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10.4

Die Trennung von Emma und die Ehe mit Klara: Das Weib als 'Dämon' und 'rettender Engel'


Und Friede auf Erden! kann, dies ist EIN Gesichtspunkt, als Ausdruck einer schweren Lebenskrise des Autors verstanden werden. Dasselbe gilt noch mehr für den Silberlöwen III/IV, jenes große - im nächsten Kapitel zu besprechende - Werk, das in den Jahren 1902/03, also nach der Entstehung der Erst- und vor der Entstehung der Zweitfassung des Friede-Romans verfaßt wurde.

   Mitten in die Entstehungszeit des Silberlöwen III/IV fallen, zu den Auseinandersetzungen Karl Mays mit seinen Presse- und Zivilprozeßgegnern, auch das endgültige Scheitern der Ehe mit Emma und der Beginn der Zweitehe des Schriftstellers mit Klara May verw. Plöhn.

   In seiner Bibliothek steht - im Schlußband des Silberlöwen - der Ustad; er betrachtet die, mit Frauenhand gestickte, Inschrift auf einer 'Astrallampe' in seiner 'Gruft'. Der Ustad meint: "Die Liebe hört nimmer auf! Jawohl, die göttliche! Aber diese hier, sie ging für mich zu Ende. Oder hatte sie überhaupt niemals bestanden?"1

   Die Bitterkeit der Romanfigur enthüllt die Klage, den Schmerz, die Not Karl Mays: angesichts seiner qualvollen, nun nicht mehr zu rettenden Ehe.

   Mays Beziehungen zu den Frauen Emma und Klara, zu 'Miez' und zu 'Mausel', gehören zu den schwierigsten, rätselhaftesten und problematischsten Kapiteln in seiner Lebensgeschichte. Daß seine erste Ehe mißlang, man kann es verstehen;2 daß er in einer neuen menschlichen Bindung einen neuen Anfang und eine neue Chance gesucht (und gefunden) hat - wer will da mit Steinen werfen? Aber ein Unbehagen, ein ungutes Gefühl bleibt hier doch - zumal die Umstände, die zur Scheidung und Wiederheirat geführt hatten, so merkwürdig sind.

   Karl May war Christ. Zur Bergpredigt Jesu hat er sich, gerade im Silberlöwen, ausdrücklich bekannt.3 Und doch hat er seine Frau verstoßen: mit jener Unerbittlichkeit, die in der - bestürzenden - Härte Kara Ben Nemsis gegen die Köchin Pekala im Silberlöwen literarisch gespiegelt wird.4

   Die folgende Darstellung möchte Mays Trennung von Emma und seine Ehe mit Klara als menschlich verständlich, als (vielleicht) unvermeidbar erklären. Aber sie will die dunklen Details nicht beschönigen: May war, als gläubiger Christ, zugleich auch ein Sünder, ein Mensch mit größeren Fehlern, ein Mensch, der - wie alle - der Vergebung bedurfte.


10.4.1

Mays Ehedrama in der Sicht der Pollmer-Studie


Die Ehe unseres Autors mit Emma war, trotz (möglicherweise) glücklicher Zwischenzeiten, eine Tragödie. Vereinfachend brachte Fritz Maschke den Konflikt auf die Formel: Karl May, "ein überarbeiteter Neurotiker, Emma eine kränkelnde, in ihren Gefühlen durch den Mann und die Freundin [Klara Plöhn; H.W.] verletzte Frau, er zum Jähzorn, sie zur Hysterie neigend - sie mußten einfach oft die Beherrschung verlieren."5

   Einen tieferen Grund für die Trennung dürfte Hans Wollschläger richtig erkannt haben: Vielleicht hat der Dichter den "früheren Karl", den nach der Orientreise überwundenen


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Teil seines Ich, auf Emma 'überschrieben'6 und in ihr dann verabscheut. Er wollte "über trübe Gewässer" zu geistigen Ufern hinüber; doch seine Frau schien dazu nicht fähig oder nicht willens zu sein. Ähnlich wie der älter werdende Dichter Leo Tolstoi in seiner Gattin Sophia Andréjevna7 sah der 'vergeistigte' Karl May in Emma Pollmer eine erdverhaftete Person, "die weder schwimmen kann noch schwimmen will".8

   Wirklich harmonisch ist diese Ehe freilich von Anfang an nicht gewesen.9 In verschiedenen Welten lebten die beiden seit jeher. Auf die seelischen Bedürfnisse ihres Mannes konnte Emma nicht (oder zu wenig) eingehen, und seine späteren 'Himmelsgedanken' mußten sie erst recht überfordern. Mays Distanz zu Emma nahm zu und steigerte sich zur Phobie: "Ich rührte sie nicht mehr an. Ich vermied es, mit ihr allein zu sein, und schlief in einer abgelegenen Bodenkammer [...] Ich war fast zum Skelett abgemagert, konnte kaum noch gehen, und von der Arbeit war auch kaum noch die Rede [...]"10

   Mays nicht für die zeitgenössische Öffentlichkeit, sondern - wie er versichert - nur für sich selbst und seinen künftigen "Biographen"11 geschriebener, von der konkreten Entstehungssituation, von der besonderen Gemütsverfassung des Schriftstellers im ausgehenden Jahre 1907 her zu verstehender12 Nachlaß-Text Frau Pollmer, eine psychologische Studie (wir werden später auf diese Studie noch zu sprechen kommen) malt von Emma - rückblickend - ein geradezu diabolisches Bild: Nymphomanie, den 'bösen Blick', hypnotische Macht, megärischen Haß, den Willen zum "Gattenmord", die Lust, "sich an seinen Qualen zu weiden", ihn auszusaugen und "zur Leiche zu machen", dieses u.ä. glaubte May schaudernd in Emma zu entdecken: Sie war eine "Kreuzspinne", eine "für die geistige Menschheit Verlorene [...], die wie die Kanonenkugel des Bagnosträflings an meinen Füßen hing und mich [...] immer wieder auf das Gemeine niederzog."13

   Die Pollmer-Studie, die sich in der Selbstbiographie (1910) - in sehr gemilderter Form - partiell wiederfindet,14 zog den Verfasser in der Tat ins "Gemeine", ins Ordinäre hinab. Sie desavouiert nicht nur Emma; sie zeigt auch Karl May von seiner anderen, seiner unangenehmsten und befremdlichsten Seite: weil sie, über weite Strecken, von ungezügeltem Haß und blanker Empörung diktiert ist. May selbst spricht, am Schluß seiner Studie, von der "Häßlichkeit der subjectiven Züge" in diesem Text; und er mahnt seinen Biographen, diese Züge nicht allzu sehr "in den Vordergrund treten zu lassen".15

   Der Schriftsteller fühlte sich, dies zeigt die Studie überdeutlich, von Emma alleine gelassen. Er klagt in äußerster, für May (auch den alternden May) sonst keineswegs charakteristischer Bitterkeit:


Um das, was ich schrieb, kümmerte sie sich keinen Augenblick. Für den Dichter soll die Seele seiner Frau eine Quelle sein, aus der er täglich neue Gedanken, neue Kraft, neue Begeisterung, neues Glück und neuen Adel schöpft; hier aber war nur Jauche zu schöpfen, weiter nichts, weiter nichts!16


   Auch sexuelle Probleme, die "Pollmerschen Dämonen",17 dürften die Ehe mit Emma belastet haben. Seinen Büchern nach zu schließen war May in erotischen Dingen eher zurückhaltend. Die - angeblichen oder wirklichen - 'Seitensprünge' seiner Gattin (der objektive Wahrheitsgehalt der Pollmer-Studie ist nicht überprüfbar) duldete er: "weil er dadurch entlastet wurde und Ruhe bekam"!18 Emma hingegen suchte - laut Studie mit Männern genauso wie mit Frauen -


den ungestörten und unbeschränkten Genuß alles dessen, was ihr gefiel, besonders den geschlechtlichen, den sexuellen Verkehr mit allen seinen besonderen Finessen und Delikatessen. Es empörte sie, daß ich genau so, wie bei Tische, auch in dieser Beziehung nur für die einfache, gesunde Hausmannskost zu haben war und alle Farcen, Saucen, Ragouts und ähnliche Dinge haßte.19


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Abb. 17: Karl May, um 1905.


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Abb. 18: Karl May, 1911.



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   Der leidende Ehemann hatte seine Frau mitsamt den "perversen" Freundinnen belauscht und dabei, zu seiner Schande, gehört: Der "Scheißkerl" [...]


"muß fort! [...] Der treibt mich mit seiner albernen 'Menschenveredelung' noch zum Äußersten! Das dulde ich nicht! [...] Den mach ich noch so klein, daß man ihn gar nicht mehr sieht! [...] Erst lief der Kerl, wenn ich ihn ärgerte, in die Kneipe! Jetzt aber bleibt er daheim, sagt nichts und schließt sich ein! Er spielt den Heiligen; das paßt mir schlecht! [...] Er frißt fast gar nichts mehr. Das macht mir Spaß!"20


   May verweigerte die Nahrung - aus Angst, von Emma vergiftet und "geradezu in den Tod"21 geschickt zu werden! Diese Äußerung in der Studie wird dem psychischen Zustand des Schriftstellers im November 1907 entsprechen, also wohl eine nachträgliche Verzerrung des im Jahre 1902 wirklich Erlebten sein. Allerdings: auch wenn May übertreibt - daß er sich, 1902, wirklich verfolgt und existentiell, auch von Emma, tatsächlich bedroht fühlte, ist ihm zu glauben.

   May sah sich selbst als wehrloses Opfer. Nicht nur im Vokabular, auch in der Selbsteinschätzung des 'Ich' wirkt die Studie überraschend: In keinem May-Text, nicht einmal in Pax oder Friede, unterscheidet sich das erzählende Ich vom früheren Mr. Shatterhand bzw. Kara Ben Nemsi so fundamental und konträr wie hier in der Pollmer-Studie! Die Rolle des Helden wird vertauscht mit der Rolle des kläglichen Anti-Helden. May zeigt sich hier so timide, "so nackt und ohne sublime Verhüllungen in seiner ganzen menschlichen (und vermutlich männlichen) Unzulänglichkeit wie sonst nirgendwo"!22

   Während Old Shatterhand die Mächte des Bösen stets überwindet, stellt sich May in der Studie als den Schwachen, den Hilflosen dar: Er ist "wie Watte" in der Hand eines Magnetiseurs (des, möglicherweise fiktiven, Professors Hofrichter aus Dresden)!23 Und daß Emmas - angeblicher - 'Liebhaber' Max Welte24 ihn das "Strohmännle"25 genannt habe, gibt May ohne weiteres zu. Er kennt und referiert das böse Gerede: Karl May sei ein "Waschlappen, der von zwei Weibern [...] hin- und hergerungen wird"!26

   Der ehemalige 'Shatterhand' zittert vor Furcht. Es ist ihm "himmelangst" um sein Leben. Wie gesagt: daß er sich tatsächlich 'am Tode' gefühlt hat, ist nicht zu bezweifeln. Gleichwohl ist seine Selbstverkleinerung in der Studie, wie Heinz Stolte erklärt, in bestimmter Absicht erfolgt - nun doch wieder in echter May-Roman-Technik: "Schon scheint das Ende, der Tod des armen Anti-Helden, unvermeidlich, da endlich kommt ihm die Rettung"!27 Auf diese Lösung strebt die Studie von Anfang an zu: Eine Frau war das Unheil, und eine Frau wird den Dichter ins Leben zurückrufen. In letzter Sekunde erscheint - Klara Plöhn.

   Mit der zweiundzwanzig Jahre jüngeren Klara verstand sich der Schriftsteller seit langem recht gut. Emma hat, wie erwähnt,


nie in einem meiner Bücher gelesen. Der Zweck und Inhalt meiner Schriften war ihr ebenso unbekannt und gleichgültig wie meine Ziele und Ideale überhaupt. Frau Plöhn aber war begeisterte Leserin von mir und besaß ein sehr ernstes und tiefes Verständnis für all mein Hoffen, Wünschen und Wollen.28


   Klara wird 1902, nach dem Tode ihres Gatten Richard Plöhn, für May - laut Studie - "zur Lebensretterin" ohne die er - 1907 - "längst todt" gewesen wäre: Sie behandelt ihn "wie einen Sterbenden";29 sie wacht in Berlin (im Sommer 1902) über ihn "wie eine Tochter über ihren Vater, der ermordet werden soll";30 sie erbarmt sich seiner "im letzten Augenblicke" sie opfert sich auf "wie eine Pflegerin von Beruf, wie eine barmherzige Schwester"!31

   Apropos "Pflegerin": In Schakara, dem kurdischen Mädchen im Silberlöwen III/IV (1902/03), zeichnet May ein Bild Klara Plöhns:


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Da gab es neben mir ein leises, leises Rauschen wie von einem feinen, sich bewegenden Gewande. Zwei warme, weiche Frauenhände ergriffen meine Hand, und eine innig sprechende Altstimme betete [...] Dann gab es eine Berührung, als ob zwei Lippen sich auf diese meine Hand legten [...] Wer war es, der, vor mir knieend, um mein Leben gebetet hatte? [...] Da sah ich in ein liebes, ernstes, reines Frauengesicht [...] Die Augen waren dunkel und trotzdem doch so hell, so licht, so klar. Es ging von ihnen eine Wärme aus, welche auf mich überfloß.32


   Erotische Leidenschaft? Sexuelle Gelüste? Mitnichten. Laut Studie soll Emma behauptet haben, Karl sei im Hotel "mit einem lauten 'Hurrah'"33 zu Klara ins Bett gesprungen; mit Entsetzen weist May dies zurück: "Wir Beide! Ich, der ich so nahe am Tode stand, daß ich schon nicht mehr laut reden konnte, sondern nur noch [...] hauchte! Und die arme Frau Plöhn [...] Und Ehebruch!"34

   Unfreiwillig komisch wirken solche Stellen in dieser, insgesamt so schrecklichen, Studie. Aber dies wird wohl stimmen: Die 'Fleischeslust' war dem Dichter schon lange vergangen. In Mays Nachlaß-Konvolut Wüste (1902) liegen die geistige Liebe der 'Fakira' und die sinnliche Liebe der 'Schetana' miteinander im Streit. Fakira bittet: "Den Kuß gib mir, den nur die Seele gibt"! Schetana aber verlangt: "Gib mir den Kuß, der jener Glut entstammt, in welcher alle Lebenspulse kochen"!35 Mit Fakira (Klara), der zärtlichen Keuschheit, hält es der Autor; von Schetana (Emma), dem sexuellen Verlangen, will er nichts wissen. Wie Emma in einem Gerichtsprotokoll vom 14.12.1907 bezeugt, hatte May ihr - in München (1902) - noch gesagt: "Deinen Körper habe ich besessen, nicht Deine Seele, die muß ich haben, die lasse ich nicht."36

   Daß der alternde May prinzipiell manichäisch dachte, ist dennoch kaum anzunehmen. Dafür sind seine späten Romane, besonders Ardistan und Dschinnistan, denn doch zu leib- und materiefreudig.37 Aber die geistig-seelische und die leiblich-geschlechtliche Gattenliebe konnte der Sechzigjährige wohl nicht mehr vereinen.

   Auch Mays Beziehung zu Klara war, dies können wir dem Schriftsteller glauben, zunächst wohl rein seelischer Art. Der Pollmer-Studie nach zu schließen sah May, jedenfalls 1902/03, in Klara fast ausschließlich eine Art Krankenschwester:


Der erste und eigentliche Grund, daß wir die Ehe schlossen, war nur der, daß, wenn mir das Leben erhalten bleiben sollte, die Pflege eine so unausgesetzte und so aufopfernde sein mußte, wie sie eben nur in der Ehe möglich ist, außerhalb der Ehe aber den Klatsch und Tratsch der lieben Nächsten hervorzurufen pflegt. Also ist es wieder nur meine erste Frau allein gewesen, die mich direct zur Scheidung und hierauf indirect zur zweiten Ehe getrieben hat.38


10.4.2

Datierbare Fakten und dunkle Gerüchte


Der Gedanke an eine Ehe mit Klara lag May, wie er beteuert, bis zum Sommer 1902 noch gänzlich fern:


Frau Plöhn und ich! Uns heirathen! So oft ich an eine Scheidung gedacht hatte, war es stets mein erster und mein Hauptgedanke gewesen, nie wieder eine Frau, niemals! Am allerwenigsten [...] nun grad diese Frau und Wittwe, die ein volles Jahrzehnt lang die willenlose Schwester und Gehülfin meiner Bestie gewesen war!39


   In der Tat waren Klara und Emma bis 1902 sehr eng miteinander befreundet. Nach May war Klara das 'spiritistische Opfer' der Emma; sie hatte "in jahrelanger Hypnose an diesem dämonischen Ungeheuer gehangen".40 Ob May diese Verhältnisse richtig durchschaut hat, ist aber fraglich. Daß Klara beim Zustandekommen der Scheidung eine aktive, eine zwielichtige und intrigante Rolle gespielt, womöglich mit Hilfe von Geistergeschichten den Aberglauben Emmas benutzt und die Rivalin unter psychischen Druck gesetzt haben könnte, ist keineswegs auszuschließen.41


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   Karl May glaubte alles getan zu haben, um seine Ehe mit Emma zu retten. Noch im Juni 1900, gegen Ende der Orientreise, hatte er - trotz fortgeschrittener Entfremdung von seiner Frau - zwar kritische, aber doch versöhnliche, von größter Hoffnung getragene Verse auf Emma geschrieben.42 Und nach der Rückkehr aus dem Orient hatte er sein Testament beim Amtsgericht Dresden hinterlegt und Emma als Universalerbin eingesetzt.43 Noch im Pax-Roman (1901) ist eine, in der Friede-Fassung (1904) freilich getilgte, Huldigung an Emma enthalten.44 Erst in den Notizen und Gedichten des Jahres 1902, die sich in den Nachlaßmappen Weib, Wüste und anderen Fragmenttexten45 finden, wird Emma verteufelt. Aber auch und gerade diese Schriften lassen den - so zwiespältigen, so aussichtslos verquälten und äußerst problematischen - Verzweiflungskampf des Verfassers um den Bestand seiner Ehe noch deutlich erkennen: "Gib mir dein Herz! den Leib will ich nicht haben [...]"46

   An eine zweite Ehe wird auch Klara, bis zum Frühjahr oder Sommer 1902, kaum gedacht haben. Den Tod ihres Gatten (am 14. Februar 1901) hatte sie als schweren Verlust empfunden. In ihr Tagebuch schrieb sie im Januar 1902: "Das erste neue Jahr, ohne mein Liebstes. - Der einzige mich beseelende Wunsch ist Erlösung von der Erde, täglich bitte ich Gott darum."47

   Doch Klara lebte noch lange auf dieser Erde. Und der Tod Richard Plöhns hatte eine neue Konstellation geschaffen: Klara war frei, und May stand zwischen Emma und Klara.

   Um die Jahresmitte 1902 einigten sich Karl und Emma, Frau Plöhn als Sekretärin arbeiten zu lassen. Für ein Jahresgehalt von 3000 Mark sollte sie, unter dem Decknamen 'Emma May', die Leserbriefe beantworten.


Durch diese Tätigkeit aber, die schon etliche Wochen vorher unentgeltlich begann, kommen sich Karl und Klara immer näher, während sich im gleichen Tempo die Beziehungen zu Emma verschlechtern. In Klaras Tagebuch häufen sich klagende und böse Worte über diese 'herzlose, oberflächliche Frau [...]'48


   Klara Plöhn schrieb über Emma unter anderem: "In ihr lebt keine edle Regung [...] Ich glaube Emma legts darauf an Karl umzubringen [...]"49 Schwerste Beschuldigungen und - nach Christian Heermann - "regelrechte Haßtiraden"50 gegen Emma, die einstige Freundin, enthält Klaras Tagebuch im Jahre 1902.

   Natürlich wird Emma auf die jüngere Klara - die schon 1901, nach dem Tode Richard Plöhns, fast täglich in der 'Villa Shatterhand' zu Gast war - eifersüchtig geworden sein. Nicht ohne Grund! Denn Klaras, zweifellos echte, Trauer um den verstorbenen Gatten hinderte sie nicht, sich für die neuen Schaffenspläne Mays zu interessieren; es gelang ihr, in den Augen des Dichters "als literaturkundig, musikverständig und theaterbegeistert"51 zu erscheinen. Emma gelang dies nicht; sie gab sich - vermutlich - auch keine besondere Mühe in dieser Richtung. Dem Vergleich mit Klara hielt Emma, wie schon während der Orientreise, in der Sicht Karl Mays also nicht stand.

   Mit diesem und den anderen, schon genannten, Gründen allein wird der endgültige Bruch aber nicht zu erklären sein. Eine weitere Ursache kam hinzu: Emmas Verhalten im Münchmeyerprozeß (seit März 1902)! Die - nach Stolte - "zweifellos primitive und mit einem gerüttelten Maß von Dummheit geschlagene Frau"52 stand auf vertrautestem Fuß mit Pauline Münchmeyer, die dem Schriftsteller erheblich geschadet hatte.53 Auch im weiteren Verlauf der gerichtlichen Auseinandersetzung hat Emma dem früheren Gatten zwar kaum mit Absicht, aber - nach der Auffassung Stoltes - doch "objektiv schwer geschadet".54


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   Die konkreten Ereignisse, die der Ehescheidung unmittelbar vorausgingen, sind verdunkelt von Gerüchten und widersprüchlichen Aussagen der Beteiligten. Am 21. Juli 1902 traten die Mays und Frau Klara eine - mit widerlichen Szenen verbundene - 'Erholungsreise' an. Über Berlin und Hamburg (mit jeweils zwei Wochen Aufenthalt) ging es, für drei Tage, weiter nach Leipzig.55 Dort sollte Frau Beibler, die Mutter Klaras, zwischen Karl und Emma vermitteln. Zu diesem Zweck hatte Klara, nach der Aussage Mays, ihre Mutter nach Leipzig bestellt. Frau Beibler "sprach in herzlicher [...] Liebe" auf Emma, "das unglückselige Frauenzimmer ein. Sie versuchte, unsere Hände in einander zu legen - - - vergeblich!"56

   Klara notierte ins Tagebuch: "Es kommt zur Scheidung zwischen Beiden. Es ist das Beste so [...] Karl soll mich an seiner Seite finden, wenn er mich braucht und das werde ich Emma sofort sagen."57

   Von Leipzig aus ging die Reise weiter nach München (mit sechs Tagen Aufenthalt), dann nach Bozen und von dort hinauf zur Mendel, Grand Hotel Penegal. Dort soll Emma, ihrer späteren Aussage (am 14.12.1907 vor dem Landgericht Dresden) nach, spiritistisch erpreßt worden sein. Klara soll, wie May zu Emma gesagt habe, unter dem Einfluß der Verstorbenen mehrere Zeilen für Emma geschrieben haben. Die Geister hätten Emma befohlen: "Wenn Du jetzt nicht unseren Willen tust und das unterschreibst, was dir Karl vorlegt, dann wehe! wehe! wehe! [...]"58 Daraufhin habe Emma der Scheidung zugestimmt.

   Karl May und Frau Klara bestritten diese Version; behördliche Untersuchungen blieben ohne Ergebnis.59 Ob Klara tatsächlich die 'Geister' zitiert und May dies gewußt (oder gar inszeniert) hatte, ist nicht zu erforschen. Daß der gläubige Christ Karl May vor Gericht - in einer so ernsten und schwerwiegenden Sache - bewußt gelogen habe, ist aber doch zu bezweifeln.

   Wie May in der Pollmer-Studie erklärt, unterschrieb Emma (am 29. August 1902) "bereitwillig, nicht etwa gezwungen" daß sie "wegen gegenseitiger, unüberwindlicher Abneigung ein weiteres Zusammenleben" mit ihrem "bisherigen Ehemann [...] für vollständig unmöglich halte"60 und folglich in die Scheidung einwillige. Einen Tag später, am 30. August, reisten Karl und Klara ab, während Emma in Südtirol bleiben mußte.

   Am 10. September 1902 erhob May in Radebeul die Scheidungsklage; am 3. Oktober erreichte er eine einstweilige Verfügung auf Trennung. Fünf Tage später verreiste er mit Klara - über Linz, Salzburg und Bozen - nach Riva am Gardasee, wo die beiden am 14. Oktober ankamen und bis zum 15. Dezember verweilten.61 Während dieses Aufenthaltes in Riva entstanden die, autobiographisch besonders bedeutsamen, Anfangsteile des Silberlöwen IV (die im nächsten Kapitel zu interpretieren sind).

   Am 14. Januar 1903 wurde die Ehescheidung - in Abwesenheit Emmas, die erst Anfang März von Bozen zurückkehrte - ausgesprochen. Rechtskräftig wurde das Urteil am 4. März 1903: "Die Beklagte trägt die Schuld an der Scheidung und wird verurteilt, die Kosten des Rechtsstreits [...] zu tragen".62

   Das Gericht hatte dem Antrag Mays entsprochen und die Zeugenaussagen Klaras und ihrer Mutter - Frau Beibler - für glaubwürdig angesehen. Das Urteil stützte sich auf drei (später, in der Pollmer-Studie, von May breit ausgemalte) Vorwürfe: Hohe Geldsummen ihres Mannes habe Emma beiseitegeschafft; an May adressierte Geschäfts- und Privatbriefe habe sie vor ihrem Gatten versteckt; und sie habe ihn "jahrelang in der gehässigsten Weise behandelt und beschimpft".63


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   Emma also galt vor Gericht als die einzig und allein Schuldige. Freunde rieten ihr zur Anfechtung des Urteils, wozu sich Emma jedoch nicht entschließen konnte. Allerdings erstattete Louise Häußler, eine langjährige Freundin Emmas,64 am 9. Oktober 1903 bei der Staatsanwaltschaft Dresden Anzeige gegen Karl und Klara May wegen "betrügerischer Handlungen zur Ermöglichung der Ehescheidung".65 Emma aber verweigerte bei ihrer Vernehmung, am 3. November 1903, die Zeugenaussage: möglicherweise aus "Furcht, sonst die ihr zugedachte Rente nicht zu erhalten - und die Mays setzten jenen Vertrag tatsächlich erst nach Einstellung des damaligen Verfahrens in Kraft".66

   Da Emma also, aus welchen Gründen auch immer, nicht aussagen wollte, wurde das Ermittlungsverfahren gegen Karl und Klara May am 30. Dezember 1903 schließlich eingestellt. Erst später, nach etlichen Jahren, war Emma zur Aussage bereit und es kam zur erneuten, vom Gericht freilich ebenfalls zurückgewiesenen, Beschuldigung gegen die Mays.67

   Daß die Anzeige Frau Häußlers (der späteren Frau Achilles) der vollen Wahrheit entsprach, darf - wie schon oben vermerkt - zwar durchaus bezweifelt werden. Aber undurchsichtig und dunkel sind die Umstände und die Hintergründe, die zum Scheidungsurteil geführt hatten, doch. Ein, gelinde gesagt, recht unguter Beigeschmack haftet der ganzen Sache schon an.

   Ob May zuinnerst ein gutes Gewissen hatte, ist unklar. Daß er das Scheitern seiner Ehe nicht leicht nahm, sondern, im Gegenteil, dieses Thema ihn noch lange, bis zum Lebensende, bewegte, steht aber fest. Für Karl May war die Gattenliebe - eigentlich, ihrem Wesen nach - eine Bindung für immer: bis hinein in die Ewigkeit Gottes. Er neigte, wie es in der Selbstbiographie heißt, auch "sehr zu der katholischen Betrachtung der Ehe, daß diese ein Sakrament sei.68 Wenn ich nicht dieser Ansicht wäre, so hätte ich diesen Schritt" - der Trennung von Emma - "schon längst getan und nicht erst dann, als es meine Gesundheit, mein Leben und meine ganze innere und äußere Existenz zu retten galt."69

   Was die Details seiner Ehetragödie betrifft, mag Karl May, vor allem in der Pollmer-Studie, übertrieben haben.70 Emmas Charakter wird er in Einzelheiten, mehr oder weniger grob, verzeichnet und eigene Fehler - in Bezug auf Emma - wird er vermutlich zu wenig erkannt haben. Im Kern war seine Klage aber doch wohl berechtigt. Nach Claus Roxin trifft es mit hoher Wahrscheinlichkeit zu, daß die Fortdauer der Ehe mit Emma den Menschen Karl May "existentiell gefährdet hätte. Darin dürfte auch der Grund liegen, daß er die Trennung und Scheidung mit einer ihm sonst fremden Rücksichtslosigkeit durchsetzte."71


10.4.3

Mays Ehe mit Klara und das Schicksal 'Frau Pollmers'


Am 30. März 1903, sehr bald nach der Scheidung von Emma, hat der einundsechzigjährige May die neununddreißigjährige Klara standesamtlich geheiratet. Einen Tag später vollzog der lutherische Pfarrer in Radebeul, Karl Hingst, die kirchlichen Zeremonien.72 "Morgen früh 10 Uhr gehen wir still zur Kirche", heißt es in Klaras Tagebuch. Und weiter:


Der Trauung soll nur Mutter beiwohnen. Still und ernst, ohne Feier. Das furchtbare Leid, welches hinter uns liegt, verträgt noch keine Berührung durch Freunde. Mein ganzes Leben soll fortan meinem unendlich verehrten Manne geweiht sein. Ich will versuchen, seiner würdig zu werden [...]73


   Wenige Monate vor der Trauung, am 15. Dezember 1902, hatte May - noch in Riva - wohl doch seiner künftigen Frau Klara (und wohl kaum, wie Karl Serden meint,74 seiner


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bisherigen Frau Emma) die folgenden Verse - zwar nicht ausdrücklich, aber indirekt - gewidmet:


Komm, Liebling, komm, wir wollen scheiden gehen; / Die Erde hat es uns so leicht gemacht. / [...] / Die letzte Stunde naht, am Firmarnente / Wird Licht um Licht vom Vater aufgestellt, / Er ladet uns zur stillen Jahreswende, / Zum neuen Sein dort in der andern Welt, / Schau auf' Du sollst in meinen Sternen lesen, / Was in den deinen längst geschrieben lag. / Wir sind auf Erden nur verlobt gewesen; / Der Todestag ist unser Hochzeitstag!15


   Sonderbare Verse! Von Richard Wagners Tristan und Isolde könnten sie inspiriert sein.76 Sie enthalten, über die Todesphantasien des Autors hinaus, eine doppelte Voraussage, die buchstäblich eingetroffen ist. Karl May starb, auf den Tag genau, neun Jahre nach dem "Hochzeitstag": am 30. März 1912; und Klara starb zur "Jahreswende": am 31. Dezember 1944, kurz vor Mitternacht.77 Doch wichtiger als solche Daten sind die autobiographische Relevanz und die theologische Aussage, die Mays Verse enthalten: Was den Dichter mit Klara (und vielleicht, wer weiß, insgeheim auch mit Emma, von der er - innerlich - ja nie loskam) verbunden hat, war eine echte, tief seelische Beziehung, die über den leiblichen Tod hinausweist und die Teilhabe an der Ewigkeit Gottes erhofft.

   Das irdische Trauerspiel 'Karl May und Emma Pollmer' wirkt um so bestürzender. Während des Scheidungsprozesses hatte die Verstoßene ihrem Ehemann noch angeboten, als "Köchin" bei ihm zu wohnen, was dieser entrüstet von sich wies.78 Am 13. August 1903 untersagte er ihr, seinen Namen zu führen. Er nannte sie nur noch 'Frau Pollmer'. Einem Vertrag vom 3. November 1903 zufolge mußte sie mindestens hundert Kilometer von Dresden entfernt leben. Sie zog, im Alter von siebenundvierzig Jahren, nach Weimar und erhielt - laut Vereinbarung "auf Lebenszeit" - von May bzw. Frau Klara eine Jahresrente von 3000 Mark.79 Die vertraglichen Modalitäten der Rente hatte Klara, Ende Oktober 1903 und Anfang 1904, mit Emma geregelt.

   Dem ehemaligen Gatten blieb Emma vermutlich, in wehmütigen Erinnerungen, verbunden. Sie quälte sich selbst, kam öfter nach Dresden und kehrte - mit schriftlichen Liebeserklärungen80 - "immer wieder zu den lieben, beiden Alten, nämlich zu mir und zu Frau Plöhn, zurück, an denen sich ihre hypnotische und spiritistische Geschicklichkeit so lange Jahre bewährte und wohl auch noch weiter bewähren wird. So wenigstens denkt sie es sich!"81

   Emmas Annäherungsversuche legte der mißtrauische May in der Pollmer-Studie rein negativ aus: als "Teufelei" und "Morithat".82 Noch im Jahre 1909 soll sich May, nach der Aussage einer Freundin Emmas, "in der gehäßigsten Weise über seine frühere Frau ausgesprochen43 haben. Andrerseits wirkt, im Vergleich zu den Zornesausbrüchen der Studie, das Emma-Bild Mays in der Selbstbiographie Mein Leben und Streben (1910) und im Privatdruck An die 4. Strafkammer (1911) zwar auch nicht erfreulich, aber doch wesentlich behutsamer und gerechter.

   Der May-Forscher Hans-Dieter Steinmetz berichtet von einer Begegnung des Schriftstellers mit Emma im September 1911 und schließt seine Darstellung mit den Worten: "Es ist anzunehmen, daß May in den letzten Monaten vor seinem Tod von der negativen Charakterisierung seiner ersten Frau [...] Abstand nahm und Emma nicht mehr im Zerrspiegel der vergangenen Prozeßjahre sah."84 Eine Versöhnung Karls mit Emma im Herbst 1911 hielt auch der May-Biograph Fritz Maschke für durchaus wahrscheinlich.85 Der Dichter, der (auch und gerade in seinen letzten Erzählwerken) die Liebe und die Versöhnung so wunderbar predigte, wird noch rechtzeitig erkannt haben: Wirklichen Frieden,


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Erlösung durch Gott, konnte es für ihn nicht geben - ohne die eigene Umkehr und ohne ein gutes Wort auch für Emma.

   Diese selbst zeigte in einem späten Brief (30. Juli 1915) an Klara May die größte Bewunderung für den verstorbenen Dichter und dessen Werke, die sie jetzt wohl gelesen hatte: "Liebe Klara! [...] Die Menschheit wird noch mal froh sein und Gott danken, solche Bücher zu besitzen. - Ja, ja, Karl war ein Seher wie selten einer."86

   Was Klara betrifft, so hatte sie - nach Maschke - für Emma "nach deren Trennung von Karl May kein gutes Wort mehr übrig [...] 'Unsere Scheitana' war noch die mildeste Bezeichnung für ihre Vorgängerin in der Villa Shatterhand."87 Aber noch vor dem Tode des Schriftstellers dürfte sich die Beziehung zwischen den beiden Frauen doch entspannt und entscheidend verbessert haben. Der, in freundschaftlichem Tone gehaltene, Briefwechsel seit ca. 1911 jedenfalls legt diesen Schluß sehr nahe.88

   Nach mehrjähriger Krankheit starb Emma, entmündigt und geistig umnachtet, in einer Heilanstalt zu Arnsdorf in Sachsen. Im Alter von einundsechzig Jahren wurde sie, am 13. Dezember 1917, durch den Tod von ihren Leiden erlöst.89

   Zurück zu Karl und Klara May: Ihre Ehe verlief sehr harmonisch und glücklich. "Zwar war auch Klara", so Roxin, "eine schwierige Frau mit manchen problematischen Charakterzügen. Aber sie liebte und verehrte May, unterstützte ihn bedingungslos [...] und gab ihm die emotionale Geborgenheit, ohne die er die nächsten Jahre kaum hätte überleben können."90 Zu einem ähnlichen Urteil kam Hansotto Hatzig: Soviel auch "an Klaras Charakter auszusetzen wäre - besonders in späterer Zeit, lange nach Mays Tode - sie ist ihm doch (wie zuvor für Plöhn) eine ideale Ehegefährtin gewesen".91

   Für ihren Gatten war Klara eine gute Frau und eine engagierte Mitkämpferin in dessen Rechtsstreitigkeiten. Aber eine reine Lichtgestalt war Klara natürlich ebenso wenig, wie Emma eine Teufelin war. Sehr nüchtern meinte Kurt Langer: Mays zweite Frau "war berechnend, kleinlich und intrigant. Wahrscheinlich war Klara für Karl May nur das kleinere Übel, eben eine 'schwesterliche Helferin', die dem innerlich Einsamen mit Rat und Tat zur Seite stand, wenn auch [...] nicht immer mit glücklicher Hand."92

   Klara bot dem Ehemann keinen Widerstand. Sie war es, so May in der Pollmer-Studie, "überhaupt gewöhnt, keinen eigenen Willen zu haben".93 In diesem Punkt hat sich der Dichter freilich geirrt: Klara wußte sehr wohl, was sie wollte; und sie verstand es - wie sich zeigen wird - fast immer, ihren Willen auch durchzusetzen. Nur dem Gatten hat sie sich, in der Regel, wohl unterworfen. Eben dies war bedenklich: Nicht nur die guten, auch die schwierigen, die fragwürdigen Seiten ihres Mannes wird sie, durch kritiklose Zustimmung, noch gefordert haben.94

   Klara schirmte May ab gegen die Außenwelt95 und gegen alle, zum Teil ja berechtigte, Kritik. Sie sah ihren Mann mit den Augen der Liebe, die manchmal auch blind war. Aber auch May wollte seine Frau nur verklärt sehen. In Winnetou IV (1909/10) z. B. hat er, mit humoristischem Einschlag allerdings96 und mit Augenzwinkern vielleicht, sein "Herzle" (mit diesem Kosenamen schmückten sich Karl und Klara gegenseitig) idealisiert und verherrlicht.

   Verständlich ist dies alles sehr wohl. Denn May war, laut Selbstbiographie, nach der Heirat mit Klara "nicht mehr so fürchterlich allein", war menschlich geborgen und hatte nicht immer nur aus sich selbst, aus seiner eigenen Seele "herauszuschöpfen"!97 Er konnte nun Schwerstes ertragen:


//430//

weil ich keinen Augenblick lang an Gott und seiner Liebe zu zweifeln vermag und weil mir in dieser überschweren Zeit ein Wesen zur Seite gestanden hat, dessen tapfere, hochstrebende Seele mich wie auf Engelsflügeln über alles Leid erhob, dem ich verfallen sollte [...]98


   Das Leid, dem May verfallen sollte, war - primär - verursacht durch die Pressekampagne gegen den Schriftsteller. Auch das Scheitern seiner Ehe mit Emma wurde in diese Kampagne mit einbezogen. Dagegen verwahrte sich Karl May mit Recht:


Für jeden nur einigermaßen anständigen Menschen ist die Ehescheidung eine Angelegenheit von selbstverständlichster Diskretion. Die meinige aber hat man in den Zeitungen herumgetragen, mit den widerlichsten Randglossen versehen und zu den ungeheuerlichsten Verdächtigungen ausgenutzt.99


10.4.4

Exkurs: Die Witwe Klara May


Über die Ehescheidung und die Wiederheirat Karl Mays zu richten steht, außer Gott, letztlich niemandem zu. Eine Bemerkung, ein kritisches Wort noch zu Klaras Verhalten nach dem Tode des Dichters ist aber erforderlich.

   Frau Klara hat alles unternommen, was - ihrer Meinung nach - geeignet war, die Rehabilitierung des Schriftstellers in der Öffentlichkeit voranzubringen. Die Verteilung von Spenden an Künstler und Literaten, also das Anliegen der in Mays Testament genannten 'Karl-May-Stiftung', forcierte die Witwe "in einem Maße, wie es das Testament gar nicht verlangte, nicht zuletzt wohl mit der löblichen Absicht, dem Andenken an Karl May gute Dienste zu leisten."100

   Aber dasselbe Motiv verleitete Klara noch zu weiteren Aktionen, die aus heutiger Sicht sehr bedauerlich sind. Zum 'Sündenregister' Frau Klaras gehört unter anderem: Die Strafakten Mays und wichtige Dokumente aus dem Nachlaß des Dichters hat sie vernichtet.101 Was dies betrifft, hält sich der Schaden freilich in Grenzen. Denn wertvolle, für die biographische Forschung zureichende Quellen (Duplikate, Briefe, Pressestimmen, schon publizierte Aktenauszüge) blieben erhalten.

   Nicht erwiesen, aber doch sehr wahrscheinlich ist das folgende 'Delikt' Klara Mays: Aus der Bibliothek ihres verstorbenen Mannes dürfte sie Abenteuerliteratur - von Autoren wie Cooper, Möllhausen oder Gerstäcker - entfernt haben: Bücher, aus denen May nicht wenige Anregungen entnommen hatte. Ihr Beweggrund könnte gewesen sein: Die - von May selbst, wenn auch zögernd und manchmal inkonsequent, überwundene - 'Old Shatterhand-Legende' wollte Klara, in gemilderten Formen, neu aufleben lassen. Daß May seine exotischen Abenteuer nicht (von Möllhausen und ähnlichen Schriftstellern) 'entlehnt', sondern persönlich bestanden habe, wollte Klara den Lesern wohl glauben machen. Denn sie hat, und dies ist erwiesen, die Legendenbildung um May ja auch sonst, durch erfundene Stories, zu fördern versucht.102

   Doch schwerer wiegt eine andere 'Tat' Klara Mays: Bedeutende Eingriffe in das Werk ihres Mannes durch den Verleger E.A. Schmid und die Mitarbeiter des Karl-May-Verlags hat sie bedenkenlos unterstützt. Diese "Bearbeitungen, die Karl May selber nicht mehr vornehmen konnte, haben als einzig giltige Ausgabe letzter Hand, als editio ne varietur zu gelten"!103 So legte es Klara am 21. August 1930 fest.

   Der May-Forscher Jürgen Wehnert kommentiert:


Daß die Witwe eines Dichters, an dessen Texten sie keinerlei Anteil hat, einen Dritten und ungenannte Vierte dazu ermächtigt, auf dem Wege der Bearbeitung eine definitive Werkausgabe zu schaffen, ist freilich in der Literaturgeschichte ein wohl singulärer Fall, der im Widerspruch zu jeder wissenschaftlich begründbaren Editionspraxis steht.104


//431//

   Subjektiv ist Frau Klara und den Mitarbeitern des Karl-May-Verlags allerdings zuzugestehen: Sie glaubten, durch Text-'Verbesserungen' (die objektiv, für erwachsene Leser zumindest, in der Regel auf Verschlechterungen hinausliefen) dem Werk des Dichters einen wertvollen Dienst zu erweisen.105

   Klaras Plazet zu solchen Maßnahmen kann als Indiz für ihren literarischen Unverstand, aber nicht als Beleg für ihren 'schlechten Charakter' gewertet werden. Schlimmer freilich wird es im Falle des Friede-Romans. Diesen Band wollte Klara, 1938, im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie (die sie aber wohl nicht durchschaute) korrigieren!

   "Man könnte", so schlug sie vor, "in geschickter Weise auf die Ereignisse der letzten Tage eingehen und den Führer als idealen Friedensverkörperer berühren [...]" Das christliche Kreuz - in Mays Friede-Band ein zentrales Motiv - könne man "umformen [...] zum Sonnenrad, in dem das Kreuz schimmert und sich zum Hakenkreuz formt". Und alles, was der Roman über "Rassenmischung" enthalte, "muß fallen, [...] mögen die Leser sagen, was sie wollen, ich halte meinen Rücken hin!"106

   Zumindest als Torheit, als grandiose Dummheit, als ungeheures Ansinnen muß dieses Vorhaben der Witwe bezeichnet werden. Dr. Euchar Albrecht Schmid, dem ersten Leiter des Karl-May-Verlags, ist es zu danken, daß Klaras Plan nicht verwirklicht wurde.107

   Doch eine andere, womöglich noch schändlichere Idee Klara Mays kam tatsächlich zur Ausführung. Im Jahre 1942 sollte der hundertste Geburtstag des Schriftstellers gefeiert werden; auch eine Ehrung am Grabe war vorgesehen. Da Richard Plöhn, dessen Leichnam im selben Grabe bestattet lag, ein 'Halbjude' war, untersagten die Behörden alle Feierlichkeiten im Friedhof. Daraufhin setzte Klara es durch, daß die irdischen Überreste ihres ersten Ehemanns aus der Grabstätte entfernt wurden.108

   Durch Kriegsverordnungen waren, so Christian Heermann, "Exhumierungen 1942 schon nicht mehr erlaubt. Aber gute Beziehungen zu Dresdner Nazigrößen ermöglichten Klara May den makabren Akt. Die Feierstunde kam trotzdem nicht zustande."109

   Was Klara hier tat, war skandalös und nicht zu entschuldigen. Auch dann nicht, wenn man bedenkt: Ihr Motiv war, auch in diesem Falle, die Ehrung Karl Mays - eines Mannes, dem nichts so fremd war wie das Wesen des Nationalsozialismus.

   Klara war, vor allem im Alter, in mancher Hinsicht verblendet. Ein Recht, sie zu verurteilen, haben wir dennoch nicht. Die Tatsache bleibt: Karl May und Richard Plöhn hatten diese Frau verehrt und geliebt. Und ihren beiden Gatten hat sie viel Gutes getan.

   Ihren letzten Brief (am 6.10.1944 an eine Nichte Karl Mays) schloß Klara mit den Worten: "Irrtümer und Enttäuschungen brachte mir das Leben reichlich [...] Gott sei uns gnädig".110 Vergeblich wird diese Bitte nicht gewesen sein. Der "Gnadenhand" Gottes hat ja auch May, im Schlußband des Silberlöwen, vertraut. In diese Gnadenhand Gottes hat er alles und besonders den "Irrtum" gelegt.111


Anmerkungen


1Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXIX. Freiburg 1903, S. 14.
2Vgl. oben, S. 155ff. u. 201f. - Vgl. auch Kurt Langer: Die Frau aus der Heimat. Warum scheiterte Mays erste Ehe? In: MKMG 39 (1979), S. 5-7.
3Vgl. unten, S. 445 u. 642ff.
4Vgl. unten, S. 445.
5Fritz Maschke: Karl May und Emma Pollmer. Die Geschichte einer Ehe. Beiträge zur Karl-May-Forschung 3. Bamberg 1973, S. 98 - Zum Krankheitsbild Emmas vgl. ebd., S. 122f.


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6Vgl. Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 107.
7Vgl. Janko Lavrin: Lev Tolstoj in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1961, S. 129-146.
8Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 203.
9Vgl. oben, S. 157ff.
10Karl May in einer Gerichtseingabe; zit. nach Wollschläger: Karl May, wie Anm. 6, S. 107 - Ähnlich Karl May: Frau Pollmer - eine psychologische Studie. Prozeßschriften, Bd. 1. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 904.
11May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 939f.
12Nach Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 208-212, könnte die Pollmer-Studie auch noch etwas später - zwischen dem 15.12.1907 und Mitte Februar 1908 - entstanden sein. - Vgl. unten, S. 476.
13May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 849; vgl. ebd., S. 818, 844 u. 859.
14Insofern ist die Pollmer-Studie - in Mein Leben und Streben - tatsächlich "zu einer gedrängten [...] Figur" (May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 939) zusammengeschmolzen.
15May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 940 - Vgl. Hans Wollschläger: (Werkartikel zu) Frau Pollmer. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 552-557.
16May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 815f.
17Ebd., S. 859 u.ö.
18Ebd., S. 858.
19Ebd., S. 910f.
20Ebd., S. 911 f.
21Ebd., S. 901 u.ö.
22Heinz Stolte: Zur Einführung. In: May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. XI-XVI (S. XV).
23May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 843; zu 'Professor Hofrichter' vgl. Stoltes Anmerkung ebd., S. 957f.
24Max Welte war bis zum Lebensende des Dichters ein Freund des Ehepaars May; vgl. oben, S. 323.
25May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 859 u.ö.
26Ebd., S. 879.
27Heinz Stolte: "Frau Pollmer - eine psychologische Studie". Dokument aus dem Leben eines Gemarterten. In: JbKMG 1984, S. 11-27 (S. 25).
28May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 8, S. 243f. - Vgl. Walther Ilmer: Das Märchen als Wahrheit - die Wahrheit als Märchen. Aus Karl Mays 'Reise-Erinnerungen' an den erzgebirgischen Balkan. In: JbKMG 1984, S. 92-138 (S. 135, Anm. 57): "Es mag zutreffen, daß Emma keinen Zugang zu Mays Reiseerzählungen fand, auch seine Kolportage-Romane nicht las, eine sog. 'höhere Bildung' [...] nicht anstrebte; ihre Briefe verraten aber ein gutes Ausdrucksvermögen und eine erstaunliche Beherrschung der Rechtschreibung und der Satzlehre; hierin war sie Mays zweiter Frau Klara eindeutig überlegen."
29May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 921.
30Ebd., S. 919.
31Ebd., S. 908f.
32Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen III. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXVIII. Freiburg 1902, S. 263f.; zit. auch bei Stolte: "Frau Pollmer", wie Anm. 27, S, 26f.
33May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 926.
34Ebd., S. 921.
35Zit. nach Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft. Beiträge zur Karl-May-Forschung 2. Bamberg 1967, S. 48.
36Zit. nach Rudolf Lebius: Die Zeugen Karl May und Klara May. Ein Beitrag zur Kriminalgeschichte unserer Zeit. Berlin-Charlottenburg 1910, S. 51; zit. auch bei Hatzig, wie Anm. 35, S.46.
37Vgl. unten, S. 690f. u. 695f.
38May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 909.
39Ebd., S. 923.


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40Ebd., S. 922.
41Vgl. Stoltes Anmerkung ebd., S. 959 (Anm. zu ebd., S. 878f.).
42Wiedergegeben bei Maschke: Karl May, wie Anm. 5, S. 91 f.
43Vgl. Christian Heermann: Karl May, der Alte Dessauer und eine 'alte Dessauerin'. Dessau 1990, S. 101.
44Vgl. Karl May: Et in terra pax. In: China. Schilderungen aus Leben und Geschichte, Krieg und Sieg. Ein Denkmal den Streitern und der Weltpolitik. 3. Teil (l. Abschnitt). Hrsg. von Joseph Kürschner. Leipzig 1901; Reprint: Karl May: Et in terra pax und Und Friede auf Erden. Bamberg, Braunschweig 1976, Sp. 238f. - Nach der Auffassung Ilmers (Karl May, wie Anm. 12, S. 175) hat May bei dieser Huldigung aber - in Wirklichkeit - an Klara und nicht an Emma gedacht. - Vgl. hingegen Karl Serden: Am letzten Tag in Riva. In: MKMG 98 (1993), S. 9-12. - Vgl. unten, Anm. 74.
45Vgl. Max Finke: Aus Karl Mays literarischem Nachlaß. In: KMJB 1920. Radebeul 1919, S. 53-88; Fortsetzung in: KMJB 1921. Radebeul 1920, S. 16-40; KMJB 1922. Radebeul 1921, S. 28-54; KMJB 1923. Radebeul 1922, S. 17-35. - Dazu Christoph F. Lorenz: Die Edition der "Nachlaßmappen" Mays durch Max Finke. Ergebnisse einer Sichtung. In: MKMG 56 (1983), S.7-10.
46Aus Mays Schetana-Fragmenten; zit. nach Hatzig, wie Anm. 35, S. 46.
47Zit. nach Heermann: Dessauerin, wie Anm. 43, S. 101.
48Heermann: Ebd.
49Zit. nach ebd. (in zeichengetreuer Wiedergabe).
50Heermann: Ebd., S. 102.
51Ebd.
52Stolte in: May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 960 (Anm. zu ebd., S. 908ff.).
53Später hat May dies mit, zum Teil, schon böser (freilich nicht öffentlicher) Polemik quittiert. - Vgl. z.B. Karl May: Ein Schundverlag (1905). Ein Schundverlag und seine Helfershelfer (1909). Prozeßschriften, Bd. 2. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1982, S. 296, 301, 311 u. 315 - May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 808. - Dazu Gernot Kunze: Einführung. In: Karl May: Das Buch der Liebe. Dresden 1875/76. Reprint der Karl-May-Gesellschaft. Bd. II (Kommentarband). Hrsg. von Gernot Kunze. Regensburg 1988/89, S. 7-50 (S. 16).
54Stolte, wie Anm. 52.
55Vgl. Wollschläger: Karl May, wie Anm. 6, S. 120.
56May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 920.
57Zit. nach Heermann: Dessauerin, wie Anm. 43, S. 102.
58Zit. nach Lebius, wie Anm. 36, S. 55.
59Vgl. Hainer Plaul: Karl May, wie Anm. 8, S. 493ff. (Anm. 377-379).
60Der vollständige Wortlaut bei May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 935.
61Nach Wollschläger: Karl May, wie Anm. 6, S. 122.
62Zit. nach Plaul: Karl May, wie Anm. 8, S. 449 (Anm. 279).
63Zit. nach Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 15, S. 62-123 (S. 111) - Vgl. Rudolf Beissel: "Und ich halte Herrn May für einen Dichter ... ". Erinnerungen an Karl Mays letzten Prozeß in Berlin. In: JbKMG 1970, S. 11-46 (S. 37f.).
64Vgl. oben, S. 230.
65Zit. nach Plaul: Karl May, wie Anm. 8, S. 493 (Anm. 377).
66Plaul: Ebd., S. 493f. (Anm. 378).
67Vgl. unten, S. 531.
68Daß die Ehe theoretisch "eigentlich unauflöslich" (Ernst Seybold in einem Brief an den Verfasser) ist, entspricht auch der evangelisch-lutherischen Auffassung. Nach evangelischer Praxis und nach dem Recht auch der orthodoxen Kirchen kann die Ehe allerdings, unter bestimmten Voraussetzungen, geschieden und eine Zweitehe ermöglicht werden. - Vgl. Ernst Hammerschmidt: Grundriß der Konfessionskunde. Innsbruck, Wien, München 1955, S. 80: "Die orthodoxe Kirche hält die Ehe grundsätzlich für lösbar." - Vgl. Evangelischer Erwachsenenkatechismus. Kursbuch des Glaubens. Hrsg. von Hartmut v. Jetter u.a. im Auftrag der Katechismus-Kommission der Vereinigten Ev.-Luth. Kirche Deutschlands. Gütersloh 51989, S. 548: Die Ehe ist "ihrem Wesen nach unauflöslich [...] Menschen können den Willen Gottes in bezug auf die Ehe verfehlen, aber das bedeutet nicht, daß wir den Willen Gottes nicht mehr ernst zu nehmen brauchen [...]"
69May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 8, S. 252.


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70Vgl. Wollschläger: Werkartikel, wie Anm. 15, S. 556f.
71Roxin, wie Anm. 63, S. 111.
72Vgl. Gerhard Klußmeier - Hainer Plaul (Hrsg.): Karl May. Biographie in Dokumenten und Bildern. Hildesheim, New York 1978, S. 211.
73Zit. nach Heermann: Dessauerin, wie Anm. 43, S. 104.
74Serden, wie Anm. 44, S. 9-12, referiert die Untersuchungen Roland Schmids (vgl. unten, Anm. 75) und zieht aus der Entstehungszeit des Mayschen Gedichts sowie dem Umstand, daß die Widmung an Klara ("Karl für mich") natürlich nicht aus der Feder Mays, sondern Klaras stammt, die Folgerung, May habe das Gedicht in Wirklichkeit Emma gewidmet. Das Gedicht sei "ein Abschiednehmen von Emma" und insofern "das unverbrüchliche Treuewort einer tiefen Liebe" (ebd., S. 10): "der in Verse gefaßte Schmerz für eine (im Martyrium) aufgegebene Liebe" (ebd., S. 1l)! Serden hat gewiß darin recht, daß der Abschied von Emma für May mit einer sehr ernsten und langwierigen Trauerarbeit verbunden war. Und er könnte - hoffentlich - auch darin recht haben, daß "die Liebe zu Emma" (die mit zeitweiligen Haßgefühlen ja nicht schlechterdings unvereinbar sein mußte) nicht endgültig aus Mays "Herzen verdrängt" (ebd., S. 10) wurde; aber daß May in seinen Versen vom 15.12.1902 doch wohl an Klara gedacht hat, bleibt dennoch plausibler als die Theorie, er habe diese Verse an Emma gerichtet.
75Das Manuskript dieser Verse ist wiedergegeben bei Roland Schmid: Karl May an Klara May. Gedanken zur Entstehung eines Karl-May-Gedichts. Bamberg 1983 (nicht paginiert). - Die Fußnote des Herausgebers von Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 49 Lichte Höhen. Bamberg, 83. Tsd., S. 414 (wonach May diese Verse am 30.3.1903 Klara "ins Stammbuch geschrieben" habe), wird hier richtiggestellt: Das Gedicht ist am 15.12.1902 in Riva entstanden.
76Nach Schmid: Karl May an Klara May, wie Anm. 75.
77Nach Schmids Fußnote in Bd. 49, S. 414; vgl. oben, Anm. 75.
78Vgl. May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 930.
79Vgl. Plaul: Karl May, wie Anm. 8, S. 476 (Anm. 331).
80Nach May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 937ff.
81Ebd., S. 933.
82Ebd., S. 931.
83Aussage der Kammersängerin Selma vom Scheidt vor dem Amtsgericht Weimar; zit. nach Heermann: Dessauerin, wie Anm. 43, S. 109.
84Hans-Dieter Steinmetz: Ein Treffen in Radebeul. In: MKMG 54 (1982), S. 18-24 (S. 24).
85Vgl. Maschke: Karl May, wie Anm. 5, S. 119.
86Zit. nach ebd., S. 123.
87Fritz Maschke: Was Pauline Fehsenfeld nicht wissen konnte. In: MKMG 39 (1979), S. 11-14 (S. 14).
88Vgl. Maschke: Karl May, wie Anm. 5, S. 121ff. (zum Briefwechsel zwischen Klara und Emma nach dem Tode Mays); aber auch VOR 1912 gab es positive Briefe Klaras an Emma.
89Die Grabstelle wurde von Klara May bezahlt; vgl. Heermann: Dessauerin, wie Anm. 43, S. 116.
90Roxin, wie Anm. 63, S. 112.
91Hatzig, wie Anm. 35, S. 46 - Vgl. Christian Heermann: Der Mann, der Old Shatterhand war. Eine Karl-May-Biographie. Berlin 1988, S. 339.
92Langer, wie Anm. 2, S. 6 - Zu Klaras nicht immer sehr glücklichen Hand vgl. auch Heermann: Old Shatterhand, wie Anm. 91, S. 339 u.ö.
93May: Frau Pollmer, wie Anm. 10, S. 895.
94Vgl. Günter Scholdt: Vom armen alten May. Bemerkungen zu 'Winnetou IV' und der psychischen Verfassung seines Autors. In: JbKMG 1985, S. 102-151 (S. 133).
95Vgl. z.B. Gertrud Mehringer-Einsle: Zum Lebensweg meines Vaters Wilhelm Einsle. In: JbKMG 1991, S. 97-106 (S. 102f.).
96Vgl. Dieter Sudhoff: Karl Mays "Winnetou IV". Studien zur Thematik und Struktur. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 6. Ubstadt 1981, S. 26. - Vgl. auch unten, S. 566f.
97May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 8, S. 313.
98Ebd., S. 312.
99Ebd., S. 252.
100Heermann: Dessauerin, wie Anm. 43, S. 117.
101Die folgenden Ausführungen orientieren sich an Heermann: Ebd., S. 117-133.


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102Vgl. ebd., S. 120ff.
103Zit. nach Jürgen Wehnert: Der Text. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 15, S. 129-146 (S. 141).
104Wehnert: Ebd.
105Seit den 1970er Jahren konnten die ursprünglichen (oder zumindest manuskriptnahen) May-Texte der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemacht werden.
106Zit. nach Ekkehard Bartsch: 'Und Friede auf Erden!' Entstehung und Geschichte. In: JbKMG 1972/73, S. 93-122 (S. 115).
107Zu den tatsächlichen Friede-Bearbeitungen vgl. Bartsch: Ebd., S. 113ff.
108Auch den (1909 im Plöhn-Grabe beigesetzten) Sarg ihrer Mutter ließ Klara bei dieser Gelegenheit umbetten. - Vgl. Heermann: Dessauerin, wie Anm. 43, S. 130.
109Heermann: Ebd.
110Zit. nach ebd., S. 132.
111Vgl. May: Im Reiche des silbernen Löwen IV, wie Anm. 1, S. 343; dazu unten, S. 451f.



10.5

Im Reiche des silbernen Löwen III/IV (1902/03): Einer der eigenartigsten Schlüsselromane der deutschen Literatur


Mays Ehekrise, die Trennung von Emma und die Verbindung mit Klara, aber auch die Auseinandersetzung des Schriftstellers mit sich selbst und seinen literarischen Widersachern und überhaupt alle wichtigen Ereignisse seines Lebens, speziell in den Jahren 1899 bis 1903, spiegeln sich - mehrfach codiert, poetisch verdichtet und theologisch reflektiert - in den Schlußbänden des Silberlöwen: in einer so merkwürdigen Weise, daß dieses Werk zu Recht als einer der "eigenartigsten Schlüsselromane der deutschen Literatur"1 bezeichnet wurde.

   Emphatisch hat sich der Autor, in verschiedenen Dokumenten, über den Silberlöwen III/IV geäußert. Adele Einsle z. B. (der Mutter eines Münchner Gymnasiasten, mit dem Karl May seit Anfang 1903 sehr herzliche Briefe wechselte) teilte er am 21. Dezember 1902 mit: Dieser Roman "ist hochinteressant, weil er meine einzige Antwort an meine Feinde enthält!"2 Und drei Tage später schrieb er an Fehsenfeld:


Bemerken Sie, daß mit Band IV eine neue Aera angebrochen ist? Der bisher so schweigsame 'Silberlöwe' tritt endlich, endlich aus seiner Felsenverborgenheit hervor. Das drohende 'Rrrrad!' erklingt [...] Merken nun auch endlich Sie, wie Karl May gelesen werden muß? [...] Sie werden dann finden, daß Sie etwas ganz Anderes drucken ließen, als Sie glaubten! Unsere Bücher sind für Jahrhunderte bestimmt [...] [Sie] müssen selbst der Blindheit beide Augen öffnen. Also: MEINE ZEIT IST ENDLICH DA!3


10.5.1

Entstehung und Inhalt


Die zweifellos schwierige, wohl immer nur annäherungsweise mögliche Interpretation dieses rätselhaften, in seinen Hauptpartien heterogenen und dennoch "ästhetisch bedeutsamsten"4 Werks Karl Mays setzt die Kenntnis seiner biographischen Hintergründe und seiner Entstehungsgeschichte voraus. Die wichtigsten Werdephasen des Romans5 sollen im folgenden skizziert und der Inhalt der jeweiligen Textabschnitte soll, in knapper Zusammenfassung, charakterisiert werden.

   Ende Juli 1901 kündigte May dem Verleger Fehsenfeld die Schlußbände des Silberlöwen an.6 Das erste Kapitel des, 1902 zu Ende gebrachten, Silberlöwen III ist mit den 1898 verfaßten Manuskriptseiten identisch, die - nach der ursprünglichen Planung - die


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'Hausschatz'-Erzählung Am Turm zu Babel fortsetzen sollten7 und die sich May im Juni 1901 von Pustet zurückschicken ließ. Nur den Schluß (S. 58-66 der Fehsenfeld-Fassung) hat der Schriftsteller, im Frühjahr 1902, korrigiert und erweitert: Die, zu Beginn dieses ersten Buch-Kapitels eingeführte, Romanfigur David Lindsay, die May - angesichts seines neuen Gesamtkonzepts - wohl nicht mehr brauchen konnte, mußte verabschiedet werden. Auch den früheren Manuskript-Titel 'Der Löwe von Farsistan' änderte May: 'In Basra' heißt nun die Überschrift des einleitenden Buchkapitels.

   Der Grund, warum May diesen älteren Text überhaupt noch verwendete, kann nur vermutet werden:8 Einerseits wollte der Autor die Lesererwartung und das Dringen des Verlegers (auf spannende Handlung)9 nicht gänzlich unberücksichtigt lassen; und andrerseits wollte er die Kontinuität seines literarischen Schaffens (vor und nach der Orientreise) unter Beweis stellen. So und kaum anders wird es auch zu erklären sein, daß May sein neues Werk überhaupt als Fortsetzung des Silberlöwen präsentiert und nicht - wie in Pax/Friede - eine völlig neue, auf sämtliche Elemente des Abenteuers verzichtende Fabel geschaffen hatte.

   Die, noch vorwiegend abenteuerliche, Handlung des Silberlöwen I/II hat May - freilich nur vordergründig und alles andere als konsequent - in den Fortsetzungsbänden weitergeführt. Zumindest das (insgesamt eher leichte und heitere) Einführungskapitel des Silberlöwen III sollte die bisherige Lesergemeinde nicht von vorneherein abschrecken.

   Fürs Gesamtkonzept der Schlußbände förderlich war ja, immerhin, die Ortsbeschreibung des ersten Kapitels: "Jedem Leser von 'Tausend und eine Nacht' ist der Name Basra bekannt" (III, 1);10 zum Zeitpunkt der Erzählung freilich bietet der Märchenort "dem Auge des Besuchers nur die Zeichen des Verfalles; er steht auf versumpftem Grunde, welcher gefährliche Miasmen erzeugt." (III, 3) In Basra wurden, wie sich später herausstellt, der Ich-Erzähler Kara Ben Nemsi und das Alter ego Hadschi Halef mit Giftstoffen infiziert. Sie erkranken im Verlauf des weiteren Geschehens an Typhus.11 Das - schon in Die Todes-Karavane (1882) und dann wieder in Jenseits und Pax zentrale - Motiv der schweren Erkrankung, des Zustandes 'am Tode', wird im 'Basra'-Kapitel also doch vorbereitet. Insofern kann die Übernahme dieser Partie in den Silberlöwen III als plausibel und stimmig betrachtet werden.

   Das 'eigentliche Werk' allerdings, das mit dem Duktus des Silberlöwen I/II fast nichts mehr zu tun hat, beginnt erst jetzt: mit dem zweiten, schon im Titel - 'Ueber die Grenze' - beziehungsreichen Kapitel des Silberlöwen III (S. 67ff.).

   Im April 1902 erhielt Fehsenfelds Drucker, Felix Krais, den ersten Teil des neuen Manuskripts, dessen Niederschrift Karl May in der Nacht zum 9. Februar begonnen hatte.12 Unter dem Titel Am Tode. Reiseerzählung von Karl May wurde dieser Abschnitt, von Mitte Februar bis Ende April 1902, im Koblenzer 'Rhein- und Moselboten' - einer katholischen Zeitung - vorabgedruckt: durch Johann Dederle, den (mit May befreundeten) ehemaligen Redakteur der Dortmunder 'Tremonia'. Der Journal-Text entsprach dem zweiten Kapitel 'Ueber die Grenze' und einem Teil des dritten Kapitels 'Am Tode' in der künftigen Buchfassung des Silberlöwen III (S. 67-266).

   Die neue Partie wird eröffnet mit einem überraschenden, existentiell bedeutsamen und theologisch sehr hintersinnigen Dialog über das Sterben (III, 67ff.). Im übrigen wirkt dieser Romanteil, vordergründig, wie eine Reiseerzählung im früheren Stil. Nur - die Helden sind nicht mehr die alten! Kara Ben Nemsi und Halef, deren geistige Spannkraft durch die heraufziehende Krankheit bereits geschwächt ist, unterlaufen gröbere Fehler und erhebliche Unvorsichtigkeiten. Sie lassen sich, durch die List einer Nomadengruppe,


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ihrer Pferde, ihrer Waffen und eines Teils ihrer Kleider berauben. Zu Fuß und nur unzureichend bekleidet (im Unterhemd sozusagen) verfolgen sie die Täter. Unterwegs begegnen sie Nafar Ben Schuri, der sich als Scheik der Dinarun-Kurden ausgibt, in Wirklichkeit aber der Anführer der Räuber ist. Nafar hilft, in vorgetäuschter Freundlichkeit, Kara und Halef bei der Rückgewinnung ihres Eigentums. Sein Hintergedanke: er will die Helden - scheinbar - zu seinen Verbündeten machen, um die 'Geheimnisse' ihrer Pferde und Waffen kennenzulernen. Der Weg mit den 'Dinarun' führt die beiden - durch den mysteriösen, als Fakir verkleideten 'Pedehr' vor Nafar inzwischen gewarnten - Helden ins 'Tal des Sackes'. Nur der wagemutige Sprung über den Abgrund kann sie aus der 'Sackgasse' befreien und ins 'gelobte Land', ins Tal der Dschamikun, bringen.

   Gegenüber der Pax-Handlung (1901) wirkt Am Tode insofern zunächst wie ein Rückschritt, als manche Abenteuermotive aus dem Repertoire der früheren Werke Mays wieder auftauchen. Doch als Kunstwerk gesehen ist Am Tode dem Pax-Roman mindestens ebenbürtig. Denn die oberschichtige Fabel verschlüsselt, in oft mehrdeutigen Formulierungen, die aktuelle Situation Karl Mays, zum Beispiel dessen - zum Teil ja blamable - Fehde mit dem Kölner Bachem-Verlag13 und mit Hermann Cardauns.

   Symbolisch ist die ganze Romanpartie zu verstehen. Den zentralen Punkt bildet das 'Reiten' - nach Ulrich Schmid eine Metapher für die schriftstellerische Tätigkeit Mays: "Aus diesem grundlegenden Bauelement entwickelt sich eine Fülle von Gleichsetzungen, bis in die Details hinein, durch die die scheinbare 'Räubergeschichte' überlagert und letztlich strukturiert wird."14

   Die Erzählung enthält sehr zahlreiche, geschickt chiffrierte Anspielungen auf den Lebensweg des Autors: unter anderem auf seine Glaubenskämpfe, seinen literarischen Werdegang, seine Kolportageromane, seine Schaffenskrisen, seine Lesergemeinde, seine Kontrahenten, seine diversen Verleger und deren Umgang mit seinen Werken.15 Doch die genaue Entschlüsselung der Handlungsdetails und des Romanpersonals ist keineswegs einfach. Allzu simple Identifizierungen (etwa 'der Pedehr ist Fehsenfeld') wären verfehlt. Denn die Charaktere der Protagonisten sind "auf mehrere Bedeutungsebenen bezogen" und "aus unterschiedlichen Wirklichkeitssegmenten realer Personen" aus dem Umfeld des Autors zusammengesetzt. "Dieser Wechsel der Bezugsebene macht eine Deutung schwierig, zumal sich bei einzelnen Figuren die Funktion und damit auch ihre Kennzeichnung mit der fortschreitenden Handlung wandeln."16

   Nach Ulrich Schmid ist Am Tode die erste Erzählung Karl Mays, die eine symbolische Darstellungsweise eindeutig erkennen läßt.17 Gegen diese Auffassung wäre nun allerdings einzuwenden: Interessante Verschlüsselungen, auch wechselnde autobiographische Funktionen des Romanpersonals, finden wir schon im Jenseits-Band, aber auch schon im Silberlöwen I/II und überhaupt in sämtlichen früheren Reiseerzählungen Mays.18 Nur - so bewußt, so dicht und so konsequent allegorisch wie im Silberlöwen III dürfte May, darin haben Schmid und andere Interpreten wohl recht, im früheren Erzählwerk noch nicht geschrieben haben.

   Gleichzeitig mit dem Vorabdruck des Romanteils Am Tode im 'Rhein- und Moselboten' bereitete May die Buchfassung des Silberlöwen III für Fehsenfeld vor. Bis Anfang Juli 1902 waren der - den Journal-Text weiterführende - Rest des dritten Buchkapitels 'Am Tode' sowie das vierte Kapitel 'Ein Bluträcher' abgeschlossen. Wenig später wurde das Schlußkapitel 'Ahriman Mirza' fertiggestellt. Im August 1902 konnte der Silberlöwe III, als Band XXVIII der Freiburger Reihe, erscheinen.


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   "Mays körperliche und seelische Verfassung entsprach um diese Zeit ganz dem Zustand, den das Titelwort 'Am Tode' umschreibt"!19 Der öffentliche Streit um seine Person und die zerbrechende Ehe verdichteten sich zu einem privaten Dilemma, das den Schriftsteller 'krank' machen und mit dem 'Tode' unmittelbar konfrontieren mußte. Doch der Dichter resigniert keineswegs: Er schaut auf zu den Bergen, von denen die "Hilfe kommt" (III, 262; vgl. Psalm 121, 1). Die Texte des Silberlöwen III geben Aufschluß, wie sich May - im Wachtraum - die Rettung vorgestellt hatte!

   Im 'Sprung über die Vergangenheit' - eine schöne, äußerst dramatische, in rhythmischer Sprache abgefaßte Szene (III, 257f.) - erreichen Kara Ben Nemsi und Halef das Hochland der Dschamikun,20 eines Kurdenstammes, der (so hat es den Anschein) wie im Paradiese lebt und dessen Angehörige nichts als nur Liebe - zu Gott und den Menschen - kennen. Nach dem Sprung über die gähnende Felsenspalte brechen die todkranken Helden zusammen. Sie können sich selbst nicht mehr helfen. Doch die Hilfe kommt in der Gestalt des Ustad, des 'Meisters', des geistlichen Oberhauptes der Dschamikun. Der Ustad, ein ehrwürdiger, über alles Niedrige erhabener Greis, hält Rosen in seiner Hand. Auch der Pedehr, der 'Vater', das weltliche Haupt der Dschamikun, trägt anstelle der Waffen nur purpurblühende Schirasrosen21 im Gürtel. Sogar die Kühe und Ziegen der Dschamikun sind mit Blumensträußen geschmückt.

   Die Heilung scheint durch die Blumen zu kommen. "Könnte doch der Mensch so wie die Blume sein!" (III, 529) Der Ustad, der Pedehr, besonders aber die junge und hübsche Schakara sind 'wie die Blume': so gut, so schön und so rein. Die Hilfe für Kara Ben Nemsi kommt, vor allem, in der Gestalt Schakaras, eines fröhlich-natürlichen, sehr musikalischen und tief religiösen Kurdenmädchens, das ganz und gar 'Seele' ist. Die Genesung Karas und Halefs erfolgt - wie die Heilung Wallers in Pax bzw. in Friede22 - im Tiefschlaf, der die Kräfte des Unterbewußten zur Wirkung bringt. Schakara bewacht und behütet den Schlaf des Effendi. Rosen und Veilchen, der Duft dieser Blumen und zarte - der Seele (der Harfe des Mädchens) entlockte - Musik begünstigen, als Symbole der Harmonie, der weiblichen Liebe, der verlorenen und wiedergefundenen Poesie, die Heilung des Helden.

   Das wirklich Helfende, das endgültig Rettende freilich ist, im Silberlöwen und auch sonst in den Spätwerken unseres Autors, vor allem die Religion. Das fromme Gebet Schakaras (in den Schlußbänden des Silberlöwen wird überhaupt viel gebetet, gelobt und gedankt) erhebt die Herzen Kara Ben Nemsis und aller Bewohner des Dschamikunlagers zu Gott - ihrem Ursprung und ihrem Ziel.

   Der Silberlöwe III beschwört die Milde, die unendliche Güte, den Frieden mit Gott und der Schöpfung. Doch, vergleichbar mit dem Finale des Friede-Romans (1904), endet der dritte Band des Silberlöwen nicht mit der Ankunft des ewigen Friedens, sondern - mit dem Auftritt des Bösen, des Ahriman Mirza, dessen "von seltsamen dämonischen Lichtern durchfunkelte Rede [...] an Dostojewskis Großinquisitor erinnert."23 Ahriman, "der sich zwischen Geist und Seele drängt, um wo möglich beide zu vernichten" (III, 635), kündigt den Dschamikun - ihren Untergang an.

   Nach Beendigung seines Schaffens am Silberlöwen III trat May, am 21. Juli 1902, jene denkwürdige Reise an, die schließlich zur unwiderruflichen Trennung von Emma und zur endgültigen Bindung des Schriftstellers an Klara führte. Diese Reise und die anschließenden Turbulenzen erzwangen eine - vier Monate lange - Unterbrechung der Arbeit am Silberlöwen.


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   Nach Hansotto Hatzig hatte May im Sommer 1902 noch nicht gewußt, wie er den dritten Band fortsetzen werde.24 Zwischen den Bänden III und IV, aber auch innerhalb des vierten Bandes gibt es in der Tat sehr auffällige Brüche, besonders in der Charakterisierung des Romanpersonals. Vom Erzählfluß her gesehen mag dies bedauerlich sein. Der biographisch interessierte Leser aber wird speziell diese Brüche, als besondere Signale, beachten.

   Im Oktober 1902 fuhr May, wie oben schon dargestellt,25 mit Klara Plöhn erneut nach Südtirol und dann zum Gardasee. Dort, in Riva, begann er - "in direkter Konkurrenz"26 zu Nietzsches Zarathustra - Mitte November 1902 "in größter Frische und voller Lust"27 mit der Niederschrift der ersten Partien des Silberlöwen IV. Mitte Dezember 1902, mit der Abreise aus Riva, wurde die Arbeit am Silberlöwen ein weiteres Mal unterbrochen.

   Das in Riva, innerhalb von vier Wochen, entstandene Manuskript entspricht dem Großteil des ersten, besonders schwierigen und besonders wichtigen, Buchkapitels 'Im Grabe' (IV, 1-176). Weiter unten, bei der Besprechung der autobiographischen Leseebene, wird dieses Kapitel im Mittelpunkt unserer Betrachtungen stehen.

   Erst nach einer Pause von mehreren Monaten konnte May die Arbeit am Silberlöwen IV wieder aufgreifen. In der Zwischenzeit war er mit dem Münchmeyer-Prozeß, dem Scheidungsverfahren, der Heirat mit Klara und der Niederschrift der Novellen Sonnenscheinchen und Das Geldmännle28 beschäftigt. Weitere Manuskripttexte zum Silberlöwen lieferte May erst am 17. Juli 1903: die Buchseiten 177-376, also den Rest des ersten Kapitels und das zweite Kapitel 'Unter den Ruinen'. Der Autor "muß zu jener Zeit sehr konzentriert und in relativer Ruhe am 'Silberlöwen' gearbeitet haben, denn schon zwölf Tage später, am 29.7.1903, erhält Krais das gesamte dritte Kapitel"29 mit der Überschrift 'Vor dem Rennen'. Nach einer minimalen Verzögerung - kleine Ausflüge im August - schloß May am 10. September mit dem vierten Kapitel 'Zusammenbruch'. Zum 1. Oktober 1903 erschien das Buch, als Band XXIX der Fehsenfeld-Reihe, in Freiburg.

   In den Fortsetzungspartien des Silberlöwen stellt sich heraus: Die Mitglieder des Geheimbunds der 'Schatten' haben sich unbemerkt - mit Hilfe Pekalas, einer im Silberlöwen III noch sympathisch wirkenden, jetzt aber als 'Verräterin' entlarvten Köchin (Emma ist gemeint!) - in die Idylle der Dschamikun eingeschlichen. Die Vernichtung des Ustad war, mit tückischer Raffinesse, seit langem geplant. Der 'Meister', hier (wie nahezu stets) eine Ich-Projektion Karl Mays,30 fühlt sich gezwungen, seine 'Liebesduselei' zu überdenken und der Realität des Bösen entgegenzutreten. Er ruft seinen 'Kriegsminister', den Chodj-y-Dschuna. Der Einsicht kann sich der Ustad nicht mehr entziehen: Solange die Menschheit nicht den Frieden hält, "darf auch der Friedliche nicht auf die Wehr verzichten" (IV, 186)!

   Die Rüstungsmaßnahmen des Ustad und seines Ministers erweisen sich freilich als überflüssig. Denn das Ende für die - untereinander zerstrittenen - Feinde kommt von 'oben': Der "Fürst der Schatten" (der gottlose Ahriman) und seine pseudoreligiösen Verbündeten hatten sich eingenistet in der Tempelruine, der Residenz des Ustad; ein Naturereignis aber führt zum Einsturz dieser Ruine! Die Katastrophe enthüllt: Die Mächte der Finsternis brechen zusammen; und die 'Schatten' (der Vergangenheit) verlieren ihre Macht. Ihr wahres Geheimnis, ihr Innerstes gibt die Ruine nun preis - das vom "Fluch" erlöste "Gebet".

   Der Roman schließt mit den Worten Schakaras: "Und wenn das richtig ist, so habe ich den Berg gefunden, den ich suchte." - - - (IV, 644)

   Was meint Karl May? Was hat Schakara, was hat der Dichter 'gesucht' und 'gefunden'? Den Frieden mit Gott? Die Wiederherstellung des eigenen Ansehens in der Öffentlich-


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keit? Den Untergang aller Widersacher? Das verstehende Du eines liebenden Menschen? Das 'Hochland' der Literatur, der religiösen Symbolik, der christlichen Poesie, der prophetischen Dichtung?


10.5.2

Der ästhetische Wert und die literarische Bedeutung des Romans


Im Reiche des silbernen Löwen III/IV ist eine Selbstbespiegelung des Autors Karl May - in dieser Intensität ohne Parallele im Erzählwerk des Schriftstellers. Doch auch und gerade in diesem Roman erweist sich der Autobiograph, wie wir sehen werden, als Erzieher und 'Katechet', als christlicher Denker und theologischer Dichter.

   Der Silberlöwe III/IV ist, über die Selbstbetrachtung des Verfassers hinaus, eine religiöse Vision, eine biblische 'Predigt'. Aber die Ausleger hat das wohl eher befremdet. Denn die Tatsache, daß die Schlußbände des Silberlöwen bei sachkundigen Interpreten noch größere Anerkennung fanden als die anderen Schriften Mays, hat ihren Grund fast ausschließlich in der ästhetischen Form, im künstlerischen Rang dieser Erzählung. Neuere Textanalysen betonen zwar, im Prinzip, auch die inhaltliche Relevanz des Romans;31 aber die spezifisch theologische Botschaft des Silberlöwen wird oft übersehen und ignoriert.

   Die Bedeutung dieses Werks liegt im ästhetischen Wert, im psychodramatischen Kern, in der subtilen Verschlüsselungstechnik UND in der theologischen Aussagekraft. Was die ästhetischen Gesichtspunkte betrifft, kann - mit Claus Roxin - wohl gesagt werden: Die Bände III und IV des Silberlöwen sind "intellektuell, artistisch und sprachlich" die "bedeutendste literarische Leistung"32 Karl Mays. So vollendet wie Goethes Faust oder Nietzsches Zarathustra ist der Silberlöwe, künstlerisch gesehen, zwar nicht; aber zur großen Dichtung, zur Weltliteratur muß er gleichwohl gezählt werden.

   Es soll allerdings nicht vergessen werden: Mays Alterswerke im allgemeinen und der Silberlöwe im besonderen waren und sind, auch unter May-Freunden, keineswegs unumstritten.33 Die Spätwerks-Kritik meint - in der Regel - sogar vorwiegend den Silberlöwen III/IV. Wenn von der 'langweiligen', 'verschwommenen' oder 'mystizistischen' Schreibweise des alten May die Rede ist, so zielt dies nicht selten speziell auf die Schlußbände des Silberlöwen.34

   Das folgende Plädoyer für den Silberlöwen III/IV bezieht sich zunächst auf die künstlerische Qualität dieser Bände. Auf den Inhalt, die Botschaft, kommen wir später zurück.

   Während und nach der Orientreise hatte sich der kulturelle Horizont Karl Mays beträchtlich erweitert. Allein im ersten Halbjahr 1902 besuchte May, mit Klara und Emma, fast fünfzigmal das Dresdner Theater; er sah dort "nahezu das gesamte Repertoire [...], von der Klassik (Schiller, Kleist, Lessing, Goethe, Molière, Shakespeare) bis zur Moderne (Sudermann, Gerhart Hauptmann, Otto Ernst)."35 Die Theatererlebnisse, aber auch die Beschäftigung mit dem Werk Friedrich Nietzsches36 und die folgenreiche Begegnung mit der symbolistischen Kunst Sascha Schneiders37 kamen dem literarischen Schaffen Karl Mays sehr zugute.

   Der Silberlöwe III/IV ist das Werk eines Künstlers, der mächtig hinzugelernt hatte. Was zur artifiziellen Verschlüsselungstechnik in den Romankapiteln 'Ueber die Grenze' und 'Am Tode' schon ausgeführt wurde, trifft im wesentlichen auch zu für die Fortsetzungstexte. Darüber hinaus gewinnen diese späteren Partien - nach Ulrich Schmid -


eine neue Tiefenstruktur: während die Abenteuerhandlung gegenüber Am Tode an Gewicht verliert, fügen sich nun neue Bedeutungselemente in mehreren Schichten übereinander zu einer sym-


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bolischen Gestaltung, deren 'große Bilderrede' (Hans Wollschläger) zwar nicht im ganzen Werk konsequent durchgehalten wird, aber eine für May völlig neue Darstellungsintensität bezeichnet.38


   Der Kunstwerkcharakter besonders der Schlußteile des dritten und - mehr noch - der Hauptpartien des vierten Bandes zeigt sich primär in den Traumgesichten der Protagonisten, in den "Landschafts- und Architekturphantasien"39 des erzählenden Ich, in der grandiosen, oft wie magisch anmutenden Bilderflut, deren Faszination und Leuchtkraft später nur noch in einigen - 1903/04 - neu verfaßten Teilen des Friede-Romans und, mindestens ebenso großartig, in Ardistan und Dschinnistan (1907/09) erreicht wird.

   Der poetische Wert des Silberlöwen III/IV liegt vor allem in der "künstlerischen Stringenz"40 der Komposition: der Parabeln, Märchen und Träume,41 die mit der vordergründigen Fabel nahezu bruchlos verwoben sind. In virtuoser Manier sind die verschiedenen Erzählelemente und die unterschiedlichen Leseebenen miteinander verschränkt. Die äußere Handlung, der codierte biographische Hintergrund, die schwierigen Dialoge, die halbwachen Gesichte, die (dem Autor selbst vielleicht nicht immer bewußte) Symbolik,42 das Mysterienspiel von Licht und von Schatten, der Erlösungsentwurf des befreiten Gebetes, der eingestandenen Schuld und der verzeihenden Liebe - dies alles wird, unlösbar, zusammengebunden.

   Es gibt im Silberlöwen III/IV höchst seltsame, in der Literatur ganz rare43 Verknüpfungen. "Deren kompliziertes Ineinander zu verfolgen ist nicht nur für die Karl-May-Forschung, sondern auch für die Literaturwissenschaft überhaupt [...] von größtem Interesse."44

   Literarisch bedeutend ist dieses so vielschichtige Werk durch die Polyphonie, den hohen Schwierigkeitsgrad, die äußerst komplexe Struktur der ganzen Erzählung. Zu beachten ist die semantische Weite: die (mit absoluter Beliebigkeit freilich nicht zu verwechselnde) Mehrdeutigkeit einzelner Formulierungen und ganzer Passagen. Die Metaphern fließen! Auch die Personen verlieren, wie schon bemerkt, ihre Einlinigkeit. Sie "verwandeln sich, zerlegen sich in verschiedenste Modelle, um diese sogleich wieder zusammenzuraffen, oft auf kleinstem Raum, so daß, aus einigem Abstand besehen, der Eindruck förmlich eines vierdimensionalen Gebildes sich gewinnen läßt."45

   Merkwürdig und wohl eher mißglückt wirkt nun freilich der - zwar durchaus "oberflächliche, aber doch mit einer gewissen Beharrlichkeit durchgeführte"46 - Versuch Karl Mays, die Abenteuerhandlung des Silberlöwen I/II mit dem literarisch völlig anders gearteten Silberlöwen III/IV in Verbindung zu bringen. Gründe für diese Verknüpfungsstrategie wurden, mit Bezug auf das 'Basra'-Kapitel, schon oben genannt. Einen weiteren Grund hat Ulrich Schmid, im Blick auf die späteren Texte, erläutert:

   Angesichts "der hohen psychischen und physischen Anspannung beim Schreiben der 'Silberlöwen'-Fortsetzung" benötigte May gewisse "Ruhepausen",


in denen die Handlung wieder in gewohnten Bahnen funktionierte. Besonders deutlich ist diese Entspannungsfunktion der Abenteuerepisoden im ersten Kapitel des vierten Bands. Hier erfolgt die große Auseinandersetzung mit der eigenen schriftstellerischen und lebensgeschichtlichen Vergangenheit; die eruptiven, teilweise lyrisch gestalteten Schübe, in denen der Konflikt 'um die Wahrheit'47 [...] zu Tage tritt, werden durch Ereignisse unterbrochen,


die - damit der Schreiber, wie der Leser, gleichsam wieder atmen kann - "den Mustern von vor 1900 folgen und die Schmugglerhandlung der ersten beiden Bände aufgreifen (Entziffern von Geheimschriften, Ausbruch von Gefangenen, Schießerei etc.)."48

   Literarisch gesehen sind die Abenteuerszenen im Silberlöwen III/IV aber doch zu bedauern. Sie beeinträchtigen, zweifellos, die formale Geschlossenheit des Werkes.


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   Ansonsten aber ist der Roman, auch nach strengen Maßstäben, vorzüglich gelungen. Dies gilt, nicht zuletzt, auch für die sprachliche Form. Eine "überraschende Vielfalt der Schreibgesten und Darstellungsweisen"49 zeichnet die Bände III/IV des Silberlöwen aus: "Neben die schon vor 1900 verwendeten Jambenpassagen treten nun Reimketten und teilweise hymnische Partien, die auf sehr eigenwillige Weise die abendländischen Dichtungstraditionen verarbeiten.'50

   Die, auch stilistisch, neue Qualität seines literarischen Schaffens hat der Autor im Romantext selbst - in der Metapher vom 'Roß der Himmelsphantasie' - thematisiert:


"Das war das Roß der Himmelsphantasie, der treue Rappe mit der Funkenmähne, der keinen andern Menschen trug als seinen Herrn [...] Die Hufe warfen Zeit und Raum zurück; der dunkle Schweif strich die Vergangenheiten. Des Laufes Eile hob den Pfad nach oben [...] Dort flog die Mähne durch Kometenbahnen, und jedes Haar klang knisternd nach der Kraft, die von den höchsten aller Sonnen stammt und drum auch nur dem höchsten Können dient. Und thaten sich die Thore wieder auf, die niederwärts zur Erdenstunde führen, so tranken Roß und Reiter von dem Bronnen, der aus der Tiefe jenes Lebens quillt, und kehrten dann im Schein der Sterne wieder. Der Reiter hüllte leicht sich in den Silbermantel, den ihm der Mond um Brust und Schultern warf, und seiner Locken Reichtum wallte ihm vom Haupte. Des Rosses düstre Mähne aber wehte, im Winde flatternd wie zerfetzte Strophen, schwarz auf des Mantels dämmerlichten Grund. Und jene wunderbare Kraft von oben, die aus den höchsten aller Sonnen stammt, sprang in gedankenreichen Funkenschwärmen vom wallenden Behang des Wunderpferdes, hell leuchtend, auf des Dichters Locken über und knisterte versprühend in das All." (IV, 208f.)


   Das Ergebnis nachträglicher Textkorrekturen durch den Autor ist dieser Passus.51 Auch sonst hat der Dichter, im Gegensatz zur früheren Schreibweise, an der Handschrift des Silberlöwen III/IV immer wieder gefeilt und die Texte verbessert. Zahlreiche Textveränderungen sind anhand des Manuskripts zu belegen.52

   Wie man sieht - der künstlerischen Weiterentwicklung des Werks entsprach auch der neue Schreibprozeß Karl Mays. Seine Manuskripte hat der Autor weit intensiver bearbeitet, als dies früher, vor 1900, der Fall war. Zu tilgende Passagen überklebte er, zum Teil sogar mehrfach, mit neuem Text. Im Silberlöwen III/IV hat May ganze Manuskriptblätter ausgeschieden und durch neue Texte ersetzt. Bei der gedruckten Version des Romans handelt es sich also, in nicht wenigen Partien, bereits um Zweit- oder gar Drittfassungen.

   Durch die Textveränderungen hat der Roman, nach den Untersuchungsergebnissen Ulrich Schmids, an Qualität noch weiter gewonnen. Zum einen erreichte May, oft schon durch minimale Korrekturen, ästhetische Verfeinerungen: eine metrische Präzisierung, eine genauere Metaphorik, eine treffendere Semantik. Und zum andern hat der Schriftsteller, durch inhaltliche Veränderungen, dem Silberlöwen III/IV eine allgemeinere, über aktuelle literarische oder persönliche Kontroversen hinausweisende Bedeutung verliehen: durch Abschwächung oder - in manchen Fällen - Zurücknahme von allzu deutlichen Anspielungen oder Identifizierungen (etwa des Henkers Ghulam el Multasim mit Hermann Cardauns).53

   An den Schlußbänden des Silberlöwen hat May sehr sorgfältig gearbeitet. Interpreten wie Arno Schmidt oder Hans Wollschläger haben dies erkannt und entsprechend gewürdigt. Doch ihr Lob bezieht sich, wie oben schon angedeutet, beinahe exklusiv auf die literarische Formkraft des Silberlöwen. Der philosophische Inhalt und die religiöse Aussage dieses Romans aber wurden, von einigen Kritikern, nur belächelt. So lesen wir z.B. im Karl-May-Handbuch: Die diffus und emphatisch vorgetragene Botschaft des Silberlöwen III/IV könne "rasch als seicht-unbedarfte, mit spiritistischen Gedankengängen vermengte Reduktionsform christlicher Theologie zu einem Pathos der 'Liebe' charakterisiert" werden - "wie es bereits Arno Schmidt für das Weltbild Mays insgesamt besorgt hat".54


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   Der inhaltliche Wert des Romans wird in solchen und ähnlichen Verdikten unterschätzt und verkannt. Die literarische Bedeutung des Silberlöwen III/IV erschöpft sich eben nicht in der ästhetischen Form. Wichtig ist dieses Werk doch auch und vor allem aufgrund seiner Aussage.55 Gewiß, manche Passagen können als "verworren, uneinheitlich und unauslotbar wie ein Traum"56 empfunden werden. Auch wirken einige Stellen geschraubt und pathetisch, verquollen und sentimental. Unfreiwillige Komik, zum Spott verleitende Sätze finden sich allemal. Und das Religiöse wird mitunter dick aufgetragen. Aber im ganzen ist dieses Werk, gerade auch theologisch gesehen, sehr wohl geglückt.

   Die 'Weltanschauung' und die Anthropologie des alternden May scheinen gelegentlich esoterisch. Doch in den wesentlichen Punkten sind sie seriös im Sinne des biblischen Denkens und des christlichen Glaubens. Der Silberlöwe verkündet keine belanglose Privatreligion und keinen verblasenen oder gnostischen57 Mystizismus; nein, Mays Roman enthält eine profunde, mystagogische,58 das Geheimnis der Welt und des Menschen zutiefst berührende Theologie.

   Der Dichter schreibt, den Propheten verwandt, in gewaltigen Traumbildern. Wer den Silberlöwen studiert und dann die alttestamentlichen Psalmen und die Bergpredigt Jesu meditiert, kann entdecken: dieselben Themen, dieselbe Problematik, dieselbe Herausforderung.

   Die durchaus bedeutende, ideologiekritische und gewiß nicht okkulte Theologie des Silberlöwen III/IV verstehen und schätzen zu lernen, erfordert die Mühe des Überlegens. Aber das Nachdenken lohnt sich. Denn auch und speziell in diesem Roman wird deutlich: Was der Erzähler intuitiv 'sieht', stimmt mit den wichtigsten Aussagen gerade der besten, sensibelsten und die gängigen Denkschablonen hinterfragenden Theologen der Gegenwart überein.

   Diese These soll später59 belegt und erläutert werden. Zunächst aber sollen, entlang den Texten des Silberlöwen, die persönliche Lebenskrise und die religiöse Entwicklung des Verfassers interpretiert werden.


10.5.3

Die autobiographische Leseebene


Die autobiographische und die philosophisch-theologische Leseebene des Silberlöwen III/IV sind nur schwer voneinander zu lösen. Denn die Selbstdarstellung des Autors ist fast immer auch religiöse Botschaft, und die 'Weltanschauung' des Romans ist mit der Lebensgeschichte Karl Mays fast immer verknüpft. Doch die "Analyse kann nicht umhin, diese Ebenen in gewisser Willkürlichkeit zu trennen, um zu gültigen Deutungen zu kommen."60

   Mays Romane sind 'Lebensreise-Erzählungen'.61 Was der Dichter schreibt, "ist Wirklichkeit und Leben, ist niemals nur Erdachtes" (IV, 183). Besonders im Silberlöwen spiegeln sich - "halb unbewußt, dann immer kontrollierter"62 und, verglichen mit den früheren Erzählungen, "um ein Vielfaches"63 anspruchsvoller stilisiert - die Vergangenheit des Autors, seine aktuellen Erlebnisse, seine widersprüchlichen Stimmungen, vor allem auch die Ehekrise und die qualvolle, von - der christlichen Überzeugung Mays widerstrebenden - Haßgefühlen beeinflußte Auseinandersetzung mit seinen Gegnern.

   "Meine Zeit ist endlich da!"64 schrieb May an Fehsenfeld. Ja, seine Zeit ist gekommen, in doppelter Hinsicht: Der Übergang zur Hochliteratur ist vollzogen; und für Karl May ist - wie für Henrik Ibsen in dessen Bühnen-Alterswerk Wenn wir Toten erwachen (1899)65 - der 'Gerichtstag' gekommen. Denn die Schlußbände des Silberlöwen sind, so


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Roxin, "eine einzige große Abrechnung" des Verfassers, und zwar "nicht nur mit seinen Gegnern, sondern auch mit sich selbst."66

   Die autobiographische Ebene des Romans hat selbst wieder zwei Dimensionen:67 zum einen das Gesamtbiogramm des Dichters mit den ältesten Erinnerungen, die zurückverweisen in die Untergeschosse des Unbewußten; zum anderen die bewußte Selbstdarstellung des Autors, die Spiegelung der Jahre 1899 bis 1903.

   Das Hauptinteresse der folgenden Darstellung gilt dieser zweiten Schicht: dem neuen Bewußtsein des Schriftstellers zu Beginn seiner letzten Lebensdekade. Mays Suche nach dem eigenen Selbst und - damit verbunden - seine Beziehung zu Gott, sein Weg zur Nachfolge Christi sollen erhellt und gedeutet werden.

   Die mit den späten Reiseerzählungen einsetzende Selbstkritik des Verfassers erreicht im Silberlöwen IV ein hohes Niveau. In ihrer Strenge und Schonungslosigkeit übertrifft die Beichte des Ustad, des Maysters, noch die Selbstanalyse des Autors im Friede-Roman. Sie führt zur 'Auferstehung' des inneren Menschen, zumindest des Wunsch-Ichs des Dichters.

   Heftig und hart, übersteigert und unbeherrscht wirkt allerdings die Schlüsselpolemik gegen die Widersacher. Die Feindesliebe, die seine "Richtschnur" (IV, 195) ist, wird für May zum großen Problem.


10.5.3.1

Die Auseinandersetzung mit den Gegnern


Eine musikalische Familie [...] Für heut sind alle Freunde eingeladen [...] Die Instrumente sind bereit, schon wohlgestimmt [...] Dann tiefe Stille. Jetzt! Die Bogen berühren die Saiten. Die ersten Takte erklingen [...] Da wird die Thür aufgerissen. Ein Feind der Familie kommt lärmend herein, rücksichtslos störend (III, 534f.).


   In der Tat - die Ruhe, der Friede war dem Dichter verwehrt. Von "Furien" fühlt er sich verfolgt. Die Auseinandersetzung mit den feindlichen Kritikern, mit Mamroth, Cardauns u.a., stört sein Leben und stört auch sein Werk, den Silberlöwen III/IV.

   Im Traum, im Madentraum sieht der fiebernde Halef den Sihdi in größter Gefahr:


"Alle, alle brüllten und schrieen auf dich ein; du jedoch bliebst ohne Worte [...] sie sagten, du seiest der schlechteste Mensch auf Allahs Erde [...] Von den Feinden kam einer nach dem andern auf dich zu. Sobald er dich erreichte, verlor er seine menschliche Gestalt [...] Ich schrie, so oft ein Mensch zum Wurm, zur Made wurde und sich in deinen Körper bohrte. " (III, 488)


   Was hier - in Halefs Traum - aus dem Unterbewußten des Autors heraufsteigt, ist lähmende Angst. May will sie nicht akzeptieren. Der Wunschtraum des Dichters führt den Alptraum des Hadschi zum glücklichen Ende: "Die Würmer hatten einander schließlich selbst aufgefressen [...] Der Effendi aber stand so heiter und so rüstig da, als ob er gar nicht von ihnen berührt worden sei." (III, 632)

   Mit der Realität Karl Mays stimmt diese Romanszene freilich nicht überein. Der Wirklichkeit des Autors entsprach viel eher die Seelenverfassung des Ustad: Er war "gehetzt" von finsteren Schatten, "die ihn auch heut noch nicht verlassen haben!" (IV, 157)

   Welche Schatten verlassen ihn nicht? Zunächst die Gegner, die äußeren Feinde. Sie stellen ihn bloß. Sie rauben ihm seine Ehre. Sie lachen ihn aus und krümmen sich "vor Vergnügen" (III, 489).

   Und May? Sein Ideal ist die Nachsicht, die Liebe auch zu den Feinden. Denn er selbst ist ja Sünder, der Barmherzigkeit Gottes bedürftig. Er weiß es und sagt es ausdrücklich: Er will vergeben, damit auch ihm einst vergeben werde (IV, 89).


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   Zugleich denkt May an seine Vergangenheit, an seine Schuld, die er bereut und gesühnt hat. "Ich verzeihe gern, [...] weil auch mir verziehen wurde." (IV, 116) Er weiß, ihm IST schon vergeben. Deshalb muß auch er nun barmherzig sein (vgl. Mt 18, 23ff.).

   Mays Denken ist biblisch begründet; die Bergpredigt Jesu ist für ihn normativ (IV, 174). Und nicht nur das; er SUCHT die Bewährung: "Es stieg in mir das heiße Wünschen auf, doch einmal so sehr, so schwer, so bitter, so tief gekränkt zu werden, daß jeder, jeder Andere es nicht erdulden und nicht ertragen könnte." (III, 529)

   Der Kritiker könnte sagen: auch hier, im Religiösen, der Drang zum Heroischen! May möchte, wie er sich selbst versichert, die "Selbstlosigkeit" und das "Gottvertrauen" besitzen, zu schweigen und alle Schmach zu ertragen (ebd.)!

   Mit diesem Wunsch übernimmt er sich aber. Die verdrängte Aggression bricht an verschiedenen Textstellen durch.

   Tief verletzt haben ihn seine Gegner. Und gekränkt hat ihn die erste Ehefrau Emma. Er duldet es nicht, er kann es nicht dulden. Pekala-Emma, die zunächst so liebevoll gezeichnete Festjungfrau, dichtet er um zum dreisten "Gezücht" (IV, 228).

   Die Scheidung von Emma ist May sicher schwer gefallen. Er mußte sein Gewissen beruhigen und seinen Schritt vor sich selber verteidigen:68 "Weib, du bist verrückt! Es wohnt ein böser [...] Geist in dir" (IV, 27l)!

   An derartigen Mißklängen ist der Silberlöwe nicht arm. Kara Ben Nemsi ist grundsätzlich Menschenfreund. Er meint es gut; aber den Aschyk läßt er fesseln, "daß ihm die Schwarte knackt" (IV, 360). Die Absicht ist edel: Der Mann soll zur Einsicht, zur Reue gelangen. Aber Schakara, die 'Seele', erschrickt: "Wie streng du sein kannst, Effendi, wie unerbittlich kalt und streng! Das wußte ich noch nicht." (IV, 363)

   Mays Gegnern wird in der Fiktion des Romans ein häßliches Ende bereitet. Ahriman-Mamroth69 verfällt, wie Nietzsche, dem Wahnsinn. Und Ghulam-Cardauns wird nach "guter Dante-Sitte"70 in die "Hölle" (IV, 582) geworfen.

   Warum noch, im sonst so humanen Spätwerk, diese Härte und diese Grausamkeit? Man muß sie bedauern und doch auch verstehen: "Der Gemarterte hat keine andern Töne als die, welche ihm der Schmerz erpreßt." (IV, 24)

   Karl May ist ein Christ, aber angefochten in seiner Treue und erschüttert in seinem Herzen. Sein Kampf ist ein Kampf um die Liebe, ein Ringen mit Gott. Voller Zorn fragt der 'Meister' sein anderes Ich:


Ist Gott wirklich nur Liebe? [...] Und soll nur Gott allein das Böse bestrafen dürfen, nicht auch der Mensch, nicht ich? [...] 'Liebet eure Feinde!' klang es tief in mir [...] Ja, es ist Christi Gebot [...] und ich werde es halten" (IV, 178f.).


   Doch die Liebe, so meint der Ustad, kennt auch die Strenge. "'Ich werde ihnen - - -' '- - - die Faust zeigen!' unterbrach ich ihn. 'Nicht wahr, Ustad?'" (IV, 179)


10.5.3.2

Die Abrechnung Karl Mays mit sich selbst


"Wahnsinn ist's [...] daß Ihr den Schemen flucht, anstatt der eignen Torheit!" (IV, 336f.)

   Wer das Böse nur dauernd bei anderen sucht, wer sich selbst nur immer entlastet und die eigene Schuld nur immer beschönigt, ist menschlich nicht reif. Auch religiöse, auch fromme Menschen neigen bisweilen dazu, die Welt als böse zu betrachten und das eigene Versagen zu ignorieren.


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   Und Karl May? Bezichtigt er seine Gegner, um sich selber dann freizusprechen? Der Silberlöwe zeigt ein erstaunliches Maß an kritischer Selbstreflexion des Verfassers. May schont sich nicht.

   Mehrfach begegnet der Autor dem Leser: in Kara Ben Nemsi, im Ustad, in Halef, in Tifl, im Aschyk, in Ahriman und auch noch in weiteren Romangestalten.71 Theologisch relevant sind die Geständnisse Halefs, des Aschyk und vor allem des Ustad.

   Der Apostel Paulus kennt das 'Gesetz', daß in ihm das Böse lebe, obwohl er das Gute will. Er freut sich "dem inneren Menschen nach" über Gott. "Aber ich sehe ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das mit [...] meiner Vernunft im Streit liegt und mich gefangenhält im Gesetz der Sünde [...] Ich unglückseliger Mensch! Wer wird mich herausreißen aus diesem Leib des Todes?" (Röm 7, 21-24)

   Dieser Konflikt ist Hadschi Halefs Problem, das er - mit Verweis aufs Neue Testament - auch richtig erfaßt (III, 113): Das Gute in ihm nennt er den 'Halef', das Bombastische und Unbeherrschte den 'Hadschi'. Daß er auch für den Hadschi verantwortlich ist, das weiß er sehr wohl (III, 18 1).

   Auch Kara Ben Nemsi, das Ich-Ideal, erkennt die eigene Fragwürdigkeit. Die Nähe des Beit-y-Chodeh, des Gotteshauses, öffnet sein Herz (III, 625). "Ehrlich" und "offen" will er seine Schuld dem Ustad bekennen. Doch seine Beichte kommt über Andeutungen nicht hinaus.

   Merkwürdig: Das 'Beichtkind' wird plötzlich zum Ankläger und dann zum 'Beichtvater' des Ustad! Dieser und Kara Ben Nemsi tauschen die Rollen. Der Meister, der dem Erzvater Abraham gleichende "Mann von Erz" (IV, 157), wird "kleiner, [...] immer kleiner" (IV, 156)!

   Kara Ben Nemsi, das erzählende Ich, ist dem Ustad jetzt überlegen. Dieser Rollenwechsel "destruiert das ursprüngliche Konzept, ist aber einleuchtend erklärbar":72 Angesichts der gegnerischen Häme schien Karl May die unverhüllte Selbstanklage nicht ratsam; so zog er es vor, "die Beichte auf das geheime Ich, den Ustad, zu delegieren."73

   Der Ustad ist - laut (späterem) Selbstbekenntnis des Autors - "kein Anderer als Karl May"!74 Sein Glanz fällt ab: "Du armer, armer Ustad! Was hast du doch für irrige Begriffe ..." (IV, 70)

   Unter dem Aspekt der Selbstkritik des Autors ist das Nachtgespräch des Ustad mit Kara Ben Nemsi der "autobiographisch wichtigste" Abschnitt des Silberlöwen, dem "dringend eine eingehende Studie"75 zu widmen ist. Hier sind nur einige Hinweise möglich.

   Der Ort des Gesprächs, der 'Beichtstuhl', ist eine "Gruft" wie "das Studierzimmer eines europäischen Gelehrten" (IV, 2f.) - im Klartext: das Arbeitszimmer Karl Mays in der 'Villa Shatterhand'!76

   Rigoros und gewissenhaft will der Mayster sich prüfen. Hat er die nötige Distanz zu sich selbst? "Hältst du dich für einen unparteiischen Richter über dich?", fragt Kara Ben Nemsi den Ustad. "'Nein, aber du sollst mich richten.' 'Ich? Das ist unmöglich, denn ich liebe dich.' 'So wollen wir beide es vereinigt sein. Wir wollen einander beaufsichtigen, damit das Urteil ein gerechtes werde.'" (IV, 10)

   Die vollständige Selbsterkenntnis ist dem Menschen auf Erden verwehrt. Ins Herz sieht nur Gott: "Erprobe mich, Herr, und durchforsche mich!" (Ps 26, 2) Das "Selbstgespräch in Dialog-Verkleidung",77 die Beichte des Ustad vor dem eigenen Ich, kann die Wahrheit nur teilweise erfassen. Immerhin - wie Ignatius von Loyola lehrte, findet der Mensch die 'lenkende Gnade' Gottes durch das Hinhören auf sich selbst.78 Von diesem Ansatz her ist der Dialog des Ustad mit dem Effendi, dem anderen Ich, zu verstehen.


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   Karl May denkt nach über sich selbst. Und er erkennt: Seine Einstellung dem Feind gegenüber war unrealistisch; sie ist es, wie er spürt, auch noch jetzt: als Kara Ben Nemsi kann er nur "lachen" über die feindliche Presse; aber als Ustad schaut er gebannt in die Zeitungen (IV, 159ff.). Einerseits unterschätzt er die Gegner und verkleinert sie zum bloßen "Phantasma"; andrerseits läßt er sich, erregt, zum Eifer verleiten und wähnt im Gegner den Teufel, den "Erdengott" (IV, 85).

   Seine "bis zur gegenwärtigen Stunde" ihm "unbekannten Fehler" werden dem Mayster nach und nach klar: Er steht keineswegs "so hoch" über den "Feinden", wie er gemeint hat; er muß entdecken, daß auch er "nicht frei" ist "von Schmutz" (IV, 42f.).

   So neu ist diese Erkenntnis ja nicht. Daß er sich reinigen müsse vom "Erdenschmutz", hat May schon früher geschrieben.79 Aber der Kampf wird jetzt, im siebten Lebensjahrzehnt, erst richtig zu toben beginnen.

   Karl May sieht nun ein: er hat seine Fehler verteidigt, statt sich von ihnen zu lösen (IV, 87). Er hat sich "leider, leider" (IV, 42) gewehrt durch Gegen-Attacken und peinliches Selbstlob.80 Er weiß, das "alte Fleisch muß herunter!" (III, 489) Aber verliebt in sich selbst hat er den Kritikern "nicht erlaubt, reine Arbeit zu machen." (IV, 87)

   War die Kritik der Gegner in jeder Hinsicht verfehlt? Mamroth rügte die Shatterhand-Legende, die Auftritte Mays in der Öffentlichkeit. Indirekt, aber deutlichst gibt May ihm nun recht. Kara Ben Nemsi macht es dem Ustad, sein Gewissen macht es Karl May jetzt bewußt: Die Ruhmsucht ist seine "Freundin", seine Herrin gewesen (IV, 72)!

   "Wir Dichter sind alle gern ein Wenig berühmt."81 Bei May aber war es noch schlimmer; der Berühmtheit hat er seinen "Geist", seine "Seele" verschrieben. "Kennst du diese Art von Berühmtheit? Sie ist dämonischer Natur." Der Ustad gibt zu:


"Ich kenne sie [...] Welche Opfer habe ich ihr gebracht! Jedem Laffen hatte ich mich vor die Füße zu werfen und vor jedem hohlen Kopfe mich zu verbeugen! Jedem Narren mußte ich gefällig sein, [...] und wenn der Unverstand mich auch mit tausend Albernheiten plagte, ich hatte still zu halten nur um ihretwillen." (IV, 72)


   In der Tat: die dümmsten Fragen nach seinen 'Zaubergewehren', nach Halefs Alter, nach Bildern von Winnetou usw.82 hatte May zu beantworten! Um den Ruhm des 'Weltläufers' zu retten, durfte er "nicht so sprechen" wie er "wollte" (IV, 72)!

   Mays Shatterhand-Pose war krankhaft.83 Sie war aber, und darum geht es hier in der Beichte, auch schuldhaft. Denn die Ruhmsucht ist für May, wie er selbst erkennt, zum Götzen geworden.

   Ein Kernpunkt der May-Schelte war ferner die Predigtmanier, die 'heuchlerische Frömmelei' unseres Dichters. Er wies das zurück cum ira et studio. Aber wie heftig und wie heilsam gerade dieser Tadel den Schriftsteller beunruhigte, beweisen die Texte des Silberlöwen. Im Ustad "mußte alles [...] ins Wanken kommen, tief erschüttert werden [...], bis er deutlich sehe, wo eigentlich das wahre Christentum zu finden sei" (IV, 196).

   Zunächst ist die Rede des Maysters nur Abwehr und reine Verteidigung: Sein Glaube sei das Prinzip, das "Alpha" und das "Omega" seines Strebens gewesen (IV, 16). Allezeit, "in jeder Lebenslage" (IV, 195), habe er gebetet und der Weisheit Gottes vertraut. Die "ganze Christenheit, die volle Priesterschaft an ihrer Spitze" (IV, 88f.), so dünkt es den Ustad, müßte sich jetzt erheben, um ihn, den Musterchristen, zu schützen.

   Doch der Effendi läßt sich nicht täuschen. Er hält dem Ustad vor: Es war nicht "Gottes Geist", nach dessen Ruhm er suchen ging (IV, 17). May suchte, so sagt er sich selbst, nur das eigene Ich, den eigenen Glanz. "Du fandest ihn, den gleißnerischen, falschen. Man rief dir Hosiannah zu" (IV, 17)!


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   Seinen Doppelgänger trifft Kara Ben Nemsi an der empfindlichsten Stelle, im religiösen Sendungsbewußtsein. Er rezitiert "ironisch frömmelnd, möglichst salbungsvoll" ein Gedicht, das der Mayster mit seinem Herzblut verfaßt hat. "Höre zu! Du sollst die Fetzen fliegen sehen!" Der Ustad erschrickt: "Effendi, du vernichtest mich!" (IV, 173)

   Der Mann war stolz auf seinen "Leidensweg" (IV, 166). Als Christ hat er sich selbst bewundert und seine Erwählung genossen; aber Jesu Beispiel hat er nicht befolgt (IV, 17). Sein Christsein war nur Fassade. Mit dem äußeren Schein, mit den "Mantelfetzen des Erlösers" hat sich der Mayster begnügt. Das war Sünde und "das war lächerlich!" (IV, 173f.)

   Sind solche Zensuren, solche Selbstbezichtigungen des Autors nicht übertrieben und ungerecht? War der Christ Karl May nur ein Blender? Verdienen die religiöse Substanz und die ethische Grundtendenz auch seiner früheren Werke nicht Anerkennung? Durchaus; aber May will ja weiterkommen. Als theologischer Dichter, als Mensch und als Christ will er reifer werden.

   Das Nachtgespräch des Ustad mit Kara Ben Nemsi läßt keinen Zweifel: Karl May hat eine Gotteserfahrung gemacht. Den Anspruch, die Nähe und die Fremdheit Gottes hat er erfahren: "Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und meine Wege sind nicht eure Wege. So spricht der Herr!" (Jes 55, 8; IV, 3)

   Vor dem Angesicht dieses Gottes kann der Mensch, in seiner Selbstgerechtigkeit, nicht bestehen. Er muß, wie Adam, seine 'Nacktheit' (Gen 3, 7), seine Blöße erkennen. Dieser Erkenntnis, der Wahrheit über sich selbst, kann May nicht länger entfliehen.

   Seine Existenz, das Fundament seines Lebens und Strebens ist am Zerbrechen. Der Vergleich mit Hiob und anderen Symbol-Gestalten der Bibel liegt nahe. Der Schriftsteller selbst erwähnt den Propheten Elia in der Wüste von Beerscheba: Er "wünschte sich den Tod und sprach: Es genügt mir, Herr. Nimm meine Seele, denn ich bin nicht besser als meine Väter." (1 Kön 19, 4; III, 159)

   Ustad-May ist enttäuscht und verbittert: "Du hast alleinzustehen [...] in allertiefster Seeleneinsamkeit" (IV, 184f.)! Denn der 'Prophet' ist gescheitert. Als 'Lügner' ist der Weltläufer May ja entlarvt; und als 'Verderber der Jugend', als geschiedener und wiederverheirateter Ehemann ist er - in der Sicht mancher Gegner - verstoßen aus der "Gemeinschaft der Gläubigen" (IV, 196).84

   May weiß: schuld an seinem Unglück sind nicht nur die Feinde. Verantwortlich ist er selbst - wie jener verfolgte Prophet, wie jener "Mann des Streites und Zankes für alle Welt", wie jener Gekränkte, der "nicht mehr im Kreise der Fröhlichen sitzt", der "Strafe" verlangt für die "Feinde" und der beteuert und klagt: "Fürwahr, Jahwe, ich diente dir doch gut [...] Um deiner Hand willen sitze ich einsam da, denn mit Verwünschung hast du mich angefüllt. Warum dauert mein Schmerz denn ewig und warum ist meine Wunde unheilbar?"

   Jeremia heißt dieser Prophet. Wie der Ustad muß er sich sagen lassen: Er selbst ist schuldig geworden. Denn er hat "eitel" geredet von Gott. Erst wenn er umkehrt von seinem Weg, wenn er Neuland betritt und "Edles hervorbringt", wird er erneut und wahrhaftig Prophet, "Mund Gottes", sein dürfen (Jer 15, 10-21).85

   Auf diese Erfahrung muß May sich jetzt einlassen. Auf die Berühmtheit als Bestseller-Autor, als Renommee-Katholik und Old Shatterhand muß er verzichten (vgl. IV, 72). Und "zu thun" muß er beginnen, was Jesus verlangt hat: "Ein jeder nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!" (IV, 173)


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   Die Absolution wird dann nicht zu verweigern sein. Und der Engel wird, wie einst den Elia, auch May dann berühren: "Steh auf, und iß!" (1 Kön 19, 5; III, 159)


10.5.3.3

Die imitatio Christi


Der révision de vie, der Gewissenserforschung und dem Schuldbekenntnis, der Reue und der Vergebung hat die Umkehr, der neue Aufbruch zu folgen. Denn die Krise Karl Mays ist eine Glaubenserfahrung! Um dies zu verdeutlichen, muß - aus biblischer Sicht - das Wesen des Glaubens erläutert werden.

   Nach Freud und anderen Religionskritikern wird der Gottesgedanke aus dem kindlichen Verlangen nach Schutz geboren. An dieser These ist richtig: in der Sehnsucht nach Trost und in der Furcht vor Bestrafung erschöpft sich für viele die Religion.86 Für solche Menschen ist Gott nur der liebende Vater und der zürnende Richter, der Erfüllungsgehilfe ihrer Wünsche und die Projektion ihrer Befürchtungen.

   Doch der Glaube, wie ihn die Bibel beschreibt, ist etwas ganz anderes. Er setzt zwar Gottes Liebe und Gerechtigkeit immer voraus; vom infantilen 'Lustprinzip' und den Mechanismen der Angst will er aber gerade befreien.

   Die Grundstruktur des Glaubens ist das Vertrauen auf Gottes Verheißung. Nach dem Zeugnis des Alten und des Neuen Testaments87 zeigt sich diese Struktur modellhaft in Abraham, dem der Ustad gleicht (III, 274f.) und dessen Bedeutung als "wirklich Auserwählter" (III, 507) May ja besonders betont.

   Gottes Weisung mutet Abraham zu: "Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich [...] segnen [...] Ein Segen sollst du sein." (Gen 12, 1 f.)

   Abraham gehorcht diesem Ruf. Er gründet sein Leben auf Gott, und eben dies ist sein Glaube: ein Wagnis, ein Abenteuer! Der Mann aus Chaldäa hat nichts in der Hand; und Gottes Verheißung ist unbestimmt. Sie wird sehr lange nicht eingelöst. Im Gegenteil, Abraham wird aufs schwerste geprüft: "Nimm deinen Sohn, den einzigen, den du lieb hast, den Isaak, [...] und bringe ihn mir [...] zum Brandopfer dar." (Gen 22, 2)

   Eine genauere Exegese dieser Bibel-Passagen ist hier nicht möglich.88 Es genügt die Zusammenfassung: Glaube bedeutet die Preisgabe der Vergangenheit ("Zieh weg") und die Übergabe des Teuersten ("Nimm deinen Sohn") in die Hand eines zwar liebenden, aber oft hart und unbegreiflich erscheinenden Gottes, der den Menschen über seine Grenzen hinausführt.

   Daß dieser so groß geschilderte Glaube von Abraham selbst nicht ebenso groß verwirklicht wurde,89 bleibt allerdings festzuhalten. Das Schriftwort "Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben" (Mk 9, 24) gilt auch für Abraham. Doch das ändert nichts an der Feststellung: Nicht die Angst, sondern der Mut zum Verzicht - zum 'Loslassen' - liegt der Urgestalt des Glaubens zugrunde. Denn der Glaube hat, auch in Jesu Verständnis,90 den Exodus im Blick: den Auszug aus 'Ägypten', den Zug durch die 'Wüste', die Hingabe des ganzen Herzens an Gott, der den Menschen hinausruft ins Land der Verheißung.

   Vor diesem Hintergrund ist jene Szene des Silberlöwen zu verstehen, die zu Recht viele May-Kenner fasziniert und die, autobiographisch gesehen, von größter Bedeutung ist.

   Von einem "unbeschreiblich schweren" Weg spricht der Ustad, von der "Menschenfurcht und feigen Scheu", die einst ihn zwang, vor diesem Weg "zurückzubeben" (IV, 66). Doch plötzlich, in einer hochdramatischen Wende, ist der Meister wieder so stark wie bei der ersten Begegnung mit Kara Ben Nemsi: "Er stand hochaufgerichtet vor mir


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[...] So, ungefähr so muß das Gericht dem Menschen in die Augen schauen, wenn es einst von ihm sein früheres Leben fordert" (ebd.).

   Karl May muß sich stellen: "Du bist Old Shatterhand?" fragt der Ustad. "'Ich war es', antwortete ich ruhig, aber bestimmt [...] 'Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?' 'Ich war es', erwiderte ich abermals. 'Bist es nicht mehr? Beides nicht mehr?' [...] 'Beides nicht mehr!' nickte ich." (IV, 67)

   Der 'Tod', das Ende des früheren May - des Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi - ist literarisch hier dokumentiert. In des Ustads Rumpelkammer für "unbrauchbar gewordene Gegenstände" (IV, 64) liegen sein Eigentum, seine Rüstung, seine Wundergewehre. Ob er das alles verschenken wolle, fragt ihn der Ustad!

   Es "war eine große, eine hochbedeutende Frage, welcher ich da gegenüberstand." (IV, 69) Der Effendi zögert. Er denkt, merkwürdigerweise, an Ahriman Mirza. Ist Ahriman, ist Mamroth91 im Spiel? Soll May nur kapitulieren? Vor der Kritik am Shatterhand-Kult, am Super-Ich der Reiseerzählungen? Nein, seine Wandlung hat schon VOR der Pressekampagne begonnen.92 Er hat den Weg zu gehen, den er selbst sich "vorgezeichnet hatte" (IV, 69).

   Er verzichtet auf seinen Besitz. Er geht hinaus, ohne ihn "noch einmal anzusehen" (IV, 72). Er hört auf, zu sein, der er war. Denn die "Embleme meiner bisherigen Thätigkeit, sie sind - - - ich! Das Ich, welches ich war!" (IV, 70)

   Nachdem er im Herbst 1899 den "früheren Karl"93 ins Rote Meer geworfen und im Jahre 1902 die Negativ-Platten der Shatterhand-Photos in der Donau versenkt hat,94 gibt May auch im Silberlöwen seine "Vergangenheit" (IV, 180) auf. Er verläßt seine 'Heimat', das Genre des Abenteuerromans. Er widersagt den Shatterhand-Gesten. Er gehorcht dem Ruf, "ein völlig andrer" (IV, 69) zu werden. Er bricht auf ins neue Land der prophetischen Poesie, der religiösen Symboldichtung. Er widersteht der Versuchung, ins "fremd gewordene Land" der früheren Romane zurückzukehren; denn "wahrer Geist kennt nicht das Rückwärtsgehen." (IV, 180)

   Karl May macht eine Ostererfahrung: "Lazare, komm heraus!" (IV, 20) Wie Waller im Friede-Roman fühlt er "etwas unendlich Beglückendes! " (IV, 167) Er feiert - so könnten wir sagen - "mitten im Tag ein Fest der Auferstehung":95 Er geht "in ein anderes unendlich wertvolleres" (IV, 70) Leben über.

   Kara Ben Nemsi, Karl May ist, so scheint es, "befreit" (IV, 71). Er hat die Prüfung "bestanden" (IV, 153). Und - seine Gewehre bekommt er vom Ustad zurück. Denn seine Feinde setzen ihm, immer noch, zu. Das hehre Wort "Tritt völlig ungerüstet vor sie hin!" (IV, 66) wird nun doch nicht verwirklicht.

   Eine Wende zum Realismus? Oder eine Inkonsequenz, die Tadel verdient? Der 'Sprung über die Vergangenheit', im Roman so leicht "wie ein Gedanke" (III, 255), ist in der Realität Karl Mays ein schwerer Prozeß. May bleibt, mit Martin Luther gesprochen, ein 'Bettler vor Gott'. Der alte Adam rührt sich noch immer. Ein Grund zur Kritik und zum Hohn? "Ich bin ein Mensch. Ihr wollt das nicht begreifen, / Weil ihr wohl schon ganz übermenschlich seid." (IV, 160)

   May glaubt und vertraut. Er bleibt zwar, wie Abraham, ein Sünder auf seinem Weg zu Gott.96 Aber der Trend, die Richtung des Weges ist klar: hinauf zur höheren Kunst, zur vergebenden Liebe, zur imitatio Christi.

   Die Grundstruktur des Abraham-Glaubens erreicht im großen Traum97 Kara Ben Nemsis (IV, 314-352) eine mythologische und zugleich eine neutestamentliche Dimension. Der Held, das träumende Ich, wird zum 'Nachfolger Jesu'. Er geht zu denen, die in Fin-


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sternis sitzen und im Schatten des Todes (vgl. Lk 1, 79). Er widersteht den "Schatten",98 den Mächten der 'Unterwelt'. Er schenkt, wie Jona im Bauche des Fisches, dem Gebet vollen Glauben. Er springt ins scheinbare Nichts, in die eiskalte Flut zu verkalkten Gerippen. Er sieht das Mysterium: "Was ich da sah, das ward noch nie gesehen" (IV, 346)! Und er spricht mit den Toten. Er setzt ihrem Fluch den Segen entgegen. Er besitzt den "Schlüssel Hephata"99 und fährt die Erlösten hinaus in die Freiheit, dem Beit-y-Chodeh, dem Hause Gottes entgegen.

   Die Interpretation dieser Traumelemente gehört zur allgemein-weltanschaulichen, zur anthropologischen und, mehr noch, zur theologischen Deutung des Silberlöwen.100 Autobiographisch relevant ist aber natürlich die Frage: hielt May sich selbst für den "neuen Heiland",101 der das Böse besiegt? Der Gesamttext spricht gegen diese Auffassung: Mays Erlöser ist Christus (IV, 291ff.), dem er glaubt und dessen Ruf er nicht überhören will.

   Tiefenpsychologisch gesehen weist der Traum Kara Ben Nemsis zurück ins vorgeburtliche Sein.102 Das unterweltliche Totenhaus verschlüsselt, zudem, die Gefängnisse von Zwickau und Waldheim.103 Und über diese - 'archaischen' - Gesichtspunkte hinaus zeigt der Traum des Erzählers den Weg, den Karl May als den seinen erkennt: die imitatio Christi!

   Die Konsequenz des christlichen Glaubens ist die Nachfolge: das angenommene Kreuz (IV, 173), die Teilhabe am Weg und am Schicksal des Menschensohns.104 Jesus nachfolgen und sein Kreuz auf sich nehmen heißt: Gott und die Menschen lieben. SEIN Kreuz auf sich nehmen heißt aber zugleich: sich selbst bejahen (vgl. Mt 19, 19), positiv zu sich selber stehen, auch das "dunkle Kehrseitenbild" (IV, 75) der eigenen Seele erkennen und - dieses "Kehrseitenbild" integrieren.

   Welches "Kehrseitenbild" ist gemeint? Die Jung-Schülerin Marie-Louise von Franz bringt eine wichtige Unterscheidung: In der menschlichen Psyche gibt es ein wirkliches und nicht integrierbares Böses, "das sich der Sublimierung widersetzt und das hinausgeworfen werden muß".105 Es gibt aber auch kindische und entwicklungsfähige Schattenseiten der Seele, die zu verwandeln sind:


Wenn wir unsere eigene Gier, Eifersucht [...] usw. sehen könnten, dann könnten sie positiv genutzt werden, weil in solch destruktiven Emotionen viel Leben gespeichert ist, und wenn uns diese Energie zur Verfügung steht, kann sie für positive Ziele eingesetzt werden.106


   Zu dieser Einsicht kommt May im 'Traum'107 Kara Ben Nemsis. Der Traum befreit den Träumer vom Wahn, "der aller Welt den Schatten rauben will, weil er sich selbst für ohne Schatten hält." (IV, 350) Das "erlösend wahre Wort" vernimmt am Ende der Träumer aus dem Mund eines Zauberers: "Wer keinen Schatten wirft, der kann kein Wesen sein" (IV, 345).

   Der 'Schatten', der böse Zauberer, mit dem Kara Ben Nemsi gekämpft hat, entpuppt sich am Ende des Traumes als Werkzeug des Guten, als Vermittler des inneren Reifungsprozesses des Träumenden. "Wer mir verzeiht", erklärt der verwandelte Schatten, "hat nur sich selbst verziehen" (IV, 345)!

   Das erzählende Ich reflektiert seinen Traum. Seiner "Seele", dem Mädchen Schakara, vertraut Kara Ben Nemsi es an: "Der Schatten [...] rettet mich vor [...] meinen eignen Truggebilden, und Wahnsinn wäre es, wenn ich ihn hassen wollte." (IV, 355)

   Mays Kampf mit dem eigenen Schatten, sein Weg der Nachfolge Christi schließt die Selbstbejahung, die Annahme der eigenen Schattenseiten mit ein. Der Autor weiß nun: er darf sich selbst nicht hassen und das 'Dunkle' in sich nicht verfluchen. Er weiß: er darf auch Fehler begehen und er darf sich auch irren: "Gesegnet sei, wer nach der Wahrheit


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suchte / Und ihr zu Füßen auch den Irrtum fand. / Drum leg ich ihn, den ich bisher verfluchte, / Mein Gott und Herr, in deine Gnadenhand!" (IV, 343)


Anmerkungen


1Euchar Albrecht Schmid: Gestalt und Idee. In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 34 "Ich". Bamberg 361976, S. 353-408 (S. 399).
2Zit. nach Karl und Klara May: Briefwechsel mit Adele und Willy Einsle. In: JbKMG 1991, S. 11-96 (S. 15); daß der Silberlöwe Mays "einzige" Antwort an seine Gegner sei, trifft freilich nicht zu; vgl. oben, S. 395. - Zu Willy Einsle vgl. unten, S. 580f.
3Aus Mays Brief vom 24.12.1902 an Fehsenfeld; zit. nach Konrad Guenther: Karl May und sein Verleger. In: Karl May: Satan und Ischariot I. Freiburger Erstausgaben, Bd. XX. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1983, A 2-35 (20f.).
4Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 116.
5Mehr bei Hans Wollschläger: Erste Annäherung an den 'Silbernen Löwen'. Zur Symbolik und Entstehung. In: JbKMG 1979, S. 99-136 (S. 120-129) - Roland Schmid: Nachwort (zu Im Reiche des silbernen Löwen III/IV). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXVIII. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, N 2-12.
6Nach Ulrich Schmid: Das Werk Karl Mays 1895-1905. Erzählstrukturen und editorischer Befund. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 12. Ubstadt 1989, S. 196.
7Diese 100 Manuskriptseiten (zum Inhalt vgl. U. Schmid: Ebd., S. 200f.) sind - ebenso wie die Fortsetzungsmanuskripte - erhalten geblieben. - Vgl. oben, S. 351.
8Vgl. U. Schmid: Ebd., S. 197ff.
9Vgl. oben, S. 372.
10Die Seitenangaben in () beziehen sich auf Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen III und IV. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXVIII/XXIX. Freiburg 1902/03.
11Vgl. Martin Lowsky: Der kranke Effendi. Über das Motiv der Krankheit in Karl Mays Werk. In: JbKMG 1980, S. 78-96.
12Nach Wollschläger: Annäherung, wie Anm. 5, S. 125.
13Vgl. oben, S. 395.
14U. Schmid: Erzählstrukturen, wie Anm. 6, S. 211.
15Vgl. ebd., S. 212-216.
16Ebd., S. 211.
17Vgl. ebd., S. 210.
18Vgl. oben, S. 268ff.
19Wollschläger: Annäherung, wie Anm. 5, S. 125.
20Die Topographie des Tals der Dschamikun erinnert an die Landschaft des Mendelpasses. - Vgl. Dieter Sudhoff: Karl Mays Großer Traum. Erneute Annäherung an den 'Silbernen Löwen'. In: JbKMG 1988, S. 117-183 (S. 120).
21Die Rose ist im Silberlöwen und auch sonst bei May ein wichtiges Symbolmotiv. - Vgl. Hartmut Vollmer: Ins Rosenrote. Zur Rosensymbolik bei Karl May. In: JbKMG 1987, S. 20-46 (S. 37-42).
22Vgl. oben, S. 409.
23Joachim Kalka: (Werkartikel zu) Im Reiche des silbernen Löwen III/IV. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 288-301 (S. 291).
24Vgl. Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft. Beiträge zur Karl-May-Forschung 2. Bamberg 1967, S. 45.
25Vgl. oben, S. 426.
26Arno Schmidt: Abu Kital. Vom neuen Großmystiker (1958). In: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt/M. 1983, S. 45-74 (S. 65).
27Karl May in einem Brief vom 15.11.1902 an Felix Krais; zit. nach R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 5, N 7.
28Dazu unten, S. 456ff.
29R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 5, N 12.
30Vgl. unten, S. 446.


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31Vgl. Volker Krischel: Karl Mays "Schattenroman". Gesichtspunkte zu einer "WeltdeutungsDichtung". SKMG Nr. 37 (1982) - Ders.: "Wir wollen nicht Herren über euren Glauben sein, sondern Helfer zu eurer Freude". Anmerkungen zu Karl Mays Religionskritik im 'Silberlöwen III/IV'. In: Karl Mays "Im Reiche des silbernen Löwen". Hrsg. von Dieter Sudhoff u. Hartmut Vollmer. Paderborn 1993, S. 255-267. - Vgl. auch die Beiträge von Ulrich Melk, Wolfram Ellwanger, Jürgen Hahn und Franz Hofmann in: Ebd., S. 152ff., 170ff., 207ff. und 358ff. - Vgl. auch Christoph F. Lorenz: "Das ist der Baum EI Dscharanil". Gleichnisse, Märchen und Träume in Karl Mays 'Im Reiche des silbernen Löwen III und IV'. In: JbKMG 1984, S. 139-166 - Sudhoff: Erneute Annäherung, wie Anm. 20, S. 117-183 - Ders.: Morgengrauen im Menscheninnern. Bemerkungen zum Nachtgespräch in Karl Mays 'Silbernem Löwen'. In: JbKMG 1992, S. 199-217.
32Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 23, S. 62-123 (S. 115).
33Ernst Bloch z.B. schätzte Mays Spätwerk nicht. - Vgl. oben, S. 372f.
34So bezieht sich z.B. die Kritik Michael Zellers in 'Die Zeit' (vgl. oben, S. 373) speziell auf den Silberlöwen III/IV.
35Ekkehard Bartsch: "Die liebenswürdigste aller Musen". Karl May und das Theater. In: JbKMG 1985, S. 367-375 (S. 369).
36Vgl. Werner von Krenski: Friedrich Nietzsche - Karl May. In: KMJB 1925. Radebeul 1924, S. 198-237 - Wolfgang Wagner: Der Eklektizismus in Karl Mays Spätwerk. SKMG Nr. 16 (1979), S. 39-43. - "Mays Nietzsche-Rezeption wurde entscheidend von Sascha Schneider gefördert, der in manchen Vorstellungen Nietzsche sehr nah stand." (Sudhoff: Erneute Annäherung, wie Anm. 20, S. 181, Anm. 105) - May besaß bekanntlich von Nietzsche einen Band Gedichte und Sprüche und acht Bände der Gesammelten Werke sowie sechs Bände Sekundärliteratur über Nietzsche (Hinweis auch bei Schmidt: Abu Kital, wie Anm. 26, S. 64).
37Vgl. oben, S, 408.
38U. Schmid: Erzählstrukturen, wie Anm. 6, S. 217.
39Kalka, wie Anm. 23, S. 299.
40Hans Wollschläger: Das "Hohe Haus". Karl May und das Reich des Silbernen Löwen. In: JbKMG 1970, S. 118-133 (S. 132).
41Vgl. Lorenz, wie Anm. 31.
42Zu den Begriffen 'Symbolik', 'Allegorie' und 'Verschlüsselung' vgl. Wollschläger: Annäherung, wie Anm. 5, S. 99-112.
43Vgl. Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 117.
44Kalka, wie Anm. 23, S. 297.
45Wollschläger: Karl May, wie Anm. 43, S. 117 - Ebd., S. 117f., werden vier Leseebenen unterschieden: die Handlungsfläche, das Gesamtbiogramm Mays, die Bilderprojektion der Jahre 1900-03 und das psychodramatische Mysterienspiel.
46Kalka, wie Anm. 23, S. 294.
47Dies war der Titel des Schneider-Bildes, das May am 5.3.1902 gesehen hatte. - Vgl. oben, S. 408.
48U. Schmid: Erzählstrukturen, wie Anm. 6, S. 218.
49Ebd., S. 220.
50Ebd.
51Mehr bei Ulrich Schmid: Textkritik des Abenteuers - Abenteuer der Textkritik. Ein Versuch über Leben und Schreiben, über Kleben und Streichen. In: JbKMG 1988, S. 66-82.
52Die folgende Darstellung hält sich an U. Schmid: Erzählstrukturen, wie Anm. 6, S. 221-230.
53Vgl. ebd., S. 219.
54Kalka, wie Anm. 23, S. 298.
55Ansatzweise belegt bei Adolf Droop: Karl May. Eine Analyse seiner Reiseerzählungen. Cöln-Weiden 1909, S. 75-96 - E.A. Schmid, wie Anm. 1, S. 398-401 - Walter Schönthal: Christliche Religion und Weltreligionen in Karl Mays Leben und Werk. SKMG Nr. 5 (1976), S. 20ff. - Hartmut Wörner: Ezechiel 37, 1-4. Das Grundmotiv des "Großen Traums"? In: MKMG 51 (1982), S. 13-16 - Ders.: Der Großinquisitor im Reiche des silbernen Löwen. In: MKMG 54 (1982), S. 12ff. - Ernst Seybold: Aspekte christlichen Glaubens bei Karl May. SKMG Nr. 55 (1985), S. 41ff. - Vgl. auch die oben in Anm. 31 genannte Sekundärliteratur.
56Kalka, wie Anm. 23, S. 300.


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57Vgl. Klaus Jeziorkowski: Empor ins Licht. Gnostizismus und Licht-Symbolik in Deutschland um 1900. In: The Turn of the Century. German Literature and Art, 1890-1915 (ed. by Gerald Chapple and Hans H. Schulte). Bonn 1981, S. 171-196; zit. nach Lorenz, wie Anm. 31, S. 165 (Anm. 6). - Die 'Gnosis' ist ein so unklarer und vieldeutiger Begriff, daß er in der Diskussion um Mays Spätwerk besser vermieden würde. - Vgl. Karl Rahner: Gnosis. In: Herders theologisches Taschenlexikon, Bd. 3. Hrsg. von Karl Rahner. Freiburg, Basel, Wien 1972, S. 149-151.
58Zum Begriff der Mystagogie als Einführung in die religiöse Gnadenerfahrung vgl. Karl Rahner: Atheismus und implizites Christentum. In: Ders.: Schriften zur Theologie VIII. Einsiedeln, Zürich, Köln 1967, S. 187-212 (S. 205). - Vgl. oben, S. 275.
59Vgl. unten, S. 634ff.
60Sudhoff: Erneute Annäherung, wie Anm. 20, S. 129.
61Die folgenden Ausführungen entsprechen, nahezu textgleich, Hermann Wohlgschaft: "Was ich da sah, das ward noch nie gesehen". Zur Theologie des Silberlöwen III/IV. In: JbKMG 1990, S. 213-264 (S. 215-226).
62Wollschläger: Karl May, wie Anm. 43, S. 117.
63Kalka, wie Anm. 23, S. 289.
64Aus Mays Brief vom 24.12.1902 an Fehsenfeld, wie oben, Anm. 3.
65Autobiographisch hält Ibsen in seinem letzten Werk Wenn wir Toten erwachen (Uraufführung am 16.12.1899 in London) 'Gerichtstag' über sich selbst. In langen Gesprächen wird gerungen um die größten Probleme, um Kunst und Leben, um Tod und Auferstehung, um Schuld und Vergebung, um Lüge und Selbstbetrug. Im Mittelpunkt steht ein alt und berühmt gewordener, aber doch sehr unzufriedener Künstler sowie dessen Gattin, die sich wenig für Kunst und noch weniger für ihren Mann interessiert. - Daß May dieses Ibsen-Werk vor oder während der Entstehungszeit des Silberlöwen IV gesehen hat, ist nicht anzunehmen, da sich in Klara Mays Tagebuch (das wohl sämtliche Theaterbesuche Karl Mays in der Zeit um 1902/03 und auch später registriert) kein entsprechender Hinweis findet; und in Mays Bibliothek war Ibsen überhaupt nicht vertreten. Aber daß May eine Besprechung von Wenn wir Toten erwachen gelesen und dieser Lektüre die eine oder andere Anregung zur Gestaltung des großen Nachtgesprächs im Silberlöwen IV entnommen haben könnte, wäre ja denkbar.
66Claus Roxin: Zwischen Ardistan und Dschinnistan. In: Karl May - der sächsische Phantast. Studien zu Leben und Werk. Hrsg. von Harald Eggebrecht. Frankfurt/M. 1987, S. 13-28 (S. 24).
67Nach Wollschläger: Karl May, wie Anm. 43, S. 118.
68So Ernst Seybold in einem Brief vom 4.2.1988 an den Verfasser.
69Zur Verschlüsselung Mamroths und Cardauns' in Ahriman bzw. Ghulam el Multasim vgl. Franz Cornaro: Karl Muth, Karl May und dessen Schlüsselpolemik. In: JbKMG 1975, S. 200-219 (S. 208f.).
70Schmidt: Abu Kital, wie Anm. 26, S. 60.
71Vgl. Gernot Grumbach: Das Alterswerk Karl Mays. Ausdruck einer persönlichen Krise. SKMG Nr. 32 (1981), S. 37f.
72Sudhoff: Erneute Annäherung, wie Anm. 20, S. 131.
73Ebd., S. 132.
74Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 210 - Auch aus dem Text des Silberlöwen geht die Gleichung Ustad = May ziemlich klar hervor.
75Sudhoff: Erneute Annäherung, wie Anm. 20, S. 132 - Sudhoff selbst hat eine solche Spezial-Studie mittlerweile publiziert: Sudhoff: Morgengrauen im Menscheninnern, wie Anm. 31.
76Vgl. Wollschläger: Karl May, wie Anm. 43, S. 117.
77Lorenz, wie Anm. 31, S. 145.
78Dazu Helmut Stich: Kernstrukturen menschlicher Begegnung. München 1977, S. 63f. - Zum neuzeitlich-subjektiven Denkansatz des Ignatius von Loyola vgl. Karl Rahner: Moderne Frömmigkeit und Exerzitienerfahrung. In: Ders.: Schriften zur Theologie XII. Zürich, Einsiedeln, Köln 1975, S. 173-197.
79Vgl. Karl May: Am Jenseits. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXV. Freiburg 1899, S. 454.
80Mit Reue denkt der Dichter vermutlich an seine Abwehr-Schrift "Karl May als Erzieher" und "Die Wahrheit über Karl May" oder Die Gegner Karl Mays in ihrem eigenen Lichte. Von einem dankbaren May-Leser (Freiburg 1902). - Vgl. oben, S. 395.


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81Karl May: Deutsche Herzen - Deutsche Helden. Bamberg 1976 (Reprint der Dresdner Erstausgabe von 1885-87), S. 1959.
82Vgl. Karl May: Briefe an das bayerische Königshaus. In: JbKMG 1983, S. 76-122 (S. 76ff.). - Vgl. oben, S. 321ff.
83Vgl. oben, S. 330f.
84Vgl. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 74, S. 252 u. 313.
85Zur Interpretation dieser Jeremia-Stelle vgl. Rudolf Kilian: Ich bringe Leben in euch. Propheten sprechen uns an. Stuttgart 1975, S. 47-66.
86Vgl. Paul Ricoeur: Religion, Atheismus, Glaube. In: Ders.: Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II. München 1974, S. 284-314; dazu Leonardo Boff: Vater unser. Das Gebet umfassender Befreiung. Düsseldorf 41986, S. 61f.
87Die wichtigsten Belegstellen: Joh 8, 33ff.; Röm 4, 11; Gal 3, 6f.; Hebr 11, 1 bis 12, 3.
88Zur Exegese vgl. Gerhard von Rad: Das erste Buch Mose. Genesis. Das Alte Testament Deutsch. Teilband 2/4. Göttingen 81967, S. 132ff. u. 203ff.
89Vgl. Gen 12, 10-20; dazu Heinrich Fries: Fundamentaltheologie. Graz, Wien, Köln 1985, S. 61.
90Vgl. Fries: Ebd., S. 67ff.
91Wie Anm. 69 - Vgl. oben, S. 391f.
92Vgl. oben, S. 348ff.
93Vgl. oben, S. 378.
94Vgl. Claus Roxin: "Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand". Zum Bild Karl Mays in der Epoche seiner späten Reiseerzählungen. In: JbKMG 1974, S. 15-73 (S. 36 u. 69, Anm. 98).
95"Manchmal feiern wir mitten im Tag ein Fest der Auferstehung"; so beginnt ein Song von Peter Janssens (aus "Ihr seid meine Lieder". Telgte 1974), der auch zum Silberlöwen paßt.
96Vgl. Gen 12, 10ff. - Ernst Seybold: Plädoyer für Karl Mays Christlichkeit II. In: MKMG 69 (1986), S. 31-38 (S. 35f.).
97Der Begriff "der Große Traum" findet sich bei Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays (1963). Frankfurt/M. 1974, S. 211. - Mays Traum-Text (IV, 314-352) wurde auch aufgenommen in Karl May: Der Große Traum. Erzählungen. Hrsg. von Heinz Stolte und Erich Heinemann. München 1974, S. 142-169.
98Der 'Schatten' ist bei S. Freud und C. G. Jung das Unbewußte, Verdrängte. - Vgl. Eugen Drewermann: Tiefenpsychologie und Exegese, Bd. I. Die Wahrheit der Formen. Traum, Mythos, Märchen, Sage und Legende. Olten, Freiburg 41987, S. 197. - Auf der autobiographischen Leseebene des Silberlöwen ist - auch - an den 'Schatten der Vergangenheit', an Mays früheren Trieb zu Straftaten, zu denken; vgl. Sudhoff: Erneute Annäherung, wie Anm. 20, S. 140ff.
99Was den Terminus "Hephata" ("Öffne dich!") betrifft, knüpft May wohl an Mk 7, 33ff. an (vgl. Lorenz, wie Anm. 31, S. 162); was das Motiv des 'Schlüssels der Unterwelt' betrifft, vielleicht an Offb 1, 18.
100Vgl. unten, S. 639ff.
101Sudhoff: Erneute Annäherung, wie Anm. 20, S. 175; Sudhoff rügt diesen "Aberwitz", verteidigt aber den Entwurf von Utopien als Aufgabe der Literatur.
102Vgl. Sudhoff. Ebd., S. 150.
103Vgl. Schmidt: Sitara, wie Anm. 97, S. 214 - Wollschläger: Das "Hohe Haus", wie Anm. 40, S. 126f.
104Vgl. z.B. Karl Rahner: Theologie der Armut. In: Ders.: Schriften zur Theologie VII. Einsiedeln, Zürich, Köln 1966, S. 435-478 (S. 444).
105Marie-Louise von Franz: Psychologische Märcheninterpretation. Eine Einführung. München 1986, S. 123.
106Ebd., S. 117 - Das Kapitel "Der Schatten des Mannes" (ebd., S. 106-126) könnte eine Verstehenshilfe auch für Mays Traum im Silberlöwen sein.
107Es handelt sich nicht um einen wirklichen Schlaftraum, sondern um "mit großer Bewußtheit" gestaltete symbolische Prosa, wie Sudhoff: Erneute Annäherung, wie Anm. 20, S. 126, zu Recht hervorhebt.




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Sekundärliteratur


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