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XII. Nachspiel


Über den weiteren Fortgang bis hin zur Eheschließung mit Klara schweigt May in seiner ›Studie‹; er erwähnt lediglich noch seinen eigenen Kurzbesuch bei Emma am 12. Oktober 1902 in Bozen - die ja gegenüber der Wirtin im Hotel Penegal am 8. Oktober 1902, Verwirrung stiftend, angegeben hatte, daß sie nach Dresden wolle:


Und kaum einen Monat darauf ist sie aus Hôtel Penegal verschwunden, ohne dort zu sagen, wohin, und auch ohne mir eine Nachricht zu geben. Es hat mich eine Extrareise nach Südtirol, also sehr viel Geld und lange Nachforschung gekostet, ihren Aufenthalt zu entdecken. Und den mußte ich unbedingt wissen, um mich meines Lebens sicherfühlen zu können! Ich entdeckte sie schließlich in einem Bozener Hôtel, wo sie unter einem falschen Namen, aber doch als »Frau Doctor«, wohnte ... Ich ging selbst zu ihr. Sie spielte die alte Komödie, ganz wie auf der Mendel. Sie sank vor mir nieder, hob die gefalteten Hände zu mir empor und flehte um einen Kuß. Gradezu armselig widerlich! Sie schwor wieder, daß sie der Scheidung nicht das Geringste in den Weg legen werde. Nur verstoßen solle ich sie nicht. Ich könne mich in Gottes Namen mit Frau Plöhn trauen lassen, denn es sei ihr sehr gleich, wer vor der Welt als meine Frau gelte, diese oder ich. Aber sie wolle auch mit dabei sein. Sie wolle als Köchin bei uns wohnen; sie wolle wieder für mich kochen, um mir zu zeigen, wie groß ihre neu erwachte Liebe für mich sei! Aber als ich ihr, anstatt ihr den verlangten Kuß zu geben, zornig auseinandersetzte, was für ein ehrloses Weibsen sie doch sei, mir jetzt eine Heirath zuzumuthen und sich von der neuen Frau als Köchin des geschiedenen Mannes engagiren zu lassen, da sprang sie wieder auf und warf mir Drohungen in das Gesicht ... (Studie, S. 929f.)


Es folgen Emmas bereits zitierten Drohungen, Frau Plöhn zur Hure zu machen.

   Ein Fiasko also, und die Zuspitzung der Auseinandersetzung vor dem Termin am 29. Oktober 1902, den letztlich keine der Parteien wahrnahm, läßt sich durch diese Szene erklären. Vor dem nächsten angesetzten Termin am 3. Dezember 1903 (zu dem dann ebenfalls keine der Parteien erschien) mußte also eruiert werden, in welcher der schwankenden Stimmungen Emma sich aktuell befand und was sie vorhatte. Karl May logierte mit Klara Plöhn unweit in Riva am Gardasee unter dem Pseudonym »Dr. Richard Sonnenschein«,471 und so erscheint es naheliegend, daß Klara vorgeschickt wird, um sich in dieser heiklen Situation um Emma zu kümmern.

   Emma vermißt Klara schrecklich; und ihre Bitte, bei May wieder als Köchin aufgenommen zu werden, hat viel mehr mit ihrem Wunsch nach Nähe zu Klara als mit wiedergefundener Liebe zu Karl zu tun - wie May gewußt hat. Denn es ging Emma ja nicht grundsätzlich um eine Stellung als Köchin bei May, sondern nur unter der Voraussetzung, daß er sich zuvor mit Klara verbinde. Belegt wird dies nicht nur durch entsprechende Aussagen Emmas, sondern es wird auch durch ihre Zimmerwirtin in Bozen, die 59jährige Zeugin Josepha Kößler, bestätigt, die am 9. April 1908 über diese


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Zeit (November 1902 bis März 1903) als Zeugin in dem Meineidsverfahren folgende Aussage macht:


Sie [Emma] erzählte mir, daß sie mit ihrer Freundin und ihrem Manne auf die Mendel gefahren sei und daß ihr Mann mit jener Freundin plötzlich davon gefahren sei. Sie sprach auch von einer Scheidung. Sie erzählte mir, daß ihr Mann sehr freigebig gewesen sei und wenig wirtschaftlich und daß sie aus diesem Grunde 30 000 Mark beiseite gelegt habe und daß sie später dies Geld ihrer Freundin zum Aufbewahren überliefert hätte. Jetzt wolle man die Sache so auslegen, als ob sie das Geld für ihre Zwecke unterschlagen habe, während es tatsächlich doch nur ein Notpfennig für kommende schlechte Zeiten sein sollte. ... Die geschiedene May schwärmte förmlich für ihre Freundin Plöhn, und auch jetzt noch, nach der Ehescheidung, schwärmte sie für ihre Freundin. Die geschiedene May schien mir ziemlich beschränkt zu sein. Denn sie konnte es nicht fassen, daß ihr Mann sich lediglich von ihr habe scheiden lassen, nur um die Plöhn zu heiraten. (...) Die geschiedene May wurde ganz krank, weil die Plöhn ihr lange nicht schrieb. Sie erbarmte mich und so schrieb ich selbst an die Plöhn. Darauf schrieb die Plöhn sowohl mir, als auch an die geschiedene May. Ich dürfte vier Briefe mit ihr gewechselt haben. (...) Da die geschiedene May auf die Plöhn sehr viel hielt, und ihr sehr zugetan war, glaubte ich, daß die Plöhn großen Einfluß auf die geschiedene May hatte.472


Die Wertung, daß May sich scheiden ließ, um Klara heiraten zu können, ist Produkt einer Alltagserfahrung, da hat die gute Wirtin schon recht, so ist das üblicherweise, wenn der Ehemann mit der jüngeren besten Freundin der Ehefrau verschwindet. So war es hier allerdings nicht; und Emma ist nicht etwa »beschränkt«, weil sie dies nicht einzusehen vermag, sondern sie folgt nur ihrer besseren Einsicht.

   Die 34jährige Tochter Maria Kößler sieht die Sache ähnlich, aber wesentlich differenzierter:


Die geschiedene May hat mir mitgeteilt, daß sie mit ihrem Manne und ihrer Freundin auf die Mendel gefahren sei, von wo ihr Mann schon am zweiten Tage mit ihrer Freundin davon gegangen sei. Sie zeigte sich darüber auch ungehalten, doch zeigte sie nicht, daß sie deshalb ihrer Freundin böse sei. Sie hat für diese Freundin sogar geschwärmt. ... Andererseits sagte sie, sie sei glücklich verheiratet gewesen und hatte auch hin und wieder Sehnsucht nach ihrem Manne. (...) Ich glaube, daß die May sehr viel auf die Plöhn hielt und sehr viel von ihr sprach und daß sie von der Plöhn völlig beherrscht wurde und daß sie ihren Worten blindlings glaubte, obgleich sie im großen und ganzen kaum als beschränkt gelten kann. Wohl war sie sehr abergläubig. Sie sprach von Hypnotismus.473


Hier wird deutlich, daß Emma auf die Abreise von Karl und Klara lediglich »ungehalten« reagierte, nach ihrem Mann gar nur »hin und wieder« Sehnsucht hatte: ihre ganze Gefühlswelt war auf Klara gerichtet; das konnte Frau Kößler natürlich nicht verstehen, denn nach ihrem ›normalen‹ Erfahrungshorizont hätte Emma auf ihre Freundin wütend sein müssen ... Vollkom-


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men unverständlich muß den beiden Wirtinnen dann aber Emmas Ansinnen gewesen sein, wieder als Köchin bei Karl und Klara zu wirken, während Karls Empörung über diesen ›ehrlosen‹ Vorschlag wohlbegründet ist: er weiß, worum es Emma wirklich geht. Seiner ›Studie‹ hat er ein Zitat aus Briefen der Wirtin Kößler angefügt, das auf diesen Vorschlag Emmas Bezug nimmt: »Die Absicht, bei Ihnen als Köchin zu sein, hatte sie ja schon in Bozen. Ruhe wird sie nicht geben und das Schwätzen auch nicht lassen.« (Studie, S. 936)

   Seiner ›Eingabe‹ hat er als ›Beweis‹ Nr. 17 und 18 ebenfalls Briefe der Mutter Kößler beigefügt, aus denen er wie folgt zitiert:


Am 14. März 1903: Die Pollmer will in unserer Nähe wohnen und, wie früher, mit uns reisen! Mit mir und Frau Plöhn, meiner jetzigen Frau! ..... Es muß bei der Pollmer wohl schon in der Erziehung gelegen haben (Seite 5)...

   Am 23. August 1903: »Die Absicht, bei Ihnen als Köchin zu sein, hatte sie ja schon in Bozen. Ruhe wird sie nicht geben und das Schwätzen auch nicht lassen.«474


Und er zitiert dort als ›Beweis Nr. 22‹ noch einen Brief Emmas vom 23. Januar 1903 an Klara, der vor der Zustellung des Scheidungsurteils geschrieben wurde:


»Sag selbst, mein Liebes, was kann mir die Zukunft bringen? Ein einsames verlassenes Dasein voll Reue und Selbstvorwürfen, weiter nichts.« Und am Schlusse: »Der einzige Lichtblick in meiner dunkeln Nacht ist, wenn Du mir schreibst, so oft wie möglich; weiter will ich nichts.«475


Das ist Emmas Perspektive zu jener Zeit in Bozen tatsächlich, weit entfernt von jenen wütenden Angriffen auf Klara, die sich erst unter dem Einfluß des ›Kaninchens‹ und der Dietrich ab Mitte 1903 entwickeln, nachdem der Traum von einer Ehe zu dritt ausgeträumt ist. Denn noch nach der Scheidung soll sie, folgt man einem Schriftsatz von Mays Anwälten Dr. Günther und Schäfer vom 5. Juni 1909 in dem Beleidigungsverfahren gegen Emma, zu Karl und Klara gekommen und sie um Verzeihung gebeten haben, verbunden mit der unter Tränen vorgebrachten Bitte, bei ihnen Köchin werden zu dürfen.476 Möglicherweise die Szene, anläßlich der sie die besagten Drohbriefe wieder aushändigte, um eine für sie günstige Entscheidung herbeizuführen.

   Aber Klara erwidert ihre Liebe ja auch, in der Krisenzeit 1902/1903, was Raum für Hoffnung läßt. Während May in seiner ›Studie‹ lediglich noch erwähnt, daß Emma in Bozen, in luxuriösem, von ihm finanzierten, Rahmen ihr übliches Leben fortsetzt: Sie verkehrte mit Herren und ging mit Damen zu Bett, ganz in ihrer gewohnten Art und Weise (Studie, S. 931), beschreibt Emma das Ereignis, das möglicherweise entscheidenden Einfluß auf ihr letztlich kooperatives Verhalten im Scheidungsverfahren ausübte: nämlich Klaras Besuch bei ihr, den May begreiflicherweise nicht erwähnt.


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Auf meine briefliche Bitte schickte mir mein Mann nach Bozen noch tausend Mark. Die Plöhn schrieb mir, glaube ich, das erste Mal zu meinem Geburtstage am 22. November 1902. Sie sandte mir, glaube ich, auch Blumen mit aus Dresden.

Am 3. Dezember 1902 stand wieder Termin in der Ehescheidungssache in Dresden an. Eines Abends, wenige Tage vor diesem Termin, trat die Plöhn plötzlich gänzlich unangemeldet in mein Zimmer. Unvermittelt fragte sie mich, ob ich ein Kind gehabt hätte. Ich forderte sie energisch auf, mich mit derartigen Geschichten in Ruhe zu lassen. Auf meine Frage, woher sie käme, sagte sie, sie käme direkt aus Berlin, wo sie in dem Anna Rothe-Prozeß als Zeugin aufgetreten wäre. Sie sei nur zu mir gekommen, weil sie es vor Sehnsucht nach mir nicht mehr aushalten könne. Mein Mann wisse von dieser Reise nichts. Sie horchte mich dann aus nach meiner und meines Mannes Vergangenheit. Sie sagte zu mir, ich sollte meinem Manne ja keine guten Worte geben, er wäre es nicht wert. Die Briefe meines Mannes an mich wären allerdings die reinsten Schandbriefe gewesen. Die Plöhn kam dann weiter auf den in Aussicht stehenden Termin am 3. Dezember zu sprechen. Sie nahm mir direkt das Versprechen ab, zu dem Termin nicht nach Dresden zu fahren, mit dem Bemerken, sie würde auch nicht zu dem Termin gehen. Weiter erzählte mir die Plöhn, ihre Mutter habe sich gegen die Scheidung ausgesprochen und sich für die Beibehaltung unserer früheren Beziehungen zwischen uns Dreien erklärt. Die Plöhn war bis zum nächsten Tage früh 6 Uhr ununterbrochen bei mir im Zimmer. Ich brachte sie um 6 Uhr zur Bahn. Die Plöhn war ganz leicht angezogen. Ich halte es deshalb für ausgeschlossen, daß sie in diesem Kostüm von Berlin gefahren war. Wahrscheinlich wohnte sie am Gardasee in Italien. Von Frau Schrott hörte ich, daß die Plöhn zwei Stunden lang vorher bei ihr verweilt hatte. ....477


Will man in dieser Aussage die Wunschanteile - Klaras Bestärkung von Emmas hoffnungsvoller Perspektive einer Ehe zu dritt - und die kritischen Anteile - Klaras Auftritt als Mays Spionin - werten, erscheint es erforderlich, die Rahmenbedingungen von Klaras Besuch bei Emma so weit wie möglich zu klären. Tatsächlich hatte Klara vor ihrem Erscheinen bei Emma Henriette Schrott im Hotel Penegal aufgesucht, wenn auch erklärungsbedürftig bleibt, aus welchen Gründen sie dies tat: denn Emmas neue Bozener Adresse in der Villa Lehner war Mays Anwälten schon am 7. November 1902 bekannt, wie die Adressierung ihres entsprechenden Schriftsatzes und Emmas Kenntnis von dem Termin am 3. Dezember 1902 belegt, dessen Ladung am 11. November 1902 mit der neuen Adressierung zur Post gegeben worden war.478 Die junge Henriette Schrott hat hierzu als Zeugin bekundet:


Eines Tages erschien bei uns eine Dame, die sich mir als »Frau Klara Plöhn« vorstellte. Ich führte sie in den Salon und sie sagte mir, sie sei eine Freundin der gewesenen Gattin Mays und auch des Letzteren. Ich fühlte mich von der Dame sehr angezogen. .... Sie eröffnete mir, sie sei gekommen, ihre Freundin zu trösten, sie tue ihr doch herzlich leid. Ich glaube nicht, daß sie mir auch ihre beabsichtigte Verehelichung mit Karl May andeutete, bin aber doch nicht ganz sicher. Ich trat nach diesem Besuch in Korrespondenz mit Frau Plöhn. Ich verhehle nicht, daß unsere Sympathie durchaus auf seiten der jetzigen Frau May steht. ...479


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Zu den Umständen von Klaras Besuch in der Villa Lehner hat die Wirtin Josepha Kößler erklärt:


Einmal erschien die Plöhn spät abends im Hause. Sie wurde von meiner Tochter zu der geschiedenen May begleitet und blieb die ganze Nacht bei ihr. Die Beiden haben während der ganzen Nacht auf's Freundschaftlichste miteinander gesprochen. Die May begleitete die Plöhn den nächsten Morgen um 5 Uhr auf den Bahnhof.480


Ähnlich im Tenor die Aussage ihrer Tochter Maria:


Einmal gegen 7 Uhr abends erschien eine Dame in der Villa, stellte sich als die Schwester der May vor und wünschte, zu dieser begleitet zu werden. Ich habe der May dies gemeldet, wobei die Plöhn mir nachging. Die Begegnung war eine höchst freundschaftliche.481


Aus Klaras bereits erörtertem Brief aus der Jahreswende 1909/1910, der überdies eine genaue Kenntnis von Emmas Körper (Brustwarzen, Aderknoten an den Beinen) verrät, geht hervor, daß seinerzeit in Bozen jedenfalls zwei der von Emma dargelegten Gesprächsthemen tatsächlich erörtert wurden, nämlich die Frage nach einem unehelichen Kind Emmas und ihrem sexuellen Vorleben, bevor sie May kennenlernte.482

   Dieses eigentlich überraschende Ergebnis eines hohen Realanteils in Emmas Bekundung legt nahe, daß auch ihre Darstellung im übrigen weitgehend zutrifft: Klara kam in doppelter Mission, nämlich einmal, weil ihre Liebe zu Emma und ihr Bedürfnis, sie zu trösten (und ihr eigenes schlechtes Gewissen zu beruhigen), sie zu ihr trieb; schließlich hatte ihr Emmas Wirtin kurz zuvor geschrieben, wie verzweifelt es Emma nach ihr, zumindest aber nach einem Brief von ihr, verlangte, den Klara dann erstmals kurz vor jenem Besuch, nämlich zu Emmas Geburtstag am 22. November 1902, geschrieben hatte. Im übrigen kam sie in Karls Interesse, um sicherzustellen, daß Emma den heftigen Oktoberstreit ad acta legte und eine tröstliche Perspektive gewann, damit sie den Prozeßverlauf nebst Scheidung nicht störte. Die einzige nachweisbare Lüge, die sie Emma auftischte, war ihre Erklärung, daß sie direkt aus Berlin gekommen sei. Eine Lüge, die sie aus Loyalität zu Karl vorbringen mußte, denn hätte Emma gewußt, wie nah die beiden wohnten, wäre es mit der so dringend erforderlichen Ruhe für May aus gewesen. Unwahrscheinlich klingt die Information, Klaras Mutter habe sich gegen eine Scheidung und für eine Fortsetzung des Lebens zu dritt ausgesprochen: zumindest ihre ganz im Sinn von Karl und Klara erfolgte Zeugenaussage vom 22. Dezember 1902 in dem Scheidungsprozeß spricht nicht gerade für den mitgeteilten Sinneswandel zwischen den Ereignissen in Leipzig im August 1902 und der erkennbaren Einstellung im Dezember desselben Jahres. Daß Klara Mitleid mit Emma hatte und Karls Ton in seinen Briefen an sie nicht guthieß, erscheint keineswegs ausgeschlossen: Schaka-


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ras Worte im ›Silberlöwen IV‹ angesichts der Strenge des Ich bei Bestrafung des Aschyk klingen einem noch in den Ohren:


»Wie streng du sein kannst, Effendi, wie unerbittlich kalt und streng! Das wußte ich noch nicht!« (Silberlöwe IV, S. 363)


»Entsetzlich, entsetzlich! Effendi, bist du ein Mensch?«

   »Schakara, Schakara! Ich will ihn retten. Und wer den Ausweg aus der innern Hölle nur durch die äußre Hölle finden kann, dem muß man diese öffnen.« (Silberlöwe IV, S. 364)


Und letztlich muß es auch nicht falsch gewesen sein, daß Karl von ihrem Besuch bei Emma nichts wußte. Möglicherweise diente ihr Abstecher ins Hotel Penegal auf der Mendel, der sie ja einige Stunden an Zeit gekostet haben dürfte, der Legitimation ihres vor Karl tatsächlich - zunächst - geheim gehaltenen Besuches bei Emma. Klara hat sich ja nur bei den Schrotts nach dem Stand der Dinge erkundigt, in Erfahrung gebracht, was man dort über Emma wußte, zusätzlich auch noch die Tochter Henriette Schrott für sich eingenommen, und dann im Hotel Penegal übernachtet ... Vielleicht war es sogar ein Spontanentschluß von ihr, sich nicht nur nach Emma zu erkundigen, sondern diese selbst aufzusuchen. Ausschlaggebend könnte insoweit gewesen sein, daß die über Emma besser informierte Mutter Maria Schrott an jenem Tag nicht anwesend war: »Des Besuches der Frau Plöhn, der Ende November 1902 erfolgt sein mag, in Bozen habe ich schon erwähnt, auch, daß ich damals von Bozen abwesend war und daß meine Tochter Henriette die Plöhn empfing. ...«483 Hierfür spricht auch die späte Stunde ihres Eintreffens in der Villa Lehner, die möglicherweise dazu führte, daß die letzte Zugverbindung nach Riva - bzw. zum nähergelegenen Trient, wo sich May jedenfalls noch am 6. Dezember 1902 aufhielt - versäumt wurde. Denn wenn May auch mit dem Zweck von Klaras Besuch einverstanden gewesen sein muß, ja, sie sogar mit einer solch heiklen Mission ins gegnerische Lager betraut haben könnte: daß Klara die Nacht mit Emma, die ja auch in Bozen mit Damen zu Bett (ging), verbrachte, dürfte ihn erschüttert haben, wenn er es erfahren hat. Die Krallen der Dämonin, sie hatten wieder zugeschlagen.

   Klara, der Emma mit ihrer Aussage lediglich geheuchelte Gefühle und Lügen vorzuwerfen scheint - denn tatsächlich kam es ja letztlich nicht zu dem Wunschergebnis, das in jener Nacht herbeigeredet wurde -, war wieder Emmas Wesen unterlegen. Alle Dokumente belegen, daß sie Emma tatsächlich liebte, legt man die geradezu schwülstigen Liebes- und Freundschaftsbriefe an Emma aus den Monaten Januar bis März 1903 zugrunde, die Lebius abgedruckt hat. Zwei Passagen in einem Brief von Ende Januar 1903 an Emma sind besonders aufschlußreich, da sie sich paßgenau in Mays Wertung der Freundschaft Emma-Klara einfügen und psychologisch stimmig sind:


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Liebe Emma!

   Denke Dir, in den besten Dresdener Kreisen kursiert folgender Witz:

   »Wenn das zu erwartende Kind der Louise zur Mutterbrust greift, ist es von Giron, greift es zur ›Flasche‹ ist es von August.«

   Die arme Frau muß viel über sich ergehen lassen. Denke nur, Giron ist erst 23 Jahre und sie bald so alt wie ich, er könnte fast ihr Sohn sein. - - Na Liebe ist ja bekanntlich blind. - -484


Das ist ganz genau das Niveau der Klatsch- und Tratschweiberrunden mit sexuellem Gehalt, die May so abscheulich ›herunterziehend‹ fand, an denen Klara aber jahrelang teilgenommen hatte. Klara weiß genau, daß Emma an einem derartigen Witz Interesse haben wird, zumal ihr Max Welte auch kaum älter ist als jener besagte Giron. Eine Reminiszenz an alte gemeinsame Zeiten mithin. In demselben Brief, der Emma tröstend aufrichten und sie außerdem auf eine für May positive Aussage im Münchmeyer-Verfahren einstimmen soll, fährt Klara dann fort:


Kurz muß ich noch einen Passus aus Deinem vorletzten Brief streifen. Du sagst Mutter und ich hätten einen Meineid (...) geschworen? Emma, wir waren außer uns darüber und ich muß Dir offen sagen, ich war nahe daran Dich deshalb zur Rechenschaft zu ziehen. Du weißt es  g a n z  g e n a u ,  in wie gehässiger Weise Du jahrelang über Karl gesprochen hast. Nicht einmal nein hundert und noch mehr Male hast Du den Wunsch ausgesprochen den Mann los zu sein. - (...) Du weißt ganz genau, was Du an mir gehabt hast, so wie ich Dich geliebt habe hat Dich kein Mensch zuvor geliebt und diese Liebe war vielleicht unser Glück, denn hätte ich Dir nicht so blind vertraut, nur, nur Deinen Worten geglaubt, hätte ich vielleicht Karls Wert zu früh erkannt und wir wären Alle unglücklich geworden. (...)

   Von Deinen Schultern sind nun alle die Dich einst so schwer drückenden Lasten genommen. Du bist frei, kannst Deinem eigenen Wohle leben, nach Deinem Wunsche. Not und Sorge werden nie im Leben Deine Gäste sein, nun tu aber auch Du Deine Pflicht und hadre nicht mit einem Geschick welches zu erreichen der höchste Wunsch Deines Lebens war.485


Ähnliche Briefe verfaßte Klara May in der Folgezeit, so im Sommer 1903 (oder auch im Jahr 1904/1905, wie von Maschke datiert), jedenfalls zu einem Zeitpunkt, nachdem Emma sie mit Rachsucht zu verfolgen begonnen hatte. Der fragliche Brief ist an das Ehepaar Carl und Lisbeth Felber aus Hamburg gerichtet, Freunde Mays, die er zusammen mit Emma im Jahr 1897 besucht hatte; Frau Felber war allerdings seinerzeit von Emmas Unfreundlichkeit ihrem Mann gegenüber nicht sehr angetan und hatte Emma wegen ihrer unleidlichen Art kritisiert, woraufhin diese umgänglicher agiert hatte. Klara schreibt:


... Sie schrieben meinem Herzensmanne heute einen so lieben Brief und berührten dabei in Ihrer Güte ein Wesen, welches Ihre Liebe nicht verdient und welches nicht mehr in unserer Mitte weilt. Ich halte es für meine Pflicht, Ihnen einen Theil


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der traurigen Wahrheit zu enthüllen. ... Vielleicht wissen Sie, wie gerade ich ihre Freundin war und wie sehr ich sie liebte. Sie hat es leider nicht verdient und auch mich bitter enttäuscht ...486


Von Klara May existieren insgesamt lediglich schriftlich dokumentierte Stellungnahmen zu Emma, die sie nach der Trennung von Emma und nach der Zuwendung zu Karl produziert hat; dennoch reflektieren sie nicht nur, wie im Hinblick auf ihre anpassungsfähige Charakterstruktur zu erwarten wäre, eine Übereinstimmung mit Karl May bis hin zur Wortwahl der ›Studie‹, sondern auch noch einen Abglanz ihrer alten Gefühle für die beste Freundin. In der Aufregung des von Lebius inszenierten Beleidigungsprozesses gegen Emma, deren üble Schriftsätze er bzw. sein Schwager Medem, ein Ex-Anwalt, verfaßte, korrespondierte sie mit Selma vom Scheidt, die noch den größten Einfluß auf Emma zu haben schien.

   In einem Brief vom 10. November 1909 an Selma vom Scheidt bezeichnet Klara Emma als »törichtes Kind«: »Dem Ernst des Lebens will sie nicht gewachsen sein.« Sie nennt sie eine »leichtfertige, kindische Frau, die, solange sie ihn [May] kennt, zu quälen wusste. Solange sie an seiner Seite stand, peinigte sie ihn in der Nähe, jetzt durch Henkersknechte aus der Ferne.«487

   In einem weiteren Schreiben an Selma vom Scheidt von Ende November/Anfang Dezember 1909 führt Klara aus:


Es sind noch nicht 4 Wochen her, da wollten Sie, liebes gnädiges Fräulein, garantieren, dass Emma so etwas nie wieder tun würde. Am 15. 11. 09 droht sie schon wieder von Neuem! Sie werden sich auch noch überzeugen, dass Alles im Charakter dieser Frau begründet liegt. Sie kann nicht anders. (...) Selbstverständlich ist bei Emma alles »harmlos«, was sie tut, nur kommt der »Harm« nachher immer gewaltig nach. Was sie dann weiter sagt, vom »Gott im Himmel richten usw.« ist Unsinn! Himmel und Hölle sind hier bei uns auf der Erde und unser freier Wille ist es, eines von beiden zu wählen. (...) Der Mensch soll nicht kindisch sein, es nicht bleiben (...) Es tut mir leid, liebes gnädiges Fräulein, dass Sie durch Ihre Freundin in Mitleidenschaft gezogen worden sind. Es geht aber keinem glatt aus, wer sich mit Emma einlässt. Je mehr Liebe man ihr gibt, je mehr Lohn erhält man von ihr.488


Und dann im Dezember 1909, nachdem Emma sich nach erster Distanzierung am 14. Dezember 1909 erneut auf Rudolf Lebius eingelassen hat, wiederum an Selma vom Scheidt, nun die Wortwahl und die Thesen der ›Studie‹ übernehmend:


Die unglückselige Emma will sich zugrunde richten. Sie hat ihre, in Ihrer Gegenwart beim Rechtsanwalt gemachten Aussagen vor Gericht zurückgenommen. Die Frau ist mit Blindheit geschlagen. Ich hätte so sehr gewünscht, dass Friede würde, auch für sie. Sie treibt es aber zum Äussersten. Können Sie sie nicht noch retten? Lebius, von dem sie selbst sagt, dass er ein Schuft sei, der über Leichen gehe, wird über ihre Leiche gehen. Soll sie so enden? Sehen Sie nun, wie Recht ich


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hatte? Emma muss man kennen lernen. Erst zeigt sie sich als Engel; wenn aber die Maske fällt, so steht die Bestie. (...) Vielleicht gelingt es Ihnen für die Verblendete noch ein günstiges Weihnachten herbeizuführen. Wie würde es mich freuen!489


In einem weiteren Brief, der vermutlich von Anfang 1910 stammt, wendet sie sich erneut an Selma vom Scheidt.


Die Unglückliche hat sich durch Lebius zu einer noch verhängnißvolleren Dummheit hinreißen lassen, als alle früheren waren: diese kann sie ins Zuchthaus führen, wenn sie nicht einfach dem Gericht die ganze Sachlage mitteilt und sagt, dass Lebius sie zu diesem Schritt veranlasst hat, dessen Tragweite sie erst jetzt sieht. Emma hat uns nämlich wegen der gestohlenen 36000 Mk verklagt. Sie wollte dazu erst Gerlach haben, auf den Rat des Lebius, einen teuflischeren Plan konnte dieser nicht aushecken.


Dann führt sie aus, daß Emmas wechselnde Angaben zu ihrer Eigentümerstellung an dem Geld (mal vom Wirtschaftsgeld erspart, mal Geschenke) durch Zeugenaussagen belegbar falsch seien und man Emma nur ins Messer laufen lassen wolle, um sie in dem gleichzeitig stattfindenden und vor demselben Richter, Landgerichtsdirektor Clauss, 6. Civilkammer Dresden, geführten 2. Teil des Münchmeyer-Verfahrens unglaubwürdig zu machen.


So ist der teuflische Plan. Emma ist wahnsinnig, wenn sie sich weiter dazu hergiebt, der Spielball dieser Schurken zu sein. (...) Ich kann nur beten, dass das Schicksal die Unglückliche nicht noch furchtbar bestrafe, für all das Leid, was sie über uns gebracht hat. Bitte, liebes gnädiges Fräulein, lassen Sie das arme Opfer zu sich kommen, vielleicht ringt sie sich in Ihrer reinen Athmosphäre [!] zur Klarheit durch. (...) Schon länger beschäftigt mich noch eine andere Sache, die Sie berührten, als Sie hier waren. Sie sagten, Emma sei so gehässig, gegen mich, weil ich mich von ihr zurückgezogen habe. Sieht sie wirklich nicht ein, dass sie allein es ist, die mich zwang, immer weiter von ihr fortzugehen? Was hat Emma alles zwischen uns aufgerichtet! Sie weiss doch am besten, wie ich zu ihr gehalten, bis zum letzten Augenblick. Und auch heute noch trotz aller Schmach, die sie mir durch jenen Schuft angetan, kann ich es nicht ruhig mitansehen, sie ins neue Unheil rennen zu lassen. Glauben Sie mir, in mir ist's nicht ein Hauch von Hass, nur tiefe Trauer, unendliches Weh. (...) Jetzt bricht mir aber fast das Herz, wenn ich an meinen armen, lieben, guten Mann denke, der so ernstlich gestrebt und so enorm viel erreicht, der tausenden im Leid ein Freund und Tröster war. Er hat es nicht verdient, nach seinem schweren, schweren Leben nun von solch einem »Schuft« zu Tode gemartert zu werden - und sie, die man so geliebt, gibt beide Hände dazu her.490


Klara identifizierte sich demnach später zwar mit Karls Sichtweise, mit der sie sich ja immer identifizierte. Aber die wie eine Entschuldigung wirkende Bezeichnung von Emma als ›kindisch‹ und ›töricht‹, als die »Unglückliche«, die »Verblendete«, das »Opfer«, weist noch auf Rudimente der einstigen


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tiefen Verbundenheit hin. Und daß Emma sie mit ihrem Haß verfolgt, sie, die Emma doch so geliebt hat, bis zum letzten Augenblick zu ihr gehalten hat, das ist der eigentliche Schmerz, der sie mit May in seiner Opferrolle verbindet. Und Emma ist wahrhaftig von den allertiefsten Rachegefühlen gegen Klara durchdrungen, wie aus Emmas Brief an »Mein liebes Kaninchen« vom 28. September 1910 hervorgeht:


Sie [Klara] frug mich vorher noch wegen der Blutschande. Ich sagte ihr die Wahrheit, wie es sich zugetragen; sie erwiderte kein Wort. - Sagte ihr auch, daß ich das Wort Blutschande nicht gebraucht hätte. Es mag dann zwischen den beiden eine schöne Szene gegeben haben. - Sie sagte: Karl schliefe keine Nacht mehr! Ich dachte bei mir: Ja, ja jetzt wendet sich das Blatt.491


Emmas ›Wahrheit‹ über Karls Verhältnis zu seiner Nichte Clara, die sie Klara gegenüber offenbart haben wird, kann man sich lebhaft vorstellen: denn Emma ergötzt sich ja an einem imaginierten, von Eifersucht und Mißtrauen genährten Ehestreit zwischen Karl und Klara: Klara soll genau das erleben, was sie selbst an Eifersuchtsattacken wegen des liebevollen Verhältnisses zwischen Karl und dem Kind durchlitten hat. Und ihre offenkundige Schadenfreude angesichts Mays Schlaflosigkeit bestätigt, wie zutreffend May in der ›Studie‹ Emmas Wonne und Lust am Quälen anderer Menschen beschreibt. Klaras Schmerz wegen Emmas Verhalten hat demnach seine Gründe, die dafür sorgten, daß die ›Studie‹, deren Inhalt sie kannte und akzeptierte, überhaupt erhalten blieb - und das, obwohl Klara selbst als Beobachtungsobjekt von Mays sezierendem Blick nicht verschont geblieben war. Wichtiger als ihr eigenes Erscheinungsbild für die Nachwelt erschien ihr offensichtlich Karls von ihr geteiltes Werturteil über Emma: »Ich möchte wissen, was Du sagen würdest, wenn Du K. Ms. Aufzeichnungen über diese Frau lesen würdest«, schrieb sie am 7. Juni 1912 an Willy Einsle.492

   Klara zumindest hielt die ›Studie‹ demnach nicht für das Dokument eines Kranken oder für phantasievolle Fiktion. Sie kannte Emma als beste Freundin und als Liebespartnerin und damit intimer, als ein Mann eine Frau jemals kennenlernen kann. Selbst wenn sie sich auch an der Existenz eines Beweises erfreut haben mag, als Erlöserin des in einer Ehehölle gequälten Mannes gelten zu dürfen, und daher das Kontrastbild Emma begrüßen mußte: für derartig haltlos wie manche Rezipienten jedenfalls kann sie seine Meinung über Emma nicht gehalten haben.

   Hans Wollschläger scheint die Auffassung zu vertreten, daß May in Riva bereits an eine auch erotisch gefärbte Beziehung zu Klara gedacht habe, dies aber wegen Schuldgefühlen dem verstorbenen Freund Richard Plöhn gegenüber nicht habe umsetzen können. Für die Zeit nach der Rückkehr nach Radebeul, 16. Dezember 1902, vermerkt er:


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(und auch der tote Freund Richard Plöhn beschuldigt ihn nun nicht mehr: in Riva noch hat May, in spiritistischem Kultus, als Dr. Richard Sonnenschein - so sein ›Hotelpseudonym‹ - seine Rolle bei Klara nur erst sehr behutsam übernehmen können; nun aber erteilt der verklärte Geist durch ein, May diktiertes, Gedicht Klara das Plazet ... und so muß sein Denkmal im Buch, der Chodj-y-Dschuna, die Verwandtschaft zu Schakara gar nicht mehr erst verzeichnen).493


Die Namenswahl ›Richard‹ ist genau so wenig zufällig wie die Bezeichnung ›Sonnenschein‹: erinnert der Name ›Richard‹ May daran, daß Klara die Wittwe eines Andern (Studie, S. 923) ist, bedeutet der ›Sonnenschein‹ den optimistischen Aufbruch in die neue Kreativität, die mit der Entsexualisierung der Emmeh in den ›Silberlöwe‹-Bänden I und II bis zum 15. November 1902 beginnt und sich mit der Aufnahme des Nachtgespräches im ›Silberlöwen IV‹ fortsetzt. Sexualität dagegen: war und blieb ein absolut negativ besetztes Thema, und alles, insbesondere die Schweigsamkeit in der ›Studie‹, deutet darauf hin, daß Klara, die nur schlecht lügen konnte, ihm von ihrem Besuch bei Emma im Verlauf der gemeinsam verbrachten Zeit am Gardasee erzählt hat: die verheerenden Folgen sind vorstellbar.

   Am 15. Dezember 1902 jedenfalls, dem Tag der Abreise von Riva, schrieb er ein Gedicht, das der Karl-May-Verlag in seinem Sammelband ›Lichte Höhen‹ - Aus Karl May's Nachlaß -, unter der Kapitelbezeichnung ›Karl May an Klara May‹ und der Überschrift ›2. Am Hochzeitstag‹ wie folgt unzutreffend kommentierte: »Dieses Gedicht schrieb Karl May seiner Gattin Klara zum Hochzeitstag, 30. März 1903, ins Stammbuch.«494 Nachdem schon das im Sammelband vorangehende Gedicht ohne nähere Bezeichnung des Entstehungszeitpunktes unter der Überschrift: ›1. Verlöbnis‹ die vollkommen asexuelle Refrainzeile »und sei mein guter Kamerad«495 aufweist, ist das nachfolgend wiedergegebene Gedicht das wohl gruseligste, das jemals einer Frau zum Hochzeitstag gewidmet worden sein dürfte.


Komm, Liebling, komm, wir wollen scheiden gehen
Die Erde hat es uns so leicht gemacht
Ich kann nicht trauernd vor dem Abschied stehen,
Wenn er so froh in deinen Augen lacht.
Wir wollen Hand in Hand uns niederlegen;
Zwei Särge, doch ein Grab, so soll es sein,
Und über uns des ewgen Vaters Segen,
Doch nie und nimmermehr ein Leichenstein!
Und rollt die Erde auf die Särge nieder,
So lächeln wir beglückt einander zu.
Man singt uns zwar vielleicht dann Sterbelieder,
Doch die Gestorbnen sind nicht ich und du.
Wir haben ja nur das zurückgegeben,
Was von der Erde uns geliehen war,
Und stehen beide als vereintes Leben
Bei unsern Sängern, wenn auch unsichtbar.


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Die letzte Stunde naht, Am Firmamente
Wird Licht um Licht vom Vater aufgestellt.
Er ladet uns zur stillen Jahreswende,
Zum neuen Sein dort in der andern Welt.
Schau auf! Du sollst in meinen Sternen lesen,
Was in den deinen längst geschrieben lag:
Wir sind auf Erden nur verlobt gewesen;
Der Todestag ist unser Hochzeitstag!
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Das Gedicht kündet davon, daß erst der Körper sterben muß, bevor die wahre Hochzeit stattfinden kann. Und die Erde selbst hat es leicht gemacht, den Körper hinter sich zu lassen, der so fehlbar ist und so leicht zu unterwerfen (wie Klara und wie auch Karl durch Emma unterworfen wurden). Das vereinte Leben in der zweiten Gedichtstrophe wiederholt die Worte des Gedichtes von jenem Samstag in Berlin, den 2. August 1902, an dem Klara ihm den Glauben an die Nähe zweier Menschen wiedergab: Was du mir gabst, ist ein vereintes Leben; / Was du mir nahmst, das bin ich nun mit Dir!497

   Aber um welchen Preis wird diese Hochzeit gefeiert ...

   Zum selben Zeitpunkt, in dem dieses Gedicht entstand, schrieb May am Nachtgespräch des ›Silberlöwen IV‹, in dem er jene körperlose wie auch jenseitige Art der in dem Gedicht gepriesenen Liebe ebenfalls thematisiert: sie wird beschrieben in einer Antwort des Ich auf die Bemerkung des Ustad, daß sich in ihm ein Gefühl erhoben habe,


»als ob wir leiblich und geistig so eng verbunden seien, daß wir miteinander eine gleichdenkende und gleichempfindende, vollständig unzertrennliche Einheit bilden.«

   »War es wirklich ein Gefühl? Oder doch vielleicht etwas anderes?« fragte ich. »Wenn sich verwandte Geister küssen, fließen die Pulse ihrer körperlichen Herzen zu einem einzigen zusammen. Das Wort Geisterliebe klingt gespensterhaft, aber sie ist die höchste und die mächtigste, welche das Hier mit dem Dort verbindet. Indem sie das Eine zu dem Anderen emporhebt, bringt sie die Seligkeit. [«]

   Vielleicht hätte ich noch etwas hinzugefügt, da ich mit diesem Gedanken mein Lieblingsthema berührte, aber ich verzichtete darauf, denn es war mir, als ob ich soeben etwas gehört und auch etwas gesehen habe. (Silberlöwe IV, S. 56)


Hier unterbricht er die Gedankenführung, weil der ›Bluträcher‹ heranschleicht, um das Ich zu töten.

   Geisterliebe, mehr kann er sich zu diesem Zeitpunkt seines Lebens - und die zitierte Passage war im Rahmen der Lieferung von 128 Druckseiten bis zum 24. Dezember 1902 verfaßt worden - einfach nicht vorstellen. Wenn das fehlende Anführungszeichen im Text nicht nur ein Setzerfehler sein sollte, sondern auch schon im Manuskript auftauchte, wäre das von stringenter Logik: gerade an dieser Stelle besteht völlige Deckungsgleichheit zwischen Autor und Ich. Und folgt man der Interpretation, daß in diesem Nachtgespräch Klaras Gedanken und Worte auf den Ustad überschrieben


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wurden, wird die Parallele zwischen dem ›Hochzeitsgedicht‹ und der Textstelle im ›Silberlöwen IV‹ noch deutlicher.

   Die Kenntnis, daß dieses Gedicht mit der May-Zeile: Letzter Morgen in Riva. Montag, 15./12.2 signiert wurde (und damit auch auf ein Geständnis Klaras hinsichtlich ihres Rückfalls in die ›dämonische‹ Sexualität Emmas hinweist), verdanken wir einem Sonderdruck von Roland Schmid, Karl-May-Verlag, aus dem Jahr 1983; dort erfahren wir auch, daß Karl May dieses Gedicht seiner Klara keineswegs zum Hochzeitstag ins Stammbuch schrieb (das wäre auch sehr sonderbar gewesen, handelt es sich bei dem Stammbuch doch um ein amtliches Dokument), sondern daß Klara dieses Gedicht eigenhändig in ihr Tagebuch neben den Eintrag ihrer standesamtlichen Eheschließung vom 30. März 1903 schrieb, versehen mit der Überschrift: »Karl für mich.«498 Aus welchen Gründen die editorische Desinformation über Mays Urheberschaft des Gedichtes im »Stammbuch« unter Verschweigen der wahren Datierung erfolgte, mag dahingestellt bleiben. Wenn aber Klara selbst in geradezu masochistischer Unterwerfung dieses Gedicht in ihr Tagebuch eintrug, wird sie gewußt und schuldbewußt akzeptiert haben, warum May seine Beziehung zu ihr auf einen geisterhaften Gleichklang verwandter Seelen reduzieren wollte. Denn auch im ›Silberlöwen IV‹ erklingt der Mißton fehlenden Vertrauens zwischen dem Ustad und dem Ich. Der Ustad will dem Rat des Ich, Dschafar Mirza vor dem geplanten Mordanschlag nicht zu warnen, nicht folgen. Da kommt May zum ersten und letzten Mal auf die Geisterliebe zurück; und seine Enttäuschung sitzt tief:


»Denn wenn du ihn warnst, so ist er zwar für jetzt zu retten, für später aber wahrscheinlich verloren!«

   »Beweise es!«

   Da schüttelte ich bedauernd den Kopf und sagte:

   »Ich hörte aus deinem eigenen Munde, daß du mich liebest, daß du dich Eins mit mir fühlest. Das war, als ich mich in Todesgefahr befand. Da sagte ich dir, daß, wenn Geister sich küsssen, es für sie fortan nur noch einen vereinten Pulsschlag gebe. Und nun? Jetzt? Ist es wirklich Liebe gewesen? Ein Kuß der Geister? Kaum eine Stunde später tritt schon eine andere Gestalt zwischen dich und mich! Die Einheit schwindet, und des Lebens Zwiespalt schiebt uns auseinander! Du willst Beweise! Kannst du nicht vertrauen? Soeben noch gingst du an meiner Hand ›spazieren‹. Ich zeigte dir, daß ich viel besser und viel weiter sah als du. Da kommt ein Bild aus vergangenen Tagen. Es steigt aus deiner ›Gruft‹ zu uns empor. Es ist der Schatten, der dich einst regierte. Kannst du ihn bannen? Ja? Versuche es!«

   Er stand gesenkten Hauptes vor mir und sagte nichts. (Silberlöwe IV, S. 111)


Diese Rede des Ichs ist dem Anlaß, hier: ein Konflikt im Rahmen einer auf dem Niveau der Reiseerzählungen angesiedelten scharfsinnigen Gefährdungsanalyse, nicht angemessen, ja, sie stellt eine geradezu unverständliche Reaktion dar. Welche Gestalt tritt dazwischen? Welches Bild aus vergangenen Tagen soll da emporgestiegen sein? Welcher Schatten ist gemeint, der


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den Ustad einst regierte? Als Rede an Klara, die ihm in ›Todesgefahr‹ in Berlin einst seelische Übereinstimmung versprach, sich jetzt aber, ihm nicht vertrauend, dem feindlichen Schatten ausgeliefert hat, der sie einst regierte, macht die Passage dagegen Sinn. Und noch einleuchtender erscheint sie, wenn man unterstellt, daß May sich bei der Niederschrift nicht mehr daran erinnerte, daß er eine (eigentlich auf S. 77 stehende) Bemerkung des Ustad zu seinem Schatten: »Der meine war mein eigenes Weib!« wieder gestrichen hatte (wobei nicht auszuschließen ist, daß May die Streichung später vornahm, es dann aber unterließ, die korrespondierende Passage hier ebenfalls zu verändern).499

   Eines der düstersten Gedichte in den Nachlaßmappen Mays könnte in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein: zunächst folgen unter der gesonderten Überschrift: ›Die Scheitana‹ zwei Gedichte, in denen ein weibliches lyrisches Ich, vom Himmel herabgestiegen, jene dämonisch-sinnliche Schetana anredet und deren körperliches Verlangen im ersten, bereits erörterten, Gedicht ablehnt und sich im zweiten Gedicht mit folgenden Worten entzieht:


Du bist das Weib, das mit dem Körper liebt; / Du dünkst dich reich in deiner Schönheit Prangen, / Doch alles, was dein Herz im Rausche gibt, / Das ist mit diesem Rausche schnell vergangen. / ... Ich steh als  f r e m d e s  W e i b  vor euren Zelten. / Doch wie ich mich zu euch herniederfand, / Find ich mich auch hinauf durch alle Welten.


Dann allerdings folgt jenes dritte Gedicht, zu dem die Herausgeber des Karl-May-Jahrbuches im Jahr 1922 in einer Fußnote folgende ratlose Frage formulierten: »Sprecher?«


So stäubt von mir, verfluchte Höllenfunken,
Der Hammer des Verhaßten schlug euch kalt.
Glaubt ihr etwa, ihr habet ausgestunken,
Weil ihr in den Geruch des Himmels fallt?
Was scher ich mich um alle eure Treue,
Ihr schäumt ja doch vergeblich ins Gebiß.
Erlösen kann euch nichts, als nur die Reue,
Und die gibts nicht im Reich der Finsternis.
500


Gegenüber der verschnörkelt-geläufigen Lyrik der ›Himmelsgedanken‹ wohl das bildmächtigste und sperrigste Gedicht Mays. Wer spricht da? Fakira, das lyrische Ich der ersten beiden an die Scheitana gerichteten Läuterungsbeschwörungen, ist es jedenfalls nicht. Angesprochen werden mindestens zwei Personen (eure Treue, Ihr schäumt ja, Erlösen kann euch nichts), und diese beiden Personen scheinen nicht identisch zu sein mit den in den ersten vier Zeilen adressierten verfluchte(n) Höllenfunken, denen man so menschenbezogene Werte wie Treue und Reue oder gar das eigene Bedürfnis sowie den Wunsch des Sprechers nach Erlösung nicht zuordnen mag. Einigermaßen vertraut mit der Mayschen Terminologie und seiner Vorstel-


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lungswelt kann man den Schluß ziehen, daß die diabolische Macht der Sexualität - erkennbar in der Verschränkung von Geruchsempfindung mit den Höllenfunken - den Himmel, der in den vorangegangenen und den nachfolgenden Passagen zu Fakira, die sich auf ihren himmlischen Vater beruft, eben Fakira bedeutete, unterworfen hat. Selbst der Himmel weist jetzt einen Geruch (und keinen Duft) auf, und er verströmt sich am Boden, besiegt, unterliegend: denn die Höllenfunken ›fallen‹, ausgeglüht, hinein. (Obwohl Funken, physikalisch betrachtet, selbstverständlich zunächst aufsteigen: weshalb man mit dem Bild von Funken auch unwillkürlich eine Aufwärtsbewegung assoziiert.) Ein unsichtbares Pferd taucht auf, die ›Leidenschaftsnatur‹, die Rappen der Nacht,501 und beide Adressaten ›schäumen‹ vergeblich, Treue nur behauptend und nicht lebend, ins Gebiß der zügelnden Konvention. Es sei die Interpretation gewagt, daß hier der Blick des Mannes auf die Sexualität der beiden Frauen beschrieben wird, die verheerende, ihn betrügende, von der er weiß und die aktuell wieder in sein Leben eingebrochen ist: die erkalteten Funken haben ihn berührt. Beide Frauen bedürfen nun der ›Erlösung‹, die ihnen aber, solange sie in dem Reich der Finsternis verweilen, nicht zuteil werden wird. May, der Sprecher, kämpft jedenfalls gegen diese diabolische Macht: So stäubt von mir ...; und er läßt sich in dieser Abwehr auch nicht dadurch beirren, daß der Höllenodem seinen ekelerregenden Gestank nach Vermischung mit dem Himmelsgeruch (Das ist Jasmin, berückender Jasmin. / Das ist der heil'ge Duft der Sternenblumen. ...502) maskiert hat. Reue sollen die Adressaten zeigen: das gilt auch und insbesondere für Klara ...

   Wie es dann, nach Absolvieren der Beweisaufnahme im Scheidungsverfahren am 22. Dezember 1902, der Bewältigung des Weihnachtsfestes (das zwei wichtige Briefe vom 24. Dezember hervorbrachte) und der Produktion bis S. 176 des ›Silberlöwen IV‹ bis Ende Dezember 1902/Anfang Januar 1903 um May stand, belegt das mitten im Satz unterbrochene vorläufige Manuskriptende. Diese Fassung hat er dann später, nach monatelanger Schreibpause, verworfen. Wir befinden uns immer noch im Nachtgespräch zwischen dem Ustad und dem Ich, für den das Ich gerade ein dreistrophiges Gedicht mit den wiederkehrenden Anfangszeilen: »Ich kam zu dir mit meinem Sonnenschein; ... Sonnenlicht; ... Nun komme ich mit all dem Sonnenglanz, ...« (Silberlöwe IV, S. 175) in dessen Manuskript einer Rechtfertigungsbiographie geschrieben hat. Thema des Poems ist der siegesgewisse Geist, der aber die Seele und die Liebe nicht hat: der Mensch mit einem solch anmaßenden und nicht wirklich verstehenden Verstand bleibt ein ungedrucktes Manuskript, ein zusammenfallender Docht, ein lichtloser Geist. Die Textstelle beschreibt die Reaktion des Ustad auf dieses Gedicht: sein Gesicht verklärt sich, seine Augen strahlen. Er reißt das Gedicht aus dem Manuskript und wirft sein eigenes Werk weg, das verbrannt werden soll:


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»In dieser Asche soll nun auch mein Schatten flammen, bis er in sich zum Nichts zusammenfällt! ...«

   Nun drückte er das herausgerissene Blatt an seine Brust und fuhr fort:

   »Sie kam! Ich hab sie wieder! Dschanneh, den Gottessonnenstrahl! Durch Dich, durch Dich, Effendi! Dein Auge war das ihre; ich hab mich nicht getäuscht! Sie gab Dir diese Strophen in die Hand! Sie kam in ihnen jetzt mit all dem Sonnenglanz, in dem vor ihrem Herrn die Geister beten! Dies Blatt bewahr ich mir. Es sei für mich der größten Heiligthümer eines! Auf dieser einen Seite fiel mir mein Docht in sich zusammen, doch auf der andern fand ich andres und bessres, ungeahntes Licht! Ich weiß es nun: Ich bin vom Tod erstanden und werde - - - - - - - Was ist mit Dir, Effendi?«503


Der Ustad, durch das Ich beseelt, ist geradezu ekstatisch; er weiß, was er will, fühlt neue Lebens- und Schaffenskraft, Dschanneh ist wieder da und wird sich wohl auch bald materialisieren; man spürt deutlich, daß diese Dschanneh mehr ist als nur ein Symbol. Der Ustad und das Ich sind plötzlich wie zwei kommunizierende Röhren; um so euphorischer der Ustad, desto matter das Ich:


Es war ein mehr als anstrengender Tag gewesen. Ich hatte mich bis hierher gehalten. Nun aber war es mit meinen Kräften zu Ende. Mir wurde so, als ob in mir Alles leer sei. Ich wankte. Da schloß er mich in seine Arme. Ich fühlte, daß er mich küßte? Trug er mich? Mir war, als ob wir durch das Mittelzimmer nach der Schlafstube kämen. Dort lag ich auf dem Bette. Seine Hand liebkoste meine Wangen. Meine Augen waren zu. Und dennoch sah ich wie in weite Fernen. Ein Licht, wie überirdisch, leuchtete um mich. Ich war allein, doch ohne Bangigkeit. Ich fühlte an der Hand mich eine Liebe504


Damit bricht es ab. Die Ich-Auflösung ist total, und sie erinnert an die entsprechenden Passagen im ›Silberlöwen III‹; hier wie dort die Leere, die Sehnsucht nach Aufgehoben-Sein, die geschlossenen Augen und das seelische Sehen in weite Fernen. Das letzte Wort ist Liebe, die nicht gesehen, sondern nur an der Hand gefühlt wird: und sie ist gekoppelt mit Alleinsein und einem überirdischen Schein. Daß Karl May in dieser Phase des Zusammenbruchs nach dem Energieschub von November und Dezember 1902 in der Lage gewesen sein könnte, eine reale, erwachsene Beziehung zu einer Frau aufzunehmen, ist kaum vorstellbar. Was hier sichtbar wird, ist Schutzbedürftigkeit und das Verlangen nach heilend-wiederherstellender Zuwendung.

   In der Wiederaufnahme der Schreibarbeit im Mai/Juni 1903 wird dieser gesamte Passus der Euphorie des Ustad und der Schwäche des Ichs gestrichen; statt dessen reagiert der Ustad mit heiligste(m), unerbittlichste(m) Ernst (Silberlöwe IV, S. 176), ein Ausbruch an Aktivität, der zwar auch der Verwerfung seiner Biographie Mein Leidensweg nachfolgt, aber aus dem Gedicht nur die Kritik an dem falschen Geist aufgreift, der nämlich derjenige sei, den die Feinde aufwiesen, und der zugleich Leitbild des Ustad gewe-


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sen sei. Zu Dschanneh gelangen die darauf einsetzenden Erörterungen um den richtigen Umgang mit den Gegnern zwischen ›Torenseligkeit‹, Feindesliebe und Faust (Silberlöwe IV, S. 179) dann nicht mehr. Deren möglicherweise geplanten Part übernimmt dann Schakara.

   Nach alldem wird jedenfalls die nüchterne, geradezu herzlos anmutende Erklärung Mays in der ›Studie‹, warum er Klara heiratete, erst verständlich:


Sie hat sich meiner schweren Erkrankung wie eine Pflegerin von Beruf, wie eine barmherzige Schwester angenommen, und der erste und eigentliche Grund, daß wir die Ehe schlossen, war nur der, daß, wenn mir das Leben erhalten bleiben sollte, die Pflege eine so unausgesetzte und so aufopfernde sein mußte, wie sie eben nur in der Ehe möglich ist, außerhalb der Ehe aber den Klatsch und Tratsch der lieben Nächsten hervorzurufen pflegt. Also ist es wieder nur meine erste Frau allein gewesen, die mich direct zur Scheidung und hierauf indirect zur zweiten Ehe getrieben hat. (Studie, S. 909)


Die Berufung auf Konvention zur Ermöglichung einer Pflegeleistung - und bei dieser Erklärung wird ja sogar die nachweislich bestehende seelische Nähe zwischen Klara und May unterschlagen - ist nur damit zu erklären, daß sich May in der ›Studie‹ den überaus kontrolliert evozierten Gefühlen der damaligen Zeit ausliefert und damit die Jetztzeit ausgeblendet wird; und die Ehe mit Klara Plöhn, der willenlose(n) Schwester und Gehülfin meiner Bestie (Studie, S. 923), war trotz der auf der Entscheidungsreise zutage getretenen Seelenverwandtschaft seinerzeit eine gefährdete Angelegenheit. Klaras Obsession mit Emma konnte alles wieder zerstören: denn noch am 28. Februar 1903 schrieb sie Emma:


Ich wollte Dir meine Villa geben. Durch diesen Vorschlag habe ich Dir und mir sehr geschadet. Wir sollen nicht zusammen sein. Nun es wird auch so gehen und jedenfalls auch für beide Teile besser sein.505


Es erscheint daher glaubhaft, daß Karl zu einer neuen Ehe noch nicht bereit war, die sich lediglich als die schicklichste aller möglichen neuen Lebensgestaltungen darstellte. In der 1911 geschriebenen ›Eingabe‹ konnte er, durch positive Eheerfahrungen gelassener und gerechter geworden, wenn auch gravitätisch-unprivat erklären:


Was Frau Plöhn betrifft, so stand sie als Witwe völlig einsam da und hatte außer mir keinen Menschen, auf den sie sich stützen konnte. Ich war nun ebenso einsam und brauchte sie als Sekretärin. Wir gehörten in Beziehung auf die Arbeit zusammen. Wir hatten dieselbe Erfahrung; wir trugen dasselbe Leid. Wir hatten geistig und seelisch dieselben Ziele. Mit der Pollmer hatte ich nicht zur Höhe steigen können, denn sie war niedrig angelegt. Mit Frau Plöhn aber konnte ich mit Lust und Erfolg nach allem Schönen und Edlen trachten, denn sie hatte das Verständnis dafür und den inneren Trieb dazu. Wir gehörten also zusammen. Mußten wir da zwei Haushalte führen? Nein! Konnten wir da nicht zusammenwohnen? O doch, aber nur


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unter der Voraussetzung einer loyalen, gesetzlich erlaubten Verbindung! Gut, wir schlossen die Verbindung; wir wurden Mann und Frau. Nicht aus niederen, Pollmerschen Gründen, sondern aus reinen, ethisch unanfechtbaren Erwägungen, deren man uns loben, nicht aber tadeln sollte.

   Freilich, als Frau Pollmer und ihre Klatschbasen hiervon erfuhren, gab es kein Lob, sondern mehr als Tadel. So schrieb z. B. das schon erwähnte »Karnickel« an meine Frau: »Du Scheusal! Auch ich habe den guten Karl geliebt; aber ich habe mit dieser Liebe wie eine Löwin gekämpft; du aber hast ihn genommen!«506


In Ardistan ist man schnell, trotz aller guten Vorsätze, und auch Klara zeigte ihm, im Guten wie im Bösen, was es heißt, mit einer ›richtigen‹ Frau verheiratet zu sein.

   Einen ihrer - auch noch öffentlichen - Abstürze in die Wahrheit ihrer Beziehung zu Emma erlebte May am 8. November 1909 mit, also nach Verfassen der ›Studie‹, und er wird nicht gern gehört haben, was sie sagte. Klaras großer Auftritt als Zeugin in dem Beleidigungsverfahren gegen Emma, eine für sie schon deshalb schreckliche Situation, als es unmöglich war, ihre Loyalität gerecht zu verteilen. Genau so wie Klara wußte auch May, wie schwierig es war, seiner Ex-Frau juristisch genau jenes Maß an Schuld nachzuweisen, das sie zu tragen hatte: denn wenn auch unverkennbar ein O-Ton von Emma in jenem unsäglichen Machwerk, dem Lebius-Artikel ›Ein spiritistisches Schreibmedium als Hauptzeugin der »Vorwärts«-Redaktion‹ vom 28. März 1909, ertönte, so ließ sich doch kaum unterscheiden, welche Verdrehungen und Aufbauschungen nun Lebius zu verdanken waren und welche Informationen die mittlerweile ziemlich verwirrte Emma ihm angedient hatte. Emma selbst war es - jedenfalls im Jahr 1910 - durchaus bewußt, wie weit sie sich bereits von der Realität entfernt hatte: »Ja, ja das waren selige goldene Zeiten«, schreibt Emma am 12. September 1910 an das Kaninchen, versunken in schwärmerische Rückblicke auf das Wohlleben in der Villa Shatterhand, während sie aktuell nicht einmal mehr eine »Aufwärterin« hat und daher »verdrießlich« ist: »Wie so anders ist alles gekommen; oft denke ich, ich träume. Ich kann absolut nicht an die Wirklichkeit glauben.«507

   Sogar die haarsträubendsten Informationen könnten demnach von ihr selbst stammen, wie beispielsweise diejenigen, Klara habe mittels Geisterbrief befohlen, Emma solle ihr sauer erspartes Geld Herrn Plöhn aushändigen; Geister hätten May befohlen, alles das, was er Emma schenkte, auch Klara zu schenken; Geister auch hätten befohlen, daß Plöhns die Orientreise, die 50.000 Mark gekostet habe, mitmachen sollten; die Geister der Frau Plöhn hätten May den Geschlechtsverkehr mit seiner Frau untersagt und befohlen, Klara eine jährliche Rente von 3000 Mark auszusetzen, Geister auch hätten die Fahrt nach Tirol im Jahr 1902 befohlen; May habe mit Klara, mit der er zuvor schon eine »Gewissensehe« eingegangen sei, engumschlungen in einem Wagen gesessen, während die zu Tode vergrämte Emma hinterher gefahren sei, und so weiter und sofort; nur noch ein geringer Nachhall der wahren Ereignisse läßt sich hier feststellen.508


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   Der Hauptkonflikt für Klara aber bestand in der Behauptung der Klageschrift vom 16. April 1909 gegen Emma, Klara sei keine Spiritistin und kein Schreibmedium gewesen, dies sei eine wissentlich unwahre Behauptung. Auch zur Widerlegung dieser Behauptung sollte Klara Zeugnis ablegen, und das konnte nur falsch sein.509

   Klara, deren Loyalität zu Karl sehr weit ging, war zur Falschaussage bereit; aber welche Belastung das für sie bedeutete, wird bereits deutlich, wenn man lediglich das Protokoll der in Dresden am 8. November 1909 stattgefundenen Hauptverhandlung zur Verfügung hat. Folgt man der von Lebius vorbereiteten Druckfassung,510 war zwar Karl May anwesend, nicht aber Emma Pollmer - obwohl Lebius bei diesen Details (wie auch bei Namensschreibungen, Datierungen und sogar in der Aktenbezeichnung) nicht immer verläßlich ist. Vor Klara war Luise Dietrich an der Reihe, und Klara konnte wahrhaftig nicht ahnen, wie zurückhaltend die ›Oberlehrerwitwe‹ an jenem Tag aussagte, nämlich, daß es überwiegend nur Gespräche zwischen den Frauen über Spiritismus gegeben habe, daß sie keine Erinnerung daran habe, ob auch May davon gesprochen habe, und daß es Emma war, die habe testen wollen, ob Klara Plöhn medial veranlagt sei. Emma, Klara und sie hätten die Hände aufgelegt, ihr sei aber keine Frage an Klara eingefallen ...

   Frau Dietrich sei durch Mays Anwesenheit beeinflußt und verwirrt worden und daher ›umgefallen‹, kommentiert Lebius sogleich diese ihn enttäuschende Vorstellung.511 Dann wird Klara hereingerufen, die Schlimmstes befürchten muß. Und sie ist so durcheinander nach der Begegnung mit Frau Dietrich, Mays erwartungsvoll-aufmunternder Blick ruht auf ihr, im Bewußtsein, alsbald lügen zu müssen: daß sie schon bei der Frage nach ihrer Eheschließung mit May aus der Fassung gerät: »Mit dem Privatkläger habe ich wohl 1902 oder 1903 - ich kann es jetzt nicht genau sagen - die Ehe geschlossen.«512

   Zunächst erklärt sie, daß Dr. Pfefferkorn sich zwar mit Spiritismus beschäftigt habe; soviel ihr bekannt sei, sei Karl May aber zu keiner Zeit Spiritist gewesen, also auch durch Pfefferkorn nicht zu einem geworden; Emma dagegen habe ihr erzählt, bereits in Hohenstein-Ernstthal an solchen Sitzungen teilgenommen zu haben. Damit hat Klara, nach Mays Ausführungen in der ›Studie‹ durchaus wahrheitsgemäß, einen der wichtigsten Vorwürfe aus dem Artikel, May sei Spiritist, bestritten.

   Dann wird es ernst.

   »Ich bestreite zunächst, Spiritistin zu sein und als Schreibmedium bewirkt [!] zu haben.«513 Nun ist es heraus, und Klara hat den Fehler aller falsch aussagenden Zeugen, die das Lügen (schon gar vor Gericht) nicht gewohnt sind, begangen: die einstudierte Aussage platzt als allererstes heraus, die Anspannung verfliegt, eine Art von Erleichterung macht sich breit. Details werden allerdings regelmäßig nicht geübt, auf Nachfragen sind solche Zeugen nicht vorbereitet. Und die nachlassende Spannung des Zeugen, der das


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Schlimmste überstanden zu haben glaubt, ist eine gute Grundlage, die Wahrheit ans Licht zu befördern. Wenn auch die Nachfragen im Protokoll nicht auftauchen, lassen sie sich durch den Gang der weiteren Vernehmung einigermaßen zuverlässig rekonstruieren. Wie Emma denn dann überhaupt dazu komme, solcherart Behauptungen aufzustellen, dürfte die nächste, vorzugsweise offen gestaltete, Frage gelautet haben.

   »Ich interessiere mich nur für spiritistische Dinge; zu diesem Interesse bin ich durch Frau Pollmer gekommen.« Jetzt muß nachgehakt werden. Wann, wo, wie.

   »Damals war ich noch mit meinem ersten Gatten verheiratet. Die Angeklagte ließ mir keine Ruhe und veranlaßte mich, an spiritistischen Sitzungen in unserer damaligen Villa in Radebeul, Schulstr., teilzunehmen. Es wurde da alles Mögliche vorgenommen.« Das ist natürlich zu vage. Was genau?

   »Tischklopfen, Schreiben und aller mögliche Unsinn.« Eine hübsch distanzierende Aussage; aber: »Schreiben«, jetzt ist das Wort denn doch noch gefallen, und Klara ist nun, nachdem sie sich schon viel zu tief in die Wahrheit gestürzt hat, nicht mehr in der Lage, zurückzuhalten. Die Dämme brechen, und man kann sich die Frage vorstellen, auf die sie jetzt antwortet: ob sie selbst denn auch geschrieben habe?

   »Ich stand allerdings in diesen Sitzungen derart unter dem Einflusse der Angeklagten, daß ich das, was sie wollte, tun mußte.« Damit hat sie sich von ihrer anfänglichen Aussage so weit entfernt, daß sie vollkommen entwertet ist, aber es ist die Wahrheit, die May in der ›Studie‹ so detailliert beschrieben hat. Und Klara scheint sich mit dieser Aussage darauf zurückzuziehen, daß sie Details, eben wegen des Einflusses von Emma, nicht mehr genau wisse. Klara rettet sich nämlich, geradezu klassisch, durch einen Themawechsel wieder auf eine absolute Wahrheitsinsel: »Genau weiß ich aber, daß ich niemals einen solchen Geisterbrief geschrieben habe, in dem ich überhaupt um Geld gebeten hätte.«

   Der Rest der Aussage ist dann wieder einfach, weil die Vorwürfe in dem Artikel derartig abstrus sind, daß Klara sie wahrheitsgemäß bestreiten kann: der Geisterbrief aus dem Hotel Penegal (»dann wehe, wehe, wehe«) war weder Gegenstand der Klage noch des fraglichen Artikels. Dieser Brief tauchte erst in einem Lebius-Schriftsatz für Emma vom 6. September 1909 auf, in dem dann - und das hat die Nachwelt bis heute merkwürdigerweise genau so verinnerlicht wie die Lebiusschen Räuberhauptmanngeschichten um May - letztlich die gesamte Scheidungsreise und Emmas Nachverhalten erstmals »auf einen willenlosen Zustand durch spiritistische Suggestion« zurückgeführt wird: eingeleitet durch die absolut wahrheitswidrigen Behauptungen: »Karl May war nicht krank, als wir uns zur Mentel begaben. Ursprünglich wollten mein Mann und ich allein nach Tirol fahren. Durch die Befehle der Geisterbriefe bewirkte aber die jetzige Frau May, daß mein Mann sie mitnahm.«514


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   Klara könnte, weil ihr Zeugenauftritt Mays Erwartungen nicht voll entsprochen haben wird, das Bedürfnis gehabt haben, ihre eigene Position - nämlich die tatsächlich über allem stehende Loyalität zum Ehemann - nach außen sichtbar zu machen. Durch eine solche Motivation ließe sich jedenfalls ihr (undatierter) Brief an Emma erklären, der unmittelbar nach einer ›gestrigen‹ gemeinsamen Begegnung mit Karl und ihr verfaßt wurde, immer eine kritische Situation für die schwankende Klara:


Gestern hast Du nun aus Karls Verhalten gesehen, was Du ihm bist, fremder als die Fremdeste. Ich wollte es Dir nicht sagen um Dir nicht Schmerz zu bereiten, wie mein Karl und ich uns lieben. (...) Wenn Du Dir die Mühe machen willst und den IV. Band »Löwen« lesen, dann siehst Du wie er von »Pekala« Abschied nimmt, Du weißt, wer sie ist - - Schakara - so nennt er mich immer - tritt zu ihm. -

   Es tut mir weh, daß ich es Dir sagen muß, glaube mir, es geschieht nur, um Dir, wenn es möglich ist einen ruhigen Blick zu geben. - Du weißt, Du wurdest von ihm schon seit vielen Jahren die Scheitana genannt. Heute setzte er hinzu, wenn ja einmal die Rede auf Dich kommt: »Sie war meine Hölle, die mich 22 Jahre hindurch mit allen ihr verfügbaren Mitteln marterte. Oft bat ich Gott um Befreiung von dieser furchtbaren Qual die ich stumm zu tragen hatte. Er erhörte mich, gab mir den Himmel schon hier, durch meine Schakara.«

   Das hätte ich Dir schon vorig Jahr sagen können - ich wollte es aber nicht, weil Du mir mit Deiner nun erwachten Liebe so unsagbar leid tust! - -515


Hier ist sie wieder ganz Stimme ihres Herrn, und wie unklar oder schwach auch immer ihr Verhalten gegenüber Emma am Tag zuvor gewesen sein mag, wie sehr sie Karl durch mangelnde Eindeutigkeit der Parteinahme enttäuscht haben mag: mit diesem selbstbeschwörenden Brief sind die Koordinaten ihrer eigenen Position wieder glasklar: Mitleid für Emma und Liebe für Karl.




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