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7.14

Die 1887-91 entstandenen 'Hausschatz'-Romane: Ein großes Erzählwerk oder Die Schatten der Vergangenheit


Mays Aufstieg ist mit dem Stuttgarter Verleger Spemann, aber mehr noch mit dem Pustet-Verlag in Regensburg verknüpft. Viele seiner bekannten Werke sind, zunächst, im 'Deutschen Hausschatz' bei Pustet erschienen.

   Parallel zu den Spemann-Romanen, im künstlerischen Format diesen zumindest ebenbürtig,1 schrieb Karl May für Pustet weitere Reiseerzählungen in der Ich-Form. Von Herbst 1887 bis Herbst 1891 entstanden Durch das Land der Skipetaren (die Fortsetzung des großen Orientzyklus), Der Scout. Reiseerlebniß in Mexico, der Doppelroman Lopez Jordan/Der Schatz der Inkas (El Sendador I/II) und Der Mahdi mit den beiden Teilen Am Nile und Im Sudan.

   Über Mangel an Manuskripten, wie in der Münchmeyer-Zeit Karl Mays, hatte Pustet jetzt nicht mehr zu klagen. Der Dürre folgte die Überschwemmung.2 Zwischen dem Schlußteil des Letzten Ritts und der Fortsetzung Durch das Land der Skipetaren gab es anderthalb Jahre Sendepause. Dann aber, von Januar bis September 1888, mußte der Redakteur Venanz Müller so viele May-Texte unterbringen, daß die Vielfalt der Hausschatz-Beiträge gefährdet war. Das katholische Familienblatt drohte ein May-Blatt zu werden; denn mehr als die Hälfte des Inhalts der betreffenden Hefte wurde von Karl May verfaßt.3

   Mit seinem Autor konnte Pustet allerdings sehr zufrieden sein. In der Geschichte der deutschen National-Literatur von Gustav Brugier (8. Auflage, Freiburg 1888) werden Mays Hausschatz-Erzählungen gepriesen:


In vorzüglichen [...] Reisenovellen und Abenteuerromanen finden wir bei ganz natürlich ebenmäßiger Entwicklung der Erzählung wundersam frische Scenerien, [...] so daß eine jede Schilderung ein Visum in seinem Reisepaß ist mit dem Atteste: 'Er ist dort gewesen, er hat es erlebt!' Möchten darum Mays Werke bald gesammelt erscheinen.4


   Aber noch im selben Jahre, im Oktober 1888, weiß die - inzwischen von Heinrich Keiter geleitete - Hausschatz-Redaktion die Begeisterung zu dämpfen und von kritischen Stimmen zu berichten:


Heiß wogt unter unseren Lesern der Kampf um die Romane des Reiseerzählers Carl May. Während der eine Theil in fulminanten Zuschriften bei der Redaktion sich beklagt, daß die Romane einen so großen Raum einnehmen, der viel kostbarer verwendet werden könne, verlangt der andere in nicht minder bestimmten Ausdrücken, daß sofort im neuen Jahrgang wieder mit einer Erzählung von Carl May begonnen werde. Da ist die Redaktion denn doch gezwungen, den goldenen Mittelweg einzuschlagen, um beiden Theilen gerecht zu werden.5


   Konkreten Tadel an der Schreibweise Mays gab es in diesen Jahren freilich noch nicht. Der Erfolgsschriftsteller der achtziger und neunziger Jahre hatte keine ernsthaften Kritiker, "die eine Kontrollfunktion ausübten und ihn zu größerer Formstrenge anhielten."6

   Brugiers Lob ist dennoch berechtigt. Den Höhepunkt seiner literarischen Leistung hat May aber noch keineswegs erreicht. Die jetzt und in den folgenden Jahren bis 1898 entstandenen Bücher - einschließlich der Jugenderzählungen - sind noch "nicht die besten, aber (neben den Anfangsbüchern des Orientromans) bis heute die erfolgreichsten und auflagestärksten seiner Werke."7

   Auf großes Können und harte Arbeit sind Mays Erfolge zurückzuführen. Seit 1887 betrieb der Autor wieder gründliche Quellenstudien. Er schrieb nicht einfach drauflos. Historische, geographische, ethnologische und religionsgeschichtliche Werke hat er benutzt.


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Angelesene Geographie in lebendige Geschichten und trockene Sach-Lektüre in farbenprächtige Schilderung zu verwandeln und zugleich das 'Innenmaterial' seines tatsächlichen Lebenswegs in die fiktive Handlung des Spannungsromans zu verweben, war Mays besondere Leistung in dieser Schaffensperiode.8 Daß er, nebenbei, aktuelle politische Verwicklungen - im Balkan, in Mexiko, in Südamerika, in Ägypten und anderen Ländern - sehr gekonnt mit seinem Erzählstoff verflochten hat, gehörte ebenfalls (freilich nicht ausschlaggebend) zu den Gründen seines Erfolges.


7.14.1

Durch das Land der Skipetaren: Thema mit Variationen


Durch das Land der Skipetaren erschien von Januar bis September 1888 im 14. Jahrgang des Hausschatzes. Als Entstehungszeit kann der Spätsommer 1887 bis hin zum Frühjahr 1888, eine Zeitspanne von etwa acht Monaten, angenommen werden.9 Der umfangreiche Text entspricht - mit geringen Varianten - den beiden Schlußkapiteln des Bandes IV sowie den Bänden V und VI (ohne 'Anhang') der 'Gesammelten Reiseromane', die 1892 bei Fehsenfeld in Buchform gedruckt wurden.

   Das hohe Niveau von "Giölgeda padishanün" wird, mit kleinen Abstrichen, in diesem Fortsetzungsteil des Orientromans gehalten. Gewiß - mit der gleichzeitig erschienenen, wesentlich kürzeren und artifiziell komponierten Jugenderzählung Der Geist der Llano estakata10 verglichen, weist die ausgedehnte Handlung des Skipetaren-Romans eine sehr unkomplizierte Struktur auf. Die Verfolgung der Verbrecherbande des Schut wird, in vielen aneinandergereihten Episoden, geschildert.


Doch zeigt sich hier, was für die meisten bedeutenden Erzähler gilt: Sie kommen mit einem Nichts an Fabel aus, und die 'Kunst' besteht gerade darin, aus Wenigem viel zu machen. Bei May wird das zunächst durch seinen außerordentlichen Einfallsreichtum bei der Variierung des immer gleichen Motivs ermöglicht: Jede der Gefahrensituationen [...] ist ganz verschieden ausgestaltet [...] Es ist ein legendenhaftes Muster,11 das auch dieser Erzählung zugrundeliegt: Der Held schreitet durch zwölf 'Prüfungen' [...] zum Siege, der die Gerechtigkeit der göttlichen Ordnung bestätigt.12


   Biographische Realien fließen, wie in jeder Erzählung Karl Mays, auch ins Land der Skipetaren mit ein. 'Dr. med. Heilig' zum Beispiel taucht wieder auf.13 als betrügerischer Mübarek und - geläutert - als Kara Ben Nemsi. Das Wunschdenken, die Tagträume, die Erfüllungs-Phantasien des Verfassers bringen die Peinlichkeit des, in Mays Vita, wirklich Geschehenen ins rechte Lot - ohne daß der Autor die literarische Herrschaft über seinen Erzählstoff verliert.14


7.14.2

Der Scout: Eine Projektion der Mayschen Schuldgefühle


Die souveräne Fabulierkunst, das heitere Lebensgefühl, die "glänzende Erzähllaune"15 des Dichters verleihen dem Skipetarenroman die besondere Note. Streckenweise düster und in manchen Passagen beklemmend wirkt hingegen Der Scout. Dieser, ebenfalls zu den besseren Reiseerzählungen Karl Mays gehörende, Mexiko-Roman entstand Ende April bis Anfang Juli 1888.16 Er erschien zwischen Dezember 1888 und August 1889 im 15. Jahrgang des 'Deutschen Hausschatzes'.

   Bei der späteren Einarbeitung in Winnetou II17 hat May diese Erzählung dem neuen Konzept der Winnetou-Trilogie angepaßt. Doch im Vergleich zur Winnetou II-Fassung ist Der Scout der literarisch bessere Text: "konkreter im Detail und stimmiger in der Handlungsführung".18


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   Die Urfassung Der Scout weicht von der künftigen - stark gekürzten - Version in wichtigen Punkten ab: Die (für Winnetou II gestrichene) erste Begegnung des Ich-Erzählers mit dem Apachen wird ganz anders dargestellt als später (1893) in Winnetou I oder früher (1887) im Sohn des Bärenjägers. Und vor allem: Das 'Ich' hat in Scout noch richtige Fehler und Schwächen! Es liebt die "theatralischen Effecte"19 und erweist sich - gerade so - als wirkliches "Greenhorn", das sich nicht bloß, wie in Winnetou I, verstellt, sondern echte Schwierigkeiten z.B. beim Anschleichen oder beim Reiten hat.


Das alles wird von May mit viel Selbstironie sehr sympathisch vorgetragen und sichert der Urfassung des 'Scout' eine Sonderstellung unter seinen Wildwestgeschichten. Nie wieder hat der May-Leser Gelegenheit, den 'werdenden Shatterhand' (der hier diesen Namen noch nicht trägt) mit den lebenswahr gesehenen Unzulänglichkeiten des realen Menschen kennenzulernen.20


   In Scout zeigt sich May als großer Erzähler und sehr aufmerksamer Beobachter des Weltgeschehens. Unter anderem beschreibt er, sehr wirklichkeitsnah und engagiert, die Umtriebe des Ku-Klux-Klan: der 1866 gegründeten Terrororganisation der USA, mit deren Hilfe die Großgrundbesitzer "ihre Vorherrschaft sichern und nach Aufhebung der Sklaverei (1862/63) die Farbigen wieder unter das alte Joch zwingen wollten."21 Die meisten zur Zeit Karl Mays bekannten Publikationen haben den Ku-Klux-Klan unterstützt und glorifiziert. Um so erstaunlicher die Darstellung Mays! "Der Schriftsteller [...] muß Informationen, die gelegentlich auch in deutschen Veröffentlichungen auftauchten, sehr sorgfältig und kritisch ausgewertet haben."22

   Neben der politischen Komponente des Romans verdient die Titelfigur des Scout, der Westmann Old Death, besondere Erwähnung. In der Person des Scouts, des Pfadfinders, hat Karl May eine Verkörperung der eigenen Seelenzustände geschaffen: Old Death hat "gesündigt, aber auch viel gelitten" und seine "Reue ist ernst".23 Seine Schuld bedrückt ihn zutiefst. Er tut Buße und macht wieder gut, so viel er nur kann. Er findet den Pfad des rechten Lebens, das im Tod - den er als Sühnetod bejaht - sich vollendet.

   Old Death ist, wie der Name schon andeutet, dem Sterben geweiht und vom Tode gezeichnet. Er stirbt und wird erlöst durch den Tod. So beweist auch Der Scout, daß selbst die buntesten Abenteuererzählungen Mays "sich nicht in der planen Oberfläche erschöpfen", sondern als "Projektion tiefinnerster seelischer Konflikte"24 des Autors und, darüber hinaus, als religiöse, allgemein-gültige Botschaft verstehbar sind.


7.14.3

El Sendador: Mays Auseinandersetzung mit der Straftäterzeit


Für die psychologische und theologische Deutung ist Mays Doppelroman El Sendador noch ergiebiger als Der Scout. Der erste Teil Lopez Jordan wurde von Oktober 1889 bis September 1890 gedruckt, der zweite Teil mit dem Titel Der Schatz der Inkas von Oktober 1890 bis September 1891. Mit der Niederschrift begann Karl May wahrscheinlich im Juli 1888, und erst im Dezember 1889 war - nach mehreren Unterbrechungen - das Manuskript fertiggestellt.25 Der Grund für die Verzögerung: parallel zum Sendador arbeitete der Schriftsteller an den Jugendbüchern Kong-Kheou, Die Sklavenkarawane und Der Schatz im Silbersee!26

   Wie die etwas später entstandene Jugenderzählung Das Vermächtnis des Inka spielt El Sendador in Südamerika. Mit einigen gewichtigen Textabweichungen27 entspricht der Roman den Fehsenfeld-Bänden XII Am Rio de la Plata und XIII In den Cordilleren (1894). Von der Kritik ist diese Reiseerzählung - bis zum Jahre 1978 - nur wenig beachtet und eher abschätzig bewertet worden.28 Die fast gleichzeitig veröffentlichten Analysen


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Heinz Stoltes, Ekkehard Kochs, Bernhard Kosciuszkos, Engelbert Botschens, Walther Ilmers und Claus Roxins29 lassen den Doppelroman freilich in einem ganz anderen und wesentlich günstigeren Lichte30 erscheinen: Es handelt sich um einen "hochbrisanten" (Ilmer), erzählerisch - trotz mancher Schwächen - bedeutsamen, völkerkundlich fundierten, psychographisch und theologisch durchaus gewichtigen Text.

   Eine ausführliche Würdigung ist im Rahmen dieses Buches nicht möglich. Nur ein besonderer Aspekt soll herausgestellt werden: die Auseinandersetzung des Schriftstellers mit seiner kriminellen Vergangenheit. Roxin entdeckte in den drei Haupthandlungen des Romans einen dreifachen und jeweils anders ansetzenden "Versuch Mays zur seelischen Bewältigung seines Straftatentraumas".31

   In der Lopez-Jordan-Geschichte, der ersten Haupthandlung des Sendador, stellt der Autor - wie im Skipetarenroman und in vielen anderen Erzählungen - die realen Ereignisse seiner Straftäterzeit, nach dem 'Umkehrprinzip', auf den Kopf. Der Dichter versucht, tagträumerisch, sich von aller Schuld zu entlasten: Nicht das 'Ich' begeht Fehler und nicht die Ich-Figur wird gedemütigt, sondern die 'Justiz' ist korrupt und wird entsprechend blamiert.

   Diese Methode der 'Schuldbewältigung' ist, wie May (nur unterbewußt?) ahnt, zum Scheitern verurteilt: Sie "kann 'die nie ruhende Stimme im Innern eines Menschen, welcher sich einer schweren Schuld bewußt ist',32 nicht zum Schweigen bringen. Sie konnte es jedenfalls bei May nicht, dessen Schuldgefühle mit der [...] zunehmenden Idealisierung seiner Ich-Figur immer stärker geworden sein müssen."33 Folglich muß der Autor - in der Desierto-Geschichte, der zweiten Haupthandlung des Romans - auf andere Weise sich 'frei' schreiben: Der Desierto, Alfred Winter, wird zu Mays Alter ego, das - wie Old Death - strenge Buße tut!

   Doch das Sühnewerk und die Selbstbestrafung des Desierto scheinen, angesichts der 'Verfehlung' (Tötung eines Menschen in Notwehr), übertrieben und maßlos. Das wirkt seltsam und erzählerisch unstimmig.


Aber es enthüllt viel innere Wahrheit, wenn man darin den Selbstentlastungsversuch eines seelisch Leidenden erkennt. Wer einmal mit Straffälligen gesprochen hat, wird oft feststellen können, daß sie entweder die ihnen vorgeworfenen Taten ganz von sich schieben und überzeugungskräftig ihre Unschuld darlegen (Modell: Lopez-Jordan-Handlung) oder daß sie doch das Geschehen in einer Weise schildern, die ihre Schuld als fast gar nicht vorhanden, die Reue, Strafe und Buße aber als unendlich groß erscheinen läßt. Dieser zweite Fall ist der des Desierto: Er will (und der Autor will es mit ihm), daß er von seiner Schuld freigesprochen und von seinem Schuldgefühl erlöst werde [...] Was May hier vorführt, ist keine rationale Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld, sondern eine unter starkem inneren Druck entwickelte seelische Überlebensstrategie.34


   Mays Abwehrmechanismen könnten im Blick auf die 'Stollberg-Affäre', das 'Uhrendelikt' und den 'Kerzendiebstahl' eine gewisse Berechtigung haben.35 Es spricht jedoch für den Schriftsteller, daß er - literarisch und (vermutlich) auch in der Wirklichkeit - über die skizzierten Weisen der 'Schuldbewältigung' hinausgewachsen ist. Er wußte sehr wohl, daß es (1864/65 und 1869) zwar keine Verbrechen, aber doch reale Vergehen waren, die er begangen hatte.


So setzt er denn ein drittes Mal an und schafft sich in Geronimo Sabuco, dem Sendador, ein weiteres Ich-Derivat, einen Doppelgänger, dem nun wirklich Schlimmes zur Last gelegt werden kann, und zwar weit Schrecklicheres, als May auch nur von ferne vorzuwerfen war.36


   Sabuco bereut - wie so manche Verbrecher in den erzgebirgischen Dorfgeschichten oder den Kolportageromanen. Er bekennt seine Schuld und findet - Gnade bei Gott. In den Sendador-Szenen, der dritten Haupthandlung des Romans, gelingt es Karl May, das Ge-


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heimnis von tatsächlicher Schuld und echter Erlösung theologisch adäquat und erzählerisch grandios zu gestalten: Die innere Befreiung des Sendador "ist der [...] Höhepunkt, auf den der gesamte Roman zustrebt."37

   Gewiß - als Abenteuergeschichte fällt El Sendador im Vergleich zum Orientzyklus oder zum Scout ziemlich ab (was den naiven Leser enttäuschen wird): Erzähltechnisch läßt der Sendador, in der Desierto-Handlung besonders, verschiedene Mängel erkennen.38 Doch die äußere Fabel ist in diesem Werk nicht die Hauptsache. "May war bei der Niederschrift des Romans ersichtlich mehr an der verschlüsselten Straftaten-Auseinandersetzung als an der Stimmigkeit der sie verdeckenden Abenteuerfabel interessiert."39

   Was den Erzähler im Grunde bewegt, ist eben nicht der 'Schatz der Inkas', nicht das Aventure-Motiv, sondern ein ganz anderer - geistiger und geistlicher - Schatz: das "Himmelreich", die "kostbare Perle" (Mt 13, 44),40 die Versöhnung des Menschen mit Gott, "die Ueberzeugung, daß der Geist des Menschen nur durch den Glauben frei zu werden vermag."41


7.14.4

Der Mahdi: Ein falscher Prophet und der wahre Messias


Auch die folgende, schon im Oktober 1885 angekündigte42 Hausschatz-Erzählung Der Mahdi bietet mehr als nur Spannung und Unterhaltung. Daß der Roman zu den "bedeutendsten Schöpfungen"43 Mays gehöre, wird übertrieben sein. Aber nicht zu bezweifeln ist dies: Der Mahdi hat sein eigenes Profil, das ihn von anderen May-Werken (auch dem Orientzyklus) unterscheidet.44

   Den ersten Romanteil Am Nile dürfte May bis Ende April 1890, den zweiten Teil Im Sudan bis spätestens Herbst 1891 beendet haben.45 Am Nile erschien von Oktober 1891 bis September 1892, Im Sudan von September 1892 bis September 1893. Für die Buchausgabe mit dem Titel Im Lande des Mahdi I-III (Fehsenfeld-Bände XVI-XVIII, Freiburg 1896) änderte May den ursprünglichen Schluß und fügte zwei neue, den Großteil des Mahdi III ergebende Kapitel46 hinzu.

   Auf drei Betrachtungsebenen darf der Roman, nach Walther Ilmer, als gelungen betrachtet werden. Zum ersten: Die spannende Fabel ist straff komponiert; sie weist nicht wenige Glanzpunkte auf und erreicht, auch sprachlich, "die Höhe der Entwicklungsfähigkeit"47 des abenteuerlichen Genres. Das äußere Handlungsmuster - Verfolgung, Gefangenschaft und Befreiung - wiederholt zwar die alten Sujets; "der gleiche Stoff wird im Vorläufer 'Die Sklavenkarawane' ungleich kunstvoller und verschlungener dargeboten; aber die Erzähltechnik Mays im 'Mahdi' ist brillant".48 Und die poetische Komik, die (in Sendador zurücktretenden) heiteren Partien verleihen der - insgesamt freilich ernsten, ja zum Teil sogar tragischen - Handlung des Mahdi einen spezifischen Reiz.

   Zum zweiten: Auf der autobiographischen Leseebene "erreicht die Erzählung eine Dichte, Trefflichkeit und künstlerische Verfeinerung, wie May sie in dieser Eleganz nicht übertroffen hat."49 In den Sklavenhändlern, vor allem in Murad Nassyr, "dem zwischen Gutmütigkeit und Profitgier schwankenden Dicken",50 der sich zuletzt als Opportunist und gewissenloser Schuft entpuppt, sieht Ilmer ein Spiegelbild H.G. Münchmeyers:51 Hat sich der Dichter in Sendador mit der Straftäterzeit auseinandergesetzt, so ist Der Mahdi - nach Ilmer - eine Abrechnung mit der Kolportagezeit Karl Mays.

   Ob diese Deutung in allen Details völlig zutrifft,52 kann hier nicht untersucht und entschieden werden. Doch zweifellos richtig ist eine dritte, die ethisch-religiöse Betrachtungsweise ansprechende These Walther Ilmers: "Als flammender Aufruf für die Frei-


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heitsrechte aller Menschen, als Fanfarenstoß gegen Gewalt, Unterdrückung und Gefühllosigkeit, als Warnung vor falschen Propheten und sogenannten Heiligen" hat der Mahdi-Roman eine bleibende Aktualität, eine "zeitlose Gültigkeit".53

   Der historische Hintergrund der Mahdi-Erzählung Karl Mays ist im großen und ganzen authentisch.54 Der islamische Wanderprediger Mohammed Ahmed (1844-85) erhob tatsächlich den Anspruch, der Mahdi zu sein: der Erlöser, der Heilsbringer, der - nach islamischer Lehre - für die Endzeit erwartet wird.55 Doch was er brachte, war Krieg und Gewalt, war Zwietracht und Intoleranz. In der Schilderung Mays wird das, ansonsten korrekte, Mahdi-Bild allerdings noch negativer gezeichnet, als die Quellen es nahelegen. In der Person des Mahdi sieht Mays Erzählung einen dämonischen Rattenfänger, eine pseudo-religiösen, schein-heiligen Befürworter der Sklaverei. Überhaupt wird der Islam - im Gegensatz zum Spätroman Und Friede auf Erden!,56 aber in Übereinstimmung mit der (1890 entstandenen) Marienkalender-Geschichte Christus oder Muhammed57 - rein negativ bewertet.58 Die moralische Überlegenheit des christlichen Glaubens wird um so stärker herausgestellt.

   May wendet sich, und darin hat er sicherlich recht, gegen jede - auch geistig-seelische - Art der Versklavung und der Gewalt. Er plädiert mit Leidenschaft gegen den Missbrauch der Religion zum Zwecke der Macht.59 Er predigt die Liebe,60 aber auch die strafende Gerechtigkeit (gegen die Mörder und Unterdrücker). Er bekennt sich zum "Heiland",61 zum wahren Messias, der den Gott der Liebe verkündet, der die Menschen "zur Freiheit befreit" (Gal 5, 1), der - aus Liebe - den Tod erlitten und gerade so "die Welt überwunden" (1 Joh 5, 4) hat. Insofern nimmt Der Mahdi das Programm des Mayschen Spätwerks vorweg.62



Anmerkungen


1Anderer Meinung ist z.B. Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 75.
2Vgl. Wilhelm Vinzenz: Karl Mays Reichspost-Briefe. Zur Beziehung Karl Mays zum 'Deutschen Hausschatz'. In: JbKMG 1982, S. 211-233 (S. 219).
3Vgl. ebd.
4Zit. nach Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 188.
5Faksimile-Wiedergabe bei Gerhard Klußmeier: Karl May und Deutscher Hausschatz II. In: MKMG 17 (1973), S. 17-20 (S. 20).
6Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 12. Ubstadt 1989, S. 49.
7Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 62-123 (S. 98).
8Vgl. Heinz Stolte: Der Fiedler auf dem Dach. Gehalt und Gestalt des Romans "Weihnacht!": In: JbKMG 1986, S. 9-32 (S. 13).
9Vgl. Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: Durch das Land der Skipetaren. 'Deutscher Hausschatz' 14. Jg. (1887/88). Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1978, S. 2-6 (S. 2) - Roland Schmid: Anhang. In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXIII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, A 1-42 (38).
10Vgl. Werner Kittstein: Karl Mays Erzählkunst. Eine Studie zum Roman 'Der Geist des Llano estakado'. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 15. Ubstadt 1992.
11Zur Legenden-Struktur Mayscher Erzählungen vgl. Gunter G. Sehm: Der Erwählte. Die Erzählstrukturen in Karl Mays 'Winnetou'-Trilogie. In: JbKMG 1976, S. 9-28.
12Roxin: Einführung zu Skipetaren, wie Anm. 9, S. 2f.
13Vgl. ebd., S. 3.
14Vgl. ebd.


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15Ebd.
16Nach Hermann Wiedenroth - Hans Wollschläger: Editorischer Bericht. In: Karl May: In den Cordilleren. Karl Mays Werke IV. 8. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 493-523 (S. 493).
17Der Scout entspricht - mit wichtigen Textvarianten - den Seiten 7-9 von Winnetou I und den Seiten 11-392 von Winnetou II in der Freiburger Erstausgabe (Fehsenfeld).
18Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: Der Scout - Deadly Dust. 'Deutscher Hausschatz' 15. bzw. 6. Jg. (1888/89 bzw. 1879/80). Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1977, S. 2-5 (S. 2) - Zur Bedeutung des Scout vgl. Martin Lowsky: "Aus dem Phantasie-Brunnen". Die Flucht nach Amerika in Theodor Fontanes 'Quitt' und Karl Mays 'Scout'. In: JbKMG 1982, S. 77-96 - Hartmut Vollmer: Die Schrecken des 'Alten': Old Wabble. Betrachtung einer literarischen Figur Karl Mays. In: JbKMG 1986, S. 155-184 (S. 162ff.).
19May: Der Scout. In: Deutscher Hausschatz 15. Jg. 1888/89, S. 218; zit. nach Roxin: Einführung zu Der Scout, wie Anm. 18, S. 2.
20Roxin: Ebd.
21Heermann, wie Anm. 4, S. 191.
22Ebd., S. 192.
23May: Der Scout, wie Anm. 19, S. 716; zit. nach Roxin: Einführung zu Der Scout, wie Anm. 18,S.3.
24Roxin: Ebd.
25Nach Wiedenroth - Wollschläger, wie Anm. 16, S. 493-497.
26Vgl. ebd. - Im Jahre 1889 lieferte May für Pustet und Spemann insgesamt 3770 Manuskriptseiten (ebd., S. 496)!
27Näheres bei Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: El Sendador. Theil 1: Lopez Jordan - Theil 2: Der Schatz der Inkas. 'Deutscher Hausschatz' 16. bzw. 17. Jg. (1889/90 bzw. 1890/91). Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1979, S. 2-8 (S. 6f.)
28Vgl. ebd., S. 2. - Wollschläger: Karl May, wie Anm. 1, S. 75, meinte: "der zweiteilige Sendador [...] wuchert ihm unter der unlustigen Hand".
29Vgl. Heinz Stolte: Mein Name sei Wadenbach. Zum Identitätsproblem bei Karl May. In: JbKMG 1978, S. 37-59 - Ekkehard Koch: Zwischen Rio de la Plata und Kordilleren. Zum historischen Hintergrund von Mays Südamerika-Romanen. In: JbKMG 1979, S. 137-168 - Bernhard Kosciuszko: "Man darf das Gute nehmen, wo man es findet". Eine Quellen-Studie zu Mays Südamerika-Romanen. In: JbKMG 1979, S. 169-185 - Engelbert Botschen: Die Banda Oriental - ein Umweg zur Erlösung. In: JbKMG 1979, S. 186-212 - Walther Ilmer: Karl May auf halbem Wege. Mannigfaches zur hochbrisanten, "hochinteressanten" Erzählung 'El Sendador'. In: JbKMG 1979, S. 213-261 - Roxin: Einführung zu El Sendador, wie Anm. 27.
30Vgl. auch Ernst Seybold: Des Ich-Erzählers Konfession und andere Fragen. In: MKMG 79 (1989), S. 31-36 (S. 36, Anm. 26).
31Roxin: Einführung zu El Sendador, wie Anm. 27, S. 3.
32May: Der Scout, wie Anm. 19, S. 716.
33Roxin: Einführung zu El Sendador, wie Anm. 27, S. 4.
34Ebd., S. 5.
35Vgl. oben, S. 130.
36Roxin: Einführung zu El Sendador, wie Anm. 27, S. 5.
37Ebd.
38Vgl. Reinhard Tschapke: (Werkartikel zu) Am Rio de la Plata. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 7, S. 229-234 (S. 233).
39Roxin: Einführung zu El Sendador, wie Anm. 27, S. 6.
40Vgl. May: In den Cordilleren, wie Anm. 16, S. 488: "Es giebt Schätze, welche wertvoller sind und weder von dem Roste gefressen, noch von den Motten verzehrt werden." - Vgl. Mt 6, 19f. - In dieselbe Richtung weist der Schluß der Jugenderzählung Das Vermächtnis des Inka; vgl. oben, S. 211.
41Karl May: Am Rio de la Plata. Karl Mays Werke IV. 7. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 236.
42Faksimile-Wiedergabe der Hausschatz-Ankündigung bei Klußmeier, wie Anm. 5, S. 19.
43Walther Ilmer: Einführung. In: Karl May: Der Mahdi - Im Sudan. 'Deutscher Hausschatz' 18./19. Jg. (1891-93). Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1979, S. 3-9 (S. 3).
44Vgl. ebd., S. 5f.


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45Nach Roland Schmid: Nachwort (zu Im Lande des Mahdi). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XVII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1983, N 1-20 (1 u. 3).
46S. 153-567 (Kapitel 3 u. 4) der Freiburger Erstausgabe von Bd. XVIII; vgl. unten, S. 285.
47Ilmer: Einführung, wie Anm. 43, S. 6.
48Ebd., S. 4.
49Ebd., S. 6.
50Ebd., S. 5.
51Vgl. Walther Ilmer: Nachwort. In: Karl May: Der Mahdi, wie Anm. 43, S. 403-406.
52Bernhard Kosciuszko: (Werkartikel zu) Im Lande des Mahdi I-III. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 7, S. 252-259 (S. 258), rät - was autobiographische Spiegelungen im Mahdi betrifft - zur Behutsamkeit (ohne Ilmers Deutungsansatz grundsätzlich abzulehnen).
53Ilmer: Einführung, wie Anm. 43, S. 6.
54Zu Mays Quellen vgl. Bernhard Kosciuszko: "In meiner Heimat gibt es Bücher". Die Quellen der Sudanromane Karl Mays. In: JbKMG 1981, S. 64-87.
55Vgl. Kosciuszko: Werkartikel, wie Anm. 52, S. 258.
56Vgl. unten, S. 613ff.
57Vgl. unten, S. 306f.
58Dazu Ilmer: Einführung, wie Anm. 43, S. 6.
59Es fragt sich, ob Mays Polemik überhaupt den Islam als solchen meint; der 'Islam' könnte im Mahdi-Roman auch ein 'Symbol', eine Chiffre für den (in allen Religionen grundsätzlich möglichen) Mißbrauch des Namens Gottes sein.
60Zum Beispiel Karl May: Im Lande des Mahdi I. Gesammelte Reiseromane, Bd. XVI. Freiburg 1896,S.96.
61Karl May: Im Lande des Mahdi II. Gesammelte Reiseromane, Bd. XVII. Freiburg 1896, S. 105.
62Ilmer: Einführung, wie Anm. 43, S. 6, sieht die Vorwegnahme des Spätwerks auch in der kunstvollen Verschränkung der Leseebenen, "die üblicherweise nur dem Alterswerk" zuerkannt wird.



7.15

Karl May und der Pustet-Verlag: 'Katholisierende' Tendenzen in den 'Hausschatz'-Romanen?


Zum Herbst 1888, nach dem Erscheinen des Skipetaren-Romans, schied der "liberale und großzügige"1 Venanz Müller als Redakteur des Hausschatzes aus. Nachfolger wurde Heinrich Keiter: nach Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger eine "entschiedener Parteigänger" der "tendenz-katholischen Literatur".2

   Zwischen dem Pustet-Verlag und Karl May gab es schon im Herbst 1888 gewisse Probleme, weil dem Verleger das Sendador-Manuskript nicht so richtig behagte.3 Briefen Friedrich Pustets und Heinrich Keiters aus dem Frühjahr 1890 ist zu entnehmen, daß Karl May die Zusammenarbeit mit dem Verlage kündigen wollte.4 Eine Art Schreckschuß? Hatte May einen Monopolvertrag mit Spemann, dem protestantischen Unternehmer, im Sinn? Das bleibt Spekulation. Zum Bruch mit dem katholischen Verleger kam es noch lange nicht. Mays Beziehung zu Pustet und Keiter blieb bis Mitte der neunziger Jahre weitgehend ungetrübt. Wahrscheinlich gab es Anfang Dezember 1890 eine persönliche Begegnung mit Pustet und Keiter in Regensburg. Jedenfalls sind die folgenden, freilich nur teilweise überlieferten, Briefe in sehr herzlichem Tone gehalten.5

   Der Schriftsteller May und der Verleger Pustet waren sich gegenseitig zum Dank verpflichtet. Daß May sich literarisch durchsetzen und berühmt werden konnte, ist vornehmlich auf die Bindung an den Regensburger Verlag zurückzuführen. Pustet wiederum hatte in May ein bedeutendes 'Zugpferd'. Seinen Einfluß als "angesehenstes und verbreitetstes


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Familienblatt der deutschen Katholiken"6 verdankte der Hausschatz nicht zuletzt den Erzählungen Karl Mays. Insofern hat dieser "viel zur Stärkung des Selbstwertgefühls und des Widerstandswillens der deutschen Katholiken beigetragen".7

   Der 'Deutsche Hausschatz' ist im Zusammenhang mit dem 'Kulturkampf' (1871-87), den Kontroversen Bismarcks und der katholischen Kirche des Ersten Vatikanischen Konzils (1870) zu sehen. Die Versammlung der Bischöfe stärkte die Vormachtstellung des Papstes und forderte, besonders in Deutschland, die konfessionelle Abgrenzung.8 Der katholische Volksteil bildete, auch politisch, einen Block: die Zentrumspartei. Die anti-klerikalen Gesetze des preußisch dominierten Kaiserstaates lehnte das katholische 'Zentrum' natürlich ab. Mit publizistischen Mitteln wurde der Widerstandskampf unterstützt. Auch Pustets Journal spielte eine wichtige Rolle: Es sollte die römische Gesinnung bestärken und den Einfluß der preußenfreundlichen 'Gartenlaube' zurückdrängen.

   Sich 'einspannen' zu lassen, wird Mays Absicht wohl nicht gewesen sein: "Die Firma Pustet ist eine katholische und der 'Deutsche Hausschatz' ein katholisches Familienblatt. Aber diese konfessionelle Zugehörigkeit war mir höchst gleichgültig."9

   May war Christ; und fürs Katholische wird er - viele Indizien sprechen dafür - ein Faible gehabt haben (in den achtziger und neunziger Jahren zumindest). Nur: die Polemik der Konfessionen, die Mentalität des Kulturkampfs lag ihm sicherlich ferne.10 Wäre May ein katholischer Fachtheologe gewesen, so wäre er - spätestens nach der Jahrhundertwende - aufgrund seiner Alterswerke und mancher Passagen in den Geographischen Predigten und im Buch der Liebe11 verurteilt worden: als 'Liberaler', als Anhänger des 'Modernismus'!12

   Ein Gesinnungs-Katholik im ultramontanen, im exklusiv-römischen, andere Konfessionen (als häretisch) ausgrenzenden Sinne ist Karl May nie gewesen. Er war der Taufe nach Lutheraner und ist es formell auch geblieben. Die Erziehung der Eltern, das irenische Wesen der 'Märchengroßmutter', auch der Einfluß Johannes Kochtas vermutlich, führten bei May - sehr früh schon und nicht erst im Alterswerk - zu einer christlich-humanistischen, konfessionell nicht festgelegten Religiosität: Aus seinen Büchern klingt "zuweilen ein Orgelton heraus, den man für katholisch hält, obgleich er nur dem natürlichen Register der Vox humana entstammt."13

   Daß Mays Reiseerzählungen "für katholisch" gehalten wurden, ist allerdings sehr verständlich: In Kurdistan schien sich Kara Ben Nemsi - wenn man die entsprechende Stelle im Orientzyklus14 nicht GENAU liest - als römisch-katholisch zu bekennen. Und Marah Durimeh, die schützende Frau, verehrt die Gottesmutter Maria.15 Im "wilden Westen" Nordamerika's (1882/83) enthält das 'Ave Maria', das Sterbelied Winnetous.16 Im Sendador nennt sich Charley, der Ich-Erzähler, einen "Catolico"; und dem Toba-Mädchen Unica wird die Unterscheidung von bösen "Reformados" und guten "Catolicos" in den Mund gelegt (ohne daß der Indianerin, in diesem Punkt, vom Erzähler widersprochen wird).17 In katholischen 'Marienkalendern' erschienen, von 1890 alljährlich bis 1898 sowie 1908/09, diverse Geschichten von Karl May.18 Im - von Heinrich Keiter herausgegebenen - 'Katholischen Literaturkalender' von 1892 (und später) wird 'May, Dr. Karl' genannt.19 Auf Leseranfragen bezüglich Mays Konfession gab der Hausschatz im Juni 1892 und im Juli 1893, bona fide, bekannt: "Herr Dr. Karl May ist katholisch. "20 Der Dichter dementierte das nicht. Im Gegenteil: Auch in Kürschners Literaturkalender von 1894 ließ sich Karl May, wie Wollschläger rügte, "das fette 'k' aufheften, die Plakette des Tendenzkatholiken".21


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   War May also, was die Konfession betrifft, ein Etikettenschwindler? Dieser Vorwurf (der gegen May in späteren Jahren auch wirklich erhoben wurde) läßt sich sehr weitgehend entkräften. Zunächst: die Marienverehrung hat, mehr oder weniger ausgeprägt, auch außerhalb der katholischen Kirche ihren Platz. "Die Madonna ist von hundert protestantischen Malern dargestellt und von hundert protestantischen Dichtem, sogar von Goethe, behandelt worden. Warum sagt man von diesen nicht, daß sie katholisieren?"22

   Und die andern 'Gravamina'? Die Kurdistan-Stelle muß, wie schon angedeutet, nicht notwendig als Bekenntnis des Autors zur römischen Kirche verstanden werden.23 Zu den 'rom-katholischen' Partien des Sendador-Romans ist zu bemerken: Der Redakteur Heinrich Keiter hat, wie er in einem Brief vom 9.5.1890 an Karl May selbst bekundete, verschiedene Textstellen interpoliert.24 Als "Fremdeinfügung auch stilistisch beweisbar"25 ist z.B. eine Passage über das katholische Missionswesen, die den zweiten Teil der Erzählung (in der Hausschatz-Fassung) eröffnet.26 Wie Claus Roxin schon erwogen, Roland Schmid stark vermutet und Ernst Seybold noch weiter erhärtet hat,27 ist auch der Dialog des 'katholischen' Ich-Erzählers mit Unica als originaler May-Text sehr zweifelhaft: Für die Annahme, daß Keiter diesen Dialog entweder eingeschoben oder (was wahrscheinlicher ist28) tendenziös verändert hat, gibt es triftige Anhaltspunkte.29 Wie auch immer: für die Buchfassung Am Rio de la Plata/In den Cordilleren hat Karl May die anti-protestantischen Partien des Hausschatz-Textes (und damit das "Catolico"-Bekenntnis des Ich-Erzählers) gestrichen. Die polemische Entgleisung, die konfessionalistische Parteinahme - sollte sie auf den Autor, trotz der Gegenargumente, dennoch (ganz oder teilweise) zurückgehen - hätte May also zurückgenommen.

   Was die Hausschatz-Auskünfte und die Literaturkalender-Angaben über Mays Konfession betrifft: Ob sie von May veranlaßt oder vom Schriftsteller nur geduldet wurden, ist fraglich. Was bleibt, ist die Tatsache, daß May nicht widersprochen hat!

   Gerhard Klußmeier sah in diesem Verhalten eine Referenz des Autors an den Pustet-Verlag: Karl May sei "ein Auftragsschreiber par excellence"30 und sein 'Katholisieren' sei opportunistisch gewesen. Doch dieses Verdikt ist nur wenig oder gar nicht berechtigt. Gewiß, die Zustimmung der katholischen Kirche31 war für Mays Erfolg von Bedeutung. Aber - sind die Hausschatz-Erzählungen Karl Mays denn wirklich (wie Klußmeier insinuiert) durchwegs frömmer und christlicher, 'katholischer' und 'dogmatischer'32 geraten als die Münchmeyer-, Spemann- und (später) Fehsenfeld-Werke?

   'Gepredigt' hat May in sämtlichen Schaffensabschnitten - sehr oft auch in Werken, die von nicht-katholischen Verlegern gedruckt wurden. Sehr fromme, ja (wenn man so will) 'katholisierende' Stellen finden sich zum Beispiel auch im Waldröschen!33 Andererseits hat May auch im Hausschatz Texte gebracht, denen die Botschaft Jesu, das Evangelium der Liebe, noch ziemlich fremd ist.34 Mays religiöse Bekenntnis-Bereitschaft und seine literarische Predigt-Tendenz hingen also nicht (oder nur zum geringsten Teil) vom jeweiligen Auftraggeber, sondern von der - bisweilen gespaltenen, zwischen Glücksgefühl und Leidensdruck, Vertrauen und Zweifel schwankenden - Gemütsverfassung des Autors ab.

   Die prinzipielle Gläubigkeit, die christliche Grundhaltung des Schriftstellers war, wie auch Klußmeier zugibt,35 nicht gespielt, sondern echt. Aber 'konfessionell' hat May nicht gedacht; identifiziert hat er sich weder mit der Papstkirche noch mit einer anderen Konfession. May dachte, seiner Zeit voraus, ökumenisch - über kirchliche Grenzen hinaus. Nahezu alles, was der Dichter, für welchen Verlag auch immer, geschrieben hat, war - mehr oder minder - religiös, war christlich geprägt. Und nichts, auch keiner seiner Bei-


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träge im Hausschatz oder in den Marienkalendern, war 'katholisch' im verengten, im ausgrenzenden Sinne.

   Ernst Seybold wies darauf hin: Auch in der römischen Kirche gab es - auch im 19. Jahrhundert - 'evangelische' Elemente und, freilich zaghaft, 'evangelische' Denkansätze; umgekehrt schließt das Protestantische "eine Menge von 'katholischen Möglichkeiten' ein".36 Karl May hatte ein feines Gespür für solche Zusammenhänge. Er sah (in den neunziger Jahren vielleicht noch weniger reflektiert, aber später um so bewußter und engagierter37) das Gemeinsame der christlichen Kirchen. Das Verbindende, der Glaube an Gottes Liebe und an die Erlösung in Christus, war ihm wichtiger als sämtliche Lehrdifferenzen. 'Katholisch' also war der Schriftsteller in der griechischen Urbedeutung des Wortes:38 Er hatte eine sehr weite, das 'Ganze umgreifende', zwischen den Konfessionen (und Religionen) vermittelnde Sicht.

   Für subtile dogmatische Lehrstreitigkeiten hatte May kein Verständnis. Er setzte sich zwischen die Stühle'; so geriet er, nach der Jahrhundertwende, in die Schußlinien zweier Parteien: "Der Eine schlägt auf mich los, weil er mich für einen verkappten Katholiken oder gar Jesuiten hält; der Andere greift zum Prügel, weil er meint, ich sei noch immer heimlich Protestant."39

   Heute gibt es, in beiden Kirchen, angesehene Theologen, die den Streit der Konfessionen als überholt, als in der Sache überwindbar (oder schon weitgehend überwunden) betrachten.40 Aus einer solchen Sicht muß es nicht mehr verwerflich erscheinen, daß May sich - auch im Alter noch41 - als 'katholisch' bezeichnete und dennoch evangelisch blieb.

   Man kann es drehen und wenden, wie immer man will: Der Vorwurf der 'religiösen Heuchelei' ist im Falle Mays nicht begründet. Das "katholische Mäntelchen" ist eine Unterstellung bzw. ein Mißverständnis des May-Gegners Ansgar Pöllmann42 und des May-Freundes Gerhard Klußmeier.



Anmerkungen


1Hermann Wiedenroth - Hans Wollschläger: Editorischer Bericht. In: Karl May: In den Cordilleren. Karl Mays Werke IV. 8. Hrsg. von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschläger. Nördlingen 1988, S. 493-523 (S. 494).
2Ebd., S. 495 - Keiter trat auch literarisch hervor; vgl. Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 427f. (Anm. 237).
3Vgl. Wiedenroth - Wollschläger, wie Anm. 1, S. 494.
4Vgl. Wilhelm Vinzenz: Karl Mays Reichspost-Briefe. Zur Beziehung Karl Mays zum 'Deutschen Hausschatz'. In: JbKMG 1982, S. 211-233 (S. 220f.).
5Nach Vinzenz: Ebd., S. 221.
6Laut Verlagsangaben vom März/April 1879; zit. nach Gerhard Klußmeier - Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hildesheim, New York 1978, S. 102.
7Klußmeier - Plaul: Ebd., S. 101. - Vgl. Fernand Hoffmann: Karl May im katholischen Verlagswesen während des Kulturkampfs. In: Stimmen der Zeit. Freiburg. 118. Jg. 1993, S. 177-186.
8Vgl. Hermann Wohlgschaft: Mays Friede-Roman und die Lehre der Kirche. In: MKMG 83 (1990), S. 18-24 (S. 19, Absatz IV).
9Karl May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 2, S. 195.
10Selbst die anti-jesuitischen Exzesse des Autors in Scepter und Hammer/Die Juweleninsel (vgl. oben, S. 168) richten sich nicht pauschal gegen eine bestimmte Konfession (in diesem Fall die katholische), sondern allgemein gegen den Mißbrauch der Religion.
11Vgl. oben, S. 139ff.
12Vgl. Wohlgschaft, wie Anm. 8.


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13Karl May: Meine Beichte (28.5.1908). In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34 "Ich". Bamberg 361976, S. 15-20 (S. 17).
14Karl May: Durchs wilde Kurdistan. Gesammelte Reiseromane, Bd. II. Freiburg 1892, S. 452: "Sage uns, ob Sidna Marryam die Mutter Gottes ist!" - "Sie ist es." - "Sage uns, ob ein Priester ein Weib nehmen soll!" - "Er soll unvermählt bleiben." - "Sage mir, ob es mehr oder weniger als drei Sakramente giebt!" - "Es gibt mehr." (Verhör Kara Ben Nemsis durch nestorianische Gegner, die ihn gefangengenommen hatten) - Später, in der 'Ausgabe letzter Hand', hat May den Wortlaut geändert: Aus "Er soll unvermählt bleiben." wurde "Vielen ist es verboten."
15Vgl. May: Durchs wilde Kurdistan, wie Anm. 14, S. 569 (ebd., S. 207, wird Marah Durimeh als "Katholikin" bezeichnet).
16Vgl. oben, S. 180f.
17Diese Hausschatz-Passage (17. Jg., S. 517f) ist wiedergegeben bei Wiedenroth - Wollschläger, wie Anm. 1, S. 519f.
18Vgl. unten, S. 305ff.
19Nach Hainer Plaul: Illustrierte Karl-May-Bibliographie. München 1989, S. 146 (Nr. 225).
20Faksimile-Wiedergabe bei Gerhard Klußmeier: Karl May und Deutscher Hausschatz III. In: MKMG 18 (1973), S. 17-20 (S. 19f.).
21Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 77.
22May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 2, S. 174.
23Ernst Seybold: Des Ich-Erzählers Konfession (Fortführung). In: MKMG 81 (1989), S. 45f, argumentiert völlig richtig: Daß Maria die "Mutter Gottes" ist, glauben auch Protestanten; daß es "mehr [...] als drei Sakramente giebt", ist eine Auffassung, die ebenfalls nicht beschränkt ist auf den Katholizismus; daß "Priester unvermählt bleiben" sollten, ist eine Meinung, die auch Protestanten (privat für sich) haben können; außerdem ist ja nur von 'sollen' und nicht von 'müssen' die Rede (vgl. oben, Anm. 14). - Vgl. auch Wolfgang Hammer: Katholisches aus dem wilden Kurdistan. In: MKMG 71 (1987), S. 18-23 (S. 20f.).
24Vgl. Wiedenroth - Wollschläger, wie Anm. 1, S. 502: Keiter hat, wie er schreibt, "kleine Wiederholungen im zweiten Theil" des Sendador eingefügt (für neue Abonnenten, die den 1. Teil nicht gelesen hatten); diese sich selbst erteilte Erlaubnis hat der Redakteur sehr "großzügig" (Wiedenroth - Wollschläger: ebd.) ausgelegt.
25Wiedenroth - Wollschläger: Ebd.
26Diese Passage (die May für die spätere Buchfassung durch einen völlig anderen Text ersetzt hat) findet sich in: 'Deutscher Hausschatz' 17. Jg., S. 11f.
27Vgl. Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: El Sendador. Theil 1: Lopez Jordan - Theil 2: Der Schatz der Inkas. 'Deutscher Hausschatz' 16. bzw. 17. Jg. (1889/90 bzw. 1890/91). Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1979, S. 2-8 (S. 7) - Roland Schmid: Nachwort (zu Am Rio de la Plata / In den Cordilleren). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XIII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1983, N 1-22 (12f.) - Ernst Seybold: Des Ich-Erzählers Konfession und andere Fragen. In: MKMG 79 (1989), S. 31-36.
28Der Stil dieser Passage ist, wie Seybold, wie Anm. 27, S. 33, richtig bemerkt, ausgesprochen "mayisch"; diese Beobachtung spricht - freilich nicht zwingend - gegen die Hypothese, daß Keiter den GANZEN Dialog frei erfunden habe.
29Vgl. Seybold, wie Anm. 27.
30Gerhard Klußmeier: Das "katholische Mäntelchen". In: MKMG 25 (1975), S. 15-18 (S. 17).
31Vgl. unten, S. 238f.
32Klußmeier: Mäntelchen (wie Anm. 30, Fortsetzung). In: MKMG 26 (1975), S. 16-18 (S. 17), will eine "dogmenverherrlichende Tendenz seiner [Mays] 'Hausschatz'-Zeit" entdeckt haben.
33Vgl. z.B. Karl May: Waldröschen oder Die Rächerjagd rund um die Erde, Bd. I. Leipzig 1988 (Reprint des Dresdner Erstsatzes von 1882-84), S. 35ff. (die Beichte des sterbenden Bettlers beim "Pater Dominikaner").
34Vgl. z.B. Claus Roxin: Einführung. In: Karl May: Der Scout - Deadly Dust. 'Deutscher Hausschatz' 15. bzw. 6. Jg. (1888/89 bzw. 1879/80). Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1977, S. 2-5 (S. 3).
35Klußmeier, wie Anm. 30, hat dies zunächst bestritten, dann (wie Anm. 32, S. 17) aber zugegeben.
36Ernst Seybold: Wie katholisch ist May in seinen Marienkalendergeschichten? III. In: MKMG 46 (1980), S. 40-46 (S. 41) - Vgl. auch, Hammer, wie Anm. 23, S. 18-23.


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37Vgl. unten, S. 612ff.
38Vgl. Wohlgschaft, wie Anm. 8, S. 24 (Anm. 14).
39May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 2, S. 313.
40Vgl. unten, S. 613.
41Vgl. unten, S. 505.
42Vgl. Ansgar Pöllmann: Ein Abenteurer und sein Werk. In: Über den Wassern 3. Jg. (19 10), S. 271ff. - Vgl. unten, S. 527ff.



7.16

Die 'Villa Idylle': 'Dr. phil.', private Beziehungen und ökonomische Schwierigkeiten


Mays Frömmigkeit war kein Schwindel und das 'katholische Mäntelchen' verdient keinen ernsthaften Tadel. Anders verhält es sich mit dem 'Dr. phil.', dem akademischen Mäntelchen Karl Mays.

   Nach mehreren Umzügen innerhalb des Dresdner Stadtgebietes zogen die Mays im Oktober des Jahres 1888 in den Dresdner Vorort Kötzschenbroda, Schützenstraße 6: in die - bei einer Jahresmiete von 800 Reichsmark - ziemlich teure 'Villa Idylle'. Beim Gemeindeamt in Kötzschenbroda meldete sich der neue Einwohner als Dr. phil. Karl May.1

   Im Schriftverkehr mit Verlegern und Redakteuren hatte er sich, seit Jahren, als 'Doktor' betiteln lassen. Von Münchmeyer war er angeblich schon 1875 in dieser Weise hofiert worden.2 Auch im 2. Jahrgang (1880) von 'Kürschners Literaturkalender' war May mit dem Doktortitel verzeichnet; ob mit oder ohne Hinzutun des Schriftstellers, ist allerdings unbekannt.3

   Mit dem 'Dr.' schmückte sich May natürlich zu Unrecht. Eine Universität hat er nie besucht; zur Promotion gab es keine Gelegenheit. Später, im November 1898, wurde May die Führung des akademischen Titels durch die Behörde in Dresden verboten.4

   Mays falscher 'Doktor' verrät einen eitlen Charakter. Franz Zhernotta gab jedoch zu bedenken: Das akademische Studium war dem jungen May verwehrt geblieben, weil die Geldmittel fehlten; die nötige Begabung aber war im Übermaße vorhanden. Hätten es die äußeren Umstände erlaubt, "so hätte Karl May ohne Zweifel an einer deutschen Universität studiert und durch seinen Fleiß, seine Begabung und seine Fähigkeiten den Grad eines Doktors der Philosophie erworben."5

   Den TITEL eines Doktors führte May zwar ohne Berechtigung; er WAR aber ein 'Doktor' im eigentlichen Sinne: ein 'Lehrer', ein geistiger Führer seiner Lesergemeinde. Leute, die legal mit dem 'Dr.' unterzeichnen, aber weniger können und auch viel weniger wissen als Karl May, gibt es zu Hunderten und zu Tausenden. Daß May sich den Titel illegal zulegte, hätte er gewiß nicht nötig gehabt. Er WAR ja mehr, als er schien; doch die gekränkte Vergangenheit schrie - anders ist der 'Doktor' nicht zu erklären - nach einer, auch äußerlichen, Bestätigung und Rehabilitierung.

   Mit den Eskapaden des 'Dr. Heilig' oder der künftigen Exzentrik des 'Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand'6 verglichen, war 'Dr. phil.' eine harmlose Schrulle und der Träger des Titels - angesichts der realen Verdienste - eine seriöse Persönlichkeit. Fehler hat jeder. Aber so viele kämpfen, anders als May, gegen ihre Schwächen nicht an. Der wirkliche May hatte, im Gegensatz zu seinen literarischen Ideal-Figuren, dem Häuptling Winnetou zum Beispiel, den Fehler der Eitelkeit; aber er wußte (im 'Unterbewußten') um diese Schwäche und suchte - literarisch - dagegen zu streiten.7


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   Karl May hatte Fehler. Ein bedeutender und ein liebenswürdiger Mensch war er dennoch. Aber echte und tiefere Freundschaften blieben dem Schriftsteller für lange Jahre versagt. Auch in dieser Hinsicht war er seinem Roman-Ich, Old Shatterhand/Kara Ben Nemsi, nicht ähnlich.

   Die Einsamkeit ist ein Grundproblem vieler Ausnahme-Menschen, zu denen Karl May ohne Zweifel gehörte. Bisher lebte May, der latente Narzißt, eher zurückgezogen; die Klatschrunde Emmas war ihm nur lästig.8 Jetzt aber, in Kötzschenbroda um 1889/90, fanden die Mays recht gute Bekannte.9 Zum Freundeskreis zählten das Ehepaar Richard und Klara Plöhn (dem später eine herausragende Bedeutung im Leben des Dichters zukommen sollte), Heinrich Haeußler und dessen Ehefrau Louise (die künftige Frau Achilles, die nach der Scheidung Karl Mays von Emma den Prozeßgegnern des Schriftstellers als Zeugin diente), der Sanitätsrat Dr. Johannes Curt Mickel (Mays Hausarzt) sowie der Lehrer und spätere Schuldirektor Krüger.10

   Nicht endgültig bewiesen, aber doch sehr bedenkenswert ist die Aussage, Karl May habe mit einer Hausangestellten ein Kind gezeugt. In einer eidesstattlichen Erklärung (9.11.1909) von Frau Louise Achilles wird versichert: "Außerdem ist mir bekannt, daß in den Jahren 1889 und 1890 May mit einem seiner Dienstmädchen ein Kind hatte und Alimente bezahlte."11 Der May-Biograph Fritz Maschke vermutet: "Das Dienstmädchen dürfte entlassen worden sein, noch bevor Frau Emma bemerken konnte, was sich in dessen Leib ankündigte. Karl May sorgte aber gewiß für die werdende Mutter".12 Das Kind, ein Mädchen, habe der Schriftsteller - dem May-Gegner Rudolf Lebius zufolge13 - in ein katholisches Kloster gegeben, um es später bei sich aufzunehmen. Seiner Gattin soll May, nach deren eigener (von Pauline Fehsenfeld überlieferter) Angabe, die Wahrheit lange verschwiegen, dann aber - nach einem Kreuzverhör - endlich gestanden haben.14 Die Aufnahme des Kindes in den Mayschen Haushalt habe die erzürnte Emma dann zu verhindern gewußt.15

   Im Frühjahr 1894 schrieb May an den Verleger Fehsenfeld:


Ich habe Ihnen mitgetheilt, daß ich arme Verwandte unterstütze, was meine Frau nicht will. Ich bin also gezwungen, zuweilen eine Einnahme oder Ausgabe vor ihr geheim zu halten. Ein Mann hat ja überhaupt oft Ausgaben, für welche die Frau kein Verständnis hat. Wie oft z.B. kaufe ich mir theure Bücher [...]!16


   Fritz Maschke kommentiert diesen, zweifellos interessanten, Brief:


Karl May hatte also Heimlichkeiten vor seiner Frau. Nicht der Preis von teuren Büchern wird es gewesen sein, den seine Frau nicht erfahren sollte, sondern andere Ausgaben: die Unterhaltsbeiträge für sein außereheliches Kind, von dem Emma nichts wissen sollte.17


   Allerdings müßte Emma - falls die Darstellung Maschkes, in der Chronologie, keine irrige ist - von der Existenz des Kindes schon 1892 oder 1893 gewußt haben. Für May hätte es 1894 also keinen Grund gegeben, die Alimente zu verschweigen.

   Von Mutter und Kind sind keine gesicherten Daten bekannt.18 Auch von einer dokumentierten Äußerung des Schriftstellers wissen wir nichts. Fritz Maschke stellte, unter dem Eindruck von mehreren Zuschriften, eine Vaterschaft Karl Mays wieder in Frage.19 Ein Urenkel Karoline Selbmanns, einer Schwester des Dichters, hatte an Maschke geschrieben: "Aus Ihren Zeilen erfuhr ich das erste Mal von einem Kind Karl Mays. Auch von meinen Eltern oder anderen Verwandten habe ich nie etwas davon gehört."20

   Maschke zitiert noch weitere, ähnliche Briefe. Gleichwohl - die übereinstimmenden (durch eine Reihe von Indizien erhärteten21) Erklärungen bzw. Berichte von Louise Achilles und Pauline Fehsenfeld hält Claus Roxin für "völlig beweiskräftig".22


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   Wie auch immer die Frage 'Hatte Karl May ein Kind?' zu beantworten ist - getrübt wurde die 'Idylle' der Kötzschenbrodaer Villa zumindest in finanzieller Hinsicht: Mays, im Vergleich zur Münchmeyerzeit sehr dürftige, Einkünfte von seiten der Firmen Spemann und Pustet reichten für die Villa nicht aus.

   Im Oktober 1889 mußte der Autor - nach Maschke -


seine geliebten Zigarren, die er bei seiner schriftstellerischen Arbeit in großen Mengen verbrauchte, auf Rechnung beziehen, ohne die Rechnungsbeträge bezahlen zu können. Als am 1. Januar 1890 die Quartalsmiete von 200 Mark fällig wurde, mußte er auch diese schuldig bleiben. Die Hauseigentümerin [...] reichte durch einen Rechtsanwalt Zahlungsklage ein.23


   Auch der Zigarrenhändler klagte24 und so mußte die schöne Villa, im Frühjahr 1890, aufgegeben werden. Die Mays zogen um in eine bescheidenere Wohnung in Niederlößnitz (Lößnitzstraße 11). Zu Beginn des nächsten Jahres dürften sich die wirtschaftlichen Verhältnisse Mays wieder gebessert haben.25 Ein erneuter Umzug am 8. April 1891 war die Folge. Der Schriftsteller mietete die 'Villa Agnes' in Oberlößnitz (Nizzastraße 13), wo das Ehepaar May bis Anfang 1896 zuhause war.

   Im Verlauf des Jahres 1891 gab es noch weitere Zahlungsklagen. Es ging insgesamt um einen Betrag von knapp 200 Mark.26 Doch die - weitgehende - finanzielle Sanierung brachte noch dasselbe Jahr 1891: zunächst durch Vorschüsse des Freiburger Verlegers Friedrich Ernst Fehsenfeld.



Anmerkungen


1Nach Albert Hellwig: Die kriminalpsychologische Seite des Karl-May-Problems. In: KMJB 1920. Radebeul 1919, S. 187-250 (S. 205).
2Vgl. oben, S. 134.
3Nach Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Beiträge zur Karl-May-Forschung 3. Bamberg 1973, S. 28.
4Vgl. unten, S. 324.
5Franz Zhernotta: Die Wissenschaft in Karl Mays Leben und Werk II. In: MKMG 15 (1973), S. 23-25 (S. 25).
6Vgl. unten, S. 321ff.
7Vgl. unten, S. 360f.
8Vgl. oben, S. 201.
9Vgl. Maschke: Karl May, wie Anm. 3, S. 39.
10Ebd.
11Wiedergegeben bei Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Ein Beitrag zur Kriminalgeschichte unserer Zeit. Berlin-Charlottenburg 1910, S. 327.
12Fritz Maschke: Was Pauline Fehsenfeld nicht wissen konnte. In: MKMG 39 (1979), S. 11-14 (S. 13).
13Vgl. Lebius, wie Anm. 11, S. 315.
14Vgl. Ekke W. Guenther: Karl May und sein Verleger Friedrich Ernst Fehsenfeld. In: JbKMG 1978, S. 154-167 (S. 160f.).
15Ebd., S. 161.
16Zit. nach Maschke: Pauline Fehsenfeld, wie Anm. 12, S. 13.
17Ebd.
18Nach Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 288, beschäftigten die Mays 1888/89 "in der Villa 'Idylle', wie mit ziemlicher Sicherheit feststeht, tatsächlich ein Dienstmädchen. Sie hieß Alma Eulitz und könnte die Mutter des Kindes sein, muß jedoch noch vor der Entbindung die Stadt verlassen haben, denn die einschlägigen Taufregister liefern keinen Hinweis zu einer Geburt."
19Fritz Maschke: Martha Vogel - ein Pseudonym für Thekla Vogel? In: MKMG 41 (1979), S. 29-31 (S. 29).
20Ebd.


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21May besaß ein - in Hamburg im Jahre 1888 erschienenes - Buch mit dem Titel Der Säugling. Seine Ernährung in gesunden und kranken Tagen (Karl Mays Bücherei. In: KMJB 1931. Radebeul 1931, S. 212-291, hier S. 286). - Ludwig Patsch entdeckte außerdem in Mays Bibliothek zwei weitere (im Verzeichnis nicht aufgenommene) 'Säuglingsbücher' aus dem Jahre 1900. - Der Karl-May-Verleger E.A. Schmid bestätigte L. Patsch, in einem vertraulichen Gespräch, die Existenz eines unehelichen Kindes von May; nach Klara Mays Tod (31.12.1944) hatte Schmid aber "plötzlich sämtliche Erinnerungen verloren, und auch die anderen Leutchen, die mir dzt. gleichmütig das in Rede stehende uneheliche Kind zugaben, taten überaus erstaunt, als ich mich - eben etliche Jahre später - danach erkundigte." (Vom Lederstrumpf zum Winnetou. Autoren und Werke der Volksliteratur. Hrsg. von Siegfried Augustin und Axel Mittelstaedt. München 1981, S. 79f., Anm. 2b).
22Claus Roxin in einem Brief vom 22.9.1990 an den Verfasser.
23Maschke: Karl May, wie Anm. 3, S. 41; vgl. ebd., S. 197-205 (Wiedergabe der Akten des Amtsgerichts Dresden).
24Vgl. ebd., S. 206-210 (Wiedergabe der Akten).
25Vgl. ebd., S. 42.
26Vgl. ebd., S. 42f.




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