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CLAUS ROXIN

Vorläufige Bemerkungen über die Straftaten Karl Mays



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Die Kriminalpsychologie hat schon zu Lebzeiten Karl Mays begonnen, sich mit seinen Straftaten zu beschäftigen. Als Erich Wulffen in seiner »Psychologie des Verbrechers« (1) von »einem noch lebenden sehr bekannten deutschen Schriftsteller« berichtete, bei dem »sich der feine psychologische Zusammenhang zwischen seinem ehemaligen Verbrechertum und seinem Schriftstellertum aktenmäßig nachweisen« lasse (2), sprach May (3) empört von der Folterpsychologie jenes sächsischen Staatsanwalts, der jetzt, nach vierzig Jahren, in seinem neuesten Werke mir meine Seele öffentlich vernichtet und einen literarischen, moralischen und materiellen Mord an mir begeht, dessen Widerrechtlichkeit geradezu zum Himmel schreit! Wullfen hat es sich nicht nehmen lassen, auch der Forensisch-psychiatrischen Vereinigung zu Dresden im Anschluß an einen Vortrag, den der Kölner Professor Aschaffenburg dort am 10. Januar 1908 hielt: »den Fall eines bekannten Mannes« mitzuteilen, »der sowohl ein guter Dichter wie ein ausgezeichneter Schwindler war« (4). Er nannte mündlich wie in seinem Buche die meisten der Straftaten, die auch in der nachstehend abgedruckten Dokumentation Klaus Hoffmanns geschildert werden, und meinte: (5) »Das Exotische, Phantastische, Fascinierende, welches seine Schriften so spannend macht, trat auch bei seinen Straftaten hervor.«

Die öffentliche Erörterung seiner Person und seines Werkes unter kriminalpsychologischen Gesichtspunkten hat May damals so tief und schmerzlich getroffen, daß er sich an Wulffen wandte und die Entfernung der ihn betreffenden Textstellen aus seinem Buche verlangte. Wulffen habe ihm geschrieben, berichtete May später (6), daß die Entfernung der betreffenden Zeilen aus den gebundenen Bänden eine Unmöglichkeit sei; er wolle sich jedoch mit dem Verleger darüber ver-


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ständigen. Wulffen hat sich zur Rechtfertigung seines Verhaltens offenbar auf § 193 StGB (Wahrnehmung berechtigter Interessen, hier des höherstehenden Interesses der Wissenschaft) berufen, denn May teilt in seiner Selbstbiographie (7), in der er noch zweimal voll Erbitterung auf diese Anprangerung zurückkommt, unter anderem mit: Von einem Rechtsanwalt hierüber zur Rede gestellt (8), antwortete er, daß er als Wissenschaftler hierzu berechtigt sei; es gebe einen Paragraphen, der ihm das erlaube (9); und später: Er konnte nicht einmal meinen Tod abwarten und behauptete, durch einen Gesetzesparagraphen zu dieser Vivisektion berechtigt worden zu sein. Da schaut man denen, die von Humanität sprechen, ganz unwillkürlich in das Gesicht, ob sich da nicht etwa ein sardonisches lächeln zeigt ... (10)

Die Entrüstung Mays war sehr berechtigt. Wulffens Argumentation stand schon zu seiner Zeit rechtlich auf schwachen Füßen. Die Veröffentlichung weit zurückliegender Verfehlungen ist von der Rechtsprechung vielfach als Beleidigung bestraft worden, weil sie den sozialen Achtungsanspruch dessen, der sich seinen bürgerlichen Ruf mühsam wiedererrungen hat, gröblich verletzt (11). Die Wahrnehmung berechtigter Interessen, die Wulffen demgegenüber geltend machte, kann zwar ein an sich beleidigendes Verhalten rechtfertigen. Doch hätte dies vorausgesetzt, daß wissenschaftliche Gründe die Bloßstellung der Person Mays geboten hätten. Man wird dies verneinen, mindestens aber den Anspruch Mays auf Achtung seiner Personwürde höher einschätzen müssen als das wissenschaftliche Bedürfnis nach öffentlicher Erörterung seines »Falles« (12). Auch Wulffen selbst kann das nicht ganz verkannt haben. Denn er nannte den Namen Mays nicht ausdrücklich. Wenn er aber wußte, daß er dies nicht durfte, so mußte ihm klar sein, daß es ebensowenig zulässig sein konnte, unter Verschweigung des Namens den Gemeinten so zu bezeichnen, daß ihn jedermann erkennen mußte (13).

Doch entscheidet der Rechtsstandpunkt hier ohnehin nicht in letzter Instanz. Vor dem Forum der Humanität war May allemal im Recht. Als Lebius sich später, um die bürgerliche Reputation Mays endgültig zu zerstören, zur Rechtfertigung seiner Verunglimpfungen darauf berief, daß auch Wulffen May als den »Typ des geborenen Verbrechers« (14) dargestellt habe, scheint diesem endgültig klargeworden zu sein, auf wessen Seite er ungewollt geraten war (15). Es klingt wie ein


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Selbstvorwurf, wenn Wulffen, der - wie auch May nicht übersehen hatte (16) - ein sonst menschlich denkender und May keineswegs übelwollender Vertreter seines Berufes war, nach weiteren zwölf Jahren bekannte (17): »Niemals ist gegen einen deutschen Schriftsteller, niemals gegen einen Schriftsteller der Weltliteratur überhaupt so grausam verfahren worden wie gegen Karl May.«

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Sieht man die Dinge auf diesem Hintergrund, so ist es menschlich verständlich, daß Mays literarische Nachlaßverwalter - vor allem auch seine Witwe (18) - die Straftaten des Schriftstellers nicht zum Gegenstand biographischer Untersuchungen machen lassen wollten. Die zwischen den beiden Kriegen in 16 Bänden (1918 - 1933) erschienenen Karl-May-Jahrbücher enthalten außer der Arbeit des Amtsrichters Albert Hellwig (18a) keine Untersuchung der Mayschen Straftaten, und auch dem biographischen Sammelband »Ich« (19) lassen sich keine Informationen entnehmen, die über Mays eigene Mitteilungen in seiner Autobiographie nennenswert hinausgingen. Diese Zurückhaltung ist heute nicht mehr geboten. Im Gegenteil: Wir sind es May und der Literaturgeschichte längst schuldig, alles noch erreichbare Material der Wissenschaft zugänglich zu machen und die jahrzehntelang versäumte Erforschung des Straftatkomplexes unverzüglich und mit Nachdruck in Angriff zu nehmen. Dafür sprechen zwingende Gründe:

E r s t e n s nämlich hat der Schleier, der auf den Straftaten Mays lag, wesentlich dazu beigetragen, daß die durch Lebius verbreitete Legende von Mays Leben als Räuberhauptmann in den erzgebirgischen Wäldern, die seinerzeit vom deutschen Zeitungsleser unbesehen geglaubt worden war (20), bis heute in scheinbar seriösen Publikationen unermüdlich kolportiert wird (21). Daß hier endlich Wahrheit und Lüge durch unanfechtbares dokumentarisches Material geschieden werde, ist eine überfällige biographische Pflicht nicht nur deshalb, weil Mays Andenken von erfundenen Beschuldigungen gereinigt werden muß (22); auch das Bild, das die Wesensart Mays dem Psychologen bietet, hängt wesentlich von der Art seiner Straftaten ab.

Z w e i t e n s wird die immer wieder auftretende Frage, ob und inwieweit May für die ihm zur Last gelegten Taten überhaupt straf-


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rechtlich verantwortlich gemacht werden durfte (oder nach dem heutigen Stand der Erkenntnis verantwortlich zu machen wäre), nur auf der Grundlage des gesamten erhalten gebliebenen Materials einigermaßen zuverlässig zu beantworten sein. Schon im Jahre 1914 schrieb E. A. Schmid (23), es werde »vielfach von medizinischen und juristischen Autoritäten der Beweis angetreten, daß seine Jugendsünden nicht vor den Staatsanwalt, sondern vor den Nervenarzt gehörten«. Aber die Darlegungen, die zu diesem Fragenkreis dann veröffentlicht wurden - ich erinnere nur an die Äußerungen von Strobl, Gurlitt, Engel und Krauss, die sich noch heute in Bd. 34 der »Gesammelten Werke« finden (24) - leiden allesamt darunter, daß die Verfasser sich ausschließlich auf die Angaben stützen, die May 40 - 50 Jahre später aus seinem (eingestandenermaßen getrübten) Gedächtnis noch hervorholen konnte. Es scheint den Urteilern nicht einmal die Art der Delikte bekannt gewesen zu sein, deretwegen May bestraft worden war (25). Daß unter solchen Umständen eine wissenschaftlich seriöse Diagnose nicht gestellt werden kann, liegt auf der Hand. Es handelt sich bei diesen (und zahlreichen vergleichbaren) Äußerungen bestenfalls um wohlmeinende Hypothesen, deren Verifizierung oder Widerlegung nur nach Veröffentlichung aller aus jener Zeit erhaltenen Zeugnisse mit Aussicht auf Erfolg versucht werden kann.

D r i t t e n s schließlich liegt es im Falle May auch nicht so, daß ein Schriftsteller Taten begangen hätte, die, ohne zu seinem Werk in Beziehung zu stehen, als folgenlose private Episoden am Rand des biographischen Interesses bleiben könnten. Denn nicht nur hat die Strafzeit Mays Leben und Werk entscheidend geprägt. Es wird sich auch dartun lassen, daß dieselben Gaben, die May zum »geborenen Erzähler« machten, seine Konflikte mit dem Gesetz verschuldet haben. Die Analyse seiner Straftaten kann also zum Verständnis der psychologischen Ursprünge seines Werks Wesentliches beitragen.

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Unter den Versuchen, Mays Straftaten scheinbar wissenschaftlich zu erklären, ist die These vom »geborenen Verbrecher« die älteste. Es ist nur deshalb noch heute gerechtfertigt, einige Worte über sie zu verlieren, weil sie May die letzten Jahre seines Lebens verbittert und seinen körperlichen Zusammenbruch beschleunigt hat (26).
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Cesare Lombroso (1836 - 1909) hatte in seinem aufsehenerregenden Werk »L'uomo delinquente« (27) auf Grund vergleichender medizinischer Untersuchungen und Körpermessungen die Ansicht vertreten, daß der echte Verbrecher einen besonderen Menschenschlag darstelle, der sich durch spezifische körperliche und seelische Merkmale von anderen Menschen unterscheide. Es handele sich beim »delinquente nato« um eine atavistische, dem urzeitlichen Wilden ähnliche Varietät der Gattung Mensch, die unabhängig von allen sozialen Bedingungen unentrinnbar zum Verbrechen bestimmt und deshalb auch nicht besserungsfähig sei. Die medizinische Erklärung für diese Erscheinung fand Lombroso in einer anthropologischen Rückbildung, die auf Degenerationserscheinungen in der Ahnenreihe oder fötalen bzw. frühkindlichen Erkrankungen beruhen könne.

Lebius hatte schon im Jahre 1906 in einem Artikel über »Atavistische und Jugendliteratur« (28) May zu sehr durchsichtigen Zwecken auf diesen Typ des »geborenen Verbrechers« festzulegen versucht und behauptet: »Er machte im frühesten Alter eine schwere chronische Krankheit durch, die offenbar kulturhemmend gewirkt hat.« (29) May hat demgegenüber noch in seiner Selbstbiographie (30) festgestellt: Mich atavistischer Schwachheiten zu zeihen, ist eine Böswilligkeit, die ich mir unbedingt verbitten muß. Und: (31) Alle meine Vorfahren waren, soweit ich sie kannte, sowohl körperlich als auch geistig kerngesunde Menschen gewesen. Es gab nichts Atavistisches an mir. Es hätte dessen nicht bedurft. Denn auch nach dem damaligen Stande der Erkenntnis waren die Unterstellungen des Lebius als lediglich kriminologisch verbrämte Diffamierungen leicht erkennbar. Von den körperlichen Merkmalen des Lombrososchen Typs (fliehende Stirn, »tierische« Entwicklung der Kauwerkzeuge usw.) wies May nicht ein einziges auf, und auch die »schwere chronische Krankheit« war Lebius' Erfindung. Auf welchem Niveau sich der Artikel bewegt, wird am besten daraus klar, daß nach Lebius auch Nietzsche, dessen Schriften , »den Verbrecher verherrlichen und alle Moralbegriffe auf den Kopf stellen, ... ein pathologisch atavistischer Schriftsteller war« und daß »der atavistischen Literatur ... ferner die wollüstigen und geschlechtlich perversen Schriften (Frank Wedekind) zuzurechnen« sind.

Das alles war ehrabschneiderischer Unsinn, der schon damals als


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schwere öffentliche Beleidigung hätte bestraft werden müssen, und es ist wahrhaft kaum verständlich, wie es in dem später aufgehobenen Charlottenburger Urteil heißen konnte: »Die Bezeichnung "geborener Verbrecher" ist erst neuerdings auf Grund der von Lombroso gemachten Untersuchungen in die gerichtlich-medizinische Wissenschaft eingeführt. Ob die von dem Angeklagten über den Privatkläger ... ausgesprochene Ansicht zutreffend ist oder nicht, könnte nur auf Grund eingehender Gutachten von Sachverständigen festgestellt werden.« (32)

Auch eine vom Fall May gelöste Diskussion der Lehren Lombrosos erübrigt sich heute: sie haben späteren Forschungen nicht standgehalten und sind längst aufgegeben. Es ist nicht richtig, daß sich Straffällige durch irgendwelche körperlichen Merkmale vom Durchschnittsbürger unterscheiden (33). Es gibt auch keine »geborenen Verbrecher«. Richtig ist nur, daß jedermann mit Fähigkeiten und Anlagen geboren wird, die sich unter dem Eindruck äußerer (meist familiärer oder sozialer) Bedingungen positiv oder negativ auswirken können. Potentielle Straftäter sind wir alle. Im übrigen sind die Ursachen chronischer Kriminalität, wie immer deutlicher wird, in sehr vielen Fällen darin zu suchen, daß die emotionalen Bindungen an die Eltern, die für den Aufbau eines »sozialen Persönlichkeitsgefüges« besonders wichtig sind, in früher Kindheit gestört werden. Das »broken home«, die gestörte Beziehung der Eltern zueinander und zum Kinde, begünstigt den Aufbau asozialer Charakterformationen mehr als alles andere (34).

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Wenn wir den Zugang zum Verständnis der Delikte Mays gewinnen wollen, werden wir also gut daran tun, nicht nach irgendwelchen »Erbschäden« zu suchen (35), was auch nur rein spekulativ geschehen könnte, sondern uns einer Analyse der Taten selbst zuzuwenden. Halten wir uns an die Dokumentation Klaus Hoffmanns, so tritt unübersehbar ein gemeinsamer Zug hervor: Mays unbezähmbarer Drang zum Rollenspiel, zur »großen Szene«, zum Auftritt als einflußreiche Person und Beherrscher der Situation. Dr. med. Heilig, der »bespornt« in Penig erscheint und »im Vorübergehen« Kranke heilt; »Hermes« (allein der mythologische Name muß seinem Träger das Gefühl gottähnlicher Überlegenheit ver-


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liehen haben), der wählerisch seine irdische Gewandung erprobt; das »Mitglied der geheimen Polizei«, das Geld beschlagnahmt sowie Ehrfurcht und Schrecken um sich verbreitet; der kühne Mann, der nicht etwa leicht umsetzbares Geld stiehlt, sondern ausgerechnet ein Pferd entführt; der Gefesselte, der die »eiserne Bretze« zerbricht; der geheimnisvolle Plantagenbesitzer von Martinique - es ist eine Galerie eindrucksvoller Gestalten, die hier in die Erscheinung tritt; sie könnte einem Roman von Karl May entstammen. Man nehme hinzu, was wir sonst über den Lebenslauf Mays wissen: seine Untersuchungstätigkeit »als höherer, von der Regierung eingesetzter Beamter« im Jahre 1878 (36); die in den neunziger Jahren sich vollziehende Verwandlung in Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand; selbst so vergleichsweise geringfügige Episoden wie »die Entdeckung eines orientalischen Klondyke« (37) oder die in diesem Jahrbuch geschilderten Abenteuer Karl Mays in Gartow (38); so wird klar, daß alles imgrunde die suggestive Gestaltung von Rollen war, in denen May sich »auslebte«, seine Selbstverwirklichung fand.

Dieser Wesenszug prägt nun nicht nur sein privates Auftreten, sondern vor allem auch sein literarisches Werk. Die Reiseerzählungen zeigen vor glänzend exotischer Kulisse agierende Figuren, die sich allesamt (die guten wie die bösen, die komischen wie die problematischen) als Abspaltungen, als die »Rollen« des einen Menschen Karl May darstellen (39). Die momentane Identifizierung mit diesen Gestalten ging so weit, daß May nicht nur seine bürgerliche Erscheinung mit den Ich-Schöpfungen seiner Phantasie (Kara Ben Nemsi und Old Shatterhand) vertauschte, sondern auch mit seinen übrigen Figuren wie mit Lebenden sprach und lachte; es ist überliefert, daß er beim Erzählen in der Erinnerung an den Tod Winnetous tränenüberströmt und schluchzend innehalten mußte (40).

Auch die Symbolik des Spätwerks bringt nur eine andere Seite derselben Wesensart zur Erscheinung; die Gestalten haben keine fraglose Identität mehr, sondern sie »verkörpern« dies und jenes; sie »stellen dar«: abstrakte Ideen, »Strömungen des Seelenlebens« und reale Figuren zugleich. Schlüsselparabeln wie die Erzählung von der »Taucherinsel Ti« (41), wo die Taucher (die menschlichen Intelligenzen) ihre Rüstungen (d. h. ihre Körper, ihre irdischen Erscheinungen) je nach der Art ihrer Tätigkeit wechseln, weisen in ihrem psychischen Substrat auf dieselbe


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Grundbefindlichkeit des Mayschen Wesens zurück. Old Shatterhand legt ein indianisches Gewand an - und nun i s t er ein anderer, symbolisiert eine andere Realität (42). Noch wenn sich May in seiner Selbstbiographie schildert, sagt er nicht, wie man erwarten sollte: »So bin ich«, sondern er schreibt unwillkürlich und treffend (43): Indem ich hier beichte, verleihe ich mir die Gestalt und das Wesen, als das ich einst nach dern Tode existierest werde. Mays Lieblingswort in seinen letzten Lebensjahren: Nicht Einzelwesen, sondern Drama ist der Mensch (44), besagt auf diesem Hintergrund: Der Mensch hat keine eindeutig fixierbare Gestalt, sondern er ist die Summe seiner Erscheinungen, seiner »Rollen« auf dem Schauplatz der Welt (45).

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Das Material ist überreich. Aber es scheint kaum nötig, die flüchtige Skizze, die hier entworfen wurde, durch Hinzufügung ungezählter biographischer und literarischer Details zum großen Bild auszumalen. Auch ohnedies ist klar: Die sublimsten wie die bedenklichsten, die prägenden wie die flüchtigsten Züge dieses Lebens und Werkes zeigen den Typus eines Menschen, der in selbstgeschaffenen Gestalten mit spielerischem Ernst aufgeht, der die Bildungen seiner Imagination als real und die Realität wie eine Schöpfung seiner Vorstellungskraft behandelt (46). Es sind dies - psychiatrisch gesprochen - die Merkmale des Pseudologen, und Mays Straftaten fügen sich in dieses Bild genau so ein wie zahlreiche Lebensäußerungen, die wir sonst von ihm kennen (47).

Der Begriff der pseudologia phantastica ist im Jahre 1891 durch Anton Delbrück (48) in die psychiatrische Literatur eingeführt worden; er hat sich heute allgemein durchgesetzt. In seiner Untersuchung über »Die pathologische Lüge und die psychisch abnormen Schwindler« (49) kommt Delbrück nach Darstellung einer Reihe von Krankengeschichten zu dem Ergebnis, daß »schon beim Gesunden die mannigfaltigsten Mischformen von Lüge und Irrtum vorkommen können, daß aber dieses Symptom in einzelnen Fällen eine durchaus pathologische Höhe erreichen kann, wo man dann eher von einer Mischform von Lüge und Wahnidee oder Erinnerungsfälschung sprechen würde. In denjenigen Fällen nun, wo die Mischung der beiden Bestandteile des Symptoms eine annähernd gleichmäßige ist, scheint es mir nicht richtig, noch von einer "Lüge" zu spre-


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chen, wenn man an dem gewöhnlichen Sprachgebrauch festhalten will.Denn dieser versteht unter "Lüge" eben eine bewußte Unwahrheit ... Ebenso falsch würde es sein, das Symptom nach seinem anderen Bestandteil als "Irrtum", "Wahnidee" oder "Erinnerungsfälschung" zu bezeichnen, weil diese Worte eben auch nur einen Teil des Begriffs ... ausdrücken. Da aber für die Beurteilung des ganzen Menschen in manchen Fällen das Symptom eine große Wichtigkeit erlangen kann, so stellt sich das Bedürfnis heraus, ihm einen besonderen Namen zu geben und ich schlage vor, es als "Pseudologia phantastica" zu bezeichnen« (50).

In neueren Standardwerken (51) liest sich das so: »Pseudologia phantastica: Krankhafte Lügensucht, darf nicht mit dem üblichen zweckbedingten Lügen verwechselt werden. Der Kranke lügt hier um der Lüge willen und spielt sich selbst und der Umwelt etwas vor und lebt völlig im Schein, ohne daß er sich immer bewußt ist, wo die Wahrheit aufhört und die Lüge anfängt. Er lügt auch nicht um des unmittelbaren materiellen Nutzens willen, sondern aus beinahe künstlerischer Freude am Schein.«

Man muß sich gegenwärtig halten, daß diese Umschreitungen aus dem Untersuchungsmaterial der Kliniken gewonnen sind, die es mit Kranken und hochgradig abnormen Betrügern zu tun haben. Ihre unbesehene Übertragung auf May, der in seinem gesamten späteren Leben kein Betrüger war und dessen Abweichungen von der normalen Gemütsverfassung seit 1870 mit Sicherheit keinen Krankheitswert mehr besaßen, müßte irreführen. Das Phänomen der Vermischung von Imagination und Realität, von Täuschung und Glauben an die eigene Fiktion reicht jedoch, wie schon Delbrück bemerkt hat und wie seitdem immer wieder bestätigt worden ist, bis in die Bezirke des durchaus Gesunden und Normalen. Es beginnt beim Jägerlatein des Stammtischhelden (Karl May in Gartow) und zeigt sich in einer vom Standpunkt des nüchternen Alltagsmenschen aus sozial auffälligen und verstärkten Form vor allem bei vier idealtypischen Figuren: beim Dichter, beim Kinde und Jugendlichen, beim Schauspieler und beim Hochstapler (52). Hier nun ist der Fall Karl Mays und seiner Straftaten psychologisch einzuordnen. Man kann schon jetzt sagen: Wenn ein Mann wie er überhaupt Straftaten beging, mußten es Hochstapeleien sein. Der Schluß, daß damit die Ursache seiner Delikte geklärt sei, wäre aber verfrüht. Denn eine nähere Untersuchung


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zeigt, daß May zwar die Züge des Pseudologen im allgemeinen und die des dichterischen, des kindlich-jugendlichen und des schauspielerischen Typs im besonderen in geradezu klassischer Reinheit aufwies, daß ihm aber die über die grundlegenden Gemeinsamkeiten der psychischen Struktur hinausgehenden spezifischen Merkmale des straffälligen Hochstaplers fehlten. Das wird darzulegen sein.

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Die allgemeinsten Charakteristika des Pseudologen sind seine autistische Denkweise in Verbindung mit einer ihr adäquaten, auf die Realisierung der eigenen Tagträume drängenden Aktivität (53). Die autistische Denkweise zeichnet sich dadurch aus, daß sie »Widersprüche mit der Wirklichkeit unberücksichtigt läßt, daß das Denken von der Realität ... abgespalten wird« (54). Der autistische Mensch schafft sich eine eigene Welt, ein Binnenreich, in dem er herrscht und das bis in die Einzelheiten hinein erlebt und schöpferisch ausgestaltet wird. In welchem Grade dies bei May der Fall war, bedarf ebenso wenig der Erläuterung wie der Umstand, daß seine autistische Veranlagung durch die Blindheit der ersten Lebensjahre ins Abnorme gesteigert worden ist. May erkannte das im Alter selbst: (55) Nur wer blind gewesen ist und wieder sehend wurde, und nur wer eine so tief gegründete und so mächtige Innenwelt besaß, daß sie selbst dann, als er sehend wurde, für lebenslang seine ganze Außenwelt beherrschte, uur der kann sich in alles hineindenken, was ich plante, was ich tat und was ich schrieb (56). Als ich sehen lernte, war mein Seelenleben schon derart entwickelt und in seinen späteren Grundzügen festgelegt, daß selbst die Welt des Lichtes, die sich nun vor meinen Augen öffnete, nicht die Macht besaß, den Schwerpunkt, der in meinem Inneren lag, zu sich hinauszuziehen (57). In ebenso starkem Maße aber besaß May die dazugehörige Aktivität, den unbezähmbaren Drang, seine Innenwelt mit dem Anspruch auf Wahrheit in die Außenwelt eintreten zu lassen. Er tat das durch sein Auftreten in wechselnden hochstaplerischen Masken, durch seine Selbstdarstellung als Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, durch die Ausgestaltung seiner realen Umwelt (wie etwa die exotische Ausstaffierung seines Arbeitszimmers), durch die mündliche Rede (May war ein begnadeter Erzähler seiner sich offenbar während des Erzählens selbstproduzieren-


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den Geschichten) und durch sein umfangreiches Werk, dessen Quantität schon allein das Dranghafte seines Schaffens deutlich werden läßt. In all dem steckt etwas Bewundernswertes: Während sonst der einzelne wohl oder übel sich den Zwängen seiner Umwelt anpaßt, hat hier ein Mensch versucht, die Welt seiner Vorstellung anzupassen. Daß er dabei an der Realität notwendig scheitern mußte, begründet zugleich die Tragik und die Lächerlichkeit seiner Erscheinung.

Aber auch die mehr beiläufigen, teils problematischen, teils positiven Charakterzüge, die den Pseudologen kennzeichnen, finden sich bei May in überraschender Vollständigkeit. »Eitelkeit, Wichtigtuerei, Renommisterei« - May selbst hat diese seine Schwächen in der Gestalt des Halef unübertrefflich lebenswahr gezeichnet:(58) Indem ich alle Fehler des Hadschi beschreibe, schildere ich meine eigenen und lege also eine Beichte ab, wie sie so umfassend und so aufrichtig wohl noch von keinem Schriftsteller abgelegt worden ist. Bis ins Detail erfüllt May das Grundmuster seines Typs: Er beruft sich auf eine hohe Abstammung (»der natürliche Sohn des Prinzen von Waldenburg« (59)), er hat geheimnisvolle und einflußreiche Gönner (wie den , »Patriarchen von Jerusalem« (60)) und Beziehungen fast zu sämtlichen Fürstlichkeiten Deutschlands (61); er hat nicht nur den Doktortitel, sondern in China auch eine dem Doktortitel gleiche oder noch höher stehende Würde erworben (61). Ebenso zeigt May alle guten Eigenschaften der Pseudologen, nämlich ihre »eigenartigen sozialpolitischen Strebungen«: (62) »Sie geben große Trinkgelder (63), beschenken Bedürftige ..., begünstigen Künstler .... stiften Spitäler und ähnliches.« Auch neutrale Charakterzüge Mays wie seine Neigung zum Symbolischen (64) und der Einschlag weiblicher Merkmale in der psychischen Struktur (65) werden in der Literatur als allgemeine Merkmale des pseudologischen Typs geschildert (66).

Im ganzen ergibt sich das Bild einer zwar im bürgerlichen Sinne irritierenden, aber glanzvollen, reichen und schöpferischen Anlage. Das gilt selbst dort noch, wo sie sich in Straftaten verwirklicht. Wenn in der Dokumentation Hoffmanns eine Art von Bewunderung für die Schelmenstücke des jungen May hindurchschimmert, so spiegelt das nur den Eindruck, den der pseudologische Hochstapler auch sonst auf den empfänglichen Beobachter macht. »So gefährlich vom Standpunkt der öffentlichen Rechtssicherheit diese Leute sind«, schrieb Aschaffenburg


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schon im Jahre 1907 (67), »... trotz aller dieser Überzeugung kann ich mich des Gefühls einer gewissen Sympathie für sie nicht erwehren.« Im übrigen ist es sowohl im allgemeinen wie bei May im besonderen durchaus verfehlt, diesen Typ vornehmlich von seiner Kehrseite aus - also unter dem Gesichtspunkt seiner möglichen strafrechtlichen Verirrungen - zu betrachten. Es denunziert nicht May, sondern die Beschränktheit und Verständnislosigkeit seiner Kritiker, wenn ihm seine unbürgerliche Andersartigkeit immer wieder wie eine schwere Schuld vorgehalten wurde. Wie sagte der Landgerichtsdirektor Ehrecke? (68) »Aber ein Verbrechen wären doch solche phantastischen Dinge bei einem Dichter nicht. Und ich halte Herrn May für einen Dichter.«

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In diesen Worten - »die einen Richter als Menschen und Dichter ehren« (69) - leuchtet ein Zusammenhang zwischen Pseudologie und dichterischer Veranlagung auf, der Mays psychische Verfassung am ehesten erklärt. »Die gemeinsame Wurzel des dichterischen und schauspielerischen Vermögens einer- und des hochstaplerischen Talentes andererseits ist vor allem die lebhafte Phantasie«, meint v. Cleric (70), und bei Freud (71) erfahren wir, »daß die Dichtung wie der Tagtraum Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens ist«. Hier wird also wieder die Beziehung zwischen Kind, Dichter und Schauspieler deutlich. Psychologisch verhält es sich damit wohl so: Beim Kinde sind anders als üblicherweise beim Erwachsenen Vorstellung und Wahrnehmung noch nicht deutlich voneinander getrennt; deshalb lebt es in einer Welt, in der Märchenfiguren und wirkliche Menschen den gleichen Realitätsgehalt haben. Es geht beim Spiel mit völligem Ernst in seinen Rollen auf, neigt zur »Symbolik« (der Schemel »bedeutet« das Streitroß des Königs, der Kochlöffel sein Schwert) und trägt erfundene Geschichten (oder auch pure Schwindeleien) so überzeugungskräftig vor, daß sich Vorspiegelung und geglaubte Wahrheit unentwirrbar mischen. Das ist ersichtlich dieselbe seelische Verfassung wie sie den Pseudologen auszeichnet, und das verbindende Element ist das Vorwalten intensivster Phantasietätigkeit. »Nicht bündig läßt sich einstweilen die Frage beantworten, ob die Phantasie hinsichtlich ihres Grades und ihrer Eigenart als eine besondere Begabung aufzufassen ist, oder ob es sich dabei bloß
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um das Ausmaß handelt, in dem die frühkindliche Einheit von Vorstellung und Wahrnehmung ... bewahrt wurde« (72). Doch ob sich das nun so oder anders verhält: Mays seelische Struktur ist geradezu ein Musterbeispiel für die enge Verwandtschaft zwischen diesen Erscheinungen. Er ist der Prototyp des phantasierenden Dichters mit besonders starken Einschlägen von kindlichen und schauspielerischen Zügen.

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Wenn May sich noch in seinem Wiener Vortrag als den Hakawati, den orientalischen Märchenerzähler, stilisierte (73), der schon als Kind des Abends an dem großen Kirchentor saß, und um den sich die halbe Kindergemeinde versammelte, um seinen Erzählungen zu lauschen (74), so ist das mindestens in einem inneren Sinne wahr; wir wissen ja, wie May auch als Erwachsener in fremder Umgebung unvermittelt zu erzählen begann (75) und faszinierte Hörer in solcher Zahl an sich zu ziehen verstand, daß sie einmal sogar von der Feuerwehr vertrieben werden mußten (76). May hat diese triebhafte Erzählfreude in der Figur des Hadschi Halef Omar, seiner gelungensten Gestalt, für die Ewigkeit festgehalten. Er war, wenn man das böse Wort ins Treffende verwandeln will, ein »geborener Erzähler« (77), eine Reinkarnation der altorientalischen Erzählergestalten. Man kann bei ihm das Phänomen des Dichterischen an seiner Quelle studieren, so wie es Freud aus der normalen Phantasietätikeit des Tagträumers abgeleitet hat. Freud sagt über das »Urmodell« der dichterischen Tätigkeit: (78) »An den Schöpfungen dieser Erzähler muß uns vor allem eines auffällig werden; sie alle haben einen Helden, der im Mittelpunkt des Interesses steht, für den der Dichter unsere Sympathie mit allen Mitteln zu gewinnen sucht, und den er wie mit einer besonderen Vorsehung zu beschützen scheint. Wenn ich am Ende eines Romankapitels den Helden bewußtlos, aus schweren Wunden blutend, verlassen habe, so bin ich sicher, ihn zu Beginn des nächsten in sorgsamster Pflege und auf dem Wege der Herstellung zu finden ... Ich meine aber, an diesem verräterischen Merkmal der Unverletzlichkeit erkennt man ohne Mühe - Seine Majestät das Ich, den Helden aller Tagträume wie aller Romane.« Freud meint auch, es sei »leicht als notwendiger Bestandteil des Tagtraums zu verstehen, ... wenn die anderen Personen des Romans sich scharf in gute und böse scheiden,


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unter Verzicht auf die in der Realität zu beobachtende Buntheit menschlicher Charaktere; die »guten« sind eben die Helfer, die »bösen« aber die Feinde und Konkurrenten des zum Helden gewordenen Ichs.«

Freud hat, soweit wir wissen, nie etwas von Karl May gelesen. Aber es gibt wohl keinen neueren Schriftsteller, auf dessen Werke diese Beschreibung so gut paßt wie auf die Mayschen Reiseerzählungen. Freud meinte (78): »Wir verkennen nun keineswegs, daß sehr viele dichterische Schöpfungen sich von dem Vorbild des naiven Tagtraums weit entfernt halten, aber ich kann doch die Vermutung nicht unterdrücken, daß auch die extremsten Abweichungen durch eine lückenlose Reihe von Übergängen mit diesem Modelle in Beziehung gesetzt werden könnten.« Auch das Werk Mays erhebt sich ja von den kunstlosen, aber erlebnisstarken Gebilden des »naiven Tagtraumes«, der unkontrollierten Hingabe an die reine Phantasietätigkeit, wie man sie an den wilden und weltumspannenden Fabeleien seiner ersten Großromane (etwa »Zepter und Hammer«, »Die Juweleninsel« (78a), »Das Waldröschen«) besonders anschaulich studieren kann, bis zu den bedeutenden Prosaleistungen seines Spätwerks. Aber die Nähe zum Freudschen Ausgangsmodell bleibt bei Mays Schöpfungen bis zur Jahrhundertwende so eng (79), daß die erhalten gebliebene »frühkindliche Einheit von Vorstellung und Wahrnehmung«, die Zwanghaftigkeit naiven Phatasierens - mit Recht nannte sich May den Sohn der Phantasie (80) - auch seine persönliche Lebensführung noch stärker pseudologisch durchfärben mußte, als es sonst bei Dichtern der Fall ist. Was May über die Vertauschung von »Roman und Leben« anläßlich des Spanien-Abenteuers seiner Jugend sagt (81), trifft auch auf seine Mannesjahre noch zu: Die überreiche Phantasie, mit der mich die Natur begabte, machte die Möglichkeit dieser Verwechselung zur Wirklichkeit.

Im übrigen ist es auch sonst eine geläufige Erscheinung, daß im Leben des Dichters pseudologische Züge nach außen treten oder mindestens den Autor zu selbstporträthafter Gestaltung nötigen. Das gilt nicht etwa nur für Schriftsteller, deren Werk dem des jungen May ähnelt, wie etwa Dumas père (82), sondern gerade auch für Dichter von höchstem literarischen Rang. Goethe (83) berichtet schon aus seiner Kindheit von dem »Trieb«, »womit der Dichter selbst das Unwahrscheinlichste gebieterisch ausspricht und von einem jeden fordert, er solle


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dasjenige für wirklich erkennen, was ihm, dem Erfinder, auf irgendeine Weise als wahr erscheinen konnte«. Das ist das pseudologische Symptom, von dem er bemerkt: »Und wenn ich nicht nach und nach, meinem Naturell gemäß, diese Luftgestalten und Windbeuteleien zu kunstmäßigen Darstellungen hätte verarbeiten lernen, so wären solche aufschneiderische Anfänge gewiß nicht ohne schlimme Folgen für mich geblieben.« Wir wissen von Schillers lebenslänglicher Faszination durch die Gestalt des pseudologischen Betrügers (Demetrius, Warbeck). Keller berichtet im »Grünen Heinrich« unter dem Titel »Kinderverbrechen« (84) von den pseudologischen Verirrungen des jungen Heinrich Lee, die offenbar auf eigenen Erlebnissen beruhen (85); in dem bekannten Gedicht »Der Schulgenosse« parallelisiert er sein Schicksal mit dem eines ähnlich veranlagten Kameraden, den er später als Vagabunden wiedererkennt: »Und so hat es gewuchert, unser Pfund? Du bist ein Schelm geworden - ich Poet!« Kleist konnte zeitlebens in seinem Privatleben Erfundenes und Reales nicht auseinanderhalten. Hebbel führte den Doktortitel, bevor er ihn rechtmäßig erworben hatte; er erzählte verleumderische Geschichten über andere und meinte lakonisch, dies geschehe »nicht aus Bosheit oder schnöder Lust an der Lüge«. »,Es ist vielmehr eine Äußerung meines dichterischen Vermögens« (86). Thomas Mann hat nicht nur im »Krull« die klassische Darstellung des gemeinsamen pseudologischen Grundzuges von Künstler- und Hochstaplertum geliefert; schon sein biblischer »Joseph« ist ein Künstlertyp dieser Art; und autobiographische Stücke Manns wie »Im Spiegel« (1907) oder »Kinderspiele« (1920) (87) rücken die pseudologischen Züge stark in den Vordergrund.

Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Doch bedarf es dessen nicht, um zu erkennen, daß Mays Charakter keinen Sonderfall, sondern den Typus des Künstlers zur Erscheinung bringt. Sein für den durchschnittlichen Zeitgenossen irreguläres Benehmen beglaubigt ihn als Dichter.

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Die Eigenart seiner Veranlagung wird bei May dadurch weiter verstärkt, daß er ausgeprägt kindliche und jugendliche Wesenszüge erkennen läßt. Das ist zwar wegen der geschilderten Zusammenhänge auch sonst bei Dichtern oft der Fall, bei May aber in extremer Steigerung. May erkannte es schließlich selbst: (88) Ich blieb ein Kind für alle Zeit, ein


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umso größeres Kind, je größer ich wurde ... Und an anderer Stelle beruft er sich auf die mir angeborene Nivität, die ich selbst heute noch in hohem Grade besitze (89). Dieses Urteil wird von neutralen Beobachtern bestätigt. Paul Wilhelm (90), der May erst wenige Tage vor seinem Tode kennenlernte, fand in ihm »einen merkwürdigen Menschen ..., der auch als Greis noch eine überaus sympathische Naivität, fast Kindlichkeit besaß« (91), und Robert Müller nennt ihn einen »Knabengreis« (92) und ein »großes altes phantastisches Kind« (92). Literarisch freilich war May aus dem Jugendalter damals längst heraus; die hochkomplizierten Prosagebilde seiner späteren Jahre sind ausgesprochene Erwachsenenliteratur, wenn auch Mays geringe Fähigkeit zu diskursiver Abstraktion und die Bildhaftigkeit seines Denkens auf frühzeitlich-mythische Geistesformen zurückweisen. Aber die Reiseerzählungen, die May gegen die Zunft der Lehrer die Liebe der Jungen eingetragen haben, sind Jugendliteratur in einem echteren Sinne als das, was man gemeinhin so nennt. Hier stellt sich nicht ein Erwachsener mit Fleiß naiv und bevölkert seine Landschaft mit Kindern, in deren Psyche er sich, so gut es gehen will, hineinzuversetzen sucht. Sondern Mays Seelenlage war selbst von jugendlicher Art: Wenn Zwölfjährige den Verstand eines hochbegabten Erwachsenen besäßen und dichten könnten, so würden sie schreiben, wie Karl May es lange Jahre tat. Aus dieser seelischen Gleichstrukturiertheit, die längst zum Gegenstand gründlicher jugendpsychologischer Untersuchung hätte gemacht werden müssen, erklärt sich die geradezu betäubende Wirkung, die von der May-Lektüre auf viele Jugendliche ausgeht (93). Es ist hier nicht der Ort, dieser psychischen Verwandtschaft anhand des Mayschen Werkes im einzelnen nachzugehen. Jedenfalls ist klar, daß durch die Kumulation von dichterischen und kindlichen Zügen die pseudologische Komponente seines Wesens noch deutlicher zur Erscheinung gebracht werden mußte.

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Auch die schauspielerische Anlage tritt bei May mit bemerkenswerter Deutlichkeit hervor. Lisa Barthel-Winkler hat einmal May als »dichtenden Schauspieler« geschildert (94) und darauf hingewiesen, wie oft das »Ich« der Reiseerzählungen ohne hinreichenden Anlaß seine Identität vereugnet und sich für einen anderen ausgibt, dessen Rolle es nun mit


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großer Meisterschaft zu spielen versteht. Meist stellt der Held zunächst den einfältigen Toren dar und wird entsprechend gering geschätzt, bis er sich in einer triumphalen Enthüllungsszene zu erkennen gibt (95). Schon die frühen Erzählungen vom Alten Dessauer ziehen ihren Effekt allein aus der Schauspielerei und der Verkleidung der Hauptgestalt, die als Bäcker, Leiermann, Scherenschleifer usw. auftritt und dadurch in komische und gefährliche Situationen gerät (96); und noch in »Babel und Bibel« und »Ardistan und Dschinnistan« ist dieses Motiv der Verhüllung und strahlenden Entschleierung wirksam. In einem weiteren Sinne sind sogar die vielschichtigen Allegorien des Spätwerks nur ein tiefsinniger Mummenschanz.

Auf das Schauspielerische verweisen aber auch andere Züge, wie Mays enormes Vergnügen an jeder Art von Kostümierung. Die exotische Kulisse seiner Erzählungen kommt dieser Neigung entgegen. Aber es ist auffallend, mit welch liebevoller Akribie May das Kostüm seiner Figuren, und zwar vornehme wie groteske Gewandungen gleichermaßen, schildert. Ja, seine Figuren werden geradezu durch ihre Requisiten charakterisiert. Auch May selbst hatte ohne Rücksicht auf seine Reputation großes Vergnügen daran, sich als Trapper oder Orientale zu verkleiden und sich in dieser Pose zur Freude seiner Verehrer photographieren zu lassen. Als man ihm das vorhielt, entgegnete er: »jeder Schauspieler lasse sich im Kostüm photographieren, wie es ihm beliebe. Warum dürfe sich ein Schriftsteller, der über amerikanische Dinge schreibe, nicht als Trapper abbilden lassen«? (97) Der Vergleich mit dem Schauspieler stellte sich also auch bei ihm selbst ganz ungesucht ein.

Eine detaillierte Untersuchung dieser Seite des Mayschen Wesens würde noch sehr erhebliches Material zutage fördern. Doch genüge der Hinweis, daß die drei leuchtenden Episoden, die May in seiner Biographie in die Schilderung seiner trüben Jugendzeit einbaut, allesamt schauspielerische Erlebnisse schildern. May »spielt« unter Anleitung seines überaus strengen Vaters unter großen Strapazen die sächsische Armee; aber trotz allem hat er Lust und Liebe zur Sache und trägt tiefe Eindrücke davon (98). Bald darauf sieht er ein Puppenspiel: Da kam ein Tag, an dem sich mir eine Welt offenbarte, die mich seitdem nicht wieder losgelassen hat ... Puppen! ... Aber sie lebten für mich. May meint sogar, daß der Eindruck dieses Spieles schon im neunjährigen


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Knaben den Entschluß geweckt hat, Dichter zu werden (99). Den Höhepunkt aber bildet Mays eigener Auftritt bei einer Schauspieltruppe als Tambour, mit blanken Knöpfen und einem Hut mit weißer Feder (100). Und nun waren sie da, die großen, erhabenen Augenblicke meines ersten Bühneudebüts! (101) Bei der folgenden Schilderung spürt der Leser förmlich das Wonnegefühl, das den Jungen durchschauert haben muß, als er trommelnd über die Bühne zog und das Publikum zu Beifallsstürmen hinriß. Ob diese Szenen nun mehr oder weniger authentisch sind, ist gleichgültig: Charakteristisch sind sie in jedem Falle. May ist ja, wie die Dokumentationen von Klaus Hoffmann und Hainer Plaul in diesem Jahrbuch zeigen, noch im Jahre 1863 öffentlich als Rezitator aufgetreten; auch die bedeutenden Publikumserfolge, die er in den neunziger Jahren mit seinen Hotelaudienzen (102) und bei den Lesungen seiner letzten Lebensjahre erzielte, zeigen, daß er als Vortragender seine Hörer zu faszinieren verstand und beachtliche Fähigkeiten besessen haben muß. »May hat sich ja als Schriftsteller in eine Rolle hineingelebt, die selbst von ihm und seinem Sein kaum zu trennen ist«, berichtet eine Pressestimme über den Wiener Vortrag (103), und darin liegt in der Tat seine Wirkung auch auf diesem Gebiet ebenso wie die Nähe des Schauspielerischen zum Pseudologischen begründet. Es ist bekannt, daß viele Schauspieler auch im Alltag ihre Rollen weiterspielen, ähnlich wie es May mit seinen Ich-Gestalten tat; und den Biographien mancher Schauspieler läßt sich entnehmen, daß sie in ihrem Privatleben Absonderlichkeiten zeigten, wie sie auch über May zu berichten waren.

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Alle Ausprägungen des pseudologischen Typs, deren Aufweis bei May vorstehend versucht wurde, lassen sich auch in seinen Straftaten wiederfinden. Es handelt sich gewiß um sehr handfeste, massive Delikte; aber sie haben in der Ausführung doch etwas von jugendlichen Schelmenstreichen an sich (104) und tragen »fast komödiantische Züge« (105). Der Zusammenhang mit den späteren Abenteuererzählungen Mays tritt nicht nur in seinen eigenen mißverstandenen »Heldentaten«, sondern vor allem auch in den »Geschichten Albin Wadenbachs« (106) hervor. Schon Wulffen hatte bemerkt (107): »Unter Benutzung seiner schon damals erworbenen Kenntnisse von ausländischen Gegenden und Sitten schrieb


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er in der Haft an den angeblichen Onkel einen Brief, aus dessen Inhalt man tatsächlich hätte schließen können, daß der Häftling auf Martinique wie zu Hause sei. Also hier im Verbrechen die ersten Symptome des Charakters der späteren Schriftstellerei.« Wir müssen demnach Stolte zustimmen, wenn er sagt: (108) »Es ist derselbe Mensch, der als Trickbetrüger und Hochstapler durch die Lande zog, derselbe Mensch, der seinen Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi, sein anderes Ich, abenteuernd und die Taten des Guten vollbringend durch ferne Weltteile schickte.«

Mit alledem ist aber nur geklärt, warum die Straftaten Mays so ausgeführt wurden, wie es die Dokumentation Hoffmanns zeigt. Nicht geklärt ist dadurch, warum er sie überhaupt verübte. Es ist ein gefährlicher Trugschluß, von dem v. Oeric berichtet: (109) »Gelegentlich ist ... mehr oder weniger durch die Blume gesagt worden, daß Dichter und Schauspieler einer- und der Hochstapler andererseits im Grunde genommen ungefähr das gleiche seien.« Denn Dichter, Schauspieler (und auch junge Menschen) begehen gemeinhin ungeachtet ihrer Anlagen keine Straftaten. Die Schädigung anderer, die den hochstaplerischen Betrüger von den Existenzformen unterscheidet, die mit ihm so häufig in einem Atem genannt werden, ist überhaupt kein im engeren Sinne pseudologisches Kriterium mehr. Deshalb ist es zu bedauern, wenn in der psychiatrischen und kriminologischen Literatur der hochstaplerische Betrüger so oft als die bedeutsamste Erscheinungsform des Pseudologen geschildert wird (110). Damit aus einem Menschen mit pseudologischen Neigungen ein Krimineller wird, müssen noch einige andere Eigenschaften hinzukommen. Und gerade die spezifischen Wesenszüge des hochstaplerischen Betrügers besaß May nicht.

Der kriminelle Hochstapler pflegt zu ernsthafter Arbeit unfähig zu sein (111) - May war, wie sein umfangreiches Werk beweist, ein Mensch von ungewöhnlichem Fleiß; auch seine Kenntnisse waren beträchtlich. Der Hochstapler lebt im Augenblick, ohne die Fähigkeit, weitergesteckte Ziele beharrlich und konsequent zu verfolgen (112) - May konnte umfassende Konzeptionen mit großer Energie realisieren und schließlich fast sein gesamtes Werk in e i n e n großen Mythos verarbeiten. Der Hochstapler ist süchtig, greift vielfach zu Rauschmitteln, simuliert Krankheiten und hält sich viel in Spitälern auf (113) - nichts davon finden


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wir bei May. »Der wahre Hochstapler« zeigt »keine Besserung und keine Reue« (114). »Sie sind fast alle unverbesserlich« (115) und »keiner hat seine unredlichen Einnahmen dazu verwandt, ein ehrliches Geschäft anzufangen« (116). May hingegen hat seit 1870 mehr als 40 Jahre lang niemanden mehr in unredlicher Weise geschädigt. Im Gegenteil: Er hat wiedergutgemacht, Bedürftige beschenkt und begabte, mittellose Menschen auf seine Kosten studieren lassen. Sein Werk kreist von den frühesten bis zu den letzten Hervorbringungen um Probleme des Gewissens, der inneren Umkehr und der Läuterung; man brauchte viele Seiten, wenn man die geradezu zwanghafte Fixierung Mays auf dieses existenzielle Problem seines Lebens im einzelnen belegen wollte. Die ethische Motivierung, die neben der Phantasiekraft zum Grundantrieb seines Schreibens geworden ist, wird bei May sogar formbildend: Die Bewegung vom Flachland in die Höhe, von Ardistan nach Dschinnistan, bestimmt nicht nur das ethische Programm, sondern auch die formale Struktur seiner Romane (117). Der leeren Entwicklungslosigkeit des Hochstaplers steht bei May eine stetige und bemerkenswerte Entwicklung gegenüber, im Persönlichen wie im Schriftstellerischen; bedenkt man, woher dieser Mensch kam und wo er endete, so erzwingt seine Lebensleistung (literarisch und persönlich gesehen) hohen Respekt. Für den Hochstapler gilt: »Es fehlt ihm die Liebesfähigkeit.« (118) May dagegen lehrte die Überwindung des Hasses durch die Liebe und durfte über sie sagen: (119) Dieses Wort resümiert meine philosophische und künstlerische Lebensanschanung, und in ihr haben mich auch meine Gegner nicht zu beirren vermocht.

Mays Wesen zeigt also stark pseudologische Züge, bietet aber andererseits geradezu ein Gegentild zum Typ des betrügerischen Hochstaplers. Darin liegt auch das Tragische und Anrührende seiner Alterserscheinung und seines verzweifelten Kampfes um menschliches Verstehen. Ein rechter Hochstapler hätte sich über die Enthüllung seiner frühen »Heldentaten« und die um seine Person gerankte Räuberhauptmannslegende eher geschmeichelt gefühlt; die vielen Hochstaplermemoiren, die uns erhalten sind, verraten immer wieder den Stolz des Biographen auf seine »Leistungen«. Wenn May sich stattdessen seiner Delikte schämte und sie zu verhüllen suchte, weil ihm »die Erinnerung daran wehe tat« (120), und wenn er auf die vergleichsweise sachlichen


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Bemerkungen Wulffens tief verletzt reagierte, so beweist das nur, wie verständnislos und verstört er seinen eigenen Taten gegenüberstand. Der Mangel an »Bekennermut«, den man ihm vorgeworfen hat, macht ihn, so paradox das klingt, menschlich glaubhafter.

Noch etwas anderes muß uns hindern, Mays Straftaten vorschnell aus den Besonderheiten seiner Charakterstruktur abzuleiten: Die pseudologische Komponente seines Wesens war zwar stark und auffallend, aber er war nicht, wie es die habituellen Hochstapler sind, ein Pseudologe »durch und durch«. Er hatte vielmehr, wie oft bemerkt worden ist, auch sehr bürgerliche Züge, die das Herz seiner deutschen Leser höher schlagen ließen und deren er zur Austalancierung seines komplizierten inneren Gefüges dringend bedurfte. Er konnte sogar nüchtern, schlicht und unprätentiös sein, hatte Humor und war bisweilen nicht ohne selbstironische Einsicht in die eigenen Wunderlichkeiten. Auch die Ich-Gestalten seiner Reiseerzählungen haben zwar übermenschliche Fähigkeiten, aber nichts Überspanntes. Kara Ben Nemsi hat (mehr als der oft etwas präzeptorale Mr. Shatterhand) sogar ein recht entspanntes Verhältnis zu den bizarren Erscheinungen seiner Umwelt. Überhaupt stehen im Charakterbild Mays heterogene Züge recht unverbunden nebeneinander. Dies alles müßte in einer umfassenden Psychographie gebührend berücksichtigt werden.

Zusammenfassend ergibt sich also, daß Mays Straftaten nur in ihrer Ausgestaltung, nicht aber in ihrer Existenz aus dem Bilde seines Wesens zwanglos begreifbar sind. Sie sind in seiner Biographie eine - wenn auch folgenschwere - Episode geblieben und bedürfen zu ihrer Deutung der weiteren Erklärung aus den individuellen und sozialen Bedingungen seiner Jugend.

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Alles, was sich dazu heute schon sagen läßt, kann nur vorläufig sein. Denn das Quellenmaterial, das allein eine sichere Diagnose ermöglichen und vielleicht auch über Mays Verantwortlichkeit zur Zeit der Tatbegehung genaueren Aufschluß geben könnte, ist unveröffentlicht. Noch fehlen uns die umfangreichen Akten und Dokumente, die Hoffmann und Plaul in jahrelanger Arbeit zusammengetragen haben (120a). Noch ist Erich Wulffens mehr als 40Jahre alte (!) Arbeit über »Karl Mays


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Inferno« unbekannt und ungedruckt (121); sie muß der Forschung auch deshalb zugänglich gemacht werden, weil Wulffen Akten verwerten konnte, die später vernichtet worden sind. Und erst jetzt ist der »Verlorene Sohn«, Mays »Roman aus der Criminal-Geschichte«, die früheste biographische Spiegelung seiner Jugend-Erlebnisse, im vollen Urtext wieder zugänglich geworden.

Solange hier nicht Abhilfe geschaffen ist - und bis zum Druck des Gesamtmaterials werden noch Jahre vergehen - , lassen sich seriöserweise nur Erklärungshypothesen bieten. Doch meine ich, daß die vier im folgenden skizzierten Deutungsmöglichkeiten, die einander nicht ausschließen, sondern ergänzen, den Umkreis abstecken, in dem sich die psychologische Lösung wird bewegen können.

1. Der werdende Schriftsteller pflegt die Laufbahn, die er beschreiben [recte wohl: beschreiten; die Internet-Redaktion] will, nicht als Beruf, sondern als Berufung aufzufassen. Er weiß oft von früher Jugend an, daß er »Dichter« werden will und für jeden anderen Beruf untauglich ist. »Von meinem dreizehnten Jahr an war mir das eine klar, daß ich entweder ein Dichter oder gar nichts werden wolle«, schreibt Hermann Hesse (122). May beruft sich, wie wir sahen, darauf, daß er schon im Alter von neun Jahren habe Dichter werden wollen. Das ist gewiß legendär; aber bei der Zwanghaftigkeit seines späteren Schreibens ist eine sehr frühe Fixierung auf diesen Wunsch jedenfalls glaubhaft, selbst wenn sich andere Pläne (z. B. Arzt zu werden) zeitweilig davorgeschoben haben mögen. Wer so veranlagt ist, gerät in der Jugend oft in größte innere Schwierigkeiten, solange er einerseits von seiner Bestimmung durchdrungen ist, andererseits aber ernstzunehmende schriftstellerische Leistungen wegen seiner Unreife noch nicht vollbringen kann. In der Pubertät resultieren daraus häufig schwerste Konflikte mit Schule und Elternhaus, Konflikte, die etwa Hesse beinahe in die Nervenheilanstalt geführt hätten (123). Auch Thomas Mann hat diesen Zustand eindringlich geschildert: (124) »die "Schwierigkeit", Faulheit und klägliche Undefinierbarkeit der Frühe, das Nichtunterzubringen sein, das Was-willst-du-nun-eigentlich?, ... das im Grunde hochmütige, im Grunde sich für zu gut haltende Abweisen jeder vemünftigen und ehrenwerten Tätigkeit - auf Grund wovon? Auf Grund einer dumpfen Ahnung, vorbehalten zu sein für etwas, bei dessen Nennung, wenn es zu nennen wäre, die Menschen in Gelächter austrechen würden. Dazu


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das schlechte Gewissen, das Schuldgefühl, die Wut auf die Welt, der revolutionäre Instinkt, die unterbewußte Ansammlung explosiver Compensationswünsche ...« Dies alles wird man auch beim jungen May vorauszusetzen haben. Er war, obwohl er in der Autobiographie darüber schweigt, ersichtlich kein Musterknabe, sondern ein recht aufsässiger Schüler, der seinen Lehrern größte Erziehungsschwierigkeiten bereitet hat, längst bevor der viel erörterte Kerzendiebstahl zu seinem Ausschluß vom Waldenburger Seminar führte (125). Die Lehrer, die ihm schon vor jener Tat eine »arge Lügenhaftigkeit und rüdes Wesen« und hernach einen »infernalischen Charakter« (126) bescheinigt haben, scheinen recht beschränkte Vertreter ihres Standes gewesen zu sein. Mit der Erkenntnis, daß der »Lügengeist, dem der junge Mensch ... sich ergeben« hatte und von dem der Consistorialrath D. Otto zwei Jahre später feststellen mußte, daß er »von ihm noch nicht gewichen« sei, einen sich später zu großer Pracht entfaltenden phantastischen Erzähler im larvenhafthäßlichen Gewande seiner Entwicklungsjahre zeigte - damit mußten sie jedenfalls überfordert sein. Psychologisch ist es aber durchaus erklärlich, daß May, solange er seiner Begabung nicht durch das Wort gültigen Ausdruck verleihen konnte, den pseudologischen Einschlag seines Temperamentes in bedenklich-befremdlichen Verhaltensweisen auszuagieren sich unwiderstehlich gedrungen fühlte. »Ein Phantasiemensch und Literat von Genie und Anlage hat sich, ehe er zu seiner Bestimmung reifen konnte, ins kriminelle Abenteuer verirrt«, heißt es bei Stolte (127). Ob dieser Gesichtspunkt zur Erklärung der Straftaten allein ausreicht, ist zweifelhaft. Aber e i n e der mehrfach verschlungenen Kausalreihen, die May in die Strafanstalt geführt haben, liegt hier gewiß.

2. Eine zweite, verhängnisvolle Entwicklung wird man hinzunehmen müssen: die Verurteilung zu sechs Wochen Gefängnis wegen eines Uhrendiebstahls, die Mays Lehrerlaufbahn im Jahre 1862 beendete. Der Vorfall paßt durchaus in das Bild, das wir uns von dem jungen May machen können. Der junge Lehrer im Weihnachtsurlaub tritt unter den Dörflern seiner Heimat so vornehm auf, wie es die Rolle eines Mannes von Welt erfordert: mit Taschenuhr und Zigarrenspitze (auch wenn es nicht die eigenen sind). Daß May, wie er von Anfang an und noch im hohen Alter beteuerte, diese Gegenstände nicht hat stehlen wollen (128), ist sehr wahrscheinlich; denn die Entdeckung wäre ihm von


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vornherein sicher gewesen. Umso verheerender mußten die Wirkungen der Verurteilung sein. Sie traf ihn wie ein Schlag über den Kopf, unter dessen Wucht man in sich selbst zusammenbricht. Und ich brach zusammen! (129) Die »Uhrengeschichte« ist - auch von May selbst - so oft erzählt und hin und her gewendet worden, daß ich mich kurz fassen darf. Wenn man die seelische Lage Mays, wie sie oben andeutend skizziert wurde, in die Betrachtung einbezieht, so ist die Reaktion des 19-20jährigen, noch ganz unreifen Mannes völlig begreiflich: Ich sann auf Rache, und zwar auf eine fürchterliche Rache, auf etwas noch niemals Dagewesenes. Diese Rache sollte darin bestehen, daß ich, der durch die Bestrafung unter die Verbrecher Geworfene, nun wirklich auch Verbrechen beging. Nach meiner Ansicht hatte man mich dann auf dem Gewissen ... (130). Er wollte sich rächen an der Polizei, rächen an dem Richter, rächen am Staate, an der Menschheit, überhaupt an jedermann! (131) Selbst wenn nicht alles so planmäßig vorgegangen ist, wie es sich hier ausnimmt, - daß ein von Kind auf dem Elend und ungünstigen Umwelteinflüssen ausgesetzter Heranwachsender, dessen Begabung seine Umgebung weit überragt, der sich aber verkannt fühlt, von der Gesellschaft in demütigenden Formen ausgestoßen wird und keinen Erwerb mehr findet, daß ein solcher junger Mann zu einer gewaltigen Überkompensation seiner Minderwertigkeitsgefühle ausholt, daß er die strahlenden Genugtuungen und Übergenugtuungen, die er sich später in seinen Büchern zu verschaffen wußte, auch in der Realität genießen wollte, - es ist beinahe natürlich (132).

An der Tat des Einzelnen ist auch die Gesamtheit schuld. Sie hat ihn um ihrer selbst willen zu »ent«-schuldigen, sagte May im Alter (133). Er sprach pro domo, aber er sprach die Wahrheit. Die zerstörerischen Wirkungen der kurzfristigen Freiheitsstrafe sind heute international unbestritten: sie reißt den Einzelnen aus Beruf und Familie und hebt damit seine letzten Bindungen auf; ihre geringe Dauer erlaubt keine helfenden erzieherischen Einwirkungen, wohl aber den verderblichen Kontakt mit Schwerkriminellen; sie macht den Verurteilten als einen, der »gesessen« hat, gesellschaftlich unmöglich und treibt ihn durch dieses Stigma erst recht in die Kriminalität, der sie vorbeugen will. Der von mir mitverfaßte »Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches« (134) hat deshalb zum erstenmal in der Geschichte der Strafrechtsreform die kurzfristige


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Freiheitsstrafe als Primärstrafe gänzlich abgeschafft. Der Gesetzgeber ist dem wenigstens insoweit gefolgt, als nach dem neuen §14 StGB, der seit dem 1. 4. 1970 in Kraft ist, Freiheitsstrafen unter sechs Monaten nur noch ausnahmsweise verhängt werden dürfen. Karl May wäre also, wenn seine Tat heute spielte, nicht ins Gefängnis geworfen worden. Er wäre vermutlich sogar wegen Mangels an Beweisen freigesprochen worden (135); hätte man ihn verurteilt, so wäre ihm als Heranwachsendem (&paragraph; 105 des Jugendgerichtsgesetzes) eine der nicht diskriminierenden Sanktionen des Jugendstrafrechts auferlegt worden; und selbst wenn man ihn nach den Regeln des Erwachsenenstrafrechts behandelt hätte, wäre er mit einer wenig erheblichen Geldstrafe bedacht worden. Da aber dies alles nicht geschah, das Leben eines jungen Menschen vielmehr - guten Gewissens und ahnungslos - zerbrochen wurde, kann es keinen strafrechtlich Erfahrenen geben, der es verwunderlich findet, daß der Gedemütigte sich nunmehr anschickte, den Spieß umzudrehen, die ihm verschlossenen einflußreichen Positionen mit der Kraft seiner pseudologischen Begabung zu usurpieren und den Menschen seine Überlegenheit in triumphalen Auftritten fühlbar zu machen. So erweist sich der Hochstapler als Produkt gesellschaftlicher Bestrafungsmechanismen.

3. Noch ein dritter Umstand verdient Berücksichtigung: daß nämlich bei May wahrscheinlich eine Verlangsamung des seelischen Reifungsprozesses vorlag, die ihn noch im Mannesalter Taten begehen ließ, deren abenteuerliche Art eher der Psyche eines Jugendlichen entsprochen hätte. Dies ist offenbar die kriminologische Deutungshypothese Wulffens gewesen, von der Stolte (136) berichtet: »Was ((nach Wulffen im Falle Mays)) vorlag, war nichts weiter als eine ins frühe Mannesalter hinein bewahrte Primitivstufe der Entwicklung, über die dann aber, was normalerweise im Erziehungsprozeß des Kindesalters hätte geschehen müssen, in der Zeit seiner Strafverbüßungen ein "Läuterungsprozeß" hinausgeführt habe.« Gegenüber dieser Annahme ist insofern Vorsicht geboten, als man die schon geschilderten »kindlichen« Züge des ursprünglich Dichterischen wohl eher als Sonderbegabung denn als Entwicklungshemmung wird auffassen müssen. Aber bei May lassen sich, wie ebenfalls bereits dargelegt wurde, weitere infantile Züge feststellen; vermutlich hat die frühkindliche Blindheit zu einer Verspätung der seelischen Gesamtentwicklung geführt. Eine solche Phasenverschiebung


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würde die in ihrer Art völlig singuläre schriftstellerische Begabung Mays (zumal als Jugendschriftsteller) ebenso miterklären können wie die Verübung jugendlicher Gewaltstreiche im Erwachsenenalter (vor Aufnahme der schriftstellerischen Produktion). Daß May noch als Sechzigjähriger seine literarischen Arbeiten auf ein neues, wesentlich höheres literarisches Niveau heben konnte, daß er mit 70 Jahren zu ganz anderen Darstellungsformen (Drama) übergehen wollte und sich noch immer als ein Werdender fühlte (137), daß er trotz völlig gebrochener Gesundheit - ich möchte am liebsten sterben, sterben, sterben (138) - glaubte, 90 Jahre alt werden zu müssen (139), dies alles könnte in jene Richtung deuten. Die Annahme einer solchen psychischen Retardation, zu deren Verifizierung wir noch umfangreicheren Materials aus seiner Jugendzeit bedürften, ist zur Erklärung der Straftaten allein weder ausreichend noch notwendig; denn seelische Spätentwickler müssen nicht zwangsläufig Straftaten begehen, und speziell im Falle Mays sind sehr viel handfestere Ursachen aufweisbar. Aber der Gesichtspunkt könnte verstehen helfen, warum Mays Straftaten erst im Alter von 27 Jahren aufhörten, als Abschluß einer Jugendepoche, die normalerweise um das 20. Lebensjahr endet. Es würde sich dann in einem weiteren Sinne um Jugendstraftaten handeln, um Entgleisungen, die dem Bilde des Mannes nicht zuzurechnen sind. Und dafür sprechen gute Gründe.

4. Die heikelste Hypothese, die jene ersten drei Deutungen nicht aufheben, Mays strafrechtliche Verantwortlichkeit aber ausschließen oder wenigstens erheblich mindern würde, stammt von May selbst. Er beruft sich bekanntlich auf seelische Spaltungserscheinungen und Dämmerzustände, die zu Bewußtseinstrübungen und späterem Gedächtnisschwund geführt hätten. Es kamen zunächst Tage, dann aber ganze Wochen, in denen es vollstäudig dunkel in mir wurde; da wußte ich kaum oder oft auch gar nicht, was ich tat ... Es ging immerfort am Abgrund hin ... Ich wehrte mich zuletzt nur noch wie im Traum ... für mich ist es sicher und gewiß, daß ich ganz unmöglich bei klarem Bewußtsein gehandelt haben kann. Ich weiß von der darauf folgenden Gerichtsverhandlung gar nichts mehr, weder im Einzelnen noch im Ganzen (140). Mays eingehende Schilderungen dieser Zustände haben bei Literaten und Psychiatern immer große Aufmerksamkeit gefunden; Arno Schmidt fand einige Passagen »hinreißend« (141). Forst-Battaglia (142)


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meint: »Der Psychiater wird in dieser erschütternden Beschreibung ... eine geradezu klassische Schilderung hysterischer Dämmerzustände erkennen.« Auch der Psychoanalytiker Richard Engel diagnostizierte »schwere Hysterie«, meinte aber gleichzeitig über die späteren Bekenntnisse Mays: »Sicher ist, daß er über eine ziemlich weitgehende Kenntnis, auch der wissenschaftlichen Psychologie verfügt hat und über eine Sprache gebot, die es ihm ermöglichte, in eindringlicher Weise sein eigener Anwalt zu sein.« (143)

In der Tat ist nicht fraglich, daß Mays Darstellung seinen eigenen Schluß: Heut würde man mich freisprechen (144), als durchaus möglich erscheinen läßt, und alle späteren Autoren, die für den Freispruch Mays plädiert haben, stützen sich auf sie. Problematisch bleibt aber die Authentizität dieser Schilderung; denn sie ist 40 - 50 Jahre nach den beschriebenen Vorgängen aufgezeichnet worden; und während eines so langen Zeitraums können sich Erleben und Deutung innerer Vorgänge (auch abgesehen von den apologetischen Tendenzen des Autobiographen) beträchtlich verschieben. Hans Wollschläger, einer der besten Kenner der Mayschen Biographie, beurteilt die Erklärungsversuche Mays (unter Herbeiziehung unveröffentlichter Dokumente Klaus Hoffmanns) skeptisch (145). Ein sicheres Urteil würde sich nur abgeben lassen, wenn wir psychiatrisches Untersuchungsmaterial oder wenigstens psychologisch ergiebige Laienbeobachtungen aus jener Zeit besäßen; selbst Vernehmungsprotokolle könnten einige Aufschlüsse zulassen. Beim augenblicklichen Stand unseres Wissens lassen sich psychiatrisch zuverlässige, wissenschaftlich gesicherte Aussagen noch nicht geben.

Eines aber läßt sich immerhin sagen: daß nämlich Mays Darstellung psychologisch sehr wohl möglich ist und deshalb nicht vorschnell verworfen werden sollte. In der Literatur wird immer wieder auf die Neigung des Pseudologen zu hysterischen Reaktionen hingewiesen (146), die den von May entworfenen Schilderungen vielfach entsprechen. In der Tat liegt es durchaus nicht fern, daß die grundstürzende Erschütterung des ohnehin unausgereiften und labilen Persönlichkeitsgefüges, die bei May durch die genannten Umstände bewirkt werden mußte, zu den von ihm angegebenen Erscheinungen führen kann. Der Kranke flüchtet aus seiner gescheiterten und verdrängten Existenz in die imaginierte Rolle,


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die sich vom bürgerlichen Ich ihres Trägers zeitweilig völlig abspaltet und daher auch von dessen Bewußtsein nicht mehr kontrolliert wird. Im Grunde ist das ja nur eine krankhafte Übersteigerung des »normalen« pseudologischen Syndroms. Theoretisch jedenfalls erscheint es sehr plausibel, daß pseudologische Züge, die sich gewöhnlich im Rahmen des (noch) Gesunden und Legalen halten, unter dem Druck einer untragbaren Persönlichkeitsbelastung durch die geschilderten hysterischen Mechanismen vorübergehend ins Pathologische und Außergesetzliche entgleiten können. In der kriminologischen Literatur über den Hochstapler wird ausdrücklich die Möglichkeit erwähnt, »daß der als Schwindler Verzeigte in Wahrheit in einem Dämmerzustande gehandelt hat; während des Dämmerzustandes, der eine Bewußtseinsstörung in sich schließt, kann der Betreffende, ohne in diesem Sinne orientiert zu sein, ein zweites Leben (also gerade das des Schwindlers) führen (Spaltung des Bewußtseins)« (147); Erinnerungsausfälle pflegen damit einherzugehen (147).

Im Falle Mays brauchten wir, um Genaueres sagen zu können, weit mehr anamnestisches Material, als bisher vorliegt; deshalb kann jedes aus jener frühen Zeit noch erhaltene Dokument wichtig werden (148). Immerhin gibt es einige Indizien, die sich für die Darstellung Mays ins Feld führen lassen. Die Leipziger Polizeiakten vermerken am 27. März 1865 über die Festnahme Mays, bei der »dem Fremden ein Beil, welches derselbe bei sich geführt hat, unter dem Rocke vorgeglitten« ist: »Der Arretierte ist anfänglich ganz regungslos und anscheinend leblos gewesen und hat auch, nachdem der Polizelarzt herzugerufen wurde, nicht gesprochen und erst später angegeben, daß er Karl Friedrich May heiße ...« (149) Das entspricht durchaus dem Bilde völliger Apathie, das oft im Anschluß an hysterische Anfälle auftritt. Mays frühes Gedicht Kennst du die Nacht ... (150), das wir weiter unten im Faksimile der Handschrift wiedergeben, nimmt in den ersten vier Zeilen der dritten Strophe die Schilderungen der Mayschen Autobiographie vorweg und erhöht deren Glaubwürdigkeit. Auch die auffallend häufige literarische Gestaltung des Spaltungsmotivs bei May (151) ließe sich anführen; ferner der Umstand, daß das bei May sehr beliebte Motiv des Wahnsinns stets im Sinne des Identitätsverlustes verstanden wird; der Kranke hat vergessen, wer er eigentlich ist, oder hält sich für einen anderen.


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Dies alles reicht natürlich nicht aus, um sichere Rückschlüsse zu ermöglichen, zumal da Bewußtseinstrübungen in sehr unterschiedlichem Stärkegrad auftreten können und - unterstellt, sie sind vorgekommen - nicht bei allen Straftaten vorgelegen zu haben brauchen. Doch läßt sich bis jetzt nicht ausschließen, daß May unter Bewußtseinsstörungen gelitten haben kann, die seine strafrechtliche Verantwortlichkeit im Sinne des § 51 StGB ausschließen oder wenigstens eine erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit begründen würden.

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Mehr als dies läßt sich zur Interpretation der Straftaten Mays heute noch nicht sagen. Die Zukunft wird lehren, ob der Akzent mehr auf diese oder jene der mutmaßlich zusammenwirkenden Ursachen gelegt werden muß. Für die Beurteilung der Persönlichkeit Mays ist das freilich nicht entscheidend: er war ein Opfer so oder so, ein Opfer seiner Begabung, mehr noch der Bedingungen, unter denen er heranwachsen mußte. Daß er aber dies alles überwand und ins Produktive kehrte, war seine Leistung. Die weitere Erforschung seiner Biographie wird zeigen, daß wir in ihm eine der fesselndsten Gestalten unserer Literaturgeschichte vor uns haben. Denn er war ein Beispiel für vieles.



1 Berlin-Lichterfelde 1908, II, 173; auch 314/15 ist von den Straftaten eines Schriftstellers die Rede, »der die glänzendsten Reisebeschreibungen von Ländern, die er nie gesehen, deren Natur er nur aus Büchern studiert hat, schrieb und damit unter gleichzeitiger Einflechtung von Abenteuerberichten besonders die Jugend fesselt.«

2 Wulffen war von seiner staatsanwaltschaftlichen Tätigkeit her (vgl. dazu Wollschläger, Karl May, Reinbek 1965, 138) mit den Straftaten Mays vertraut.

3 In: »Meine Beichte«, Erste Fassung vom 28. Mai 1908, Erstabdruck bei Lebius, Die Zeugen Karl und Klara May, Berlin-Charlottenburg 1910, S. 4-7: geringfügig verändert jetzt in Ges. Werke Bd. 34. »Ich«. Bamberg, 271968, 17/18.

4 Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie und Psychisch-Gerichtliche Medizin, Bd. 66, 1909, S. 1075

5 Psychologie des Verbrechers, a. a. O. 173

6 An die 4. Strafkammer des Königl. Landgerichtes III in Berlin, Zweite Fassung vom 3. Dezember 1911, Privatdruck, 1911, 123; vgl. auch die mündliche Äußerung Mays, die Beissel in seinem Bericht über den Prozeß in Moabit wiedergibt (Jb-KMG 1970, 35). Der Briefwechsel zwischen May und Wulffen der danach stattgefunden haben muß, ist noch nicht wieder aufgefunden.

7 Mein Leben und Streben, Band I, Freiburg 1910

8 Diese Bemerkung läßt die Möglichkeit offen, daß der in Anm. 6 genannte Briefwechsel vielleicht nicht von May persönlich, sondern von seinem Anwalt mit Wulffen geführt worden ist.


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9 a. a. O. S.123

10 a. a. O. S.30s

11 Vgl. im einzelnen die umfassenden Arbeiten von Hirsch, Ehre und Beleidigung. Grundfragen des strafrechtlichen Ehrenschutzes, 1967, und Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, 1970.

12 Wenn man sich daran erinnert, mit welcher Diskretion zur selben Zeit etwa Freud bei Schilderung seiner Krankengeschichten die Identität der Betroffenen verhüllte. so ist zu erkennen, in welchem Grade Wulffen die Grenze menschlicher Rücksicht überschritten hat.

13 Auch im künftigen Recht wird das nicht durcb überwiegende Interessen legitimierte »Hervorholen früherer Verfehlungen« strafbar sein. § 175 Abs. 3 des Regierungsentwurfs 1962 spricht hier von »Verunglimpfung« und erwähnt in der Begründung (Bundestagsdrucksache IV, 650, S. 318) ausdrücklich »Handlungen, durch die jemand einem anderen weit zurückliegende Verfehlungen, insbesondere Straftaten, vorhält oder sie einem Dritten mitteilt. Daß der Fehltritt schon weit zurückliegt und daß der Betroffene sicb in der Zwischenzeit verdientermaßen eine geachtete Stellung im Leben erarbeitet hat, sind Umstände, die bei der Beurteilung der Frage, ob eine Verunglimpfung vorliegt, zu berücksichtigen sind.« Arzt, Der strafrechtliche Schutz der Intimsphäre, S. 287, schlägt stattdessen einen selbständigen Tatbestand der »öffentlichen Bloßstellung« vor. Die Strafwürdigkeit des »Hervorholens früherer Verfehlungen« wird jedenfalls allgemein anerkannt.

14 Vgl. den Bericht Beissels über den Prozeß May/Lebius in Moabit, Jb-KMG 1970, 29, 34. Über die völlige Haltlosigkeit dieser Unterstellung vgl. unten S. 77 ff.

15 Die juristische Durchleuchtung der von Lebins betriebenen Pressepolemik und Prozeßführung würde eine selbständige Monographie erfordern. Sie könnte auch der justizpolitischen Reformbewegung der Gegenwart noch schätzbares Material liefern.

16 Mein Leben und Streben, 123: Vorkämpfer der Humanität.

17 Der Läuterungsgedanke bei Karl May, KMJB 1923. 109-122 (110). Vgl. auch 109: »Es handelte sich ... um ... eine Menschenhetze schlimmster Art, auf die Vernichtung von Karl Mays Menschentum gerichtet.«

18 In nachgelassenen Aufzeichnungen unter dem Titel »Mein Leben und Streben« (veröffentlicht in »50 Jahre Karl-May-Verlag«. Bamberg 1963, 13 - 22) berichtet E. A. Schmid, wie Frau May seine Bemühungen, die Straf- und Polizelakten Mays von einem »feinsinnigen und wohlwollenden Gelehrten« (Albert Hellwig) prüfen zu lassen, immer wieder verhindert hat. Auch die Veröffentlichung der späten Studie Wulffens »Karl Mays Inferno« scheiterte am Einspruch Klara Mays (Stolte, Mitteilungen der KMG Nr. 2, 6). Klara May hat - ein unersetzlicher Verlust für die Forschung! - sogar die Mittweidaer Strafakten Mays noch lange nach dessen Tod vernichten lassen (Wollschläger, Jb-KMG 1970, 155, Anm. 10). Daß Erich Wulffen dazu noch seine Hand geliehen hat und so im Verbergen der Vergangenheit Mays ebenso weit über das Ziel hinausgeschossen ist wie vorher im Enthüllen, läßt sich wohl nur aus einem nachträglichen Schuldgefühl erklären. In seinem späteren Buch »Die Psychologie des Hochstaplers« (1923) fehlt jeder Hinweis auf Karl May.

18a Die kriminalpsychologische Seite des Karl-May-Problems, KMJB 1920, 187 ff.

19 1. Aufl. 1916, 20. Aufl. 1942; die Nachkriegsausgaben (21. Aufl., 1958 bis 27. Aufl., 1968) geben die exakten Strafzeiten wieder, enthalten sich aber sonst auch näherer Auskünfte. Das erste zuverlässige Referat über Mays Straftaten findet sich bei Wollschläger, Karl May, 1965, 16-33; Wollschläger stützt sich dabei vielfach auf die noch unveröffentlichten Forschungen von Klaus Hoffmann.


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20 May selbst wollte die Verwahrung gegen eine Erörterung seiner Straftaten nur auf seine Lebenszeit bezogen wissen, wie die oben zitierte Wendung Er konnte nicht einmal meinen Tod abwarten zeigt. In seinem Schriftsatz an das Königl. Landgericht (vgl. Anm. 6) schreibt May anläßlich psychiatrischer Erörterungen über den »Schinderhannes«: der den es betrifft, ist schon über hundert lahre tot; ihn kann es nicht mehr berühren.

21 Charakteristisch die Äußerung Thomas Manns: »Soll er nicht Räuberhauptmann gewesen sein?«; Brief vom 16. 3. 1912, zitiert bei Wollschläger, Jb-KMG 1970, S. 97.

22 Man vergleiche nur die Darstellung »Karl May als Räuberhauptmann« von Paul Schweder, die 1961 in dem Buch »Die großen Kriminalprozesse des Jahrhunderts« in dem angesehenen Hamburger Kriminalistik-Verlag erschienen ist (S. 154 ff.). Auch die sehr bekannt gewordene Fernsehsendung »Freispruch für Old Shatterhand. Eine Semidokumentation« von Hellmuth Kotschenreuther (das Originaltyposkript, 92 Seiten, ist im Karl-May-Archiv, Göttingen, Am Fuchsberg 21, zugänglich) greift auf die Ausstreuungen des Lebius zurück, die Wollschläger (Karl May, S. 138) als »infamste Verleumdungen« bezeichnet hat. Noch in der Biographie von Raddatz, »Das abenteuerliche Leben Karl Mays«, Gütersloh 1965, werden diese Räubergeschichten als wahre Begebenheiten erzählt (immerhin freilich mit dem Zusatz »nach Darstellungen, die vielleicht übertrieben sind oder auf falschen Quellen beruhen«).

23 Karl Mays Vermächtnis, Denkschrift vom 6. Mai 1914, in: 50 Jahre Karl-May-Verlag, 1963, 4

24 Strobl (in Bd. 34 »Ich«, 27Bamberg 1968, 548): »getrübte Bewußtseinszustände ... bei aufgehobener oder wesentlich eingeschränkter moralischer Verantwortung«; Gurlitt (a. a. O. 462): »schwere Hysterie ... und erbliche Belastung durch Alkokolismus«; Engel (a. a. O. 529): »Ein heutiges Gericht würde ihn nicht bestrafen«; Krauss (a. a. O. 534): »Zwangshandlungen eines Neurotikers, die als Strafausschließungsgründe gelten müssen.«

25 So schreibt z. B. Gurlitt (a. a. O. 462, Anm. 1), er habe »an maßgeblicher Stelle danach nicht fragen« wollen. »Es scheinen Verfehlungen gegen die geschäftliche Ehrlichkeit gewesen zu sein«. Auch bei dem Psychoanalytiker Engel ist eindeutig, daß ihm nur die Selbstbiographie vorlag (a. a. O. S. 529).

26 Über die Hintergründe und Einzelheiten vergleiche man Wollschläger, Karl May, 133 ff. und Beissel, Jb-KMG 1970, 11 ff.

27 Turin 1876, deutsch unter dem Titel: Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung, 2 Bde., 1887 - 1890

28 Makabrerweise in der Zeitschrift »Die Wahrheit« (30.Juni 1906); der Artikel, den Lebius offenbar besonders gelungen fand, ist später in der Broschüre von F. W. Kahl-Basel, Karl May, ein Verderber der deutschen Jugend, Berlin 1908, 3-7, erneut abgedrudct worden. Näheres dazu und zu der Kahl-Broschüre bei Wollschläger, Karl May, 132 f., 134.

29 In einem Schriftsatz des Lebius an das Schöffengericht Charlottenburg vom 22. März 1910 (wiedergegeben bei Lebius, Die Zeugen Karl und Klara May, 290) heißt es, »daß May im Mutterleibe offenbar eine schwere Krankheit durchgemacht hat, die dann wohl hemmend auf seine moralische Entwicklung eingewirkt hat«.

30 Mein Leben und Streben, 16

31 a. a. O. 159

32 Lebius, a. a. O., 297. Vgl. demgegenüber die zutreffende Würdigung durch das Berufungsgericht in Moabit (bei Beissel, Jb-KMG 1970, 43 f.)

33 In der wissenschaftlichen Erörterung steht heute eigentlich nur noch die Frage, ob bestimmte abnorme Geschlechtschromosomenmuster eine Anlage zur Begehung von Straftaten begründen. Sie ist nicht absdlließend geklärt, aber


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wohl eher zu verneinen. Vgl. dazu die Arbeit von Brauneck, Zum Begriff der kriminellen Anlagen, Festschrift für Engisch, 1969, 637, die zu dem Ergebnis kommt: »Der Begriff der "kriminellen Anlage" ist theoretisch falsch und praktisch inhuman und sollte aufgegeben werden« (a. a. O. 643).

34 Vgl. zum Stand der internationalen Diskussion: Brauneck, Allgemeine Kriminologie, hg. von der Redaktion des Kriminologischen Journals, 1970, 39-90; Moser, Jugendkriminalität und Gesellschaftsstruktur, 1970.

35 Noch Gurlitt spricht von »ererbter Nervenschwäche« (a. a. O. 479) und von erblicher »Belastung durch Alkoholismus« (a. a. O. S. 462). Mays staunenerregende Arbeitskraft und seine bis zur Jahrhundertwende durchaus gute Gesundheit sprechen gegen solche Annahmen.

36 Die sog. »Affäre Stollberg«; dazu einstweilen Wollschläger, Karl May, 43f.

37 Jb-KMG 1970, 173 ff.

38 vgl unten S. 259 ff.

39 Grundlegend dazu Stolte, Der Volksschriftsteller Karl May, Radebeul 1936, 118 ff.

40 Authentische Zeugnisse darüber sind von uns zur Veröffentlichung vorgesehen.

41 Ges. Reiseerzählungen XXX, 424 ff.; zur Deutung vgl. Hatzig, Karl May und Sascha Schneider, Bamberg 1967, 243/44, Anm. 24

42 Vgl. Koch, »Winnetou Band IV«, Jb-KMG 1970, 140

43 Mein Leben und Streben, 11

44 Mein Leben und Streben, 74, 111; Die Freistatt, Wien, 1910, Nr. 22 (4. Juni).

45 Daß hier - jenseits aller psychologischen Ableitungen - einer der Gründe liegt, die es rechtfertigen, die Prosa-Werke des späten May der literarischen Moderne zuzuzählen, sei nur am Rande bemerkt.

46 Zu dieser Gleichstellung immaterieller und realer Gestalten paßt es durchaus, daß May zeitweise sehr vertrauten Umgang mit »Geistern« pflog und ihnen auf die Gestaltung seines Privatlebens entscheidenden Einfluß einräumte (vgl. Wollschläger, Karl May, 44 f., 100). Mays Neigung zum Spiritismus bedarf einer Spezialstudie; seine Bibliothek weist 75 (!) Titel zu diesem Thema auf (Verzeichnis im KMJB 1931, 212 ff. [262-265])

47 Ganz übereinstimmend Stolte, Das Phänomen Karl May, Bamberg 1969, 14 ff.

48 Damals Assistenzarzt an der bedeutenden Irrenanstalt Burghölzli und Privatdozent in Zürich.

49 Der Vorwurf der pathologischen Lügenhaftigkeit, mit dem sich May im Alter auseinanderzusetzen hatte (vgl. Jb-KMG 1970, 21, 29) geht augenscheinlich auf diesen Buchtitel zurück.

50 a. a. O. 123/124

51 Wyrsch, Gerichtliche Psychiatrie, 21955, 27

52 Einige Zitate mögen diese als gesichert geltende Erkenntnis belegen. Schon bei Delbrück (a. a. O. 124/25) heißt es: »Die Lebhaftigkeit der Phantasie und ihre täuschende Rückwirkung auf das Subjekt also hätte der "abnorme Schwindler" mit dem Dichter gemein ...« Aschaffenburg (Zur Psychologie des Hochstaplers, in: März, Halbmonatsschrift für Deutsche Kultur, 1907, Erster Band, 544 ff., 550) schreibt: »Mancher Hochstapler ist in Wirklichkeit nichts als ein Poet mit weitem Gewissen, das unglückliche Opfer einer allzu phantastischen Veranlagung.« Zusammenfassend betont v. Cleric (Der Hochstapler, in: Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, 1926): »Bei der Suche nach Parallelen zu der Denk- und Handlungsweise der Hochstapler ... hat das Schrifttum häufig eingehend auf die Psyche der Kinder und der Jugendlichen hingewiesen« (a. a. O. S. 39); ferner: »Es ist im Schrifttum wiederholt auf eine ... Verwandtschaft zwischen dem künstlerischen (besonders dichterischen und schauspielerischen) Schaffen einerseits und der Tätigkeit des Hochstaplers ... andererseits hingewiesen worden« (a. a. O. S. 41). v. Hentig (Der Betrug, Zur Psychologie


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der Einzeldelikte Bd. III, 1957, 80) sagt: »Die oft erörterte Frage, ob zwischen Kind, Künstler und Hochstapler Ähnlichkeiten bestehen. muß von jedem bejaht werden, der Hochstapler in vivo gesehen hat.« Berühmt ist die dichteriscbe Gestaltung dieser Zusammenhänge in Thomas Manns Felix Kroll; vgl. dazu vom psychiatrischen Standpunkt aus die Monographie von van der Schaar, Dynamik der Pseudologie. Der pseudologiscbe Betrüger versus den großen Täuscher Thomas Mann, 1964.

53 v. Cleric, a. a. O., 27; ferner Wyrsch, a. a. O., 65: »Aber auch Aktivität gekört dazu, damit aus dem Tagträumer. der seine Rolle sich nur ausdenkt, der Pseudologe wird, der sie auch zu spielen versucht.«

54 v. Cleric, a. a. O., 27

55 Überhaupt enthält seine Autobiographie die wertvollsten psychologischen Einsichten; May hatte hier so viel kritische Distanz zu sich selbst gewonnen, wie das einem Menschen seiner Art überhaupt nur möglich war. Die von Wollschläger gerügte »mise-en-scène« (Karl May, 142) und die autistische Verformung der Realität - »ihre Wahrheit ist dauernd von gequälter Subjektivität verschoben« (a. a. O.) - bezeichnen nur die Grenze, die zu überschreiten einem Typus wie May versagt war. Die psychologische Aussagekraft der Darstellung wird dadurch eher erhöht, ihr Quellenwert für den am realen Geschehensablauf interessierten Biographen freilich entscheidend gemindert.

56 Mein Leben und Streben, 31

57 Mein Leben und Streben, 32

58 Mein Leben und Streben, 211

59 Hellwig, Die kriminalpsycbologische Seite des Karl-May-Problems, KMJB 1920. 200

60 Vgl. dazu unten S. 267

61 Aussage Mays vom 10. 9. 1898; bei Lebius a. a. O. 18

62 v. Cleric a. a. O. 35

63 Man vergleiche nur das extreme Beispiel, das auf S. 263 dieses Jahrbuches berichtet wird.

64 Dazu ohne Beziehung auf May unter dem Gesichtspunkt einer Kennzeichnung des pseudologischen Typus: »Die Magie der Symbole«, in: Meinertz, der hochstaplerische Betrüger, Schweizerisches Archiv für Neurologie und Psychiatrie, Bd. 75, 1955, 147 ff. (165 ff.); May schreibt (Mein Leben und Streben, 65): Ich habe stets eine Hinneigung zunn Symbolismus gehabt, und zwar nicht nur zum religiösen.

65 Vgl. Aub und Klages in: Karl May, Bd. 34 (27. Aufl.), 524, 527

66 Zum letzteren vgl. v. Cleric a. a. O., 43; Wulffen, Kriminalpsychologie, 1926, 366

67 in: März, a. a. O. 544; vgl. auch v. Hentig, a. a. O. 81

68 Vgl. den Bericht Beissels im Jb-KMG 1970, 29. Der Ausspruch ist offenbar auch sonst durch die Presse überliefert worden, da ihn Robert Müller im »Brenner« vom 1. 2. 1912 gleichlautend zitiert; vgl. Jb-KMG 1970, 98

69 Robert Müller, Jb-KMG 1970, 98

70 a.a.O.41

71 Der Dichter und das Phantasieren, in: Gesammelte Werke, London, 1941 Bd. Vll, 213 ff. (222)

72 Hofstätter, Psychologie, Fischer-Lexikon, Bd. 6, 1957 ff., 230/31

73 Jb-KMG 1970, 54

74 Jb-KMG 1970, 79, 83

75 Man vergleiche nur die Gartower Episode in diesem Jahrbuch S. 260

76 vgl. Wollschläger, Karl May, 73; wir werden später alles erhaltene Material veröffentlichen.

77 Richtig ist auch dies nur cum grano salis; denn das Hypertrophische seiner


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Phantasietätigkeit dürfte durch nachgeburtliche Vorgänge (die Blindheit, eine Verlangsamung der seelischen Entwicklung, das autistische Wunscherfüllungen geradezu erzwingende Elend seiner Umwelt) hervorgerufen oder mindestens verstärkt worden sein.

78 Freud a. a. O. 219/20

78a Es ist dringend erforderlich, daß diese beiden Romane, die in der Radebeuler Bearbeitung (als Bd. 45 und 46 der Radebeuler und Bamberger Ausgabe) einschneidende Veränderungen von fremder Hand erfahren haben, endlich im Urtext vorgelegt werden.

79 Die Kunstleistungen seines Alters zeigen diese Züge nur noch in sehr sublimierter Form, wie denn auch Mays persönliches Auftreten in den letzten Lebensjahren die manifesten pseudologischen Eigenheiten immer mehr verlor. Seine frühen Werke dagegen offenbaren jene »ganz ursprüngliche« (Hesse) »primitive und reine Art des Erzählens« (R. Müller), die weniger mit dem Roman des 19. Jahrhunderts als mit den abenteuerlichen Reiseerzählungen der Antike oder dem pikaresken Roman des 16./17.Jahrhunderts vergleichbar ist. Viele abschätzige Urteile über Mays Reiseerzählungen sind schon deswegen unzulänglich weil sie mit Maßstäben arbeiten, die dem bürgerlichen Realismus des 19. Jahrhunderts verpflichtet sind und der spezifischen Begabung Mays nicht gerecht werden können. Es ist kein Zufall, daß etwa die Expressionisten May fast ausnahmslos schätzten.

80 Die Freistatt, Wien, 1910, Nr. 22 vom 4. Juni

81 Mein Leben und Streben, 92

82 Man vergleiche über ihn die Biographie von Maurois, »Les trois Dumas«, 1957 (deutsch Hamburg 1959)

83 Dichtung und Wahrheit, Erster Teil, Zweites Buch. Man beachte übrigens den Titel, der die Beschaffenheit dichterischer Autobiographien treffend charakterisiert.

84 Erster Band, 8. Kapitel. Diese Schilderung wird seit Delbrück (a. a O. 52 ff.) in der psychiatrischen Literatur sehr häufig herangezogen.

85 Breitenbruch, Gottfried Keller, Rowohlts Monographien, Bd. 136, 1968, 18 f.

86 Tagebucheintragung

87 Stockholmer Gesamtausgabe, Altes und Neues, 1953, 663 ff., 673 ff.

88 Mein Leben und Streben, 33

89 Mein Leben und Streben, 76

90 Neues Wiener Journal, 2. 4. 1912; wieder abgedruckt im Jb-KMG 1970, 85

91 Die Neue Freie Presse, Wien, 23. 3.1912 (abgedruckt im Jb-KMG 1970, 72) spricht von Mays »Selbstbewußtsein, das aber durch die naive Art eher rührend wirkt.«

92 In seinem Nachruf auf May im Wiener Fremden-Blatt vom 3. 4. 1912; abgedruckt im Jb-KMG 1970, 109. Das zweite Zitat stammt aus einem Brief Müllers an L. v. Ficker v. 4. März 1912 Brenner-Archiv, Innsbruck; vgl. dazu den Aufsatz von Franz Cornaro in diesem Jahrbuch S. 236 ff.

93 Dieser Befund verhindert nicht, daß auch viele Erwachsene - mehr als man allgemein annimmt - Mays Reiseerzählungen mit Vergnügen lesen. Freilich muß ihnen deren ganz eigene Seelenwelt (Karl May an Heinrich Kirsch, 4. 4. 1901, Mitteilungen der KMG, Nr. 2, 16) noch erfühlbar sein. Wo das nicht der Fall ist, bleibt dem Erwachsenen nur das Kopfschütteln. Eine Analyse des erwachsenen Leserpublikums der Reiseerzählungen würde vermutlich ergeben, daß es sich neben den Einfältigen (dies Wort im wertneutralen Sinne genommen) vor allem um Menschen mit künstlerischen oder wissenschaftlichen Interessen handelt; auch die kreative Fähigkeit des Wissenschaftlers beruht ja auf seiner Phantasie. Es ist also kein Zufall, daß die May-Apologetik auf eine große Liste besonders namhafter May-Leser hinweisen kann.


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94 »Mensch und Maske«, im KMJB 1926, S. 131 ff. (137)

95 Dahinter steht das mythologische Grundmuster der Göttererscheinung in täuschend-dürftiger Gestalt, aber auch »der im Gefängnis geborene Gedanke: Wenn ihr mich richtig kennen würdet, würdet ihr mich nicht mit solcher Mißachtung behandeln« (Raddatz, Das abenteuerliche Leben Karl Mays, Gütersloh 1965, 65).

96 Dazu Raddatz a. a. O. 65 ff. mit weiterem Material

97 Zitiert nach Beissel, Jb-KMG 1970, 29

98 Mein Leben und Streben, 43-47

99 Mein Leben und Streben, 57

100 Mein Leben und Streben, 59

101 Mein Leben und Streben, 60

102 Vgl. dazu einstweilen Wollschläger, Karl May, 73

103 Jb-KMG 1970, 75

104 Old-Shatterhandstreiche nannte May sie in einem durch die Hand seiner Frau Klara an Sascha Schneider gerichteten Brief vom 31. 5. 1905; abgedruckt bei Hatzig, Karl May und Sascha Schneider, Bamberg 1967, 77 ff.

105 Wollschläger, Karl May, 29; ebd. 30 ist auch von »Sport-Veranstaltungen« die Rede, »die in der heutigen Jugendkriminalität als Typus bekannt sind«.

106 Dazu unten bei Hoffmann S. 118 ff.

107 Psychologie des Verbrechers, Bd. II, 314/315

108 Das Phänomen Karl May, Bamberg 1969, 14

109 a. a. O. S. 41

110 Natürlich erklärt sich das daraus, daß es diese Fälle sind, mit denen Psychiate und Kriminologen von Berufs wegen zu tun haben.

111 Wulffen, Die Psychologie des Hochstaplers, 1923, 51

112 Vgl. Meinertz a. a. O. 155 ff. (»Das Leben im Augenblick«)

113 Vgl. dazu nur Meinertz, a. a. O. 162; v. Cleric a. a. O. 3s, 46

114 v. Cleric a. a. O. 51

115 Aschaffenburg, Allg. Zeitschrift fÜr Psychiatrie und Psychisch-Gerichtl. Medizin, a.a.O. 1074

116 Wulffen, Die Psychologie des Hochstaplers, 51

117 Dazu sehr gut Volker Klotz, Durch die WÜste und so weiter, Akzente, 1962, Heft 4, 356 ff. (359)

118 Meinertz a. a. O. 170

119 Interview vom 20. 3. 1912; Jb-KMG 1970, 82

120 Krauss in »Anthropophyteia«, Bd. VIII, S. 501; abgedruckt in Mays Schriftsatz an das Königl. Landgericht (vgl. Anm. 6), 123; siehe auch Mitt. KMG Nr. 8, 35

120a vgl. Jb-KMG 1970, 181 ff.

121 Darüber näher Stolte, Kriminalpsychologie oder Literaturpsychologie, Mitteilungen der KMG Nr. 2, S. 4 ff.

122 Kurzgefaßter Lebenslauf, in: Traumfährte, 1945, S. 93 ff. (97)

123 Vgl. den für die Psychologie des werdenden Dichters sehr aufschlußreichen Band »Kindheit und Jugend vor Neunzehnhundert. Hermann Hesse in Briefen und Lebenszeugnissen 1877 - 1895«, Frankfurt 1966

124 Altes und Neues, Frankfurt 1953, S. 625

125 Vgl. dazu die Angaben bei Wollschläger, Karl May, 16 ff., die ihrerseits teilweise auf unveröffentlichten Dokumenten von Klaus Hoffmann beruhen.

126 Wollschläger a. a. O.

127 in Mitteilungen der KMG Nr. 2, 7

128 Vgl. dazu Wollschläger, Karl May, 21

129 Mein Leben und Streben, 109

130 Meine Beichte, 28. Mai, 1908, bei Lebius a. a. O. 4

131 Mein Leben und Streben, 118


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132 Dieser »Rachetraum des Gefangenen« spiegelt sich literarisch in einigen frühen »Waldröschen«-Gedichten: Jedoch des Feuers heißer Grimm, der Flumme schonungslose Wut, ist nicht so schrecklich, nicht so schlimm, als wie der Rache wilde Glut! (Dresden 1882, I, 375; zitiert nach der Reprint-Ausgabe, Hildesheim 1969). Ich schrie empor zu Gott, dem Herrn, und dachte des Rächers mit Wonne. Nun hat der Barmherzige mich erhört; Er weiß auch, was noch ich erflehe: All' Denen, die mir mein Glück zerstört, ein Wehe, ein dreifach Wehe (a. a. O. II, 851).

133 Mein Leben und Streben, 121

134 1966, 2. Aufl. 1969

135 Auch gegenüber der Anschuldigung wegen einer in Sachsen damals noch strafbaren Gebrauchsentwendung (dazu Wollschläger, Karl May, 21) hätte ja die Berufung Mays auf die mutmaßliche Einwilligung des Eigentümers durchgeschlagen.

136 Mitteilungen der KMG Nr. 2, 6; mir selbst ist die Arbeit Wulffens zurzeit noch unbekannt.

137 Jb-KMG 1970, 91

138 Mein Leben und Streben, 300

139 E. A. Schmid in: Karl May, Bd. 34, (27. Aufl.), 318

140 Mein Leben und Streben, 119

141 »Die Zeit« vom 11. 1. 1959, 10

142 Karl May, Traum eines Lebens - Leben eines Träumers, Bamberg 1966, 46

143 in: Karl May, Bd. 34, (27. Aufl.), 529, 532

144 Eingabe an den Untersuchungsrichter Larrass; bei Lebius, a. a. O. 90 (auch bei Wollschläger, Karl May, 24, zitiert).

145 Karl May, 24, 34; in einem (ungezeichneten) Biogramm aus dem Jahre 1963 (50 Jahre Karl-May-Verlag, 33) spricht er dagegen noch von einer »Zeit des inneren Zerfalls, dessen Äußerungen die heutige Rechtspflege psychiatrische Heilung verordnet hätte, nicht aber die Zwangsjacke der Strafe.«

146 Vgl. v. Cleric a. a. O. 45 mit weiteren Angaben

147 v. Cleric a. a. O. 44

148 Es sei am Rande vermerkt, daß es wünschenswert wäre zu ermitteln, welche einschlägige Literatur May gelesen hat. In der Anm. 144 erwähnten Eingabe (bei Lebius, 90) schreibt May: Ich hatte in jenen vergangenen Tagen genugsam Zeit und Gelegenheit, die höchst wichtige Frage der Criminalität, besonders aber die Ursache des Rückfalles zu studieren. Ich beschäftigte mich mit diesem Studium auch weiterhin .... Auch in »Mein Leben und Streben« (109) heißt es: Es liegt mir in der schreibenden Hand und in der Feder, der vorliegenden Darstellung jene psychologische oder gar kriminalpsychologische Färbung zu geben, welche am besten geeignet wäre, das, was damals in mir vorgegangen ist, für den Fachmann begreiflich zu machen.

149 bei Lebius, a. a. O. 10

150 Vgl. Finke, Aus Karl Mays literarischem Nachlaß, KMJB 1920, 71 ff., der das Gedicht als Zeugnis der Strafzeit psychologisch interpretiert.

151 vgl. dazu näher Altendorff, Die Spaltung des Ich, KMJB 1926, 140 ff.


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