildert Sitaras Mittelteil als einen s c h m ä l e r e n, steil aufwärtssteigenden Urwaldstreifen. Dieser gleicht also einer Treppe, die zwei Terrassen ungleichen Niveaus miteinander verbindet. In »Satan und Ischariot« (wie an vielen anderen Stellen) wiederholt sich diese Struktur: ein lichter Streif, fast wie ein ausgehaueuer Weg, führt aus dem Wald nach der Höhe und nach dem Tümpel (43). Die Vorstellung des Höhenunterschieds, des prozessionshaften Emporstrebens - ein Zentralgedanke Mays, der durch die gegensätzlichen Höhenlagen von Ardistan und Dschinnistan deutlich genug Relief erhält - kann nicht einfach in kartografischer Planimetrie unterschlagen werden. Schmidt allerdings muß auf der Flächigkeit seines kallipygischen Croquis bestehen; sein Sitara-Popo hätte sonst Backen beträchtlich verschiedener Höhe ...

Das Symbol des mütterlichen Berges wird oft als Insel gesehen. Der Insel Sitara mag die Insel Cythera, das Eiland der Aphrodite, oder Delos, die Stätte der Artemis, oder die Juweleninsel (ein May-Titel!) der indischen Devi assoziiert werden. Oder auch die Insel Felsenburg (ebenfalls ein May-Titel!) des Defoe-Zeitgenossen Schnabel, deren dupliziertes Wassersystem eine zeitgenössische Illustration so übersichtlich darstellt. Oder gar Robinsons Höhleninsel mit Quelle und Haag. Nimmt man die Gleichung Sitara = Cythera ernst - was Arno Schmidt trotz Anspruchs auf Finderlohn nicht tat (44) - , dann kann eine Schmiede im »Wald der Herzen« nicht verwundern: Hephaistos war Aphrodites Gatte, und wie Ödipus-Schwellfuß erscheint der Werker in Feuer und Erz als Gehbehinderter - mit dem Impedimentum der Mutterbindung am Bein, das weitere Schritte der psychischen Reifung verhindert. Zum Manne aber wird nur der geschmiedet, der den Hammer zu führen weiß, um an sich selbst zu hämmern - der sich seiner Genitalität ebenso bewußt wird wie der Gelächter erregenden hephästischen Situation, in die er sich selbst als unmündiger Humpler immer erneut verstrickt


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hatte. Erst durch die Reflexion der Bedingungen des eigenen Sexus' und durch deren Akzeptierung mit allen tragisch-komischen Aspekten, kann die Person mit fester Kontur sich herausheben aus der amorphen frühkindlichen Identität mit der Mutter. Diese Ablösung erfolgt in Stadien und wiederholt sich in verschiedenen Lebensphasen auf jeweils anderer Ebene: erstmals bei der Entwöhnung, dann in der ödipalen Situation, nochmals in der Pubertät und endgültig im reifen Mannesalter. »Nell mezzo del cammin di nostra vita«, in seines Lebensweges Mitten, fand Dante sich in der »selva oscura«, dem dunklen Wald (45), ehe er den ganzen Weg der seelischen Entwicklung bis zur Lichthöhe des Empyreums durchschritt, wo Beatrice in der Rose Gottes verklärt ihm entgegenlächelte. Den anagogischen Charakter teilt die »Divina Commedia« mit fast allen Mythen, Märchen und Großdichtungen sämtlicher Kulturen und Epochen; anagogisch im weitesten Sinne ist auch das gesamte Werk Mays. Seine Fluchtlandschaften sind in toto ansteigend, führen empor. Kaum ist es möglich, eine prinzipielle Zäsur zwischen dem Spätwerk und allem, was voraufging, zu setzen. Denn Regression in frühkindliche Zustände und Sublimierung der frühkindlichen Emotionen ist das Ziel aller Anstrengungen von Anfang an; zuletzt nur hat der Sublimierungsprozeß auch die sprachliche Form erfaßt. Den Anagogiker Dante und den Anagogiker May trennen mehr als nur Jahrhunderte - gerade deshalb sind die Gemeinsamkeiten so interessant, die bis ins Detail der Bilder gehen. Der Quell, verborgen im Walde, der nach links, zur Seite des Herzens und der unbewußten Inhalte fließt, bald klar und von höchster Reinheit, bald ekelhaft schwefelig: er ist bei Dante ebenso zu finden wie bei May, ja selbst das wellig bewegte Gras erscheint in diesem Zusammenhang hier wie dort (46). Dante-Topologie wird in »Winnetou IV« so deutlich manifest, daß unbewußte Übereinstimmung als Erklärungsprinzip vielleicht doch nicht mehr ausreicht: Trinidad, Purgatorio - das sind Topoi, zu denen Herzle-Beatrice immerhin führen mag. Und nur en passant sei daran erinnert, daß Dantes Kosmos auf orientalischen Vorbildern beruht.

Die Notwendigkeit eines Gelingens der Ablösung von der Mutter, sowohl vom Nektar kleinkindlicher Seligkeit als auch vom Schwefelwasser gelegentlicher und endgültiger Versagung, hat in den Gesellschaften aller Zeiten und Zonen zur Ausformung von Mustern geführt,


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deren Anempfindung es den Individuen ermöglicht, die infantile Libido zu sublimieren und in menschliche Beziehungen überzuführen, die der sozialen Funktion des erwachsenen Menschen entsprechen. Unerörtert bleibe, inwiefern solche Muster angeborene Komponenten, Archetypen im Sinne C.G. Jungs, zum Ausdruck bringen und inwieweit kulturelle Traditionen an ihrer Ausgestaltung mitwirken. Jedenfalls ist die Übereinstimmung einer nicht geringen Zahl von weltweit verbreiteten Mythen mit den Stoffen Mays ein deutlicher Hinweis darauf, daß weder Mays Landschaftsformationen noch auch sein Personalium unter dem Aspekt der Verdrängung homosexueller Triebregungen oder gar als Reflexe einschlägiger Erfahrungen im Zuchthaus gedeutet werden können, sofern nicht gleichzeitig wahrscheinlich gemacht würde, daß die Schamanen, Mythendichter und Religionsstifter wie auch ein Großteil der in psychoanalytischer Behandlung stehenden Menschen, die analoge unterbewußte Inhalte produzieren, homosexuell und vorbestraft waren oder sind. Um die psychischen Bedingungen Karl Mays wirklich zu durchschauen, kann ein Literaturanalytiker sich nicht wie Arno Schmidt allein auf einige Wendungen Freuds und die eigene Kombinationsgabe verlassen; er muß vielmehr einen gewissen Überblick über die Entwicklung der psychologischen Forschung seit Freuds großem Durchbruch haben, muß etwas Bescheid wissen in vergleichender Religions- und Mythengeschichte, Völkerkunde und strukturalistischer Motivforschung. Nur dann findet er Sitara wie auch die Kesseltäler des Wilden Westens in den mythischen Paradieslandschaften des alten Iran getreulich wieder, wie sie etwa das »Bundahischn«, ein späterer Auszug aus verlorengegangenen Teilen des »Avesta«, schildert. Da ist der Berg Alburz, aus dem die zwei Paradiesströme nach Osten und Westen entspringen, aus einem Urquell, welcher die iranische Magna Mater Anahita selbst ist. Im »Avesta« wird dieser Alturz als ein Berg dargestellt, der als Ringwall die Welt umgibt (47). »Ringwall«, »Gehege« aber sind die Bedeutungen des avestischen Wortes »pairidaeza«, von dem unser Wort »Paradies« sich herleitet. Es bezeichnet vor allem einen eingezäunten Park, in dem wilde Tiere (!) zur Jagd gehalten wurden (48). Noch in den Jenseitslandschaften des islamischen Persien, die eine Anthologie persischer Dichter aus dem Jahre 1398 schmücken, wird solch ein paradiesischer Talkessel dargestellt ringsum Berge, in der Mitte der Quellteich, dem das Wasser


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entströmt, daneben Lebensbäume, Weinstock und Dattelpalme (49). Zahlreich sind die Darstellungen der Muttergöttin, aus deren Brüsten zwei Ströme entspringen - vom alten Sumer bis in die Allegorien des Barock. Auch in Mays Tälern sprudeln meist mehrere Quellen, krönen Doppelfelsen oder Doppelgipfel den Talschluß, öffnet die Enge des Tales sich nach zwei Seiten - wie die Höhle des nemeischen Löwen, wie die Höhle des samojedischen Schamanen, der einen Berg emporklettert und dort eine »Herrin des Wassers« findet, die ihm die Brust gibt, ihn als ihr Kind anerkennt, und ihn ziehen läßt hin zur Schmiede, wo er zum Schamanen geschmiedet wird, bis er zuletzt auf dem Gipfel des Berges erwacht, der seine Jurte, sein heimisches Zelt ist (50).

In den »Dionysiaka« des Nonnos von Panopolis erscheint der tyrische Herakles Astrochiton, ein Lichtgott und Feuergebieter im Sternenkleid, auf dessen Altar der tausendjährige Phönix sich selbst verbrennt und flammend verjüngt. Dieser Gott berichtet von den »Ambrosischen Felsen«, zwischen denen, von der Schlange umringelt, ein mächtiger Ölbaum wächst, auf dessen Zweigen ein mythischer Adler horstet, und wo auch eine prächtige Schale sich befindet - eine Vorform des Grals. Diese Ambrosischen Felsen - Ambrosia ist die Götterspeise, die ewig jung erhält - sind Symbole der Brüste. Nach dem Mythos ist der im Nest geborgen lebende Adler zu opfern, ehe die beiden Felsen, die zuvor im Meer trieben, zusammenwachsen und Grund fassen, so daß die Stadt Tyros auf ihnen errichtet werden kann (51). Im Klartext: Die Mutterbindung muß gelöst werden (nach Mays Version: der Junge Adler muß vom Felsen herab fliegen lernen wie in »Winnetou IV«), damit sozial relevante Bindungen eingegangen werden können. Auch Odysseus, nachdem er sich nicht hatte becircen lassen und auch dem weiblichen Locken der Sirenen entkommen war, fuhr zwischen den »Prallenden Klippen« von Skylla und Charybdis hindurch - die von Tauben angeflogen wurden, die Zeus mit Ambrosia versorgen. Auf der einen Klippe haust Skylla in der Höhle, auf der anderen Charybdis unter einem Feigenbaum; jene ist verschlingendes, diese verschlingendes und ausspeiendes Ungeheuer (52) - Verkörperungen des saugenden Kleinkindes, seines oralen Weltbezugs. Die Symplegaden oder Kyanischen Felsen der Argonautensage variieren denselben Mythos (53); kyanisch bedeutet »dunkel«, »schwärzlich« - und schwärzliche Felsen


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gehören zu den stereotypischen Talausstattungen des Mayschen Monomythos. Bei den Prallenden Klippen der Odyssee erwähnt Homer die feurigen Stürme, die andere Schiffe vernichten, denen die befreiende Durckfahrt nicht gelang. Auch dieser Topos des Gluthauchs kehrt in Mays Talschilderungen immer wieder. Feuer, das den Flüchtigen sengt, flackert gleichfalls in irischen und isländischen Mythen auf, wo als Habicht oder Adler ausfliegende Nugget-Räuber - sie entführen die »goldenen Äpfel« Hisbernas oder gar Idunn selbst, die nordische Hesperide - dem Brand nur mit knapper Not enteilen. Der Raub der Idunn aber wird in die Zeit von Wandervogel Odins Winterfahrt zum »uralten Baum« verlegt, jenes Odin, der nach anderer Tradition als Adler den Dichtermet des Suttung aus dem Hnitbjorg raubte - ebenfalls einem gedoppelten Felsen (54). Daß die nordische Ambrosia sich als Dichtermet zu erkennen gibt, wirft vom Mythos her ein Schlaglicht auf den Zusammenhang von frühkindlicher Oralität und dichterischem Impuls, ein Konnex, der für Mays Werk sowohl ursächlich als auch versteckt thematisch ist.

Die Felsschlünde Mayscher Landschaftsmodelle, die erst sich verengen, dann nach und nach zu geräumigen Kesseln sich weiten, sind Vergegenständlichungen der oralen Situation, die als beklemmend und beengend erlebt wird, solange die Sättigung noch nicht erfolgte, umschließend und bergend, entspannend und geräumig aber, sobald die Befriedigung eingetreten ist. Die Sprache reflektiert solche frühkindliche Erfahrung: so in der Verwandschaft von »Enge« und »Angst«, in der Verbindung von Schlucht und Schlund, die nicht nur indogermanischen Sprachen eigen ist, sondern auch dem einem ganz anderen Sprachstamm angehörenden Türkisch: »bogaz« (boghaz) heißt hier sowohl »Tal« wie »Meerenge« als auch »Schlund des Halses«.

In der alten Türkei, dem Devlet i-Alije (Hohes Reich) der osmanischen Sultane, - der emporführende Name, in den Lexika um 1880 vermerkt (55), empfahl das Land besonders als Schauplatz Mayscher Seelenfahrten - , sind nun die sich weitenden Talkessel nebst Quell als reale Topoi vorhanden. Mehr aber noch: an solche Örtlichkeiten sind mythische Überlieferungen geknüpft, die mit dem Inhalt des Mayschen Monomythos übereinstimmen. »In schwieriger Wanderung steigt man am abfallenden Ufer des Adonisflusses aufwärts. Dunkle Schluchten, den


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Blick einfangend, wechseln mit weiten Ausblicken ... Zuletzt gelangt man in einen gewaltigen Kessel, gebildet von grauen Felswänden, die gleich einem Theaterhalbrund den Ankommenden umschließen. Hier entspringt der Fluß, und diese Stätte ist zugleich Quelle und Ursprung des Lebens. Aus den Flanken einer Felswand tritt das strömende Wasser ans Licht; aus dunkler Grotte stürzt es in mächtigem Fall herab ...« so schildert Althistoriker Franz Altheim die Adonisquelle in Aphaka im Hohen Litanon und fährt weiters fort: »Inmitten solch todeshafter Starre geschieht, daß das enweckende, belebende, heilige Wasser hervorbricht ...« (56) - die Einheit von Lokalrealität und dem Inhalt des Mythos von Aphrodite und Adonis wird hier exemplarisch sichtbar, geradezu minutiös wirkt die Übereinstimmung mit Mays Landschaftsbildern.

Die Frage muß gestellt werden, ob derlei Übereinstimmungen nur als analoge Hervorbringungen des Unterbewußten zu interpretieren sind, oder als mehr oder weniger bewußte Verschlüsselungen - was voraussetzen würde, daß Mays Kenntnis der menschlichen Psyche nicht geringer war als die seiner jüngeren Zeitgenossen von der analytischen Zunft. Im Gewande der Einfalt hätte May - einer wohlbekannten Darstellungsweise der Psychagogen gemäß, die höchste Wahrheit gerne in Lumpen kleiden (57) - seine Einsichten ins menschliche Innenleben vor ein hierfür unvorbereitetes, weil gänzlich veräußerlichtes Publikum gebracht. Es gibt Stellen im Spätwerk und Bemerkungen des alten May, die für Wohlwollende eine solche Deutung möglich erscheinen lassen. Eines jedenfalls ist mehr als nur wahrscheinlich: May war sich dessen bewußt, daß seine Phantasiewelt dieselben Inhalte besaß wie die große mythische und religiöse Tradition, und daß diese Tradition ein p s y c h o l o g i s c h e s Phänomen darstelle - eine damals höchst fortschrittliche Einsicht gegenüber der offiziellen akademischen Haltung, die Mythen nur als verdunkelte Berichte von naturhistorischer oder historischer Wirklichkeit zu deuten versuchte. May hat aber nicht nur die Korrespondenzen zwischen seiner Phantasiewelt und der mythischen Tradition erkannt, sondern sie zumindest in seinem Spätwerk auch bewußt objektiviert. Ein Blick in die Überlieferung des alten Iran wird leicht die geheimen Quellen Mays aufblinken sehen; Paraklet und Wasserengel sind dort zu Hause, wo der Lebensbaum im Paradiestal wächst (58).


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Vollends deutlich aber werden die verdeckten Fäden des mythologischen Puppenspielers, sobald weitere Talkessel im wilden Osten des osmanischen Reiches auf ihre Mythentradition und ihre lokalen Eigentümlichkeiten untersucht werden. In Kilikien liegt das Cenet (sprich »Dschenet«) Deresi, zu deutsch: »Paradiestal«, dem in nur 500 m Entfernung ein ganz ähnliches Tal als negatives Pendant entspricht: das Seytan Deresi (Scheytan Deresi) oder »Teufelstal«. (59) Beide Lokalitäten befinden sich unweit der kilikischen Küstenstraße, die im Südosten Kleinasiens die Städtchen Silifke und Mersin verbindet. Das Paradiestal war einer der bekannten mythischen Orte des Altertums. In seiner Quellgrotte, dem Korykion Antron, Specus Corycius, soll Zeus den chthonischen Drachen Typhon, einen Feind der Göttermutter Hera, gefangen gehalten haben, nach einer anderen Version von ihm selbst gefangen gehalten worden sein, mit zerschnittenen Sehnen an Hand und Fuß (60) - eine Variante des Ödipus-Motivs. Auch eine Art Baum der Erkenntnis spielt in den Mythos herein, ebenso der Orgelflötenspieler Pan, dazu bald zischender, bald dröhnender Gluthauch. All dies mag an das »Singende Tal« im »Geist des Llano estakado« erinnern, das dort hinsichtlich seiner akustischen Merkwürdigkeiten mit einem Sackhutpaß [recte: Sackbutpaß; die Internet-Redaktion] verglichen wird. Von hier aus auf das »Tal des Sackes« im »Silberlöwen« zu verweisen, erschiene weit hergeholt - wenn nicht das griechische Wort »korykos«, von dem die Korykische Grotte ihren Namen hat, ausgerechnet »Ledersack« bedeutete (61)! Mit dem Wort »korykos« bezeichneten die antiken Griechen Ledersäcke zur Aufbewahrung von Nahrung, aber auch die mit Mehl, Sand oder Feigenkörnern gefüllten Säcke, die an Stricken von den Decken der griechischen Gymnasien »in Brusthöhe« herunterhingen (62), ähnlich den punching balls unserer Boxer. Hangende Objekte also, wie etwa die nahrhaften Würste, die von der Decke der »Gymnasiasten«-Herberge in »Weihnacht« baumelten, wo im ichthyophonen Spitznamen des Gefährten, Cyprinus Carpio, mit ihrem Beinamen Kypris auch Aphrodite gegenwärtig war, als deren heiliges Tier in Vorderasien der Karpfen verehrt wurde (63). Abdahn Effendi aber - »abdan« bezeichnet persisch den ledernen Wassersack - entschlüsselt zuletzt die besondere Relevanz des bald nahrhaften, bald mit trockenem Sand gefüllten korykos für Mays Monomythos: eine Metaphernknüpfung mehr, die assoziativ Anschluß an das Mamma-Erlebnis


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schafft, das in Entsprechung zu antiker Tradition sich in Landschaftsformen projizieren läßt. Daß jenes Tal durch seinen Sairan berühmt war, fügt sich ebenso gut ins Maysche Requisitarium wie die Häufung der mit »Kara« gebildeten Landschafts- und Ortsnamen in eben diesem Teil der Türkei. So findet sich im Hinterland ein Kara Dag (Dagh) - und just an seinem Fuße der Ort Maden Sehir (»Erzstadt«), unweit aber auch noch ein Maden Dag, die türkische Variante des Erzgebirges (64), Ruinen in kaum vorstellbarer Fülle überziehen das Land, Reste aus über einem Halbdutzend historischer Großepochen, teils nebeneinander, ineinander und übereinander verbaut, dazu Höhlengräber und Felsgelasse, riesige Nekropolen - und ältere Reisebeschreibungen erwähnen die alpenländischen Holzbauten österreichischer Bergleute, die dort um die Mitte des vorigen Jahrhunderts angesiedelt worden waren (65). Selbst das Motiv der Räuberhöhle klingt wieder an: die Korykische Grotte Kilikiens hat in Griechenland ihr namensgleiches Pendant auf dem Musenberg Parnaß und ist mit dem Kult um den heiligen Stein im Talkessel von Delphi - dem Omphalos oder Weltennabel - eng verbunden (66). Diese Korykische Grotte Griechenlands, eine Tropfsteinhöhle mit Quelle wie ihr kleinasiatisches Gegenstück, war als Zufluchtsort der Armatolen und Klephten - Räuber und Freiheitskämpfer zugleich - berühmt und berüchtigt (67).

Die Entsprechungen zwischen Winnetou und Apoll, Winnetou und Christus werden in einem weiteren Aufsatz darzustellen sein. Ein Widerschein apollinischer Klarheit gerät nach dem Tode des Apachen ins Werk Mays. Dem entspricht, daß die Präarchitektur der Talkessellandschaften immer mehr an Naturwüchsigkeit verliert, daß architektonische Elemente zunehmend in schärferer Kontur erscheinen. Hier deutet sich Abgrenzung an gegen die amorphe Einheit mit der Mutter, deren psychische Projektion im Bild der Wildnis erscheint - Metapher für den Naturzustand der frühen Kindheit - , einer Wildnis, die in »Winnetou IV« in Kulturlandschaft sich verwandelt. Geheime Geometrie und Proportion im Gelände geben sich nun plötzlich als Zeugnisse uralten Menschenwerks zu erkennen. Die Symbolik geometrischer Formen, verdeckt im ganzen Werk gegenwärtig, tritt beim späten May augenfällig hervor: Kreis und Ellipse als Zeichen der Einheit von Mutter und Kind in der oralen Phase; die zielstrebig-perspektivische Form des


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strengen Dreiecks als Signum der Willensbildung, Selbstbeherrschung und Ich-Sonderung in der analen Phase bis zur ödipalen Genitalität; das Quadrat als Figur des erweiterten menschlichen Bezugs, der Realisierung im Sozialen - ein Symbol der Ablösung von kleinkindlicher Fixiertheit, das für zwei Dreiecke Raum gibt: für das männliche Dreieck mit der Spitze nach oben und für das weibliche Dreieck mit der Spitze nach unten, verschränkt auch zu Davids Stern, Salomonis Siegel: Immer häufiger scheinen solche Gestaltsignale aus halb natürlicher, halb architektonischer Landschaft heraus. Auch hier gibt es Parallelen genug: die buddhistischen Mandalas, die Grundrißformen von Sakralbauten in Orient und Okzident, aber auch anscheinend zweckfreie Architektur, wie die geheimnisvolle Area Capitolina Michelangelos (68), oder anscheinend rein zweckgebundene, wie Tycho Brahes Observatorium Stjerneborg. Evident ist der Mandala-Charakter vor allem im Grundriß vieler islamischer Moscheen, und kaum ist es Zufall, daß May in »Winnetou IV«, angesichts des landschaftsarchitektonischen Komplexes des Mount Winnetou, gerade Minarets an den indianischen Bauten vermißt. Sprachlich wie baugeschichtlich leiten sich Wort und Form des Minarets vom altiranischen Feuerturm ab (69), wie überhaupt die islamischen Moschoen sehr deutliche Abbilder des Paradieses sind, mit dem Quellbrunnen im umfriedeten Hof, mit den Lebensbäumen samt paradiesischem Blumendekor und den Kuppelbergen, die der Halbmond krönt - das alte Attribut der Göttinnen, der Madonna und der islamischen Fatima. Selbst die Höhle, in Gestalt der Gebetsnische, welche die Lampe als Zeichen des paradiesischen Lichts schmückt, ist vorhanden; sie weist die Richtung nach Mekka. Der paradiesische Magna-Mater-Charakter der Moschee bildete im Islam ein ähnliches Gegengewicht zum männlichen Geist-Gott Allah, wie die Ecclesia des Mittelalters, die als nährende Mutter dargestellt wurde, zum christlichen Vatergott. Stimmig residiert denn auch Mays Mutterfigur Marah Durimeh in einem Gebäude, das einer Moschee gleicht: Kubus und Turm bilden den Kulluk. Kulluk aber heißt: »Fromme Knechtschaft« - hier: Bindung an die Mutter. (In Youssoufs »Dictionnaire Turc-Francais« von 1888 folgt das Wort »kulluk« unmittelbar auf das Wort »kulub«, dieses Maysche Herzens-Schlüsselwort. Das Wörterbuch gehörte zu den seinerzeit gängigsten Dolmetschhilfen der osmanischen Sprache.) Im Lautbild


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von »kulluk« klingt deutlich das arabische Wort »kulleh« an, das »Berggipfel« aber auch »Turm« bedeutet. Knechtschaft aber wird Marah Durimeh nochmals attributiert: Ihr Zweitname lautet »Ruh i kulyan«, was als »Seele der frommen Knechte« übersetzt werden kann, aber auch schlicht als »Seele der Menschen«, nach doppelsinniger islamischer Bedeutung.

Der Turm ist übrigens ein geläufiges Muttersymbol; verwiesen sei auf die turmbewohnende Aphroditepriesterin Hero und ihren sehnsüchtig ertrinkenden Liebhaber Leander, oder auf die kappadokische Muttergöttin Ma, welche die Mauerkrone trug (70). Und nicht zuletzt natürlich auf den »Turm der alten Mutter« in »Durch das Land der Skipetaren«, dem auf den folgenden 35 Seiten in orientalischer Verkleidung ein Kurzprogramm der Mayschen Topoi in Stichworten beigegeben ist: »Gärten der Glückseligen«, »Vögel des Paradieses«, »Speise des Lebens«, »Speise des Todes« - Reflexe der Erfahrung des Kleinkindes, ausgehend vom architektonischen Bild des mütterlichen Leibes, durchweht vom ambivalenten Arom des Paradieses.

Ulya Vogt-Göknil hat gesehen, daß der Innenraum der osmanischen Moscheen die Vorstellung einer Widerspiegelung der Höhe in die Tiefe erzwingt (71). Eine gleiche Symmetrie von oben und unten fordert auch der altorientalische Astralkosmos (72). Analoge Korrespondenz von Höhe und Tiefe, entsprechend der Doppelbedeutung des lateinischen Adjektivs »altus«, findet sich auch in Mays Landschaftsformationen: die Krater sind negative Berge in die Tiefe, der Nacht-Cannon im »Silbersee« ist sogar eine negative dreiseitige Pyramide.

Solche Spiegelentsprechungen und antagonistischen Symmetrien ziehen sich durch das ganze Werk; noch in den dioskurischen Freundespaaren wirkt das Prinzip.

Schließlich führt Mays Weg der Sublimierung spiegelbildlich zu den oralen Anfängen seiner Existenz zurück: Wortkunst ist auch eine Lust des Mundes. Pokorny gibt in seinem »Indogermanischen etymologischen Wörterbuch« zur indogermanischen Wortwurzel u e r verschiedene Bedeutungskreise (73), deren Gemeinsamkeit erst im Bezug auf die orale Urlust plötzlich erhellt: Fluß, fließen; Freundlichkeit erweisen; wärmen, brennen, verbrennen, schwärzen; weit, breit; schützen, retten; feierlich sprechen. Als Ableitungen nennt Pokorny weitere Bedeutungen: nagen,


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verzehren, wühlen - und Gehege. Alle diese Inhalte und Bedeutungen sind auch bei May als exemplarische Topoi seiner Vorstellungswelt und seines Wortschatzes zu finden, als Kondensationskerne für die Entwicklung von Personen, Handlungsabläufen und Hintergründen. Selbst das Motiv des Verbrannten, Geschwärzten fehlt nicht im indogermanischen Kontext, das bei May so häufig in der Schilderung von Gestein und Personen hervortritt, und im Namen des Kara ben Nemsi autobiographisches Gewicht erhält. Der Zusammenhang zwischen dem Topos des »feierlichen Sprechens« und der oralen Betätigung des Kleinkindes ist auch noch durch spezifischere Relationen gesichert. Gleichsetzungen von Wort und Wasser, Wort und Milchkuh, Wort und Großer Mutter sind im mythologischen Material nicht selten. Verbana, die große keltische Göttin, ist dem lateinischen »verbum« ebenso stammverwandt wie untereinander die lateinischen Wörter »vacca« (Kuh) und »vocare«, »vox« (74). Die anatomisch-landschaftliche Bedeutung des türkischen Wortes »bogaz« (Schlund) wurde erwähnt; »bogazli« heißt »Vielfresser - und die Heißhungerszenen bei May gehen ebenso wie dieses Wort auf den kleinkindlichen Urhunger zurück, denn passend hält die türkische Sprache ein Wort in petto, das den Vielfresser als männlichen Antagonisten der nährenden Kuhmutter ausweist: »bogar« heißt »Stier«. Als Büffelstier verkleidet reitet Mays Bloody Fox durchs Durstland des Ilano estakado, dessen Femininisierung durch die falsche Form »estakata« bereits Arno Schmidt auffiel. So läßt sich der Name des Bloody Fox als Bloody V o x entschlüsseln, als »Blutige Stimme«. Der bei May stets wiederkehrende Topos des Blutes wird dadurch ebenso durchsichtig wie der Grund für die neurosezeugende Frustration des Säuglings: Mays Mutter dürfte Schwierigkeiten mit den allzu kräftig die Brustwarzen fassenden Kieferchen des kleinen Karl gehabt haben; wie nicht selten bei stillenden Müttern könnten infolge allzu heftiger Beanspruchung der Brustwarzen Blutungen aufgetreten sein, die schließlich zu frühzeitiger Abstillung führen mußten. Das durch Schmerzen bewirkte Zurückzucken der Mutter wie auch die endgültige Verweigerung der Brust ist wohl vom Säugling als frustrierend erlebt worden. In diesem Zusammenhang wird auch das Vergiftungsmotiv bei May verständlich; Säuglinge vertragen mit Blut vermischte Muttermilch nicht und geben sie wieder von sich. Was aber die allzu hart zupackenden


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Säuglingskieferchen angeht, so findet sich deren Reflex in der auffälligen Betonung der Kauwerkzeuge des Bloody Fox, die schon Arno Schmidt seltsam fand, ohne daß er von seiner Theorie her eine Erklärung hätte geben können. Unklare frühkindliche Schuldgefühle, die Ahnung, der geliebten Mutter weh getan zu haben, dürften auch das Motiv des Schurken projizierend hervorgebracht haben. Der Name des Brüderpaars Cortejo ist sicher eine Kombination des lateinischen Wortes »cor« (Herz) mit der portugiesischen Namensvariante des iberischen Hauptstroms: Tejo. Der Herzstrom-Name aber ist wiederum eine Chiffrierung für die Muttermilch, denn »die Herze« sind für May die Brüste, wie ührigens für die oberbayerischen Bauern auch (75).

Jene Milchstraße, die Sternaue, die in die dark and bloody greunds des frühkindlichen C o w b o y landes führte und dort wie im Orient in Sacktälern psychischer Regression zu enden drohte, - in einem Orient, in den die rinderverehrende Religion des alten Iran sehr deutlich hereinstrahlt - , hat May zuletzt dann doch in die ersehnte Höhe, ad astra der Literatur, gelangen lassen. Gefangener blieb er lange, verstrickt in den oralen Komplex. Am Anfang seines Lebens war das Unwort, der orale Bezug zur Mutter. Als er endlich das Wort hatte und nicht länger das Wort ihn, als er zu schreiben begann und nicht länger zu kolportieren, war May ein alter Mann. Die steinernen Halbkreise, die in »Winnetou IV« die Umschließung in oraler Einheit mit der Mutter symbolisieren, verdoppeln sich vor dem Mount Winnetou zu Schallkörpern, die das Wort über weite Distanz vernehmen lassen - und dieser Anklang an ähnliche akustische Effekte in Istanbuler Moscheen scheint kein Zufall. Dschami kun! - Es werde die fromme Gemeinde! Auch in den nun gar nicht mehr blutigen Gründen des ehedem wilden Westens. Die soziale Erstbindung zur Mutter, nicht länger in neurotischer Verhärtung erstarrt, setzt Menschenliebe in weite Räume frei. Imitatio Christi?

Die leviathanische Vitalität, verkörpert in den Rossen des Abenteuers, verströmt sich als poseidonisches Wasser der aufgebrochenen Tiefe zu musikalischer Prosa, die nach Wollschläger und Arno Schmidt keines Anwalts im Prozeß der literarischen Wertung mehr bedarf. Rih wird Pegasus. Und der Name dieses Leibpferdes ist nicht nur das arabische Wort für Wind, in dem der Geist mitschwingt und anklingt.


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Persisch bedeutet »rih« auch den »poudre qu'on sème sur l'écriture pour la sécher«, wie Lexikograph Youssouf anmerkt: Zeichen der Vollendung des Werks. Als Streusand wird der Sand der Wüste domestiziert - doch erst jetzt, nachdem der Huf des arabischen Pegasus die Musenquelle Hippokrene aufgeschlagen hat wie Adams Fuß den Murmelbruunen Zem-zem, damit die strömende Rede hinausschießen kann in den neuen Tag, den May sich auch als einen neuen Tag dieser Welt erhofft.

Völker, hört die Signale des Knaben mit weißem Haar. In der Absicht zumindest vertrat May die Interessen der Klasse, aus der er stammte. Doch der Friedensbund im Zeichen Winnetous war angesichts der realen deutschen Zustände damals genau so illusionär wie die Che-Guevara-Begeisterung angesichts der bundesrepublikanischen Wirklichkeit der späten sechziger Jahre unseres Jahrhunderts. Immerhin, May hat sich gegen das Prä-Vietnam der Indianerausrottung gewendet, gegen den Boxerkrieg, gegen wilhelminisches Säbelrasseln - und das taten damals nicht alle Schriftsteller. Unklar mag er gefühlt haben, daß seine letzte psychische Intention: die Kompensierung seines Ungenügens im Verhältnis zur Mutter durch soziale Ausweitung des Liebesbezugs, ihre reale Erfüllung nicht recht finden konnte. Was er erreicht hatte, genügte jedoch zur psychischen Balance. Winnetou, die unerreichbar edle Sublimierungsgestalt mit den fraulichen Zügen der Mutter war nicht länger das lebende Denkmal mehr, das er immer gewesen war, sondern wurde zur Gruppenallegorie der Brüderlichkeit, ein wenig altersblaß, allzu beruhigt, wie Goethes »Novelle«. Als Sublimierungspopanz war der Apache zusammengebrochen - verfehltes Großmanns-Monument gleich der eklektizistischen seelischen Zwangsarchitektur des »Hohen Hauses«. Doch der kleine P(l)appermann hatte endlich frei sprechen gelernt, Old Shatterhand war nun wirklich ein Alt-Sattermund geworden, die orale Befriedigung, spät und literarisch geglückt, mochte die Hoffnung einschließen, der Menschheit zu helfen. Und so sah er Marah Durimeh, seine Menschheitsseele, als das verkörperte Prinzip Hoffnung der Humanität. In ihren Namen blieb anagrammatisch verschlüsselt, was sein Unterbewußtes - oder doch sein Bewußtsein? - sich zu enthüllen scheute. Marah Durimeh, als Anagramm gelesen, ergibt arabischpersisch deutlichen Sinn: Haram hem-i-rud - wörtlich: »tabuierte Gefährtin des Stroms«.


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Ich widme diese Arbeit meinem Freunde Oskar Sahlberg, München, dessen Dissertation über Th. Gautier und dessen Untersuchungen zu Baudelaires Lyrik eine ähnliche Methodik der Interpretation verwirklichen.

Herrn Ralf R. Rudeloff, Paris, danke ich für viele anregende Gespräche, vor allem über das Werk T. S. Eliots, in dem Rudeloff Mechanismen assoziativer Zusammenhangsbildung gesehen hat, die den hier bei May aufgezeigten entsprechen.

Herr Hansotto Hatzig, Mannheim, war mir bei der Abfassung des Aufsatzes in liebenswürdiger Weise als Souffleur zuverlässiger Textversionen behilflich.

1 Handwörterbuch des Islam, Leiden 1941, (im Folgenden kurz »Handwörterbuch«), Artikel »Djinn«. -

Das Wort »Dschinnistan« kam durch Christoph Martin Wieland in die deutsche Literatur. In den Jahren 1786 - 89 erschien in Winterthur unter dem Titel »Dschinnistan oder auserlesene Feen- und Geister-Mährchen, theils neu erfunden, theils neu übersetzt und umgearbeitet« eine dreibändige Märchensammlung, als deren Herausgeber und Umdichter sich Wieland im letzten Band zu erkennen gab. Der berühmte österreichische Orientalist Joseph v. Hammer-Purgstall hat in »Schirin« (Leipzig 1809), einer freien doch stoffgetreuen Nachdichtung aus sieben orientalischen Quellenwerken, den Topos Dschinnistan mehr unter dem dämonischen Aspekt dargestellt, der auch dem orientalischen Vorbild eignet.

2 Sabatino Moscati, Die Altsemitischen Kulturen, Stuttgart 1961, 58

3 Alfred Jeremias, Handbuch der altorientalischen Geisteskultur, Leipzig 1913, 257 (Fußnote 5); Heinrich Müller, Historische Waffen, Berlin 1957, 54; Arnold Rabbow, dtv-Lexikon politischer Symbole, München 1970, Artikel »Freiheitsstern«, 97 f.

4 Will-Erich Peuckert, Die große Wende, Bd. 1, Darmstadt 1966, 265 ff. Ob die Erscheinung eine Vision des Paukers oder Täuschung interessierter Kreise war, bleibt hier unerheblich: Wichtig ist der spezifische Symbolwert der Madonna in einer bestimmten sozialen Situation von aufrührerischem Charakter.

5 Carl Gustav Jung, Antwort auf Hiob, Zürich - Stuttgart 1961, 110 - 122

6 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1967, Bd. 1, 409 f.; May, Mein Leben und Streben, Freiturg 1910,79

7 Freiligraths Werke in fünf Büchern, Hrsg. W. Heichen, Berlin o. J., 1, 152

8 Carl Hagenbeck, Von Tieren und Menschen, Leipzig 1928, 19 f. Wenn auch die Schaustellung auf einen realen Vorfall zurückgeht und Freiligraths Gedicht nicht ein Pferd sondern eine Giraffe schildert, so geben doch beide Versionen den gleichen Stimmungsgehalt. Zudem griff Hagenbeck sen. offenbar den Freiligrattschen Gedichttitel auf, der dem realen Vorfall (kein Ritt!) weniger entsprach als dessen schaustellerischer Wiedergabe. Verkörpert das Pferd als Symbol die Triebsphäre, das Raubtier deren aggressive Tendenzen, so ist das vom Raubtier gerittene Pferd (oder die phallische Giraffe) ein Symbol der durch Triebunterdrückung besonders aggressiv erregten Triebe.

9 Hartmut Kühne, Karl Mays »Ölbrand«, in Jb-KMG 1970, 258. Vor allem jene Fassung, in der ein Mädchen, die Tochter des Ölprinzen, aus den Flammen errettet wird.

10 Kühne, a. a. O.

11 Allgemeine deutsche Real-Encyklopaedie für die gebildeten Stände, Bd. 10. Leipzig 1830, Artikel »Sierra Morena«

12 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 14, Leiprig 1889, Artikel »Sierra Morena«, und Bd. 5, Leipzig 1886, Artikel »Erzgebirge«

13 Saeed Durrani Steine vom Himmel, in n+m (Naturwissenschaft und Medizin), Mannheim (Boehringer) 1970,7. Jhg. (35),10, 13

14 Mircea Eliade, Die Religionen und das Heilige, Salzburg 1954,496 ff.


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15 Alfred Jeremias, Allgemeine Religionsgeschichte, München 1918, 95

16 Handwörterbuch, Artikel »Mekka«

17 Franz Altheim, Der unbesiegte Gott, Hamburg 1957, 29 f. Mircea Eliade, a. a. O. 246 - 262

18 Karl Kerényi, Die Mythologie der Griechen, Zürich 1951, 89 (und Literaturhinweis)

19 Heinrich Zimmer, Mythen und Symbole in indischer Kunst und Kultur, Zürich 1951, 219 f.

20 Jacob Grimm, Deutsche Mythologie, Göttingen 1835, 524

21 Antoinette K. Gordon, The Iconography of Tibetan Lamaism, Tokyo 1960, 75

22 Handwörterbuch, Artikel »Hawwa«

23 Handwörterbuch, Artikel »al-Safa«

24 1. Mose 16 und 21

25 Galater 4, 24 - 26

26 Micha Josef bin Gorion, Die Sagen der Juden/Die Erzväter, Frankfurt 1914, 305

27 Hans Wollschläger, Das »Hohe Haus«, in Jb-KMG 1970, 126

28 Handwörterbuch, Artikel »Burak«

29 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 11, Leipzig 1888, Artikel »Mormonen«. Wie das Buch Mormon hervorkam, in: Das Buch Mormon, 15. deutsche Auflage 1964, S. V-VIII

30 Bloch, a. a. O. II, 878 ff.

31 Bloch, a. a. O. II, 872

32 Handwörterbuch, Artikel »Arafa«

33 Winnetou IV, Freiburg 1910,56

34 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 3 Leipzig 1886, Artikel »Burton 2«

35 Handwörterbuch, Artikel »Arafa«

36 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 14, Leipzig 1889, Artikel »Sierra Morena«. Konversationslexika aus der Zeit Karl Mays sind für die einschlägigen Untersuchungen deshalb besonders interessant, weil May sie für seine eigene Arbeit intensiv benutzt haben dürfte.

37 Hansotto Hatzig, Karl May und Sascha Schneider, Bamberg 1967, Abb. 14, 15

38 Über den Zusammenhang zwischen Quecksilber und Jungfrauenmilch in der psychologisierenden Alchemie vergleiche man die Ausführungen über die Ursubstanz Mercurius und das »lac virginis« bei Linda Fierz-David, Der Liebestraum des Poliphilo, Zürich 1947, 90. Ferner auch Martin Ninck, Die Bedeutung des Wassers im Kult und Leben der Alten, Darmstadt 1967,26 f.

39 Carl Gustav Jung, Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten, in: Bewußtes und Unbewußtes, Frankfurt 21959, 34 - 43. M-L. von Franz, Der Individuationsprozeß, in C. G. Jung u. a., Der Mensch und seine Symbole, Olten - Freiburg 1968, 177 - 188

40 Eva Kühnert-Eggebrecht, Die Axt als Waffe und Werkzeug im alten Ägypten (Münchner Ägyptologische Studien 15), Berlin 1969, 82

41 Handwörterbuch, Artikel »Yazidi«, besonders 808

42 Zitiert bei Rudolf Vollmann, Wieland statt Schiller, Berichtigung einer Verfasserschaft, in Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft XIV, Stuttgart 1970, 581

43 Satan und Ischariot, Bd. 1, Freiburg 1896, 432

44 Arno Schmidt, Sitara und der Weg dorthin, Karlsruhe 1963, 258, auch Fischer-Bücherei Nr. 968, 187

45 Inferno I, 1 - 2

46 Inferno XIV, 76 - 84; Purgatorio XXVIII, 22 - 30- Winnetou II, 467

47 Geo Widengren (Hrsg.), Iranische Geisteswelt, Baden-Baden 1961, 31 f., 34. Die iranische Tradition kennt in ihren verschiedenen Epochen unterschiedliche Bezeichnungen dieses amphitheatralischen Weltgebirges; siehe hierzu auch den


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Artikel »Kaf« in Enzyklopaedie des Islam, Bd. 2, Leiden 11927. Das Urgebirge Kaf erscheint auch in den Feenmärchen Wielands, in »Der Greif vom Gebirge Kaf«, verändert nach der »Histoire du Dervich Abounadar« und der »Histoire du Griflon« aus den »Contes Orientaux« des Grafen Caylus, die auf orientalische Quellen zurückgehen, die dieser Archäologe und Orientalist 1716 - 17 im Osmanischen Reich gesammelt hatte. Auch in Hammer-Purgstalls »Schirin« wird es genannt: »Das Urgebirge Kaf umschließt die Erde, / wie eine Hürde bei der Nacht die Herde. / Im West ist Dschinnistan, wo giftig und erbost, / die Ungeheuer und Dämonen / in Wüsten und in Höhlen wohnen. / Hier mußt du durch, willst du im 0st / die Paradiese sehn, wo die Perien thronen. / dies sei dein Leitstern und dein Trost.« Ist das iranische Kaf Imaginationskern für Arno Schmidts »Kaff auch Mare Crisium«? Die Vorstellung des Ringwalls wird durch den Bezug zu den Mond-Maria ohnehin evoziert und verschmilzt durch die Schreibweise »Kaff« mit dem Bild rings eingezäunter kuhdörfischer Enge: die Welt als provinzielles Nest der Krisen. Um so mehr aber bliebe unverständlich, daß Schmidt die Talkessel Mays nicht als Varianten des iranischen Kafs erkannt hat. Sollte der Etym-Spieler seinem Unterbewußten ebenso ins Garn gegangen sein wie Karl May? - Daß bestimmte Tallandschaften den anschaulichen Charakter des Paradiesischen haben, bezeugt Hans Sedlmayr durch seine Wertung der Schilderung des Couesnon-Tals in Balzacs Roman »Les Chouans« (Hans Sedlmayr, Epochen und Werke, Gesammelte Schriften zur Kunstgeschichte, Bd. 2, Wien - München 1960, 328)

48 Enno Littmann, Morgenländische Wörter im Deutschen, Tübingen 1924, S.16 und Handwörterbuch, Artikel »Firdaws«

49 Ernst Diez, Iranische Kunst, Wien 1944, 131 ff. und Abb. 78

50 Mircea Eliade, Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Zürich/Stuttgart o. J., 49ff.

51 Nonnos von Panopolis, Dionysiaka, 40, 369 - 537 (deutsche Fassung: Thassilo von Scheffer, Wiesbaden o. J.)

52 Odyssee, 12, 59 - 110, 234 - 246 (deutsche Fassung: Th. v. Scheffer, Wiesbaden o. J.). Die Identität der »Prallenden Klippen« mit den beiden Klippen von Skylla und Charybdis ist durch Parallelversion der »Argonautika« gesichert (s. Fußnote 53)

53 Apollonios Rhodios, Argonautika, 2, 317 - 345, 549 - 606 (deutsche Fassung: Th. v. Scheffer, Wiesbaden, 1947)

54 Herman Wirth, Der Aufgang der Menschheit, Jena 1928, 116 f. Wirths mit enormer Gelehrsamkeit, doch in unkritischer Haltung unternommener Versuch, eine untergegangene »Kultur der Atlantiker« zu rekonstruieren (wobei populäre Rassentheorien jener Zeit ungut hineinspielen). erweist sich bei näherem Zusehen als ein monomanisches Groß-Unternehmen zur Restitution der oralen frÜhkindlichen Zustände, projiziert in eine hypothetische Urkultur deutlich oraler Prägung. Die partielle Richtigkeit der Ausführungen dieses Karl Mays der Vorgeschichtsforschung liegt begründet in der spezifischen psychologischen Relevanz des von Wirth herangezogenen weltweiten Materials.

55 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 15, Leipzig 1889, Artikel »Türkisches Reich«

56 Franz Altheim, Der unbesiegte Gott, Hamburg 1957, 22

57 Daisetz Teitaro Suzuki/C. G. Jung, Die große Befreiung, Einführung in den Zen-Buddhismus, Leipzig o. J., mit zahlreichen Beispielen, z. B. 118 f. - Joseph Campbell, Der Heros in tausend Gestalten, Frankfurt 1953, 53

58 Geo Widengren, a. a. O. 215. - Jan Rypka u. a., Iranische Literaturgeschichte, Leipzig 1959, 10

59 Turquie (Les Guides Bleus), Paris 1958, 455. - Ernst von der Nahmer, Vom Mittelmeer zum Pontus, Berlin 1904, 115 f.

60 Karl Kerenyi, a. a. O. 32 f.


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61 ebd.

62 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 10, Leipzig 1888, Artikel »Korykos« 1

63 Edward Bacon (Hrsg.), Versunkene Kulturen. München/Zürich 1963, 204

64 Turquie (Les Guides Bleus), Paris 1958, 453 f.

65 Ernst von der Nahmer, a. a. O. 149

66 Kerényi. a. a. O. 32 f. - Georg von Reutern. Hellas, München 1958, 183 f.

67 Meyers Konversations-Lexikon, Bd. 10, Leipzig 1888, Artikel »Korykische Grotte«

68 Hans Sedlmayr, Epochen und Werke, Bd. 1, Wien - München 1959, 266 - 273. Die halbe Richtigkeit der Deutung K. Tolnais steht gegen die halbe Richtigkeit der Kritik Sedlmayrs. Die Area Capitolina ist aber tatsächlich ein Mandala mit Bezug auf die Erde als Muttersymbol - wenn auch der Bezug keineswegs so naturalistisch aufgefaßt werden kann wie bei Tolnai. - Eine Abbildung des unterirdischen (I) Observatoriums Stjerneborg bei Albert Bettex, Die Entdeckung der Natur, München/Zürich 1965, 315

69 Ernst Diez, Churasanische Baudenkmäler, Bd. 1, Berlin 1918, 113 - 116. Hermann Thiersch, Pharos, Antike, Islam und Occident, Leipzig - Berlin 1909 leitet das Minaret vom alexondrinischen Leuchturm Pharos ab, der allerdings auch ein Turm war, auf dem Feuer brannte.

70 Alfred Jeremias, Allgemeine Religionsgeschichte, München 1918, 114

71 Ulya Vogt-Göknil, Türkische Moscheen, Zürich 1953. 96, 110. Vergleiche hierzu auch die Beschreibung des Amphitheaters auf der Insel Kythera in dem Renaissance-Roman »Hypnerotomachia Poliphili« (Linda Fierz-David, a. a. O. 179 f.)

72 Alfred Jeremias. Handbuch der altorientalischen Geisteskultur, Leipzig 1913, 60, 183 - 193. Arne Eggebrecht. Zur Bedeutung des Würfelhockers (Aus Festgabe für Dr. Walter Will, Ehrensenator der Universität München), München 1967, 153

73 Julins Pokorny, Indogermanisches Etymologisches Wörterbuch, 13. Lieferung Bern - München 1959, 1150 - 1166

74 Gustav Zollinger. Tau oder Tau-t-an und das Rätsel der sprachlichen und menschlichen Einheit, Bern 1952, 79. Zollinger hat meines Wissens als erster die Notwendigkeit gesehen, vergleichende Sprachforschung unter Berücksichtigung psychologischer Sachverhalte zu betreiben. Die meist recht mechanistisch verfahrende Zunft hat vor allem in Deutschland seine Arbeiten nicht anerkannt, wobei sie sich auf Fehler des Autors berief. Der große italienische Orientalist Levi della Vida rühmte bei aller Reserve »weitausgedehnte Gelehrsamkeit« und »ungewöhnliche Kombinationsgabe«. Anerkennung fand Zollingers methodischer Ansatz hauptsächlich in den USA, wo weniger Vorbehalte gegen Psychoanalyse bestehen.

75 Georg Queri, Kraftbayrisch, ein Wörterbuch der erotischen Redensarten der Altbayern, München 1912 (Faksimile 1970), 57


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