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XV. Prozeß-Schrift


Mays ›Studie‹ ist der intimste Text, den er jemals verfaßt und nicht vernichtet hat. Die Frage stellt sich tatsächlich, warum er dieses erschütternde Ergebnis seiner Wahrheitssuche um das Wesen und die Wirkung seiner ersten Frau noch zu Lebzeiten aus der Hand gegeben hat; und dann sogar nicht eben nur an Klara, von der er blind jegliches Verständnis erwartete, sondern auch an den Untersuchungsrichter Dr. Larrass weitergeleitet hat.

   Einen Teil der Antwort gibt zunächst die ›Studie‹ selbst.

   Sie ergibt sich aus der Natur der Notizen, die dem geschlossenen Textteil, der auf S. 935 endet, angefügt sind und die mit hoher Wahrscheinlichkeit erst nach und nach verfaßt wurden. Zunächst folgen Zitate aus Briefen und Schriftstücken, die einige Details aus den vorangegangenen Schilderungen beglaubigen sollen; danach stellt May Überlegungen an, welche Art von Text er da wohl verfaßt haben könnte und wie mit ihm zu verfahren sei; Erkenntnisquelle für ihn als Autobiograph oder aber für seinen späteren Biographen sollen die Aufzeichnungen sein, allerdings nur für einen Biographen, der sie objektiv und gerecht zu Zwecken der Litteraturgeschichte werten und dann literarisch gestalten solle; zu Lebzeiten aber werde ihm selbst dieses Heft als Tagebuch dienen, denn:


Die vorliegenden Aufzeichnungen sind nicht etwa beendet; ich führe sie fort, denn so lange meine »Bestie« lebt, wird sie mich wohl nie in Ruhe lassen. ... Ich gebe darum ein Couvert bei, welches alles Das enthalten soll, was als Illustration zu betrachten ist und die erwähnte Deutlichkeit befördert. Der Inhalt ist zur Zeit schon folgender: ... (Studie, S. 940)


Er fügt eine Auflistung der ›Beweismittel‹ an, die, abgesehen von dem ›Männerfoto‹ von Emma und dem Foto Emma-Max, allesamt aus Korrespondenz zwischen Max und Emma bestehen, und er würdigt sie mit dem abschließendes Fazit:


Und drittens sind dies nur die wenigen Sachen, die Welte mir ausgeliefert hat, also die unschädlichen. Wie mögen da wohl die geklungen haben, die er mir nicht geben konnte und durfte?!!!

   Hierzu kommt, daß diese Frau, als sie von Bozen nach Dresden kam, sofort nach ihrer Ankunft Welte aufgesucht hat, und zwar im Ministerium des Innern, ohne daß sie es ihm vorher meldete. Die alte, graue Amsel, beim jungen, grünen Zeißig! Er selbst erzählt, daß es seinen Collegen aufgefallen und er von ihnen daraufhin gefoppt und ironisirt worden sei! (Studie, S. 943)


Bis jetzt kreisen alle Nachträge um die ›Studie‹ selbst und ihren wesentlichen Inhalt, nämlich um Emma sowie um ihre May ganz besonders kränkende Beziehung zu Max Welte.

   Dann, plötzlich, bricht die Tagesaktualität des laufenden Ermittlungsverfahrens ein:


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Ich wiederhole: ..., beginnt die nächste Notiz (Studie, S. 943), und was dann folgt, belegt zunächst, wie gründlich er wieder und immer wieder seinen eigenen Text gelesen haben muß; denn er bezieht sich zunächst auf einige Sätze in der ›Studie‹, die ohne nachvollziehbaren Zusammenhang in ausschweifenden Räsonnements über die Zeit nach der Reiserückkehr auftauchen: eine Darstellung, in der sich Gefühlsausbrüche, geschilderte Sachverhalte und juristisch relevante Anmerkungen in chronologisch unentwirrbarer Abfolge vermengen. In diesen, die Konfusion jenes Lebensabschnittes besonders deutlich spiegelnden, Passagen führt er u. a. aus:


Der gegnerische Rechtsanwalt Gerlach hat nach meiner Scheidung von diesem Weibe in seiner allbekannten Art und Weise die Behauptung aufgestellt, ich habe mich nur deshalb von ihr scheiden lassen, um eine vollgültige Zeugin für mich zu gewinnen. ... er weiß aber ebenso genau wie ich, wahrscheinlich sogar noch genauer, daß sie mir grad durch diese Scheidung zu einer ebenso grimmigen wie rücksichtslosen, verschlagenen und unerbittlichen Feindin geworden ist, die weder Gewalt noch List und Verstellung scheut, ihre Rache an mir, vor allen Dingen aber an meiner jetzigen Frau zu nehmen. (Studie, S. 908)


Mit seinem ersten Satz des Nachtrags wiederholt er diese in der ›Studie‹ vorhandene Darlegung tatsächlich:


Der gegnerische Rechtsanwalt Gerlach hat die Behauptung verbreitet, daß ich mich von dieser Frau nur deshalb habe scheiden lassen, um an ihr eine vollgültige Zeugin für mich zu gewinnen. Wie niedrigdenkend muß ein Mensch sein, der so Etwas überhaupt für möglich hält! Wie oberflächlich, leichtsinnig und frivol müssen die Spionirereien betrieben worden sein, die ihn zu einem so lügnerischen Resultate führten! (Studie, S. 943)


Doch was dann folgt, ist Reflex einer aktuellen Information, die Mays ältere Feststellung vertieft und ergänzt:


Oder, falls er gar nicht erst geforscht, sondern nur so darauf los behauptet hat, wie muß es da im Innern und auch um die äußere Atmosphäre eines Mannes aussehen, der zwar der Spezialfreund des Staatsanwaltes Seyfert ist, zugleich aber auch der juridische Schutzengel des Münchmeyerschen Schundverlages und wegen heimlicher, verbotener Beschleichung und Durchstöberung landgerichtlicher Zimmer und ähnlicher Heldenthaten in aller ehrlicher Leute Munde ist! (Studie, S. 943f.)


May hat also, offensichtlich gerüchteweise, erfahren, daß Staatsanwalt Seyfert und Rechtsanwalt Gerlach Freunde sind. Ein Umstand, der ihn alarmieren muß und der zu Aktivität drängt. Ich muß endlich kämpfen, wird er sich gesagt haben; und jetzt, nachdem er weiß, daß Seyfert kein ›normaler‹ Staatsanwalt ist, fallen ihm wieder die drohenden Worte eben jenes Seyfert während der Hausdurchsuchung ein: sie waren also nicht nur Ausdruck eines grundsätzlich verbissenen Verfolgungseifers jenes Herrn, sondern Pro-


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dukt einer unheilvollen Freundschaft zwischen Anzeigeerstatter und Strafverfolger. Wie, wenn nicht durch die ›Studie‹, könnte der wahre, der zwingende, der überlebenswichtige Scheidungsgrund dargelegt werden? Dieser Gedanke könnte sich langsam in May geformt haben; aber noch ist er nicht so weit, ihn umzusetzen, denn er fährt fort:


Er hat mich und meine Zeugen bei der Staatsanwaltschaft, sage und schreibe, natürlich bei diesem seinem Freunde, wegen Meineides und Verleitung hierzu denunzirt. Staatsanwalt Seyfert hat die Verfolgung dieser Denunziation übernommen. Es ist ihm dies vielseitig verdacht worden, eben wegen seiner innigen Beziehungen zum Denunzianten. Ich aber meine, ob er fair oder unfair gehandelt hat und auch noch weiter handeln wird, das hat sich erst zu zeigen. Was mich betrifft, so habe ich nicht die geringste Sorge wegen mir und meinen Zeugen; wir wissen uns gerecht. Was aber ihn, den Staatsanwalt betrifft, so muß und wird er sicherlich zu der schließlichen Erkenntniß kommen, daß man ihn nur verführen will, den blinden Henkersknecht im Dienste des Kolportageschundes und der um mein Geld besorgten Münchmeyerei zu machen! Ich schließe hier nur für einstweilen ab. Sobald sich Neues ereignet, folgt Weiteres. (Studie, S. 944)


Mit der übernächsten Notiz von Samstag, den 14. Dezember 1907, endet die ›Studie‹; die eben zitierte Passage dürfte daher kurz vorher verfaßt worden sein, denn May handelt tatsächlich: er erhebt Beschwerde gegen Staatsanwalt Seyfert wegen dessen drohender Äußerung, er, May, werde es nicht verhindern können, daß seine Vorstrafen öffentlich erörtert werden ... Eine genaue Datierung dieser Beschwerde ist nicht möglich, denn Lebius hat sie nicht abgedruckt. Bevor Staatsanwalt Seyfert aber seine dienstliche Erklärung hierzu vom 19. Dezember 1907 verfaßte, ging die Beschwerde zunächst Dr. Larrass zu, der sie mit dem Wort »Unwahr!« versah, die Angelegenheit mit Seyfert besprach und ihm die Beschwerde zuleitete.586 Mays Beschwerde könnte daher, legt man die üblichen Zeitabläufe zugrunde, von Anfang Dezember 1907 bis spätestens Freitag, den 13. Dezember 1907 stammen.

   Später, nämlich am 15. April 1908, gelingt May - der in seiner Beschwerde gegen Seyfert die ihm gerüchteweise bekanntgewordene Verbindung Gerlach-Seyfert offenbar nicht erwähnt hat - übrigens noch ein kleines Kunststück: durch geschickte Gesprächsführung und das gegenseitige Ausspielen seiner Kontrahenten Dr. Larrass und Seyfert entlockt er dem Betroffenen selbst eine Bestätigung für dieses Gerücht, wie man Mays Befangenheitsantrag vom 20. Mai 1908 entnehmen kann; an jenem 15. April ist er zu einer dritten Beschuldigtenvernehmung bei Dr. Larrass geladen, zu der es dann so wenig wie zu der weiteren angesetzten vom 22. April 1908 mehr kommt (... haben wir uns nur gezankt, schreibt May hierzu).587 Zuvor nämlich hat er Staatsanwalt Seyfert aufgesucht und sich bei ihm beschwert, daß seine Vorstrafen in die Öffentlichkeit getragen werden. Und da unterläuft Seyfert einen kleiner stilistischer Fehler: er teilt May mit,


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daß er zu Gerlach gehen und ihm sagen werde, das nicht mehr zu tun. Hiermit hat  e r  s e l b s t ,  der Staatsanwalt, mir konstatiert, daß er so hochwichtige, amtliche Angelegenheiten nicht in seinem Bureau als Staatsanwalt, sondern in der Wohnstube Gerlachs als dessen dienstwilliger, entgegenkommender Hausfreund erledigt, der ihm den Gang nach dem Gerichtsgebäude und die dortige Verwarnung erspart.588


Ein lapsus linguae Seyferts mit Konsequenzen, denn für May reicht, wie seine scharfsinnigen Beweiskommentare in der ›Studie‹ zeigen, schon eine einzige verräterische Formulierung, um Schlüsse zu ziehen. Sogleich konfrontiert er Dr. Larrass mit diesen seinen Schlußfolgerungen, und Dr. Larrass knickt ein:


An demselben 15. April verriet mir Assessor Larrass, daß eigentlich von Rechtswegen nicht Seyfert, sondern  e i n  a n d e r e r  S t a a t s a n w a l t  mit meiner Angelegenheit hätte betraut werden müssen. Man habe aber dem Aktenstück nicht  m e i n e n  Namen May (M), sondern den Namen der ganz nebensächlichen Person Freitag (F.) gegeben, damit Seyfert diese Sache bekomme.589


Damit nicht genug. Durch dieses Geständnis von Larrass hat May endlich eine seriöse Quelle für seine bereits in der ›Studie‹ im Dezember 1907 dokumentierte, allerdings nicht belegte, Kenntnis von der engen Zusammenarbeit zwischen Gerlach und Seyfert gewonnen. Fünfzehn Minuten nach dem Gespräch mit Dr. Larrass steht er schon wieder vor Seyferts Schreibtisch und kann ihm seine neuesten Erkenntnisse, nunmehr als Insider-Information von Dr. Larrass über die Geheimnisse der staatsanwaltschaftlichen Geschäftsverteilung, entrüstet vorwerfen:


Er erschrak über diese Mitteilung von Larrass und war so verlegen, daß er, beinahe stotternd, mir zugab:  » J a ,  m i r  s c h e i n t  a l l e r d i n g s  a u c h ,  d a ß  G e r l a  c h  d a  m i t  b e z  w  e c k t  h a t ,  d a ß  g e  r a  d e  i c h  d i e  S a c h  e  b e k o m m e ! «  Zur Entschuldigung und Begütigung fügte er hinzu:  » A b e r  e s  s t e h t  d o c h  s o ,  d a ß  d i e  ö f f e n t l i c h e  A n k l a g e  g a n z  w a h r s c h e i n l i c h  n i c h t  e r h o b e n  w i r d ,  d e n n  e s  i s t  j a  n i c h t s  a u f  S i e  z u  b r i n g e n ! «  Unmittelbar vor diesem Geständnisse aber hatte er mir zugeben müssen, daß er der Schulkamerad und Freund von Gerlach sei.590


Daß Mays Darstellung seiner höchst wirkungsvollen privaten Ermittlung zutreffend ist, belegt ein Brief Karl Mays vom 20. April 1908 an Otto Denk, Redakteur des ›Deutschen Hausschatzes‹, in dem sein Roman ›Der Mir von Dschinnistan‹ erscheint; erregt berichtet May von der Manipulation mit dem Anfangsbuchstaben ›F‹, mithin von Rosa Freitags für Seyfert zuständigkeitsbegründender Stellung als Erstbeschuldigte, und erklärt:


... und was ist das Resultat? Der mitverbündete Busenfreund und Staatsanwalt mußte mir an letzter Mittwoch [15. April 1908] eröffnen, daß er nichts, gar nichts auf mich bringen könne, nicht einmal eine einzige, kleine Unwahrheit; das Verfahren gegen mich werde höchst wahrscheinlich nun endgültig eingestellt!591


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Das ist wohl wahr; nichts in jenen Ermittlungen hatte bis zu diesem Zeitpunkt auch nur einen Anfangsverdacht gegen May konkretisieren können; daß es dennoch noch neun Monate dauern sollte, bis es dann zu einer Einstellung des Verfahrens kam, lag allein an den persönlichen Konstellationen, die jenes Verfahren prägten: auch die danach noch folgenden Auslandsermittlungen zum Erwerb des amerikanischen Doktordiploms von einer obskuren Diplommühle namens Universitas Germana-Americana in Chicago vom 9. November 1902 durch May sowie die Nachholung der scheinbar vergessenen Beschuldigtenvernehmung des Maximilian Dittrich am 25. November 1908 boten von vorneherein nicht die geringsten Aussichten, das Verlierer-Blatt der Strafverfolger zu wenden. Weder ist ein solcher Titelerwerb von Bedeutung, solange der gekaufte Titel nicht ungenehmigt geführt wird, noch hätte die Aufdeckung einer etwaigen strafbaren Titelführung auch nur den Hauch eines Beweises erbracht, daß May in dem Münchmeyer-Verfahren gelogen haben könnte. Und von Mays Freund Dittrich war nicht zu erwarten, daß er gestehen würde, seine damalige, relativ uninteressante Aussage im Münchmeyer-Verfahren sei unwahr gewesen und May habe ihn hierzu angestiftet.592 Kurz und ungut: das Verfahren wurde aus juristisch nicht nachvollziehbaren Gründen fortgesetzt. Keine paranoide Komplottheorie Mays also, sondern tatsächlich eine beschämende Instrumentalisierung der Justiz, die hier sichtbar wird. Die Dauer und die Art und Weise, wie dieses Verfahren geführt wurde, läßt sich allerdings nicht nur aus privaten Verflechtungen der Beteiligten herleiten; darüber hinaus gab es ab April 1908 einen weiteren Grund, nämlich Mays geschicktes juristisches Taktieren, dessen Ergebnisse Dr. Larrass zutiefst kränken mußten ...

   Die ›Studie‹ wird fortgeführt mit einer weiteren spontanen Kurznotiz, die ebenfalls verrät, daß May seinen Text immer wieder durchgelesen haben muß. Denn dieser Eintrag ergänzt seinen Satz:


Die Wirthin von Hôtel Penegal, Frau Schrott, schrieb mir einmal, es scheine, meine Frau könne nicht leben, ohne daß sie Jemand habe, den sie peinigen und martern dürfe. Diese Dame hatte damit den Mittelpunkt der ganzen Pollmerschen Dämonalität und Perversität getroffen. (Studie, S. 932)


Aktuell vermerkt er nun über einen Brief von Emmas weiterer Hotelwirtin, Frau Kößler:


Soeben kommt mir ein Brief in die Hand, in dem  a u c h  Frau Kößler schreibt, daß der Pollmer während ihres Aufenthalts in Bozen weiter nichts gefehlt hat, als ein Mensch, den sie mit perverser Wollust quälen kann. (Hervorhebung durch die Verfasserin, Studie, S. 945)


Ganz im Sinne einer fortgesetzten Untermauerung und Fremd-Bestätigung seiner Ausführungen wird hier also ein weiteres ›Beweismittel‹ zitiert. Die Aktivität, die May zur Abwehr des ihn immer mehr empörenden Ermitt-


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lungsverfahrens aufbringt, vollzieht sich zunächst außerhalb dieser Schreibarbeit, die bis zu diesem Zeitpunkt ganz offensichtlich nicht als ›Prozeßschrift‹ gedacht war.

   Dann aber passiert das Entscheidende, nämlich die Begegnung mit Emma Pollmer am 13. Dezember 1907:


Gestern geschah mit Klärchen Etwas, was die ungeheure Macht der Pollmerschen Hypnose illustrirt. Wir waren im Symphoniekonzert, Altstädter Hoftheater, auf unsern Fauteuilplätzen G u. H, Reihe Eins. Während der Brucknerschen Sinfonie fing Klärchen plötzlich an, zu zittern und zu weinen, je länger, umso bitterlicher. Sie sagte, sie wisse nicht, weshalb, aber es sei ihr himmelangst, als ob wir beide sterben müßten.


Nach all dem, was wir von Klara, Emma und Karl wissen, steht fest, daß Klara ihren Mann angelogen hat: sie weinte, gerade weil sie Emma gesehen hatte und dieser Situation nicht gewachsen war, zu groß waren ihr Schuldgefühl gegenüber Emma und ihr Bedürfnis, Emmas Haß wieder in Liebe umzuwandeln; während neben ihr Karl saß, der erwartete, daß sie sich von Emma distanzierte und sich innerlich wie äußerlich allein zu ihm bekannte. Diese Zerreißprobe konnte Klara nicht bestehen.


Ich sah sofort, daß das Hypnose war, und zwar die bekannte Pollmersche. Aber die Pollmer befand sich doch in Weimar! ... Ich suchte ihn [den Orchestergraben] mit den Augen ab. Richtig! Sie war da! Sie saß ganz links da drüben und hielt die Augen starr und haßerfüllt auf Klara gerichtet. ... Klärchen hatte keine Ahnung von ihr. Sie hatte sie gar nicht gesehen, weil sie kurzsichtig ist und die Brille nicht trug. Welch eine Macht dieser Bestie! Unter diesem Einflusse wollte Klärchen nach dem Konzerte unbedingt zu ihr hin, um mit ihr zu sprechen. Man sah, daß die Pollmer ihr das mit den Augen suggerirte. Ich litt das aber nicht. Ich dirigirte das »Herzle« schnell zur Thür hinaus und verbot das Sprechen auch dann, als die Pollmer uns dann draußen auf der Straße folgte und absichtlich überholte. (Studie, S. 945)


Tatsächlich hatte Klara Emma erkannt und längere Zeit beobachtet, wie aus ihrer Tagebucheintragung hervorgeht, aber das konnte sie ihrem Mann nicht gestehen, ohne ihn zu verletzen. Immer noch und immer wieder Emma als Auslöser für Erschütterung und Tränen: wie sollte sie ihm das erklären?

   Wie sehr übrigens der Verstand bemüht ist, gefühlsmäßige Zweifel im Keim zu ersticken, belegt diese Stelle in der ›Studie‹: zwar hatte Klara ihm gesagt, sie wisse nicht, warum sie weine, aber Karl, der Psychologe, wußte genau, daß nur eine einzige Person - und nicht etwa die Musik Bruckners - seine Klara in einen derartigen Zustand versetzen konnte; er hatte Emma dann auch sofort entdeckt: kein Wunder, denn nach Angaben von Roland Schmid betrug der Abstand zwischen Platz ›G‹ und dem äußersten Orchesterplatz links nur wenige Meter.593 Zweifel dürften May beschlichen haben, ob seine Frau Emma wirklich nicht gesehen habe; er will ihr aber glauben,


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unbedingt, und so findet er eine rationale Erklärung für Klaras höchst unwahrscheinliche fehlende Wahrnehmung: Sie hatte sie gar nicht gesehen, weil sie kurzsichtig ist und die Brille nicht trug. (Studie, S. 945)

   »13 December Sinfonie Konzert«, schreibt Klara in ihr Tagebuch, das sie seit Anfang 1902 führt.


Emma ist dagewesen und hat sich einen Platz genommen vor uns, sie hat uns mit keinem Blick verlassen und geweint. Warum hat sie mir nur so grob geantwortet? »Ich solle zu ihr kommen«. Meinen Brief hält sie offenbar für Unsinn. Was mag sie hier wollen? Ich wollte mit ihr sprechen. Sie lauerte uns ab. Karl wurde aber böse und sagte »hinaus«!594


Alles kann man da lesen: Klara wirbt immer noch um Emma, deren Ablehnung sie nicht aushalten kann; aber Emma hält Klaras versöhnliche Brief-Worte für Unsinn, antwortet grob. Klara ›soll‹ zu ihr kommen - sagt sie das wirklich oder sagen das nur ihre Augen, wie May schreibt? - Und Klara will ja auch mit ihr sprechen: da tritt Karl dazwischen, rettet Schakara vor der herrischen Gul, deren starrer, sie niemals verlassener Blick bannt und ihren Willen bestimmt.

   Daß Klara weinte, wie May schreibt, und nicht Emma, wie Klara in ihrem Tagebuch notiert, ist übrigens wesentlich wahrscheinlicher: warum auch hätte Emma weinen sollen? Sie sah Klara nicht nur während des Konzertes, wie May glaubhaft beschreibt, haßerfüllt an, sondern sie hatte auch in ihrer Vernehmung vom selben Tag, den 13. Dezember 1907 (zur Orientreise, zu Plöhns Tod, über Klaras Aufhetzungen in Berlin 1902 bis hin zum ›Louis-Ausspruch‹), Klara ebenso haßerfüllt denunziert und sollte dies auch in den weiteren Vernehmungen fortsetzen ... In ihrem Tagebuch ringt Klara dann auch sofort darum, sich mit Karls abweisender Haltung Emma gegenüber zu identifizieren, und folgerichtig wird sie gehässig: »Die ist doch nur unseretwegen hier und nur um uns zu sprechen ins Conzert gekommen. Die würde nie solch ein Konzert besuchen, sie versteht ja keine Note und war nie zu bewegen, diese Konzerte (...)« »Unseretwegen«, um »uns« zu sprechen, sagt sie plötzlich, wo sie kurz zuvor noch geschrieben hat, daß Emma verlangt habe, daß nur sie, Klara, zu ihr kommen solle, und daß sie selbst mit Emma habe sprechen wollen. Das nächste Blatt ihres Tagebuches ist herausgerissen und vernichtet worden; mit der neuen Jahreszahl 1908 sind die nächsten noch vorhandenen Aufzeichnungen versehen.595 Zu welchen Wahrheiten sie über ihre Gefühle zu Emma vorgedrungen ist, läßt sich nur vermuten; aber daß Karl nichts davon wissen sollte, verrät, daß es bei dem nüchternen, undramatischen Ton ihrer Eingangssätze nicht geblieben sein dürfte. Emma ist also wieder da, führt ihre nach wie vor bestehende Wirkungsmacht vor, löst kleine Vertrauenskrisen zwischen den Eheleuten aus: und jetzt wird May energisch, denn er ahnt, was kommen wird:


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Was will sie hier? Die alte Angst vor Schwefelsäure, Salzsäure, Gift u. s. w. taucht natürlich sofort von Neuem auf! Wahrscheinlich wohnt sie wieder bei Meyers, meinen erbitterten Feinden von Hohenstein-Ernstthal her? Also der alte Klatsch beginnt von Neuem! Da sind wir denn doch gezwungen, nachzuschauen!,


so endet die ›Studie‹. (Studie, S. 945f.)

   Dieser letzte Satz kann als selbstverpflichtende Aufforderung verstanden werden, einzugreifen und gegen das Gift des Klatsches zu wirken, das Emma - das steht für May zweifellos fest - verspritzen wird, nachdem sie Klara so haßerfüllt angesehen hat. Es geht jetzt nicht mehr nur um den Kampf gegen die Münchmeyerschen Machenschaften, die zur endlosen Fortsetzung dieses überflüssigen und schädlichen, ja demütigenden Ermittlungsverfahrens geführt haben und noch führen werden - die völlig sinnlose Briefsperre mit der Folge der Postkontrolle für ein- und ausgehende Post Mays durch den Untersuchungsrichter Dr. Larrass bestand noch am 10. April 1908 (!)596 -, sondern es geht jetzt auch um das Bild, welches sich der Richter von mir macht, wie May es in seinem Brief vom 23. Juli 1907 an Rechtsanwalt Bernstein formuliert hatte.597

   Weitere (und die entscheidende) Antwort auf die Frage, warum May seine ›Studie‹ Dr. Larrass überlassen hat, gibt ein von Lebius undatiert wiedergegebener langer Schriftsatz von May an den Untersuchungsrichter Dr. Larrass, der frühestens am 15. Dezember und spätestens am 29. Dezember 1907 entstanden sein kann; ein sehr persönliches Dokument, das u. a. den Inhalt der ›Studie‹ kurz zusammenfaßt und nach meiner Wertung zusammen mit der ›Studie‹ dem Richter persönlich überreicht wurde. Die äußersten Eckpunkte seiner Datierung ergeben sich danach aus dem Abschluß der ›Studie‹ am 14. Dezember 1907 einerseits und einem weiteren Schriftsatz Mays vom 30. Dezember 1907 andererseits, in dem er um schonungsvolle Vernehmung Klaras für ihre Vernehmung am 31. Dezember 1907 bittet, denn dort heißt es:


Ich habe die ernsten Worte zu den Akten gegeben, welche der Kanzler des Deutschen Reiches über derartige Vernehmungen im Reichstage gesprochen hat. Ich bin vollkommen überzeugt, daß sie auch Ihnen, dem zur Humanität erzogenen, jungen strebsamen Beamten, aus dem Herzen gesprochen sind, begehe also wohl kein Wagnis, wenn ich mir die Bitte gestatte, dieser Kanzler-Worte bei der morgenden Vernehmung zu gedenken.598


Bei diesem in Bezug genommenen Schreiben mit den ernsten Worte(n) des Reichskanzlers handelt es sich um jenen besagten Schriftsatz, den May persönlich zu den Akten gegeben haben wird. Leider, und das scheint schicksalhaft für Maysche Geistesprodukte, hat auch Lebius es sich nicht nehmen lassen, redigierend einzugreifen und »zu langschweifige Stellen« zu streichen,599 darunter auch die ernsten Worte, die aber in ihrer Ankündigung noch vorhanden sind:


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Ich hatte allen Grund anzunehmen, daß auch Herr Assessor Dr. Larras jenes tiefinnere, begnadete Auge besitzt, dem es nicht schwer fällt, trotz aller gegenteiligen Gerlachschen Darstellungen die Unschuld von der Schuld zu unterscheiden. Hierzu füge ich die höchst beherzigenswerten Worte, welche der Reichskanzler, Fürst Bülow, am 30. November über die jetzt vorliegende Reform des Strafprozesses gesprochen hat: ..... (folgt Zitat.)600


In beiden Schreiben also geht May noch davon aus, daß Dr. Larrass - in scharfem Kontrast zu Staatsanwalt Seyfert - ein junger, humanitär gesinnter, objektiver Richter sei, dem man nur die Augen über die wahren Hintergründe dieses Ermittlungsverfahrens öffnen müsse, um eine gerechte Entscheidung herbeizuführen. Und das tut er mit diesem Schreiben und der gleichzeitig überreichten ›Studie‹, die aber, im Gegensatz zu seinem Schriftsatz, nicht zu den Akten genommen werden soll:


Ich gab dem Untersuchungsrichter Dr. Larrass ein Heft von mir zu lesen, betitelt »Frau Pollmer, eine psychologische Studie.« Es war nur für ihn. Ich untersagte es ihm, es irgend einer anderen Person zu geben resp. lesen zu lassen. Er versprach es mir.601


So May in seinem Befangenheitsantrag vom 20. Mai 1908. Dr. Larrass hielt sein Versprechen nicht: Staatsanwalt Seyfert war der nächste, der die ›Studie‹ (mitsamt dem begleitenden Schriftsatz Mays) sogleich zu lesen bekam. Diese Annahme jedenfalls wäre eine plausible Erklärung dafür, daß Mays Schreiben vom 30. Dezember 1907 als Bl. 281 von Bd. I der Gerichtsakten foliiert, während Mays eindeutig früher entstandenes Schreiben an Dr. Larrass zu Beginn von Bd. II, bis Bl. 26 ff, abgeheftet wurde: nämlich erst, nachdem Seyfert es nach Lektüre (auch der ›Studie‹) wieder an den Richter zurückgeschickt hatte.602

   May beginnt sein Schreiben mit seiner (zutreffenden) Deutung des Ermittlungsverfahrens als Strategieleistung Gerlachs, die zum


alten längst durchschauten Feldzugsplan der Firma Münchmeyer gehörte. Es bildet die Krönung dieses Planes die letzte und rücksichtsloseste Kraftentfaltung des gegen mich gerichteten Komplottes..... Ich habe, wie bereits gesagt, diesen Hieb, der ein Sauhieb sondergleichen ist, vorausgesehen; aber ich hielt es nie für möglich, daß es Herrn Gerlach gelingen könne, es bis zur Haussuchung bei mir zu treiben. Er weiß bestimmt, daß ich unschuldig bin, daß er es trotzdem so weit hat treiben können, hat mich seelisch tief gepackt und mir eines meiner schönsten und humansten Ideale geraubt.603


Dann wehrt er sich gegen die Vorwürfe - die ja schon Cardauns in seinem Artikel von August 1907 angedeutet hatte -, er führe den Münchmeyer-Prozeß lediglich des Geldes wegen, und geht auf seine Vorstrafen ein:


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Ich habe es schwer zu büßen gehabt und sogar auch heute noch zu büßen, daß der Stand der gerichtlichen Psychologie damals noch nicht derselbe war, wie er es heutigen Tags ist. Heut würde man mich freisprechen. Daß man es damals nicht tat, daran waren nicht die Richter, sondern die Verhältnisse schuld. Es kann mir also nicht einfallen, diese Richter der mangelhaften Einsicht oder einer falschen Behandlung dieser Angelegenheit zu beschuldigen ...604


Die Richter also werden geschont, denn von Dr. Larrass erhofft er sich ein objektives Urteil, für das er den Boden bereiten will: wenn Larrass erst einmal erfährt, in welchen Sumpf er da hineingeraten ist, wird sich alles zum Besseren wenden. May beteuert seine Unfähigkeit, die ihm vorgeworfenen Taten begehen zu können, denn er schreibe an einem mehrbändigen Werk »Ein Schundverlag«, um es dem Deutschen Reichstage vorzulegen und hierin die Schwierigkeiten vorzutragen, die es fast unmöglich machen,


daß ein Gefallener es fertig bringt, sich zu erheben und sich wieder einzureihen ... so versteht es sich doch wohl ganz von selbst, daß ich während seines Verlaufes alles sorgfältig vermeide, was mich mit dem Strafgesetz in Konflikt bringen könnte. Am Allerdünmmsten wäre es von mir gewesen, mich wegen Meineids und Anstiftung dazu und Zeugenbeeinflussung in Gefahr zu begeben ... vor allen Dingen ist meine Welt- und Lebensanschauung eine so ernst positiv religiöse, dass ein Meineid und die Verleitung hierzu eine absolute Unmöglichkeit für mich ist. Ich stehe auf streng christlichem Standpunkte. Alle Welt weiß, daß ich eine vollständig neue Psychologie lehre, nach welcher kein Gedanke und kein Wort und keine Tat des Menschen ungerächt und unvergolten bleibt.605


Hier erinnert man sich unwillkürlich an Mays lange Passage im ›Silberlöwen III‹ über die Lüge in dem Gespräch mit Hanneh, in der das Ich sogar die Notlüge ablehnt. Denn das


»Allerschlimmste an der Lüge sind die fliegenden Samen. ... Der Lügner hat, nachdem ihm die erste Lüge gelang, nicht wieder nachzusehen. Jetzt kommt er hin und sieht zu seinem Schreck, daß seine Unwahrheit zum Unkraut geworden ist, welches alles Gute überwuchert. ... Man nennt die Lüge einen häßlichen Schandfleck an dem Menschen; aber sie ist noch mehr: Sie ist die Mutter aller Uebel, die es giebt. Es giebt wohl keine Missethat, welche nicht durch die Lüge vorbereitet oder wenigstens begleitet wird. Hanneh, meine Freundin, ich sage dir, daß Kara recht gehandelt hat, als er die Wahrheit sagte. Oder glaubst du, daß man einer Lüge geglaubt hätte?«

   »Wahrscheinlich nicht.« (Silberlöwe III, S. 439-441)


Sein Bild: er will dem Untersuchungsrichter überaus eindringlich klar machen, wer er, May, eigentlich ist. Dazu gehören dann auch noch seitenweise Beteuerungen, daß er nicht des Geldes wegen gegen Münchmeyer klage, er beruft sich auf Herrn Geheimrat Dr. Mayer, zweitinstanzlich mit dem Münchmeyer-Verfahren befaßter Richter, und er belegt dies mit einer Darstellung seiner persönlichen Bedürfnislosigkeit und einer Aufzählung sei-


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ner wohltätigen Werke. Ganz anders dagegen die Geldgier Pauline Münchmeyers, bei deren Schilderung er auf Formulierungen in der ›Studie‹ zurückgreift:


In wie furchtbarer Weise es sich rächt, wenn der Mensch in blinder Habsucht und Geldgier geistig, seelisch und moralisch verhungert, das zeigt das Beispiel der Frau Münchmeyer mit so erschreckender Deutlichkeit, daß ich Gott noch heutigen Tages danke, ihre Schwester, die man mir damals aufzwingen wollte, nicht geheiratet zu haben.606


Gegen Ende des langen Schreibens dann die Neutralisierung des von ihm befürchteten Giftes der Emma Pollmer, das sein Bild, das der Richter sich von ihm machen soll, negativ beeinflussen könnte; und was May da vorbringt, ist eine bündige und für die Öffentlichkeit geeignete Zusammenfassung seiner ›Studie‹:


Der Staatsanwalt Seyfert sagte während der Haussuchung zu mir, daß er meine geschiedene Frau am liebsten gleich in Haft nehmen möchte. Er legte mir die Frage vor, wie es zu erklären sei, daß ich in der Scheidungssache so gegen sie gesprochen habe, hier aber mich ihrer annehme. Die Erklärung ist sehr einfach. Ich urteile nicht voreingenommen, sondern gerecht und objektiv. Der Herr Staatsanwalt weiß als Psychologe doch sicher, daß bei einer Frau das Niedrigste und Heiligste hart nebeneinander stehen. Eine Frau kann sehr wohl ein Satan ihres Mannes sein und doch den Eid für so unendlich heilig halten, daß es ihr vollständig unmöglich ist, einen Meineid zu schwören. ... Die eigentlichen Schatten liegen auf einer Seite, die ich hier nur andeuten kann.607


›Hier‹, nämlich in diesem offiziellen, zu den Akten gereichten Schriftsatz, kann er nur andeuten, was er in der Folge auch einlöst. Dem Staatsanwalt, seinem Feind: gibt er nur ein schlüssiges Resultat seiner Gedanken preis, von Psychologe zu Psychologe. Dem Richter, von dem er sich edle Humanität verspricht, gibt er dagegen die komplette ›Studie‹ an die Hand, ganz im Sinne eines Hintergrundgespräches zwischen Politiker und Journalisten, das der Vertiefung der gegenseitigen Beziehungen und der vertraulich-werbenden Übermittlung von Politik-Inhalten dient, off the record selbstverständlich. Ein striktes Veröffentlichungsverbot, so will es auch May. Offiziell darf nur die um erotische und persönliche Details bereinigte und zielgerichtet juristisch wirksame Fassung seiner Bewertung von Emma Pollmer Verwendung finden, wie es einer erklärenden ›Prozeß-Schrift‹, deren Charakter May sehr wohl kennt, eben zukommt:


Sie war elternlos und wurde von ihrem Großvater, einem alten und einsamen Manne, vergöttert und verzogen. Er füllte sie mit der Ueberzeugung bis obenan, daß sie ein Engel sei. Darum wurde sie eine Diabola. ... Als meine Frau hatte sie ihrer Selbstvergötterung fröhnen können. Mein Einkommen reichte auch dazu aus und meine schriftstellerischen Erfolge trugen mich in die höchsten Gesellschaftskreise


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empor. Ich wurde an Höfe eingeladen. Personen der höchsten Stufen, Herzöge, Prinzen, Fürsten verkehrten bei uns und wir bei ihnen.

   ... Daß dies alles nach der Scheidung aufhörte, hatte sie nicht berechnet. Sie fiel in ihr Nichts zurück. Daher ihre Wut.

   ... Meine Frau ließ sich von einer Freundin gegen mich und meine jetzige Frau aus Eifersucht verleiten, wegen der Scheidung eine Denunziation bei der Staatsanwaltschaft einzureichen. Von dem Inhalt derselben kenne ich kein Wort, aber daß sie nur Quatsch, elenden Quatsch enthält, ist für mich zweifellos.608


May pariert mit diesen Ausführungen sehr direkt eine erwartete negative Würdigung des alten Ermittlungsverfahrens wegen Betruges im Zusammenhang mit seiner Ehescheidung; er muß davon ausgehen, daß Seyfert, der ja bereits in einem frühen Verfahrensstadium seine Scheidungsakten beigezogen hat, auf der Suche nach alten Strafakten auch auf dieses Verfahren stoßen würde: zu eindeutig waren Seyferts Drohungen am 9. November 1907 ausgefallen. Von dem Richter dagegen erwartet er mehr:


Ueberhaupt bin ich vollständig überzeugt, daß der Herr Untersuchungsrichter, den als Sohn einer äußerlich und innerlich recht vornehmen Geheimratsfamilie dergleichen Schmutz förmlich anekeln muß, sehr bald entdecken wird, daß alles, was Herr Gerlach gegen mich vorbringt, nur mit dem Worte »Quatsch« bezeichnet werden kann.


Denn:


... bei der jetzigen Gerlachschen Denunziation handelt es sich überhaupt um keine Rechtsfrage mehr, sondern einfach nur um die nachträgliche, gesellschaftliche und ethische Ermordung des Siegers. Ich soll unter dem Schmutz, den man auf mir zusammenhäuft, ersticken.609


Das ist alles sehr richtig, aber in seinem Vorab-Lob von Dr. Larrass' Charakter hat May sich geradezu tragisch geirrt. Dr. Larrass war eben nicht bloß ein strebsamer Jurist, sondern ein von Versagensängsten geradezu gepeinigter und zudem höchst unerfahrener Vertreter seines Standes, der ohne Seyferts zynischen Rat offenbar keinen einzigen Schritt unternehmen mochte ...

   Mays Dezember-Schriftsatz, mit dem er seine ›Studie‹ überreicht haben dürfte, ließe sich sogar taggenau datieren: denn May schreibt: Auch im laufenden Rechnungslegungsprozeß hat die Kammer des Landgerichts vorgestern entschieden, daß die Gegnerin mir bei einer Strafe von 800 Mark Rechnung legen muß.610 Die im Karl-May-Archiv, Bamberg, nur unvollständig vorhandene Münchmeyer-Akte gibt leider keine Auskunft über das Datum dieses Beschlusses über die Verhängung eines Zwangsgeldes im Zwangsvollstreckungsverfahren.611 Zu vermuten ist allerdings, daß Mays energische Aktivität, verbunden mit der spontan-mutigen Entscheidung, Larrass seine hochprivate ›Studie‹ zur Lektüre zu überlassen, in der Woche des 16.


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bis zum 20. Dezember 1907, spätestens am Montag, den 23. Dezember, erfolgte, kurz vor dem für ihn ja immer so kritischen und bedrückenden Weihnachtsfest: entsprechend Wollschlägers bereits zitiertem Befund, daß »May namentlich im Alter, sooft das Weihnachtsfest nahte, höchste Produktivkraft entfaltete, besonders und gerade in der Abwehr feindlicher Angriffe (...)«.612

   Die weitere Frage, ob und welche prozessuale Wirkung die ›Studie‹ in der Folge zeitigte, soll hier nur kurz angerissen werden.

   Dr. Larrass erhielt die ›Studie‹ zu einem Zeitpunkt, an dem sämtliche Ermittlungshandlungen, die zum Nachweis des eigentlichen Vorwurfs geeignet erschienen, bereits gescheitert waren; sämtliche verfahrensrelevanten Vernehmungen (Zeugenvernehmung Witwe Meißner am 26. und 27. November, Zeugenvernehmungen von Emil Max Winkler am 28. November, 3. und 5. Dezember, Beschuldigtenvernehmung Johanne Spindler am 29. November und die Beschuldigtenvernehmungen Emma Pollmer vom 10., 11. und 12. Dezember 1907 - die allein die konkreten Tatvorwürfe zum Gegenstand hatten) hatten nicht das Geringste erbracht.613 Dies, obwohl der immer verzweifelter agierende Larrass, der unter dem Rechtfertigungsdruck seines unbegründeten Durchsuchungsbeschlusses stand, nicht einmal verbotene Vernehmungsmethoden scheute, folgt man Klara Mays Schreiben vom 30. Mai 1908. Danach hatte Larrass im Rahmen der Hausdurchsuchung bei May einen Kontierungsbeleg über Münchmeyersche Auflagenzahlen beschlagnahmt, den ihm der Drucker Winkler, damals wie aktuell Angestellter bei Münchmeyer, heimlich beschafft hatte; in einer der schneidenden Vernehmungen des bewundernswürdig verstockten Winkler soll der Richter täuschend behauptet haben, May habe ihn, Winkler, freiwillig als ›Verräter‹ seines Arbeitgebers offenbart, was Winkler, aus existentiellen Ängsten vor einer Entlassung wegen Illoyalität, die ihm dann auch im Mai 1908 unter Berufung auf »›Beweise vom Gericht‹« angedroht wurde, gegen May aufbringen sollte.614

   Bereits die erschöpfenden weiteren Vernehmungen Emmas bis zum 17. Dezember 1907, deren Gegenstand allein die Trennung und das Ehescheidungsverfahren bildeten, müssen als Kapitulationserklärung gelten: denn die Unterminierung der generellen Glaubwürdigkeit Mays hätte nur dann bestärkende indizielle Wirkung erlangen können, wenn der eigentliche Tatvorwurf zuvor erhärtet worden wäre. Die Frage, ob die nachfolgenden Ermittlungen in der Zeit von Februar 1908 bis zum 13. Mai 1908, die allesamt die Umstände der Ehescheidung aufklären sollten,615 auf Emmas Aussagen oder auf Kenntnis der ›Studie‹ hin veranlaßt worden waren, muß aber ungeklärt bleiben.

   Sicher kann dagegen festgestellt werden, daß die Überlassung der ›Studie‹ (bzw. deren Weitergabe an Staatsanwalt Seyfert durch Larrass) zu einer Verlängerung der Ermittlungshandlungen beitrug; denn May hatte am 15. April 1908, offensichtlich dem Tag, an dem er von Dr. Larrass die ›Studie‹


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zurückerhalten und Seyfert in höchste Bedrängnis gebracht hatte, noch mehr erfahren:


Als er es [das Heft] mir zurückgab, fragte ich ihn, ob er es noch einem Anderen gezeigt resp. zu lesen gegeben habe, etwa gar dem Staatsanwalt Seyfert. Er verpfändete mir, als ich  d r e i m a l  d r i n g e n d  fragte, sein Wort, daß  n u r  e r  den Inhalt kenne. ... Als ich aber kurz hierauf mit Staatsanwalt Seyfert sprach, ließ er einige Bemerkungen fallen, die geradezu unmöglich wären, wenn er das Heft nicht gelesen hätte. Ich behaupte also die  » b e w u ß t e  U n w a h r h e i t «  Nummer Vier - er aber nennt das  » L ü g e ! «  - und bitte, Staatsanwalt Seyfert ohne Vorwissen des Assessors Larrass zu fragen, ob er das Heft gelesen resp. seinen Inhalt kennt. Er wird, wenn er die Wahrheit die Ehre gibt, diese Frage bejahen.616


Die ersten drei ›Unwahrheiten‹, die May Dr. Larrass vorwirft, hat Lebius nicht abgedruckt; drei von ihnen treffen aber zu, wie sich aus dem Beschluß des Landgerichts Dresden vom 12. Juni 1908 ergibt. Und mit einer gewissen Hochachtung kann man konstatieren, wie sensibel-genau May irgendwelche unbedachten Äußerungen von Seyfert interpretiert hat: so präsent war ihm der Inhalt der ›Studie‹ ...

   Dr. Larrass erhält seine Ohrfeigen Nr. 2 und 3 von den richterlichen Kollegen - nachdem bereits seine ›Unwahrheit‹, Seyfert habe May niemals mit der Veröffentlichung seiner Vorstrafen gedroht, mit entschuldigender Herablassung als ein in der Erregung unterlaufenes ›Mißverständnis‹ qualifiziert worden war:


Wenn Dr. Larrass die Frage der verehel. May, ob die frühere Ehefrau des Angeschuldigten schon abgehört worden sei, verneinend beantwortet hat, obschon diese Vernehmung tatsächlich erfolgt war, so hat er es, wie er glaubhaft angibt, um deswillen getan, weil er bei dem offenkundigen Einvernehmen der beteiligten Personen mit Recht befürchtete, daß die verehel. May alsbald an die gesch. May herantreten und sich von ihr über die Ergebnisse der Abhörung unterrichten lassen werde. Wäre auch wohl eine Ablehnung jeder Auskunft über diesen Punkt richtiger gewesen, so muß doch bedacht werden, daß für den Untersuchungsrichter die Besorgnis nahe lag, die verehel. May werde diese Ablehnung als eine Bejahung ihrer Frage auffassen und danach handeln. Dies wollte er aber im Interesse der Untersuchung verhüten. Zweifel an seiner Unparteilichkeit lassen sich daraus nicht herleiten.617


Mit Ach und Krach halten die Richter ihren Kollegen im Amt, lassen aber ihre Indignation über die ihnen durch Larrass' Lüge auferlegten Begründungszwänge deutlich spüren. Ihr Geheimnis bleibt es allerdings, woher sie das im Jahr 1907 angeblich bestehende »offenkundige Einvernehmen« zwischen Emma und Klara herleiten wollen: waren Emmas Aussagen doch allesamt von deutlich denunziatorischem Charakter und von Rachsucht gegenüber Klara geprägt. Aber es kommt für Dr. Larrass noch schlimmer:


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Richtig ist ferner, daß Dr. Larrass dem Angeschuldigten May auf dessen Befragen erklärt hat, er habe das, die erste Ehe Mays betreffende Manuskript, das ihm dieser privatim zur Lektüre überlassen hatte, niemand gezeigt, während er es tatsächlich dem Staatsanwalt Seyfert zur Einsicht vorgelegt hatte. Dies Verhalten kann allerdings nicht gebilligt werden. Es sind aber auch hierbei nur sachliche Erwägungen maßgebend gewesen, vor allem der Wunsch, schiefen Schlußfolgerungen vorzubeugen, die der Angeschuldigte bei dem Mißtrauen, das er jedem Verkehre des Untersuchungsrichters mit dem Staatsanwalte entgegenbringt, jedenfalls gezogen haben würde. Auf irgendwelche Parteilichkeit kann daher auch aus diesem Verhalten des Untersuchungsrichters - in einer die Untersuchung unmittelbar gar nicht berührenden Angelegenheit - nicht geschlossen werden.618


Diese Kränkungen verzeiht Dr. Larrass nicht so schnell, muß er doch ernsthafte Rügen über seine Lügen hinnehmen und dann auch noch en passant überaus zutreffend dahingehend belehrt werden, daß seine aufwendigen Ermittlungen in Sachen Ehe und Ehescheidung eine »die Untersuchung unmittelbar gar nicht berührende Angelegenheit« betroffen haben sollen. Mit diesem Beschluß ist er gerade noch einmal davon gekommen, wie er weiß, und wenn man analysiert, aus welchen Gründen das Gericht den moralisch fragwürdigen Kollegen überhaupt noch im Amt gehalten hat, wird wohl Mays Mißtrauen in die Selbstreinigungskräfte der Justiz den Ausschlag gegeben haben. Denn die Beschwerden der vernommenen Zeugen Winkler und Meißner über Dr. Larrass' Vernehmungsmethoden waren an May adressiert und nicht an das zuständige Gericht, wie es sich nun mal gehört:


Glaubten diese Personen, Ursache zur Beschwerde zu haben, so stand es ihnen frei, sich deswegen sogleich oder später an die zuständige amtliche Stelle zu wenden. Indem sie dies unterliessen, sich vielmehr nachträglich des Angeschuldigten und seiner Ehefrau bedienten, gaben sie jeden Anspruch auf Glaubwürdigkeit preis und setzten zudem den Angeschuldigten dem auch sonst nicht fernliegenden Verdachte der Kollusion aus.


Klassische Weltferne zeichnet diese für die letztliche Entscheidung ausschlaggebenden Darlegungen aus; denn aus welchen Gründen sollten derart durch die Justiz ›in die Mangel genommene‹ Zeugen noch das Vertrauen haben, eine übergeordnete Instanz derselben »amtliche(n) Stelle« werde ihren Beschwerden Glauben schenken und diese unvoreingenommen bearbeiten? Abgesehen davon: tief im Innern dürften die Richter des Landgerichts davon überzeugt gewesen sein, daß es solch einen Richter, wie er in den von May zitierten und zu eigen gemachten Beschwerden der Zeugen dargestellt worden war, in ihren Reihen von Rechts wegen gar nicht geben könne. Undenkbar, so etwas. Staatsanwalt Seyfert, der seinen schlechten Ruf sicherlich über lange Jahre erworben hatte: der war ein anderer Fall, und als Staatsanwalt ohnedies kein ›richtiger‹ Kollege. Dr. Larrass konnte noch einmal aufatmen; seine rüden Methoden hatten den Zeugen jeglichen Glauben an die irdische Gerechtigkeit geraubt, so daß sie sich an May als


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den indirekten Verursacher ihrer Pein wandten: und gerade dies sollte ihrem Untersuchungsrichter dazu verhelfen, seinen Kopf aus der Schlinge ziehen zu können ...

   Daß nach diesem Beschluß die Ermittlungen schlicht und einfach fortgeführt werden mußten - nachdem der über Mays Auftreten verärgerte Dr. Larrass auch noch am 23. April 1908 Mays Antrag vom Vortag auf Herausgabe u. a. seines Doktordiploms mit der (widersprüchlichen) Begründung abgelehnt hatte, daß jenes dubiose Diplom als Beweismittel für Mays Glaubwürdigkeit in Betracht komme, zumal May sich bereits vor Erteilung dieses Diploms als Dr. bezeichnet habe619 - erscheint in diesem Lichte immerhin menschlich, wenn auch nicht juristisch, nachvollziehbar.

   Wenn die ›Studie‹ sowie der sie betreffende Beschluß des Landgerichts zumindest eine einzige positive Auswirkung auf das Ermittlungsverfahren gehabt haben sollten, dann die, daß Staatsanwalt Seyfert die umfangreichen Ermittlungen von Dr. Larrass zu Ehe und Scheidung des Paares May in seinem Antrag auf Einstellung des Meineids-Verfahrens mit keiner Silbe erwähnte: ihm dürfte klar geworden sein, daß er hier über Dinge hätte urteilen müssen, die seiner juridischen Atmosphäre noch fremder waren als der Sirius dem Monde, wie May es so treffend formuliert hatte (Studie, S. 870). Vor diesem Abgrund, wie ihn die ›Studie‹ präsentierte, schreckte selbst ein so hartgesottener Staatsanwalt wie Seyfert zurück ...




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