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10.9

Die letzten Novellen (1907-09): Bedeutsame Schlüsseltexte


Nicht den Inhalt, nicht die Botschaft, wohl aber die Bühnenwirksamkeit seines Dramas Babel und Bibel dürfte May überschätzt haben. Daß sein Werk nicht zur Aufführung kam, hat den Dichter - dessen Renommee, durch die Pressekampagne, ohnehin sehr angeschlagen war - noch zusätzlich getroffen. Aber zurückgezogen hat er sich nicht. Er tat das Klügste, das Beste, das ihm möglich war: Er konzentrierte sich aufs epische Werk, das seine genuine Begabung war.

   Mit dem 'Mir von Dschinnistan (1907-09) hat May seinen schönsten und insgesamt wohl gelungensten Roman geschaffen. Noch vor dem Beginn bzw. Abschluß seiner Arbeit an diesem Roman verfaßte May vier kleine Erzählungen, deren literarische Qualität die Polyphonie der großen Altersromane (aber auch der erzgebirgischen Spätnovelle Das Geldmännle) zwar nicht ganz erreicht, eine gründliche Analyse, eine eingehende Besprechung und eine positive Bewertung aber durchaus verdient.1


10.9.1

Schamah


Ende 1906 oder Anfang 1907 hat May die Novelle Schamah geschrieben.2 Diese Reiseerzählung aus dem Gelobten Lande erschien 1907/08 im Regensburger Manz-Verlag, in der katholischen Jugendzeitschrift 'Efeuranken'. Nachdrucke gab es u.a. in der Passauer 'Donau-Zeitung' (1908) und im 'Bamberger Volksblatt' (1909).3

   Wie früher schon dem Friede-Roman hat May der Erzählung Schamah seine reale Orientreise zugrundegelegt. Der zweite Aufenthalt des Schriftstellers in Jerusalem (im Mai 1900) spiegelt sich in der Novelle. Dem Leser wird der Eindruck vermittelt, als würden - durchgehend - tatsächliche Reiseerlebnisse Mays und seiner Ehefrau Klara berichtet. Doch in Wirklichkeit handelt es sich, wie in Friede, um Dichtung, um poetische Reflexion.

   Das Ich des Erzählers entspricht nun freilich - sehr weitgehend - der Realität Karl Mays. Der 'Held' besteht keine Abenteuer; er beobachtet nur das Geschehen. Er durchwandert Jerusalem als "der liebenswürdige, gütige, humorvolle, wohlmeinende ältere Herr, der er wirklich war".4

   Dem Inhalt nach ist Schamah, wie viele andere Erzählungen Mays, eine Bekehrungsgeschichte. Vor dem Hintergrund der religiösen Streitigkeiten zwischen Juden, Christen und Moslems schildert der Autor "die exemplarische Wandlung des einst zelotischen Judarabers Mustafa Bustani und die seines elfjährigen Sohnes Thar (Blutrache), der in kindlichem Spiel, bestärkt durch den Vater, [...] seinem Namen alle Ehre zu machen sucht".5

   Zur Vorgeschichte der Handlung: Achmed, der Bruder des Mustafa, war zum christlichen Glauben übergetreten. Deshalb hatte ihn, mit der Zustimmung des Mustafa, seine Familie verstoßen. Er verließ seine Heimat und starb. Da er den Frieden liebte, bat er - noch im Sterben - seine Frau und die Tochter Schamah, zu Mustafa zu gehen und sich mit ihm zu versöhnen.

   Doch der Einfluß seiner eigenen Frau (und deren plötzlicher Tod) hat in Mustafa einen Gesinnungswandel schon vorbereitet. Ein Traum kündigt ihm die Vergebung durch Achmed an. Und die Begegnung mit Schamah am Grabe des Lazarus besiegelt die Überwindung von Haß und Verhärtung im Herzen des Mustafa. Der Läuterungsprozeß ist da-


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mit aber noch keineswegs abgeschlossen. Ähnlich wie - in Babel und Bibel - Abu Kital ins 'Fegefeuer', in die 'Geisterschmiede' geführt wird, hat Mustafa, wiederholt, "in das Grab" (des Lazarus) zu gehen. Denn es hat "noch einiges" in ihm "zu sterben"!6

   Auch Thar wird ein anderer Mensch. "Parallel zur väterlichen Wandlung erfährt der Sohn seine Katharsis im schicksalhaften Zusammentreffen mit dem kleinen Christenmädchen Schamah (Verzeihung) und ihrer pilgernden Mutter in Hebron."7

   Die, fürs gesamte Spätwerk bezeichnende, Hinwendung des Autors zum weiblichen 'Prinzip' (der Milde und der Vergebung) dominiert auch hier, in Schamah. Autobiographisch ist der Text in vielfacher Hinsicht8 interessant. Die Novelle enthält die Auseinandersetzung des Dichters mit seiner Kindheit und Jugend, den Erziehungsmethoden des Vaters, der Heldenpose des literarischen Ich und - vielleicht - auch den Haßgefühlen des (in der Öffentlichkeit desavouierten) Schriftstellers. Das Lazarusgrab steht symbolisch für die existentielle Not, die innere Krise und - die 'Auferstehung' Karl Mays. Die 'Wiedergeburt' des Mustafa ist, analog zur Bekehrung Wallers im Friede-Band, "eine Variation der Neuorientierung, die Karl May nach dem Zusammenbruch auf der Orientreise seinem eigenen Leben gab."9

   Theologisch gesehen ist die Novelle ebenfalls von Bedeutung. Das Gottes- und Menschenbild in Schamah entspricht der Verkündigung Jesu. Voraussetzung für die Erlösung des Mustafa sind - wie Dieter Sudhoff richtig interpretierte - "Selbsterkenntnis und [...] höheres Streben, vor allem aber göttliche Gnade und Verzeihung."10 Von Selbsterlösung kann also nicht die Rede sein. Denn 'neu geboren' wird Mustafa, so Christoph F. Lorenz zu Recht, "durch Christi Liebe [...], und nicht ohne Grund spielt May [...] immer wieder auf den biblischen Bericht von der Auferweckung des Lazarus an. Dabei gerät - ebenfalls nicht zufällig - auch der Kreuzestod Christi als die Urtat der den Tod überwindenden Liebe in den Blick Mays."11

   Wie Heinz Stolte gezeigt hat,12 sind in Schamah auch wichtige Ideen, Motive und Darstellungsmittel aus Lessings Nathan der Weise mit aufgenommen. Religiöse Toleranz predigt May in Schamah (und auch sonst) zweifellos. Die spezifisch christliche Intention - Mustafa wird nicht nur zur Toleranz, sondern zum christlichen Glauben geführt - steht freilich im Vordergrund. Und von Lessings Vernunftreligion setzt sich Mays Erzählung, so Lorenz, doch "merklich ab"!13

   In literarischer Hinsicht gehört Schamah wohl nicht zu den besten, aber doch zu den besseren Werken des Dichters. Wollschläger nannte die Novelle "nur eine schüchtern heitere, allgemeine Versöhnungsgeschichte mit sehr schlichtem Doppelboden."14 Aber Stolte lobte die "schlichte Anmut dieser liebenswürdigen Geschichte",15 die als "besonders wichtiges und interessantes Dokument" im Alterswerk Karl Mays zu betrachten sei: "bezeugt sie uns doch, daß [...] die ganze pompöse Maskerade des Phantasten" vom Ich des Autors nun "abgefallen ist."16

   Sudhoff, der zu Schamah einen umfangreichen Kommentar verfaßt hat, resümiert zunächst kritisch: May fehlte in dieser kleinen Novelle "der Raum", seine humanistische Intention und sein religiöses "Anliegen in einer konsequenten Abfolge symbolischer Bilder und Handlungen darzustellen [...] Nur bei einigen Handlungsfolgen gelangen die Ebenen zur Deckung, wird die Fabel mehrbödig". Und die sprachliche Form geht "nur selten über das Niveau der frühen Reiseerzählungen " hinaus.17

   Dennoch zählt Sudhoff Schamah zu den herausragenden Erzählungen Karl Mays:


Diese Wertung gründet sich auf die trotz der Beeinträchtigungen immer noch höchst artifizielle Struktur, mit der es May gelang, sowohl konkrete Reiseerlebnisse zu schildern als sich auch von belastendem Innenmaterial zu befreien und seine Botschaft der [...] Nächstenliebe zu vermitteln.


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Letztere legitimiert ‚Schamah' auch vom Inhalt her als bedeutsam. Mays Liebesbotschaft [...] mag über die Maßen naiv anmuten, uns Heutigen ist sie gleichwohl nötiger denn je."18


10.9.2

Abdahn Effendi


Wenig später als Schamah, vermutlich im Spätsommer 1907 (nach dem Kuraufenthalt Mays im schlesischen Bad Salzbrunn), ist Abdahn Effendi entstanden.19 Die Novelle erschien zuerst im 'Grazer Volksblatt' (1908); nachgedruckt wurde sie u.a. in der 'Mühlheimer Volkszeitung' und der - von Leopold Gheri, einem Freund Karl Mays,20 redigierten - 'Gardasee-Post' (1909).

   "Vordergründig erzählt May eine einfache, alte Handlungsmuster aufgreifende Schmugglergeschichte, angesiedelt in der imaginären Landschaft Dschan (Seele)"21 im Bergland Uluhm (Geist), im türkisch-persischen Grenzgebiet. Ähnlich wie der Musterwirt in Geldmännle(1903) beutet der Gewaltmensch Abdahn (Leib) das Land und die Leute aus. Als Kadi und Imam von Dschan erhebt er Anspruch auf alles, was dort lebt. Und den 'Sohn der Gerechtigkeit', den christlichen Sägemüller Ben Adl (dessen Vater, der ehemalige Grenzkommandant, unschuldig ins Gefängnis gebracht wurde), verfolgt er mit besonderer Feindschaft.

   Der, allerdings namenlose, Ich-Erzähler spielt - wie in früheren Reiseerzählungen und im Gegensatz zu Schamah - eine große Rolle. Das 'Ich' wie auch Halef entlarven den Abdahn und seine Gefolgsleute. Sie decken vergangene Mordtaten auf, erreichen die Rehabilitierung des Ex-Kommandanten und erfüllen, als Werkzeuge der göttlichen Gnade, Ben Adls Vaterunser-Bitte: "Erlöse uns von Abdahn Effendi und allen seinen Freunden!"22

   Seit er gehört hatte, daß in solcher Weise gebetet wird, war Abdahn verwirrt und verschreckt. Die Flucht seiner christlich gesinnten Frau (seiner unterdrückten, verkümmerten 'Seele') in den Lebensbereich Ben Adls verstört ihn noch mehr. Sein Gewissen erwacht. Er fühlt sich gezwungen, mit dem 'Erlösungsgebet' sich ständig auseinanderzusetzen. Der Drang, sich auszusprechen, nimmt zu; sein verbrecherisches Tun aber will Abdahn noch immer nicht lassen. Doch zuletzt, bei seiner Entlarvung, bricht er psychisch und physisch zusammen. Er spricht nun selbst das Erlösungsgebet und erliegt einem Schlaganfall. Sein toter Körper wird zerfetzt durch eine Explosion. Er selbst aber, sein besseres Ich, ist erlöst: Er hat - den Frieden gefunden mit Gott.

   Daß der gesamte Text auch autobiographisch ergiebig ist,23 versteht sich - nach dem bisher Gesagten - von selbst. Es spiegeln sich u.a. die Straftäterzeit, die Münchmeyerjahre, die Nervenzusammenbrüche während der Orientreise, die Entlarvung des 'Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand', die zögernde Bereitschaft des Schriftstellers zur offenen Beichte und - halb wunscherfüllend, halb wirklichkeitsnah - das aktuelle Prozeßgeschehen (das zur Rehabilitierung Mays in nicht wenigen Pressekommentaren geführt hat24).

   Aber nicht nur die Lebensgeschichte des Autors, nicht nur das 'Karl-May-Problem'25 steht im Mittelpunkt der Erzählung. Auch die Leser stehen "mit im Geheimnis"!26 Denn der Schauplatz der Novelle ist Dschan, die 'Menschheitsseele' schlechthin.

   Die Anthropologie, die allgemeine Leib-Seele-Problematik ist in Abdahn Effendi mit angesprochen. Die allegorischen Personen- und Landschaftsnamen, die 'Leib', 'Seele' und 'Geist' bedeuten, müssen nun freilich nicht im manichäischen Sinne einer prinzipiellen Feindschaft zwischen 'Geist' und 'Materie' interpretiert werden. Denn Mays Ideal ist ja nicht die Erlösung von der Materie als solcher, sondern die Befreiung vom Materialis-


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mus, vom NUR materiellen Daseinsverständnis: Was May ersehnt, ist die Harmonie, das Zusammenspiel, die richtige Zuordnung von Körper und Seele, von Herz und Verstand.27

   Die anthropologische Dimension der Novelle verweist auf den Zwiespalt im menschlichen Innern. Abdahn Effendi ist, so Christoph F. Lorenz, "ein Stück angewandter Psychologie":28 Der Kampf der niederen, nur materiellen und 'animalischen' Begierden (wie Habsucht und Genußsucht, Ehrsucht und Herrschsucht) gegen das höhere Streben (nach Erkenntnis und Liebe) wird dargestellt. Die innere Entwicklung des 'Gewaltmenschen', seine Befreiung von sich selbst, seinem niederen, 'fettleibigen' Ich, ist das Hauptthema dieser Erzählung.

   Mit der psychologischen Leseebene eng verknüpft ist die theologische Perspektive. Wie in Schamah ist die religiöse Botschaft das eigentliche "Ordnungsprinzip"29 der Fabel. Die Kraft des Gebetes, das Vertrauen auf Gottes Gnade, die "Heil und Segen"30 bewirkt und den Menschen befreit (VON sich selbst und ZU sich selbst), sind die entscheidenden Strukturelemente der ganzen Erzählung. Sinnvoll und konsequent endet der Text mit dem Lobpreis auf Gott: "Der hat es getan. Der hat es gewendet [...] Ihm sei Lob gesagt, Lob und Ruhm und Preis und Dank!"31

   Auch ästhetisch gesehen hat diese "schartig gebrochene Novelle", in deren 'Kellergeschoßen' es - so Wollschläger - "dumpf bedeutend umgeht", durchaus ihren Rang.32 Ebenso urteilte der Schriftsteller Arno Schmidt, der Abdahn Effendi als "wichtige[n] Titel"33 bezeichnete.

   Ein Mangel der Novelle liegt - nach Lorenz - freilich "in Mays offenkundigem Bemühen, seinen 'alten' Lesern zu gefallen".34 Im Unterschied zu Schamah und wesentlich stärker als im Silberlöwen III/IV hat May, nach früherem Muster, zahlreiche Abenteuerelemente in die Erzählung mit eingebaut. Lorenz Krapp, ein katholischer Publizist, der May unterstützte,35 vom 'mystischen' Spätwerk des Dichters aber nichts hielt, schrieb (1908) in der 'Augsburger Postzeitung': "Mit Freude erfüllt es mich, daß [...] in Abdahn Effendi jetzt wieder frischeres Leben pulst, die alte Lust am Geschehen bei May wiederkehrt."36

   Als "exemplarisch für die damalige Bewertung"37 muß dieses Urteil gelten. Anspruchsvollere, fürs Maysche Spätwerk aufgeschlossene Leser werden den Kompromiß (zwischen Parabel und Abenteuergeschichte) aber wohl eher bedauern. Denn der Rückgriff auf die Handlungselemente von früheren Erzählungen bringt die Novelle, teilweise, um ihre tiefergründige Wirkung.38

   Auch "die wenig gehobene Sprache und die nicht immer schlüssige Symbolik mindern den Rang der Erzählung."39 Dieter Sudhoffs Spezialuntersuchung kommt, was den künstlerischen Wert der Novelle betrifft, zum selben Ergebnis wie bei Schamah: Literarisch bleibt auch Abdahn Effendi hinter dem 'Mir von Dschinnistan und den anderen Altersromanen deutlich zurück; aber mit ihrem "formalen wie inhaltlichen Perspektivenreichtum" gehört die Erzählung noch immer "zu Mays literarisch gewichtigsten Texten, deren Tiefgang noch lange nicht ausgelotet ist."40


10.9.3

Bei den Aussätzigen


Seine, von der Entstehungszeit her gesehen, wohl dritte orientalische Altersnovelle - Bei den Aussätzigen - dürfte May im November 1907, kurz nach Beginn seiner Arbeit am 'Mir von Dschinnistan, verfaßt haben: falls die, von Hartmut Vollmer bekräftigte, These


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Wollschlägers zutrifft, daß sich in dieser Erzählung die Haussuchung in der 'Villa Shatterhand' (am 9.11.1907) "flüchtig spiegelt".41

   Bei den Aussätzigen. Reiseskizze von Karl May wurde am 25. Dezember 1907 im 'Grazer Volksblatt' erstmals veröffentlicht. Es folgte eine Reihe von Nachdrucken, u.a. im 'Eichsfelder Marienkalender 1909'.

   Die Reiseskizze schildert eine Weihnachtsfeier vor den Toren von Damaskus. Mays tatsächliche Erlebnisse in Damaskus (im Juni 1900) werden aber kaum aufgegriffen.

   Der Ich-Erzähler, dessen Freund Hadschi Halef und der Kaufmann Jacub Afarah beschenken eine Gruppe von Aussätzigen. Am Heiligen Abend werden Christbäume entzündet, und der 'Scheik der Aussätzigen' hält eine Rede über die Menschheitsqualen im allgemeinen und das Leid der 'Unberührbaren' im besonderen. Zuletzt bekennt er sich, obwohl er ein Moslem ist, zum "Stern von Bethlehem",42 dessen Botschaft die Armen errettet und die Sünder erlöst.

   Der Pascha von Damaskus, der die Kranken vertreiben, d.h. in den Tod schicken will, beobachtet das Fest. Tief beeindruckt nimmt er seinen Ausweisungsbefehl zurück. Daraufhin verzichten der 'Scheik' und seine Leidensgefährten auf ihren Racheplan: Mit von Speichel und Eiter durchtränkten Kleiderfetzen sollten, nach diesem Plan, der Pascha und seine Leute infiziert werden. Vom Weihnachtsfrieden beseelt, verbrennen die Aussätzigen ihre schmutzigen Lumpen am Christbaum. Sie opfern symbolisch ihre bösen Gedanken, ihren Zorn, ihre Aufregung, ihre chaotischen Emotionen. "Wir sind erlöst! Der Pascha ist besiegt, mit ihm auch unsere Rache!"43

   Der Pascha, dem die Aussätzigen noch immer mißtrauen, wird allerdings seines Postens enthoben. Er muß Damaskus verlassen.

   Für die Annahme, daß sich in dieser Novelle die Haussuchung in der 'Villa Shatterhand' mit der anschließenden Isolierung des Schriftstellers (eine Briefsperre wurde über ihn verhängt!)44 widerspiegele - der Pascha wäre dann der Untersuchungsrichter Larrass, dessen Absetzung May erhoffte -, hat Vollmer plausible Gründe benannt.45 Daß der 'Scheik der Aussätzigen' ein Alter ego des Dichters ist, kann jedenfalls als sicher gelten: Auch May fühlte sich 'krank' und 'am Tode', aufs äußerste bedroht und 'ausgestoßen' aus der Gesellschaft!46

   Die literarische Bedeutung dieser schlicht erzählten, nur wenige Seiten füllenden Reiseskizze sieht Wollschläger als "geringfügig" an.47 Vollmer aber kommentiert in seiner Werkanalyse:


Mays Novelle 'Bei den Aussätzigen', die durch ihre Mehrdimensionalität deutlich den symbolischallegorischen Arbeiten des Spätwerks zuzuordnen ist, nimmt im Mayschen Oeuvre eine Sonderstellung ein, da May hier auf knappstem, gedrängtestem Raum (das ist auch hinsichtlich eines Vergleichs mit den anderen Altersnovellen interessant) seine 'Ur-Geschichte' projiziert, den das ganze Werk durchziehenden Erlösungsgedanken in aller Konzentration zu fassen vermag und in EINER Episode das Grundmodell des Spätwerks erscheinen läßt.48


   Gewiß - in der Literatur gibt es kunstvollere Weihnachtsgeschichten als Bei den Aussätzigen. Schöne Formulierungen und gute Gedanken enthält die Novelle aber sehr wohl. Ein Licht erstrahlt für die Armen! "Wir brauchen keine Weihnachten - -", meint der Pascha. "Aber wir!",49 entgegnet der 'Scheik' - als Repräsentant aller Erniedrigten, "die im Finsteren sitzen und im Schatten des Todes" (Lk 1, 79).

   Wie auch immer man die Novelle, vom Ästhetischen her, bewerten mag - sie ist ein Bekenntnis, ein Glaubenszeugnis des Autors: Das Heil kommt von Bethlehem; die Rettung, die Erlösung hat einen Grund, einen geschichtlichen Grund - in der Geburt Jesu Christi.


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Abb. 19: Friedrich Ernst Fehsenfeld, um 1905.


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Abb. 20: Karl May am Grabmal des Häuptlings Sa-go-ye-wat-ha auf dem Friedhof in Buffalo, 1908.


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10.9.4

Merhameh


Mays letzte, den vorausgegangenen Altersnovellen zumindest ebenbürtige, Kurzgeschichte - Merhameh - erschien Ende Juli 1909 im 'Eichsfelder Marienkalender 1910'. Die Entstehungszeit50 dürfte mit der Niederschrift der Schlußpartien des 'Mir von Dschinnistan zusammenfallen.

   Der Schauplatz der Novelle ist Ardistan, die Phantasiewelt des großen Romans Der 'Mir von Dschinnistan. Der Schauplatz ist die Erde schlechthin, die leidende Schöpfung, die in "Geburtswehen" liegt und befreit werden soll zur "Herrlichkeit der Kinder Gottes" (Röm 8, 18ff.). Auch die Titelfigur, das schöne Mädchen, die Fürstentochter mit dem Namen 'Barmherzigkeit', gehört zum Romanstoff des 'Mir von Dschinnistan.51

   Der Ich-Erzähler und Hadschi Halef spielen nur eine Nebenrolle. Sie reiten mit Merhameh durchs Grenzgebiet der Münazah und der Manazah, zweier Beduinenstämme, die miteinander verfeindet sind. Sie erreichen das Dorf der Münazah, wo der Dichter Ali Ben Masuhl, der Bruder des Scheiks der Manazah, getötet werden soll: weil er den Bruder Omar Ben Amarahs, des Scheiks der Münazah, erschossen hatte.

   Omars Frau verweigert dem Ali ihren Schutz. Doch Merhameh, dem "lieblichsten Mädchen bei May überhaupt",52 gelingt es, die Hinrichtung zu verhindern und die Aussöhnung zwischen den Stämmen in die Wege zu leiten.

   Unter dem Einfluß Merhamehs hat sich Omar Ben Amarah mit Ali Ben Masuhl geeinigt. Eine Delegation der Münazah bricht, zum Zwecke des Friedensschlusses, auf zu den Manazah. Unterwegs darf Ali die berühmte Stute des Omar besteigen. Diese großmütige Geste des Omar wird für Ali jedoch zum Verhängnis. Während eines Sandsturms gerät die Reiterschar in einen Hinterhalt der Manazah. Deren Scheik Hassan Ben Masuhl verwechselt den Ali, aufgrund des Pferdetausches, mit Omar und erschießt den eigenen Bruder. Aber - nicht den Tod, sondern das Leben verkündet May in seiner Parabel! Denn der sterbende Ali stiftet, im Geiste Merhamehs, den endgültigen Frieden zwischen den Stämmen. Auch Hassan, der den Begriff der Versöhnung aus seinem Leben gestrichen hatte, will nun den Frieden.

   Wie alle Erzählungen Mays ist Merhameh ein mehrschichtiger Text. Doch die besondere literarische Qualität liegt in der Kongruenz dieser Schichten, die durchwegs zur Deckung kommen. Merhameh ist, wie Vollmer näher erläutert, "eines der gelungensten polyphonischen Werke"53 Karl Mays. Denn die verschiedenen Leseebenen - äußere Handlung, autobiographisches Spiegelbild, politische Utopie und religiöse Botschaft - "verschränken sich nahtlos".54 Insofern dürfte Merhameh, als Parabel, noch besser geglückt sein als Abdahn Effendi und die übrigen orientalischen Altersnovellen.

   Autobiographisch ist Merhameh ein Parade-Beispiel für die Maysche Kunst, das eigene - gespaltene - Ich auf mehrere literarische Figuren zu überschreiben. Der Autor bringt es fertig, seine Lebensgeschichte (mit genauen, artifiziell codierten, nicht leicht zu entschlüsselnden, nur für May-Kenner transparenten Details) in einer kurzen Erzählung gleich viermal durchzuspielen: "an vier Figuren - zwei Brüderpaaren, deren Schicksal eng miteinander verknüpft ist - seine Seele aufzubrechen"55 und die eigene Spaltung, die zugleich als 'Menschheitsspaltung' begriffen wird, literarisch zu überwinden.

   Die Überwindung des Zwiespalts im menschlichen Innern ist, in Merhameh, ein selbsttherapeutisches und zugleich ein 'politisches' Programm. Politisch gesehen ist die Novelle, wenige Jahre vor Beginn des Weltkriegs verfaßt, ein erschütternder Appell und ein mahnendes "Menetekel: IMMER erschlägt, wer den Menschen mordet, den eigenen Bru-


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der. Kain ist überall, wo der Haß triumphiert; und das eindringlich hingesetzte 'Es sei Friede! Es sei Friede!' am Schluß dieser Parabel"56 kann als Vermächtnis des Schriftstellers verstanden werden.

   Politisch betrachtet ist Merhameh eine Realutopie, eine Herausforderung, die dem Geist der Bergpredigt Jesu entspricht. Und theologisch gesehen ist die Novelle ein bewegendes Zeugnis für den Sieg des Lebens über den Tod, der göttlichen Liebe über die menschliche Schuld.

   "Die Erlösung durch den Tod war in Mays Gedanken immer präsent"!57 Den Tod verklärende Abschieds- und Sterbeszenen finden sich im Werk Karl Mays in schier unerschöpflicher Fülle.58 Der angenommene, in Liebe verwandelte Tod wird von May als Tor zum Leben verstanden. Die, im Alterswerk gesteigerte, "Todessehnsucht"59 des Dichters war zutiefst eine Lebenssehnsucht, die dem - religiös und christlich begründeten - Glauben an die unendliche Zukunft des Menschen und der gesamten Schöpfung entsprang.

   Dieser Glaube beseelt, sehr eindrucksvoll, auch die Erzählung Merhameh:


Der Abend kam. Er brachte andere Luft. Es erhob sich ein Wind, der in kräftigen Stößen die Atmosphäre reinigte [...] So kam es, daß der Himmel wieder sichtbar wurde. Der Mond erschien. Die weißgekalkten Mauern des Grabes sammelten seine Strahlen und warfen sie uns in zart bläulichen Reflexen zu. Da regte es sich im Innern. Das Leben erhob sich von der blutig feuchten Erde, um sich von dem Tode zu trennen.60



Anmerkungen


1Profunde Untersuchungen zu diesen Novellen wurden 1983/84 publiziert: Dieter Sudhoff: Karl Mays 'Abdahn Effendi'. Eine Werkanalyse. In: JbKMG 1983, S. 197-244 - Ders.: Karl Mays 'Schamah'. Eine Werkanalyse. In: JbKMG 1984, S. 175-230 - Hartmut Vollmer: Merhameh. Studie zu einer Altersnovelte Karl Mays. SKNIG Nr. 44 (1983) - Ders.: Karl Mays Novelle 'Bei den Aussätzigen'. Versuch einer Interpretation. In: JbKMG 1984, S. 28-43.
2Vgl. Sudhoff: Werkanalyse zu Schamah, wie Anm. 1, S. 175f.
3Für die Wiedergabe in: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 48 Das Zauberwasser (Radebeul 1927) wurde der Text von den Herausgebern bearbeitet. Dasselbe gilt für die übrigen orientalischen Altersnovellen in Bd. 48.
4Heinz Stolte: Auf den Spuren Nathans des Weisen. Zur Rezeption der Toleranzidee Lessings bei Karl May. In: JbKMG 1977, S. 17-57 (S. 52).
5Dieter Sudhoff: (Werkartikel zu) Schamah. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 528-531 (S. 529).
6Karl May: Schamah. In: Karl May: Der Krumir. Seltene Originallexte, Bd. I. Reprint der KMG. Hamburg 1985, S. 216-273 (S. 271).
7Sudhoff: Werkartikel, wie Anm. 5, S. 529.
8Ausführlich erörtert bei Sudhoff: Werkanalyse zu Schamah, wie Anm. 1, S. 189-207.
9Christoph F. Lorenz: (Vorwort zu) Schamah. In: May: Der Krumir, wie Anm. 6, S. 214f. (S. 215) - Vgl. Thomas Ostwald: Zur Werksgeschichte (nicht paginiert). In: Karl May: Abdahn Effendi - Schamah. Nachdruck aus der "Bibliothek Saturn" 1909 und 1911. Bamberg, Braunschweig 1977.
10Sudhoff: Werkartikel, wie Anm. 5, S. 531.
11Lorenz: Vorwort zu Schamah, wie Anm. 9, S. 214. - Vgl. Sudhoff: Werkanalyse zu Schamah, wie Anm. 1, S. 207-221.
12Vgl. Stolte: Nathan, wie Anm. 4, S. 52-54.
13Lorenz: Vorwort zu Schamah, wie Anm. 9, S. 214.
14Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens. Zürich 1976, S. 145.
15Heinz Stolte: Karl May literarisch. Vorwort zu Karl May: Der Große Traum. Erzählungen. Hrsg. von Heinz Stolte und Erich Heinemann. München 1974, S. 7-24 (S. 22).
16Stolte: Nathan, wie Anm. 4, S. 52 - Beide Zitate auch bei Sudhoff: Werkanalyse zu Schamah, wie Anm. 1, S. 178.
17Sudhoff: Ebd., S. 222.


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18Ebd.
19Vgl. Sudhoff: Werkanalyse zu Abdahn Effendi, wie Anm. 1, S. 197f.
20Vgl. unten, S. 542.
21Dieter Sudhoff: (Werkartikel zu) Abdahn Effendi. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 5, S. 531-534 (S. 532).
22Karl May: Abdahn Effendi. In: May: Der Krumir, wie Anm. 6, S. 278-303 (S. 288).
23Vgl. Sudhoff: Werkanalyse zu Abdahn Effendi, wie Anm. 1, S. 202-223.
24Vgl. oben, S. 473.
25Vgl. die, von May wohl beeinflußte, Rezension zu Abdahn Effendi von Amand v. Ozoróczy (1908); dazu Sudhoff: Werkanalyse zu Abdahn Effendi, wie Anm. 1, S. 198f.
26May: Abdahn Effendi, wie Anm. 22, S. 278.
27Vgl. z.B. Karl May: Im Reiche des silbernen Löwen IV. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXIX. Freiburg 1903, S. 67: May will "von einer neuen, ungeahnten Welt[...] erzählen, in welcher Leib, Geist und Seele [...] Hand in Hand [...] miteinander wirken."
28Christoph F. Lorenz: (Vorwort zu) Abdahn Effendi. In: May: Der Krumir, wie Anm. 6, S.274-276 (S. 275).
29Sudhoff: Werkartikel, wie Anm. 21, S. 533.
30May: Abdahn Effendi, wie Anm. 22, S. 303.
31Ebd.
32Wollschläger, wie Anm. 14, S. 150.
33Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie aber Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays (Erstausgabe 1963). Frankfurt/M. 1974, S. 12; zit. nach Sudhoff: Werkanalyse zu Abdahn Effendi, wie Anm. 1, S. 200f.
34Lorenz: Vorwort zu Abdahn Effendi, wie Anm. 28, S. 275.
35Vgl. unten, S. 543.
36Zit. nach Sudhoff: Werkanalyse zu Abdahn Effendi, wie Anm. 1, S. 200.
37Sudhoff: Ebd.
38Vgl. Lorenz: Vorwort zu Abdahn Effendi, wie Anm. 28, S. 275. - Eine andere Auffassung vertritt Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum
1992, S. 195-204: Hier wird Abdahn Effendi fast uneingeschränkt positiv bewertet.
39Sudhoff: Werkartikel, wie Anm. 21, S. 534.
40Ebd. - Vgl. Sudhoff: Werkanalyse zu Abdahn Effendi, wie Anm. 1, S. 239f.
41Wollschläger, wie Anm. 14, S. 149.
42Karl May: Bei den Aussätzigen. In: Ders.: Weihnachtsgeschichten. Hrsg. von Gerd Evers
berg. Husum 1991, S. 121-127 (S. 125).
43Ebd., S. 127.
44Vgl. oben, S. 474f.
45Vgl. VoIlmer: Bei den Aussatzigen, wie Anm. 1, S. 34-38.
46Vgl. ebd.
47Wollschläger, wie Anm. 14, S. 149.
48Vollmer: Bei den Aussätzigen, wie Anm. 1, S. 41.
49May: Bei den Aussätzigen, wie Anm. 42, S. 125.
50Vgl. Vollmer: Merhameh, wie Anm. 1, S. 5f.
51Vgl. unten, S. 513.
52Hansotto Hatzig: Der 'Mir von Dschinnistan. Karl Mays Textvarianten. In: MKMG 30 (1976), S. 23-32 (S. 29).
53Vollmer: Merhameh, wie Anm. 1, S. 24.
54Ebd.
55Ebd.
56Stolte: Vorwort, wie Anm. 15, S. 23; zit. nach Ekkehard Bartsch: (Werkartikel zu) Merhameh. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 5, S. 534-536 (S. 536).
57Vollmer: Merhameh, wie Anm. 1, S. 22.
58Vgl. Heinz Stolte: Abschiede - ein Thema mit Variationen. In: JbKMG 1980, S. 35-62.
59Vollmer: Merhameh, wie Anm. 1, S. 22.


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60Karl May: Merhameh. In: Christus oder Muhammed. Marienkalender-Geschichten von Karl May. Reprint der KMG. Hamburg 1979, S. 212-219 (S. 219); zit. nach Vollmer: Merhameh, wie Anm. 1, S. 22.



10.10

'Ardistan und Dschinnistan (1907-09): Die Krönung des Mayschen Erzählwerks


Als Plädoyer für das Leben, für die Zukunft der Welt und des Menschen ist - weit großartiger noch als Merhameh oder die anderen Altersnovellen - auch das literarisch bedeutsamste Werk Karl Mays, die zweibändige Erzählung Ardistan und Dschinnistan, zu verstehen.

   Nach dem Silberlöwen III/IV (1902/03) war dieses Epos die erste und zugleich die letzte mehrbändige Romankonzeption, die der Dichter in Angriff nahm und die er vollenden konnte. In seiner bruchlosen Geschlossenheit und visionären Gestaltungskraft übertrifft dieser neue Roman sogar noch den Silberlöwen III/IV.1

   In der folgenden Darstellung sollen die Entstehungsgeschichte, der literarische Wert, der tiefenpsychologische Ansatz und die autobiographische Relevanz des Romans kurz besprochen werden. Die - provozierende und besonders wichtige - theologische Aussage des Textes soll unten, im zweiten Teil unseres Buches, interpretiert werden.


10.10.1

Zur Entstehungsgeschichte


Nach dem Mißerfolg von Babel und Bibel (1906) lag es für den Schriftsteller nahe, den Dramenstoff in epischer Form wieder aufzugreifen. Anfang 1907 versprach May seinem Verleger Fehsenfeld eine Reiseerzählung mit dem Titel Abu Kital, der Scheik der An'allah. Doch dieses Werk ist nie erschienen. In Mays Nachlaß fand sich außer dem Titelblatt nur der Textansatz zum ersten Kapitel 'Bent'ullah'.2

   Ein Grund, die Abu Kital-Pläne aufzugeben oder zurückzustellen, dürfte die Wiederherstellung von Mays - seit 1898 abgebrochener - Beziehung zum Pustet-Verlag gewesen sein. "Den entscheidenden Impuls dazu hat Heinrich Wagner, der Chefredakteur der 'Donau-Zeitung', Passau, gegeben"; er verfügte "über weitreichende Verbindungen zur katholischen Presse seiner Zeit. So auch zum 'Deutschen Hausschatz'".3

   In einem Brief vom 18. April 1907 - May hatte soeben den Münchmeyerprozeß in dritter Instanz gewonnen - wandte sich Dr. Otto Denk, der Nachfolger Heinrich Keiters als Schriftleiter des 'Hausschatzes', an May. Bisher, so wurde vermutet, war Denk dem Autor in Radebeul "ausgesprochen feindlich gesonnen".4 In seinem Brief nun aber wollte der Redakteur zwar "einige Mißverständnisse ausräumen, insbesondere was die 'abscheulichsten Unsittlichkeiten' in den sogenannten Kolportage-Rommen"5 betraf; er versicherte May jedoch mit Nachdruck: "Ich zähle KEINESWEGS zu Ihren persönlichen Gegnern, habe auch NIEMALS eine Zeile öffentlich gegen Sie gerichtet."6

   Mays Antwort vom 21. April 1907 "ist in sachlichem, wenn auch distanziertem Ton geschrieben."7 Eine Bereitschaft des Autors, für den Hausschatz wieder zu arbeiten, läßt der Brief jedenfalls noch nicht erkennen.

   Die Wende brachte eine persönliche Begegnung zwischen Karl May und Otto Denk am 13. September 1907 im Münchner Hotel 'Leinfelder'. Die Unterredung führte - nachdem der Schriftsteller Ende 1906 schon Kontakt zu einem anderen katholischen Publikations-


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mittel, der 'Augsburger Postzeitung', aufgenommen hatte8 - zur erneuten Zusammenarbeit mit dem Regensburger Verlag. May sagte zu, eine Reiseerzählung mit dem Titel Der 'Mir von Dschinnistan zu verfassen.

   Vom Autor Karl May versprach sich der Hausschatz eine Steigerung der Abonnentenzahl (eine Erwartung, die sich, zunächst, auch wirklich erfüllte).9 Schon am 17. September 1907 drängte Denk den Schriftsteller zur Lieferung von Manuskript bis spätestens 1. Oktober. May kam dieser Aufforderung nach, und schon im November konnte im 34. Jahrgang des Hausschatzes die erste Folge des Romans erscheinen.

   Im Brief vom 5. Oktober 1907 hatte der Redakteur dem Autor zugesichert, den Mir auch im 35. Jahrgang des Hausschatzes fortzusetzen. Unter anderem schrieb Denk: "Ich selbst freue mich schon auf die nächste Partie des 'Mir' und auf die in Aussicht gestellten Abenteuer. DIESE sind es ja besonders, die Ihrem Namen eine so bedeutende Zugkraft verleihen. Das Publikum will spannende, abwechslungsreiche Handlung, die seine Phantasie beschäftigt."10 Ein erster Wink mit dem Zaunpfahl! Eine erste Andeutung, daß die Eröffnungspartie des Werks den Vorstellungen der Redaktion nicht voll entsprach!

   Ständig bat Denk in den folgenden Monaten um Manuskript. Denn May lieferte "nur stückchenweise von Heft zu Heft [...] , höchstens jeweils ein bis zwei Monate voraus."11 Immerhin - bis Ende März 1908 hatte May 736 Schreibseiten nach Regensburg gesandt, also über ein Drittel des gesamten Textes, der 2050 Manuskriptseiten erreichen sollte.

   Am 15. Mai 1908 schrieb Denk, daß der Mir den Lesern überhaupt nicht gefalle und ein Abspringen von Abonnenten zu beklagen sei. May reagierte gelassen:


Warum gleich so nervös? [...] Daß der "Mir" nicht allen Ihren Lesern gefällt, das glaube ich wohl [...] Solche Leser soll man um gotteswillen laufen lassen. Sie sind nicht begeisterungsfähig, nicht treu [...] Solchen Leuten kann ich die Opfer unmöglich noch einmal bringen, die ich ihnen früher brachte [...] Ich habe Ihnen versprochen, daß der "Mir von Dschinnistan" GUT wird, und ich halte Wort.12


   Anfang August 1908 hatte May den ersten Teil des Romans beendet: d.h. den Hausschatz-Text,des 34. Jahrgangs bzw. - in der späteren Buchfassung - den ersten Band von Ardistan und Dschinnistan. Da der Dichter von Anfang September bis Anfang Dezember 1908 eine Reise in die USA unternahm, das Mir- Manuskript bis zur Rückkehr des Autors aber doch ausreichte,13 muß im August 1908 noch eine größere Textsendung den 'Deutschen Hausschatz' erreicht haben.

   In einem Brief vom 15. Juli 1908 hatte sich May bereits über Eingriffe in den Text durch die Redaktion beschwert.14 Und auf der anderen Seite nahm die Unzufriedenheit der Firma Pustet bzw. der Hausschatz-Leser zu. Am 8. Januar 1909 ließ Karl Pustet den Schriftsteller wissen:


Die Verurteilung des Romans ist eine allgemeine. Abbestellungen und Entrüstungsäußerungen über die Zumutung einer solchen Lektüre sind an der Tagesordnung. Man kann ohne Übertreibung sagen, der Hausschatz ist ruinirt; er hat in katholischen Kreisen alles Vertrauen verloren.15


   Der Konflikt mit Pustet glich insofern dem - schon wiederholt erwähnten - Konflikt mit Fehsenfeld,16 als May eben nicht mehr der 'Alte' war. Er enttäuschte seine frühere Lesergemeinde, weil er der abenteuerlichen Erzählstoffe seit langem überdrüssig war und sich die Rolle des 'Unterhaltungskarnickels' nicht länger mehr aufzwingen ließ. Im Blick auf den Hausschatz nun freilich hatte der Konflikt noch eine andere, eine kirchenpolitische und theologische Komponente: May war, aus Regensburger Sicht, zu 'liberal', zu 'modern' und zu 'progressiv'!


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   Karl May war, wie wir sehen werden,17 auf seltsam verquere Weise in den kirchlichen 'Modernismusstreit' und den 'Katholischen Literaturstreit' des beginnenden 20. Jahrhunderts verwickelt. Otto Denk aber, der selbst ein verdienstvoller Schriftsteller war,18 verfocht innerhalb der katholischen Kirche eher die enge und ängstliche Richtung. Im 'Mir von Dschinnistan jedenfalls glaubte er dogmatisch 'falsche', zum Beispiel 'darwinistische', Passagen entdeckt zu haben. 19

   Solche Tendenzen tatsächlich zu vertreten, bestritt May allerdings heftig. In Briefen an Pustet und Denk verteidigte er, eifrig und vehement, seine 'katholische Gesinnung'.20 Dennoch legten der Verleger bzw. der Redakteur - schon im Frühsommer 1908 - dem Autor nahe, den Mir zu kürzen und baldigst zum Abschluß zu bringen.

   May, der seine Leser "vor religiösen und ethischen Verlusten"21 ja selbst bewahren wollte, war entsetzt und empört über das Ansinnen Pustets: Das Kürzen "geht doch nicht! Das würde Selbstmord sein! "22 Zwar wollte sich May, als 'Laie', in theologische Streitfragen nicht einmischen und in seiner Erzählung "Alles vermeiden, [...] was lehrhaft erscheinen könnte" (1, 346).23 Aber sein "eigenes Werk zu köpfen",24 war er doch nicht bereit.

   In einem 113 (!) Manuskriptseiten umfassenden Brief - mit Datum vom 11. Januar 1909 - an Pustet legte May sehr klar und pointiert seinen Standpunkt dar.25 Außerdem klagte der Dichter, im selben Schriftstück an Pustet und im Brief vom 3. Februar 1909 an Denk, erneut über Textveränderungen des Mir durch die Redaktion: Im Manuskript "herum zu wüthen", habe Denk sich herausgenommen; er brachte es, so May, auf "9 bis 18 [...] Correcturen" pro Seite.26 Der Redakteur "verekelte" seinem Autor "die Arbeit so vollständig", daß dieser "oft daran war, sie ihm einfach hinzuwerfen".27

   Roland Schmid, der Bamberger Karl-May-Verleger, erklärte in seiner Reprint-Ausgabe (1984): "Bei aller Härte der Auseinandersetzung scheint man sich letztlich aber doch wieder arrangiert zu haben; allerdings stand natürlich fest, daß nach dem 'Mir' die weitere Arbeit Mays für den 'Hausschatz' nicht mehr in Betracht kam. "28 Am 6. Juli 1909 lieferte May die letzten Manuskriptseiten des Mir. Er schloß den Roman mit der abrupten Bemerkung: "Das Weitere liest man später ..."29

   Die Frage liegt nahe: Welcher Art waren die Denkschen Eingriffe in den Mir-Text? Gab es nur stilistische 'Verbesserungen'? Oder hat Denk theologisch wichtige, von ihm als 'Entgleisungen' angesehene Stellen gestrichen oder verändert? Da eine Vergleichslesung zwischen der Hausschatz-Fassung und Mays Manuskript bisher nicht vorgenommen wurde, kann diese Frage leider noch nicht beantwortet werden.

   Noch im Sommer 1909, noch während der Mir im Hausschatz abgedruckt wurde, bereitete May für Fehsenfeld eine sorgfältig überarbeitete Buchausgabe vor mit dem Titel Ardistan und Dschinnistan, Band I und II: die Bände XXXI und XXXII der Freiburger Reihe. Als Vorlage für diese Endfassung benützte der Schriftsteller - merkwürdigerweise - "nicht sein Originalmanuskript (das heute im Karl-May-Verlag verwahrt wird), sondern die Fahnen des Hausschatztextes, die er auf Blätter klebte und handschriftlich mit Änderungen versah. "30

   Obwohl er gegenüber Denk jede Kürzung seines Manuskripts rigoros abgelehnt hatte, strich May nun selbst einige Passagen des Mir-Textes. Der entscheidende Beweggrund war vermutlich das Bestreben des Autors, "alles über die Notwendigkeit hinaus Krasse und Ungewöhnliche zu mildern."31 Außer phantastischen Einzelmotiven und ganzen Motivketten (so ahnte z.B. der Mir von Dschinnistan in der Urfassung noch nichts vom bevorstehenden Krieg) entfielen auch manche Reflexionen, z.B. die Entwicklung der


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'Schutzengel'-Theorie durch Kara Ben Nemsi32 und "lange, für den Kenner höchst aufschlußreiche und wichtige Darlegungen über Mays 'Psychologie'" die "als Zeugnisse für seine Beschäftigung mit der Lehre vom Unbewußten für die heutige Forschung von erheblicher Bedeutung"33 sind. Auch das Finale des Romans (das einen vorzeitigen Abbruch suggerierte und eine Fortsetzung versprach) änderte May: in einen offenen Schluß,34 der literarisch zweifellos den Vorzug gegenüber der Erstfassung verdient.

   Am 23. Juli 1909 lag der I. Band der Fehsenfeld-Buchausgabe vollständig vor und am 17. September sandte May die Schlußpartie des II. Bandes an Felix Krais. Ardistan und Dschinnistan I/II konnte noch im Herbst 1909 erscheinen: mit dem eindrucksvollen und gut gelungenen Deckelbild 'Marah Durimeh' von Sascha Schneider. Ein anderes, von Fehsenfeld vorgeschlagenes, Bild hatte May als "gänzlich unbrauchbar"35 verworfen.


10.10.2

Zur literarischen Einordnung und künstlerischen Bewertung


Ardistan und Dschinnistan ist unter widrigen, für May geradezu schockierenden Umständen verfaßt worden. Die Hausdurchsuchung am 9. November 1907 (im Zusammenhang mit der Meineidsanzeige Dr. Gerlachs), das Erscheinen des 'Kahl'-Pamphlets gegen May und - zum Teil - die fürchterlichen Auseinandersetzungen mit Rudolf Lebius fallen in die Entstehungszeit des Romans. Und die Querelen mit Pustet und Denk kamen hinzu!

   Ein Wunder ist es also zu nennen: Mitten im Inferno seiner bittersten Jahre und teilweise parallel mit der Niederschrift der zornsprühenden Pollmer-Studie (wohl Ende 1907) hat May den "Ort der Marter und der Pein" verlassen, "um alles Leid der Erde zu vergessen" (I, 1) und seine, jeglichem Haß entrückte, "Symphonie auf den Völkerfrieden"36 zu schaffen.

   Der Dichter schrieb, selbstbewußt wie gewohnt, über sein eigenes Werk: "Ein Jeder, der sich mit den Lebensfragen und mit der Zukunft des Menschengeschlechtes beschäftigt, sollte es gelesen haben."37 In der Tat: gewichtig ist die Aussage des Romans ohne Zweifel. Gänzlich frei von - ästhetischen und erzählerischen - Mängeln ist auch diese Krönung der Mayschen Dichtkunst allerdings nicht.38 Manche Unklarheiten und, geringfügige, Unstimmigkeiten im Handlungsverlauf könnten auf Störungen des Schreibprozesses durch äußere Einflüsse zurückzuführen sein. Und sachliche Inkonsequenzen, die das Werk - an freilich nur wenigen Stellen - immerhin aufweist, werden der 'gespaltenen' Persönlichkeit Karl Mays anzulasten sein, vielleicht aber auch den Irritationen durch Otto Denk, der seinen Autor auf die Wünsche 'traditioneller' (auf krasse Effekte, auf bunte Abenteuer fixierter) May-Leser festzulegen versuchte.

   Die Erwartung des Publikums brachte den Schriftsteller - wie im Silberlöwen III/IV - in Konflikt mit sich selbst und den eigenen literarischen Zielen. Ein Zwiegespräch zwischen Halef und Kara Ben Nemsi spiegelt die Situation des schreibenden May. Enttäuscht und verärgert beschwert sich der Scheik der Haddedihn: Der Sihdi sei "plötzlich gebildet und human" (I, 36) geworden; seit der Hadschi die Peitsche wegstecken mußte,


"haben wir kein wirkliches Abenteuer [...] mehr erlebt. Hierzu kam, daß du auch auf den Gebrauch deiner Gewehre verzichtetest [...] Du wolltest dich nicht mehr auf die Waffen, sondern auf die Liebe, auf die Humanität verlassen [...] Soll das in Ardistan und Dschinnistan auch so sein? [...] " - "Nein", antwortete ich trotz der gegenteiligen Instruktion, die ich von Marah Durimeh erhalten hatte. Es gab Gründe, die mich hierzu veranlaßten. (1, 36f.)


   Dies wird einer der Gründe39 gewesen sein: Ohne Verständnis für Mays Entwicklung zum religiösen Symbol-Dichter wurden, von den Lesern wie von der Redaktion des Haus-


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schatzes, nur prickelnde Unterhaltung gewünscht.40 Bis zu einem gewissen Grad kam May solchen Erwartungen tatsächlich entgegen: Die vertrauten Spannungselemente, Gefangenschaft und Befreiung, Beschleichen und Belauschen der Gegner, geheimnisvolle Gegenstände, unterirdische Labyrinthe usw., finden sich auch im Mir.

   Auch andere Merkmale der traditionellen Reiseerzählung Mayscher Prägung weist der Mir auf. Der Ich-Held Kara Ben Nemsi z.B. glänzt, wie früher, durch übermenschliche Fähigkeiten, durch findige Intelligenz, durch Körperkraft und Geschicklichkeit. Aber mit fortschreitender Handlung nimmt sich das 'Ich', der suchende Pilger, der "christliche Wanderer aus Dschermanistan" (11, 152), weitgehend zurück. Überwältigt von den Ereignissen, fasziniert von den Leuchtzeichen der Ewigkeit, ist der Effendi in den letzten Kapiteln fast nur noch ein Zuschauer. Der Mir von Dschinnistan hat alle Fäden in der Hand. Er lenkt das ganze Geschehen.

   Im übrigen bringt der Mir, verglichen mit früheren Werken Karl Mays, thematisch nichts absolut Neues. Im weitesten Sinne 'metaphysisch' hat May ja schon immer geschrieben. "Dieses sein Weltbild war eben", so kommentierte Heinz Stelte zu Recht,


keineswegs erst in Ardistan und Dschinnistan unvermittelt [...] aus der Luft gegriffen, sondern hatte sich von den Kolportageromanen seiner Frühzeit an in ihm ausgebildet und lag auch allen späteren Werken des Unterhaltungsgenres implizite zugrunde, nur eben verdeckter und seltener kategorisch akzentuiert. Man kann das Zug um Zug nachweisen. Insofern ist hier denn auch nicht, wie vielfach in der Forschungsliteratur geschehen, von einem jähen 'Bruch im Werk' zu sprechen. Was Ardistan und Dschinnistan darstellt, ist als Denkgehalt in Jahrzehnten seines literarischen Schaffens vorbereitet und kommt nunmehr in einem neuen, allerdings [...] befremdenden stilistischen Gewand zur Erscheinung. Um es in einem Bild zu verdeutlichen: der Schmetterling, der aus der Raupe schlüpft: ganz anders und doch als derselbe.41


   Symbolisch-allegorisch sind im Alterswerk und speziell in Ardistan und Dschinnistan nicht nur - wie in früheren May-Bänden - einzelne Motive oder Partien, sondern das gesamte Geschehen, sämtliche Reden und, nicht zuletzt, alle topographischen Hinweise und Schilderungen zu interpretieren. Zwar hat May sein neues Epos - so der Literaturwissenschaftler Gert Ueding -


aus der von ihm längst bearbeiteten und geformten Materie seiner Kolportage- und Reiseromane zusammengefügt [...] May greift aus dem gewaltigen Vorrat seiner literarischen Schatzkammer heraus, was er nun zu neuer Absicht noch gebrauchen kann. Doch keine Handlung, die nicht neben ihrem abenteuerlichen Sinn auch eine neue Bedeutung erhielte und zum allegorischen Zeichen würde.42


   Was Ardistan und Dschinnistan etwa vom Orientzyklus (Durch die Wüste usw.) unterscheidet, ist die gehobene Sprache, die deutliche Zunahme an mystischer Tiefe, die einzigartige Bildsymbolik, die visionäre Schau, die - wie schon oben gesagt - selbst die Schlußbände des Silberlöwen noch überbietet. Die abenteuerliche Fabel wird, weit konsequenter als in den früheren Reiseerzählungen (einschließlich Am Jenseits), integriert ins ganz Andere: in theologische Poesie von größter Dichte, in religiöse Betrachtung von ungewöhnlichem Inhalt - der dem 'Hausschatz', nicht ganz ohne Grund, als suspekt erschien.

   Über viele Seiten hinweg berauschen den verständigen Leser die schönsten Szenen und die hintersinnigsten Dialoge. Dieses "mühelose Parlando",43 diese geglückte Verbindung von göttlichem Humor und politischer Satire, von utopischer Phantasie und innerer Wahrheit, von 'Tausendundeiner Nacht'44 und archetypischer Traumwelt, von farbiger Handlung und transzendentaler Naturbetrachtung, von mystischer Frömmigkeit und welthafter Leibfreude, von zeitlosen Mythen und teleologischer Geschichtsdeutung ist ein - in dieser Form einmaliger - Versuch, den Himmel mit den irdischen Erfahrungen zu berühren. Die


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These mag wohl erlaubt sein: Wenn von den geistesgeschichtlichen Ereignissen des 20. Jahrhunderts die Rede ist, dürfte Ardistan und Dschinnistan nicht verschwiegen werden!

   Schwieriger als der Vergleich von Ardistan und Dschinnistan mit anderen Werken Mays ist allerdings der Vergleich mit Werken anderer Autoren. Wolfgang Clauß sprach, in Kindlers Literatur-Lexikon, von der "extremen Außenseiterstellung" des Karl-May-Romans "gegenüber allen zeitgenössischen Literaturströmungen"; in der deutschen Literatur finde sich "eigentlich keine Parallele"45 zu Ardistan und Dschinnistan.

   Daß Mays Roman absolut 'unvergleichlich' sei, ist damit nun freilich nicht gesagt. Heinz Stolte und Hartmut Vollmer verwiesen auf den Einfluß des literarischen 'Symbolismus' auf May.46 Aber auch "durch ältere Muster wie die Insel Utopia des Thomas Morus oder die 'Göttliche Komödie' Dantes"47 könnte der Dichter - wie Stolte meint - angeregt worden sein. Auch ein Vergleich der Reise Kara Ben Nemsis und Halefs nach Ardistan mit der Reise des alttestamentlichen Propheten Jona nach Ninive liegt, wie Martin Lowsky erläutert hat, in mehrfacher Hinsicht nahe.48 Darüber hinaus finden sich - wir werden es sehen49 - auch interessante Motive des Jesaia-Buches und anderer biblischer Propheten in Ardistan und Dschinnistan wieder.

   Gewiß, der Form nach ist der Roman Karl Mays ein originales, unverwechselbar einmaliges, durch und durch eigenständiges Werk. Aber (mehr oder weniger) entfernte literarische Verwandtschaften lassen sich dennoch erkennen. Werner von Krenski wollte den Mir sogar in "eine Reihe mit dem 'Faust' und 'Also sprach Zarathustra'"50 stellen. Arno Schmidt hielt, plausibler, "die Kühnheit und Anmut"51 der Mayschen Gedankenwelt für "sehr wohl vergleichbar dem 'Orplid' Mörikes oder der 'Gondal-World' der Brontës".52 Und Friedrich Dürrenmatt hob - wie vor ihm schon Arno Schmidt - die Verwandtschaft des May-Romans mit John Bunyans Pilgerreise53 hervor; er fragte sich, "ob nicht auch für Kafka dieses Werk von Karl May eine Bedeutung gehabt hat".54

   Wie problematisch oder wie berechtigt der Vergleich von Ardistan und Dschinnistan mit anderen Werken der Weltliteratur auch sein mag - innerhalb des Mayschen Oeuvres jedenfalls hat der Roman, nach dem Urteil nicht weniger Kenner, den obersten Rang. Einige Stellungnahmen seien hier wiedergegeben:

   Der Publizist Dr. Franz Sättler kam, noch zu Lebzeiten Mays, zu dem Resultat: "Das ist christliche Kunst! "55 Der Schriftsteller Ernst Jünger hatte Ardistan und Dschinnistan in seiner Jugend zweimal gelesen; bei der zweiten Lektüre geriet er "in einen euphorischen Zustand", als ob er "ein Narkotikum genommen hätte".56 Für Hans Wollschläger ist der Mir, neben dem Silberlöwen III/IV, "Mays zweite, unstreitig bedeutende Literatur-Leistung und erreicht [...] in seinen obersten Augenblicken jene sonderbare Schwelle, an der die Kunstwerke so etwas wie direkte Schöpfungs-Konkurrenzen werden".57 Christoph F. Lorenz meinte, "die recht bescheidene Zahl der ernstzunehmenden Interpretationsansätze" stünde in "keinem Verhältnis zu der Bedeutung dieses Buches".58 Und auch für Lowsky war Ardistan und Dschinnistan, 1987, der "am meisten gelobte", aber "am wenigsten erforschte unter Mays Altersromanen".59

   Mittlerweile sind weitere Untersuchungen - auch zur Botschaft, zur inhaltlichen Relevanz des Mir - erschienen.60 Doch für künftige Interpretationsversuche gibt es noch genügend Stoff. Denn als Welt-Parabel ist Ardistan und Dschinnistan im Grunde unerschöpflich.

   Was die formale, die ästhetische Seite des Werkes betrifft, dürfte das Wesentliche aber doch schon gesagt worden sein: In diesem Roman hat May - nach Heinz Stolte -


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auch im sprachlichen Ausdruck eine Stilhöhe erreicht, wie in keinem anderen seiner früheren Werke. In dieser Beziehung zeigt ihn Ardistan und Dschinnistan auf dem Gipfel seiner poetischen Fähigkeit, und das vielfache Umschlagen des Stils vom Epischen ins Lyrische ist dabei ein besonderer Reiz [...] Daß unvermittelt ganze Textpartien in jambisches (und gelegentlich anderes) Versmaß gebracht sind, [...] sollte [...] nicht, wie es geschehen ist, als Stilbruch und ästhetisches Ärgernis aufgefaßt werden, sondern entspringt ganz folgerichtig aus der von May hier adaptierten Rolle eines 'Hakawati', eines orientalischen Märchenerzählers: Die 'Erzählungen aus den tausendundein Nächten' zeigen uns vielfältig das Muster dem er sich anschloß. Es ist altarabische Erzähltechnik.61


   Aber nicht nur der sprachliche Stil ist bemerkenswert. Noch andere und wichtigere Kriterien sind zu nennen: Was Ardistan und Dschinnistan in den Rang eines großen literarischen Kunstwerks erhebt, ist vor allem die - laut Stolte -


mühelos hervorquellende Bilderfülle, der poetische Traumschimmer, der über allem liegt, und nicht zuletzt die virtuose Technik, mit der die divergierenden Elemente - Reiseabenteuer und 'Himmelsgedanken', Reales und Mystisches, Abstraktion und blühende Phantasie - zu einer unauflöslichen Einheit ineinander verschlungen sind.62


10.10.3

Tiefenpsychologischer Ansatz und offenbarungstheologische Zukunftsvision


Scheinbare Gegensätze werden, in faszinierender Weise, in Ardistan und Dschinnistan überbrückt: Der tiefenpsychologische Denkansatz zum Beispiel wird verknüpft mit der offenbarungstheologischen Vision einer neuen Schöpfung. Die folgende Skizze soll diesen Zusammenhang - und damit das Grundkonzept des Romans - verdeutlichen.

   "Meine Erzählung beginnt in Sitara, dem in Europa fast gänzlich unbekannten 'Land der Sternenblumen' [...] Die Sultanin dieses Reiches ist Marah Durimeh, die [...] Herrscherin aus uraltem Königsgeschlecht. " (I, 1)

   Nicht nur der Beginn der Erzählung, sondern der ganze Roman wirkt utopisch und surrealistisch. Sitara ist nicht unsere sichtbare Welt, nicht unsere stoffliche Erde,63 sondern das Land unsrer Träume, das Paradies unsrer Seele, der Ursprung des Lebens in der Herrlichkeit Gottes. Und auch die übrigen Schauplätze des Romans sind nicht 'real' im gewöhnlichen Sinne.

   Der sterbliche, nach 'Ardistan', in eine fremde, bedrohliche Welt geworfene Mensch kann Sitara nie völlig vergessen. Aber seine Erinnerung ist getrübt (I, 45ff.) und sein Blick ist verschleiert. Er kommt aus Sitara - von Gott, der 'Vater' und 'Mutter' zugleich ist64 - und 'weiß' dies nur "unbewußt" (vgl. II, 420): "O, du mein Vaterland [...]! Ich sah dich nie [...], du Land der Seelen, Land der Liebe, Land der [...] Sternenblumen!" (I, 340)

   Wie auf Tabor, dem Berg der Verklärung, den Jüngern des Herrn das Bleiben verwehrt wird (Mk 9, 2ff.), so kann auch Sitara für Kara Ben Nemsi und Halef keine ständige Wohnung sein. Die Gärten Sitaras, die Residenz der "Menschheitsseele" (I, 10), müssen die Wanderer verlassen: auf dem Schiff "Wilahde", zu deutsch 'die Geburt'. Sie müssen hinunter nach Ardistan, zur "Erde" (I, 18)65 mit ihren Kriegen, ihrer tödlichen Dürre und ihrem dunklen Geheimnis. Ihr Weg durchs ganze Ardistan, durchs ganze Leben, "ist ein Studien- und ein Uebungsritt" (I, 18). Das im Roman nicht erreichte, weil auf Erden gar nicht erreichbare Ziel ist Dschinnistan,66 das Land der himmlischen Heerscharen, die Ardistan - unerkannt - schützen und von Gott, dem "allgütige[n] Mir von Dschinnistan" (I, 503),67 gesandt sind.

   In Sitara, im 'pränatalen' Bereich, empfängt Kara Ben Nemsi, der "Mensch" (II, 505), von Marah Durimeh, der Menschheitsseele, seine "Mission" (I, 14):


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"Der Mir von Dschinnistan wird von seinen Bergen herniedersteigen, um Ardistan den Frieden zu bringen [...] Und du sollst ihm [...] entgegensteigen, um Ardistan und seinen Herrscher auf ihn vorzubereiten. Erschrick nicht, mein Freund! Es wird nichts Unmögliches von dir verlangt." (I, 23f.)


   Eine Berufungsgeschichte wird hier beschrieben, die der - biblischen - Struktur der Propheten-Berufung und letztlich der, konkret natürlich verschiedenartigen, Erwählung jedes Menschen entspricht: "Das Wort des Herrn erging an mich: Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich erwählt [...] Wohin ich dich sende, sollst du gehen, und was ich dir auftrage, sollst du verkünden. Fürchte dich nicht [...], denn ich bin mit dir, um dich zu retten." (Jer 1, 4-8)68

   Der Erdenweg der beiden Helden beginnt im "niedrige[n], aus Sumpf und Moor bestehenden[n]" Land der Ussul (I, 43). Diese 'Urmenschen', die "die Kindheitsstufe der Menschheit"69 symbolisieren, werden - mitsamt ihrem Scheik - von Taldscha,70 einer Vertrauten Marah Durimehs, geführt und beschirmt. Sitara ist also präsent, selbst hier, im tiefsten Ussulistan.

   Im Land der Ussul hört Kara Ben Nemsi von jener Legende, die zum Leitmotiv des ganzen Romans wird.

   Die Legende erzählt: Hoch über Dschinnistan "liegt das verlorene einstige Paradies". Alle hundert Jahre öffnen sich seine Tore, und eine Fülle des Lichts überflutet die Erde und ihre Bewohner. "Da wird Alles, Alles offenbar, was je geschehen ist und was noch heut geschieht." Die Engel "schauen herab, ob endlich Friede sei; aber stets ist Krieg und [...] Streit." Unsichtbar steigen die Gebete der Ärmsten "zum Paradies empor [...] Sie helfen einander, heben einander über die Mauern hinweg [...] und klammern sich an die Engel. Sie heften sich an die Flügel der Gnade" und steigen zu Gott. "'Gib Frieden!' jammerte es über die Erde [...] 'Gib Frieden!' bittet es in Gottes eigener Seele." Der Herr sendet Mose, dann Jesus,71 dann Mohammed. Doch die Herzen der Menschen bleiben verschlossen. Da geht Gott selbst, in Menschengestalt, "hinab nach Dschinnistan"72 und weiter nach Ardistan, in die Hauptstadt. Dort wird er "festgenommen",73 vor den Herrscher geschleppt und als Landesverräter zum Tode verurteilt. Da predigt der Herrgott "durch Taten". Ssul, der Fluß des Friedens, wird dem Reiche Ardistan genommen. Das lebenspendende Wasser fließt "aufwärts, nach oben, woher es gekommen ist [...] Das Bett des Flusses aber liegt leer, und die entsetzte Menschheit flieht aus der Stadt [...] " (I, 216ff.)

   So spricht die Sage. Und dies ist die Wirklichkeit, die 'Realfiktion' im Roman: Der Fluß ist verschwunden, und die Trümmer der alten Hauptstadt starren "wasserlos in die Steppe" (I, 220). Doch Gottes Sorge hat das dürstende Land nicht verlassen. Geheimnisvoll, aber mächtig, bleibt Gott selbst in der Wüste präsent. Und weiterhin brennen, nach jedem Jahrhundert, die Vulkane von Dschinnistan. Ihre Flammen erlöschen nicht eher, als bis die Frage "Ist Friede auf Erden?" beantwortet ist.

   Die in Ardistan, dem Land der Gewaltmenschen, unterdrückten Christen fügten den alten Sagen "eine Art prophetischen Versprechens hinzu": In ferner Zukunft soll, vom Tyrannen persönlich, in der Kathedrale der jetzigen Hauptstadt von Ardistan der "Stern des Erlösers" entzündet werden. Wenn der Herrscher dies "tut, ist der Gang des Kommenden unmöglich aufzuhalten. Er wird zunächst den Hochaltar für immer enthüllen. Sobald dieses geschieht, werden die Stimmen der Barmherzigkeit und Güte" erklingen, "und Himmelstöne, die man im Lande Ardistan noch niemals hörte, werden zu vernehmen sein" (II, 117ff.). Der Herrgott wird wieder nach Ardistan kommen (II, 221).74 Und zu-


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letzt wird der Dschebel Muchallis, der Berg der Erlösung, die Vollendung verkünden: den "Friede[n] auf Erden" und den "Friede[n] mit Gott" (II, 644).

   In einem unerhörten Crescendo wird diese Erfüllungs-Theologie im Romangeschehen vorangetrieben und verifiziert. Kara Ben Nemsi und Halef suchen in der 'Höhle des Löwen' den Fürsten von Ardistan auf. Dem Ich-Helden gelingt eben dies, was später - in der Realität der 1930er Jahre - dem Philosophen Martin Heidegger mißlang: den Führer zu führen75 und den Kriegsverbrecher zu zähmen. Das Terror-Regime des Fürsten (der die eigenen Leute versklavt) unterläuft er mit psychologischer Raffinesse. Den Herrscher überlistet er bravourös, mit pädagogischer Kunst.76 Er verleitet den "Feind des Christentums" (II, 118) zum Besuch der Kathedrale, wo der Tyrann, aus Versehen, den Stern von Bet Lahem entzündet.

   Die Zeit, die FÜLLE der Zeit, scheint gekommen. "Welch ein Jahr ist das jetzige! Sollte es wirklich jenes große, seit Jahrtausenden vorherverkündete Jahr sein, in welchem [...] der Friede sich naht und die Völker sich [...] lieben [...] ?" (II, 380f.)

   Der Weihnachtsgottesdienst in der Kirche bereitet den Boden für die - freilich langsame, von Rückschlägen bedrohte - Bekehrung des Menschenverächters.77 In der "Stadt der Toten", der früheren, nun scheinbar verödeten Hauptstadt von Ardistan, der "herrlichste[n] und ernsteste[n] aller Ruinenstätten der Erde" (I, 560), bricht der Herrscher -angesichts der wunderbarsten Ereignisse - endlich zusammen. Sein Herz aus Stein ist gebrochen. Er erkennt seine Schuld und ist, wie Abu Kital in Babel und Bibel, zur Sühne nun wirklich bereit.

   Der Mir von Dschinnistan und Marah Durimeh, die alles, auch die Mission Kara Ben Nemsis, vorausgeplant hatten, erweisen sich als die wahren Protagonisten. Sie geben Ssul, dem Fluß des Friedens, das Wasser zurück. Sie verwandeln die Wüste in blühende Giften (vgl. Jes 35, 1-7). Und sie führen die Helden zum Ziel, d.h. zur Grenze von Dschinnistan, vor deren Überschreitung der Roman dann beendet wird.

   May selbst hat seine Erzählung als "Märchen" verstanden.78 Hat er sich "in die Fiktion [...] hineingedacht" und die "Wirklichkeit vergessen" (II, 424)? Nein, er beschreibt eine Zauberwelt, die "in Wirklichkeit vorhanden ist" (I, 10). Denn jede Sage und jedes Märchen enthält eine "Wahrheit, [...] die man in der Tiefe suchen muß." (I, 221) Aus den Sagen und Märchen, den Mythen und Träumen spricht die "Menschheitsseele" (I, 224); da liegt "ein Wink versteckt, nach dem man suchen soll" (II, 308).

   In der Bibel heißt es: "Als der Herr das Los Zions, die Gefangenschaft, wendete, da waren wir alle wie Träumende." (Ps 126, 1) Auch der Dschirbani, der Gefangene in der Totenstadt, war "wie ein Träumender" (II, 420), als er, dem Tode entrissen, den Brunnen - den 'Engel' - erkannte. Das Wunder lag schon lange "verborgen" in ihm, "vollständig unbewußt". Erst hier, in der Stadt der Toten, "kam es emporgestiegen, ganz langsam und unbemerkt, bis es [...] aus mir heraustrat, sich vor mich hinstellte und zu mir sagte: 'Da bin ich; du hattest mich vergessen, [...] kennst du mich noch?" (II, 420f.)

   Wir sehen: Mays Erzählung spielt "im fernen und doch so nahen Lande des Menschen-Inneren" (I, 111). Dem Roman liegt ein tiefenpsychologischer Ansatz zugrunde: Sitara, die Mauern des Paradieses, die brennenden Berge, der Stern von Bethlehem, die Brunnen (die 'Engel') in der Wüste, die Quellen des lebendigen Wassers, die Totenstadt, der Friedens-Fluß, der Berg der Erlösung usw. gehören zur Landschaft der Seele, zum "kollektiven Unbewußten" (C.G. Jung) der Menschheit. In der Sehnsuchts- und Leidensgeschichte vieler Generationen hat sich das alles versammelt und will heraus aus seinem Verdrängt- und Vergessensein.


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   Der christlich fühlende Leser könnte sich fragen: Poetisch mögen Mays Traumwelten ja schön und tiefenpsychologisch mögen sie interessant sein; aber sind die Symbole, die Schlüssel-Bilder des Dichters, in ihrer Aussage wahr? Sind Mays Begriffe - für die Traumwelt ja typisch - nicht unscharf und fließend? Verrinnen sie nicht in die Vieldeutigkeit?

   Dem katholischen 'Haussehatz' war Mays Erzählung verdächtig. Man kann die Bedenken verstehen. Der Darwinismusverdacht79 ist zwar unbegründet (weil ja May keine ATHEISTISCH verstandene Evolutionstheorie vertritt); aber andere Fragen könnten sich immerhin stellen: Wie verhalten sich der Ursprung und das Ziel unseres Daseins - die Gärten Sitaras und das Hochland von Dschinnistan - zueinander? Sind sie identisch? Wird in Ardistan und Dschinnistan die Hoffnung auf Gottes Reich nicht ersetzt durch eine innerweltliche Utopie, den "Frieden auf Erden"? Wird das Erlösungswerk Christi nicht in den Schatten gestellt durch die Sühnebereitschaft des Herrschers von Ardistan und das Wirken der Menschheitsseele, die "noch über dem Mir von Dschinnistan"80 steht? Wird der Mensch in seiner Einmaligkeit, in seiner Individualität, in seiner letzten Verantwortlichkeit vor Gott genügend gewürdigt? Tritt an die Stelle von Tod und persönlicher Auferstehung (in der Ewigkeit Gottes) womöglich ein diesseitiger Zyklus von immer neuen Geburten?

   Die Textexegese wird solchen Fragen nicht ausweichen dürfen. Man könnte versucht sein, zu sagen: Die Mehrdeutigkeit gehört zum Wesen des Märchens und literarischer Texte wohl überhaupt. Man könnte meinen: Karl May war eben ein Dichter; denkerische Genauigkeit war nicht seine Stärke, und auf dogmatische Richtigkeit kam es dem Poeten nicht sonderlich an. Aber kann man das wirklich so sagen? Es wird sich zeigen: Ein dogmatischer Denker war May zwar nicht; aber er dachte durchaus theo-logisch. Er wußte sehr wohl, was er sagte und meinte. Manche Bilder sind unscharf und manche Formulierungen rätselhaft; doch im ganzen ist die Botschaft verständlich im Sinne der alt- und neutestamentlichen Offenbarung. Die Textanalyse wird es erweisen:81 Ardistan und Dschinnistan ist christliche Poesie - visionär und prophetisch, biblisch fundiert und innovativ, menschlich bedeutsam und theologisch gewichtig.


10.10.4

Der autobiographische Hintergrund


Da jeder Text, auch jeder theologische Text, immer auch das Werk eines bestimmten Menschen mit seiner konkreten Geschichte, seinen spezifischen Erfahrungen und seiner besonderen psychischen Grundverfassung ist, soll die selbstbiographische Relevanz des Romans, in knapper Zusammenfassung, besprochen werden.

   Mit autobiographischen Hinweisen, mit Materialien zur Charakterbestimmung des Verfassers ist Ardistan und Dschinnistan ebenso aufgeladen wie die übrigen Werke des Dichters. Als Ich-Projektionen können, wie immer bei May, sehr viele Figuren betrachtet werden - Abd el Fadl ('Diener der Güte') zum Beispiel, der "über sechzig" Jahre alte Patriarch, "der innerlich aber noch Jüngling ist" (I, 537): Als ärmlicher "Märchenerzähler" (II, 183) gibt er sich aus, obwohl er doch "Fürst" und einer der engsten Vertrauten des Mirs von Dschinnistan ist!

   Auch jetzt wieder verbergen sich unter der oberschichtigen Handlung die alten, in die Jugend und die früheste Kindheit zurückverweisenden Traumata Karl Mays.82 Die Vergangenheit des Autors kehrt wieder im Dschirbani83 z.B., im 'Räudigen', der von allen verachtet wird, der "Vater" und "Mutter" sucht, der eingesperrt wird im Zwinger, der


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"alle Arten des Gefängnisses durchgemacht" hat und immer wieder "entkommen" ist (I, 233).

   Auch aktuelle Erlebnisse des Verfassers finden sich verschlüsselt in der Erzählung:84 In Merhameh, der Tochter Abd el Fadls, einem unendlich sympathischen "Kind von noch nicht siebzehn Jahren" (I, 517), zeichnet der Autor ein, ins Sakrale entrücktes, Porträt von Lu Fritsch, seiner jungen, ihn verehrenden Anhängerin,85 die "soeben" in seinen "Gesichtskreis getreten war" (I, 528). Und im Protest des Mirs von Ardistan gegen das öffentliche Verlesen des "Schuldbuchs" (II, 470) könnte Mays Entrüstung über die Bekanntmachung seines 'Sündenregisters' - im Verlauf der Rechtsstreitigkeiten mit Lebius86 - enthalten sein.

   Im Text der Erzählung macht sich der Autor Gedanken über die Reaktion der Leser, die Ardistan und Dschinnistan als langweilig und "mystisch" empfanden (z.B. I, 563). Die "seelische Beklemmung" des Verfassers, seine "Beängstigung" (II, 573), sein gestörtes "inneres Gleichgewicht" (II, 354) sind, trotz der euphorischen Grundstimmung des Romans, im Text durchaus zu erkennen.

   Wie zeigt sich, zwischen den Zeilen, der "innere Mensch" (II, 277) Karl May? Welche Auskünfte gibt der Roman über den psychischen Zustand des Dichters?

   Zunächst ist zu sagen: Das im Roten Meer versunkene Ich, der 'alte Adam', der "frühere Karl "87 läßt wieder grüßen. Die Ich-Überhöhung, das Selbstlob des Autors scheint, mit den Großtaten Kara Ben Nemsis, in Ardistan und Dschinnistan die seltsamsten Blüten zu treiben. Aber May kämpft, gerade auch in diesem Roman, literarisch dagegen an: durch die - sehr ironische - Kritik an seinen Ich-Derivaten.

   Beginnen wir mit Halef, der niedrigen "Anima" (I, 3) Karl Mays.88 Der Hadschi, der im Jenseits-Band und im Silberlöwen III so tiefgreifend geläutert wurde, müßte den Edelmenschen Kara Ben Nemsi nun längst schon erreicht oder gar übertroffen haben. Aber dies ist nicht der Fall. Im Gegenteil - er treibt es, als "Erdenmensch" (I, 424), noch schlimmer denn je. Mit seiner Kriegslust erzürnt er den Sihdi (I, 417ff.), das Wunsch-Ich Karl Mays. Und in seiner Selbstüberhebung macht er sich lächerlich: Für einen Hanswursten, für den "entsprungenen Hofnarren" und "Leibzwerg" des Herrschers von Ardistan wird er gehalten (I, 123)! In "scheinbarer Bescheidenheit" (II, 199) fällt er seiner "Ruhmredigkeit doch immer wieder zum Opfer" (II, 146) "und das Schlimmste dabei war, daß man ihm" - weil er gar so lieb und "possierlich" war - überhaupt "nicht zürnen konnte" (II, 147). Denn er selbst gesteht ja dann ein: "Wer sich für mehr ausgibt, als er ist und kann, dem schwindet der Boden unter den Füßen weg" (II, 567).

   Einen glänzenden Höhepunkt erreicht die Selbstironie des Autors in dem lebenden Reiter auf hölzernem Roß im Lande Ussulistan. Mit der wichtigen Aufgabe betraut, den Mir von Ardistan auf dem Pferde-Sockel zu imitieren, hat er sich - wie einstmals ein deutscher Poet: Karl May - sein buntes Kostüm, seine martialischen Waffen selbst besorgt.


Er sagt, dies gehöre zu seiner hohen Würde. Er hat sich nämlich so in die 'hohe Würde' [...] hineingelebt, daß er sie bereits für seine eigene hält und sich auch dann als Mir von Ardistan gebärdet, wenn er nicht auf dem Pferde sitzt. Man sagt deshalb, er sei im Kopfe irr geworden. (1, 309)


   Ein übriges tut, beim Reitersmann, der Alkohol bzw. - bei May - die exzentrische Sucht, der manische Trieb, die wuchernde Phantasie. Im Denkmalsreiter - so verfremdet der Autor die Befindlichkeit des eigenen Teil-Ichs -


sprach sich der Spiritus [...] in ganz individueller Weise aus, nämlich durch Vergrößerung der Selbstüberhebung [...] : Ich bi - - bi - - bin nicht nur der Mi - - mi - - mir von A - - a - - ardistan, sondem sogar der Mi - - mi - - mir von Dschi - - dschi - - dschinnistan!" (I, 324)


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   Den neuen, künftigen Mir von Dschinnistan soll es tatsächlich bald geben. Der Dschirbani, der Sohn des jetzigen Mir, wird es sein. Der Dichter enthält es dem Leser freilich noch vor. Zunächst (I, 547ff.) spricht alles dafür: Er selbst, Kara Ben Nemsi, "der Sohn eines blutarmen, deutschen Leinewebers" (I, 437), wird zum Herrscher von Dschinnistan, zum Kommandeur der himmlischen Heerscharen erhöht. May spielt immerhin mit dieser Idee!

   Im 'Panther', der den Mir von Ardistan seines Amtes enthoben und sich selbst an dessen Stelle gesetzt hat, steigert sich die Großmannssucht ins tödlich Absurde. Der "Wahngedanke seines ganzen Lebens, ein großer Herrscher zu werden", kommt schließlich, in aussichtsloser Lage, "zum 'Ueberschnappen'" (II, 619): "Dieses Pferd kenne ich. Es ist das Schlachtroß des Kaisers der Ussul und also meiner würdig [...] Ich muß [...] zu meiner Armee!" (II, 648f.) Der Panther, die 'Bestie im Menschen', der irre Stolz, der Größenwahn im Herzen Karl Mays, ertrinkt in den Fluten des Ssul, des zurückgekehrten Flusses des Friedens. Den Panther sah - so die Beschwörungsformel des Autors - "kein Auge jemals wieder" (II, 649).

   Welcher "Wahngedanke" soll untergehen im Meer? Die Gleichsetzung des Schriftstellers mit dem literarischen Ich-Ideal? Die 'Old Shatterhand-Legende' war in der Öffentlichkeit ja längst schon zerstört. Aber das Geltungsbedürfnis des Dichters hatte noch eine andere, bedenklichere, im Alter sich verstärkende Komponente. Die narzißtische Neigung hatte eine geistliche Dimension: Daß May sich mit dem 'Heiland' nicht gleichsetzte, haben wir zwar gesehen;89 die GEFAHR des 'Messiaskomplexes' war aber doch wohl vorhanden.90 Dem Textbefund von Ardistan und Dschinnistan nach zu schließen, hat May diese Gefahr jedoch erkannt und ist ihr nicht erlegen.

   Analog zu den Selbstanklagen des Autors in den Reden des Khutab Agha,91 des Missionars Waller oder des Ustad92 enthalten die Bekenntnisse Schedid el Ghalabis, des Herrschers von Ardistan, die "Beichte" (II, 353) Karl Mays. Da "jeder Mensch in Beziehung auf das, was er innerlich zu leben und zu kämpfen hat, ein größerer oder kleinerer Mir von Ardistan" (II, 415) ist, liegt es nahe, in der "Einkehr, Reue und Umkehr" (II, 270) des Fürsten auch den Kampf des Dichters "mit sich selbst, [...] mit seiner eigenen niedrigen Anima" (II, 145), zu erblicken.

   Auf dem Weg zur Totenstadt erkennt sich der Herrscher in seiner Schwäche, in seiner Erbärmlichkeit. Gott "rüttelt" (II, 456) an ihm so entsetzlich, daß er - der Verzweiflung schon nahe - zum Selbstmord (II, 330) tendiert. Warum? Weil es für "stolze Naturen geradezu fürchterlich ist, Gnade und Barmherzigkeit nehmen zu müssen" und "auf männlichen Zorn und rächende Kraft" (II, 381) verzichten zu sollen. Die Arroganz und der Dünkel des Mirs sind noch keineswegs tot. "Der innere Mensch ist nicht so leicht zu erschlagen, wie der äußere! [...] Gib mir Zeit; gib mir Zeit" (II, 277f.), bittet der Mir seinen 'Therapeuten' Kara Ben Nemsi.

   Erst in der Totenstadt wird der Hochmut des Herrschers endgültig gebrochen. Zum Glauben an Gott hat er sich inzwischen bekehrt. Aber jetzt droht eine neue Gefahr, der RELIGIÖSE Stolz. Der Fürst von Ardistan redet sich ein, er habe mit "Gott" gekämpft und sei nun eben besiegt worden. Doch damit stellt sich der Mir, wie Kara Ben Nemsi ihm vorhält, auf dieselbe Stufe mit Gott: "Die Wolke, die sich auflösen muß, prahlt, sich mit der Sonne gemessen zu haben! Ein Stück Holz, welches zu Asche verbrennt, rühmt sich knisternd, es ringe mit dem Feuer auf Leben und Tod! [...] Wenn du wieder betest, so bitte Gott um Bescheidenheit!" (II, 435f.)


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   Die Bescheidenheit war Mays Stärke zwar nicht. Aber er wußte um ihren Wert. Den Basch Nasrani, den Oberpriester der Christen, läßt er - in Anlehnung an die letzte Schrift-Zeile Martin Luthers93 - bekennen: "Vor Gott sind wir alle Bettler!" (II, 151)

   In der Totenstadt will der Mir von Ardistan nicht nur die eigenen Sünden, sondern auch die Verbrechen seiner Ahnen auf sich nehmen! Die totale Verrücktheit? Die absolute Vermessenheit? Eine Teilhabe des Menschen am Erlösungswerk Christi hielt May - zu Recht - für möglich; wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen.94 Für hier, für die Deutung der autobiographischen Leseebene des Romans, mag die These genügen: May durchschaute, zumindest teilweise, die Gefahr, die mit seiner (an sich nicht falschen) Erlösungstheorie verbunden war! Der Dichter stellt klar: Wer die eigene Schuld bekennt und die Sünden andrer auf sich nimmt, hat "keine Veranlassung" sich "dessen auch nur im allergeringsten zu rühmen. Solcher Erlöserstolz ist Wahnsinn, weiter nichts! " (II, 436)

   May weiß und macht es deutlich im Mir: Der "Wahnsinn" des Erlöserstolzes wäre erlöst, wenn der fehlbare Mensch sich fallen ließe in die Hand des barmherzigen Gottes. Der "Wahnsinn" wäre geheilt, wenn der sündige, der Erlösung bedürftige Mensch sich aufgehoben wüßte in der Heiligkeit seines Schöpfers, an der er - aufgrund von Gnade - partizipieren darf.


Anmerkungen


1Vgl. Claus Roxin: Mays Leben. In: Karl-May-Handbuch. Hrsg. von Gert Ueding in Zusammenarbeit mit Reinhard Tschapke. Stuttgart 1987, S. 62-123 (S. 120). - Die folgenden Ausführungen entsprechen, überarbeitet und z.T. erheblich erweitert, Hermann Wohlgschaft: "Ich sah dann auch Gott selber kommen". Theologisches zu 'Ardistan und Dschinnistan'. In: JbKMG 1993, S. 281-337 (281-294).
2Der Textansatz ist wiedergegeben bei Hansotto Hatzig: Karl May und Sascha Schneider. Dokumente einer Freundschaft. Beiträge zur Karl-May-Forschung 2. Bamberg 1967, S. 152. -Vgl. Roland Schmid: Nachwort (zu Abu Kital). In: Karl May: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXXI. Hrsg. von Roland Schmid. Bamberg 1984, N 2-6.
3Ekkehard Bartsch: Ardistan und Dschinnistan. Entstehung und Geschichte. In: JbKMG 1977, S. 81-102 (S. 86f.).
4Ebd., S. 86 - Vgl. aber Wilhelm Vinzenz: Randbemerkungen zu Therese Keiter, Otto Denk und zum 'Mir von Dschinnistan. In: MKMG 78 (1988), S. 24-31 (S. 28).
5Roland Schmid: Nachwort (zu Ardistan und Dschinnistan I/II). In: Freiburger Erstausgaben, Bd. XXXI, wie Anm. 2, N 6-17 (N 8).
6Zit. nach ebd.
7R. Schmid: Ebd.
8Vgl. Ulrich Schmid: Karl May, Augsburg und die Augsburger Postzeitung. In: Karl May und Augsburg. SKMG Nr. 82 (1989), S. 4-8.
9Vgl. R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 5, N 12.
10Zit. nach ebd., N 10.
11R. Schmid: Ebd., N 9.
12Karl May in einem Brief vom 17.5.1908 an Otto Denk; zit. nach Karl May: Briefe an Karl Pustet und Otto Denk. Mit einer Einführung von Hans Wollschläger. In: JbKMG 1985, S. 15-62 (S. 23).
13Vgl. die Tabelle bei Hainer Plaul: Illustrierte Karl-May-Bibliographie. Unter Mitwirkung von Gerhard Klußmeier. München 1989, S. 305.
14Vgl. May: Briefe, wie Anm. 12, S. 30.
15Zit. nach R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 5, N 12.
16Vgl. oben, S. 372.
17Vgl. unten, S. 525f. u. 542f.
18Unter dem Pseudonym 'Otto von Schaching' verfaßte er eine stattliche Reihe von Erzählungen. - Näheres bei Karl May: Mein Leben und Streben. Freiburg 1910. Hrsg. von Hainer Plaul. Hildesheim, New York 21982, S. 430 (Anm. 239).
19Vgl. May: Briefe, wie Anm. 12, S. 30.


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20Vgl. ebd., S. 30, 39, 42f., 45, 52f., 55f., 59f.
21Ebd., S. 27.
22Ebd., S. 26.
23Seitenangaben in () beziehen sich auf: Karl May: Ardistan und Dschinnistan I/II. Gesammelte Reiseerzählungen, Bd. XXXI/XXXII. Freiburg 1909.
24May: Briefe, wie Anm. 12, S. 57.
25Der Brief ist vollständig wiedergegeben ebd., S. 32-60.
26Ebd., S. 53.
27Ebd., S. 54.
28R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 5, N 13.
29Daß May den Roman - als Torso - abgebrochen (so z.B. Wollschläger: Einführung, wie Anm. 12, S. 16) und nicht planmäßig beendet habe, folgt daraus allerdings nicht; vgl. Vinzenz, wie Anm. 4, S. 29.
30Hansotto Hatzig - Claus Roxin. Vorwort (zu Der 'Mir von Dschinnistan). In: Karl May: Der 'Mir von Dschinnistan. Deutscher Hausschatz XXXIV./XXXV. Jg. (1907-09); Reprint der KMG. Hamburg, Regensburg 1976.
31Ebd.
32In Winnetou IV (1909/10) hat May diesen Schutzengel-Gedanken wieder aufgegriffen; vgl. R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 5, N 15f.
33Hatzig - Roxin, wie Anm. 30 - Vgl. Hansotto Hatzig: Der 'Mir von Dschinnistan. Karl Mays Textvarianten. In: MKMG 30 (1976), S. 23-32 - Udo Kittler: Karl May auf der Couch? Die Suche nach der Seele des Menschen. Eine literaturpsychologische Studie zur Rezeption der "Lehre vom Unbewußten" im Spätwerk Karl Mays. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 9. Ubstadt 1985, bes. S. 88f. (ebd., S. 89, legt Kittler einen bisher unbekannten Manuskriptteil Mays vor).
34Vgl. unten, S. 705.
35Zit. nach R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 5, N 14.
36May: Briefe, wie Anm. 12, S. 55.
37Aus der - von May selbst verfaßten - Ankündigung des Fehsenfeld-Verlags; zit. nach Hans Wollschläger: Das "eigentliche Werk". Vorläufige Bemerkungen zu 'Ardistan und Dschinnistan' (Materialien zu einer Charakteranalyse III). In: JbKMG 1977, S. 58-80 (S. 67).
38Vgl. z.B. Heinz Stolte: Der Volksschriftsteller Karl May. Beitrag zur literarischen Volkskunde (Reprint der Erstausgabe von 1936). Bamberg 1979, S. 103 - Wollschläger: Einführung, wie Anm. 12, S. 16.
39Wollschläger: Das "eigentliche Werk", wie Anm. 37, S. 73, sieht den Grund für den Rückgriff auf 'Peitsche' und 'Waffen' in der zwanghaften "Früherinnerung" Mays an die eigene Kindheit. Diese Deutung ist zwar nicht auszuschließen, aber doch wohl unzureichend.
40Der oben zitierte Roman-Passus ist zwar schon VOR den brieflichen Andeutungen Denks (bezüglich enttäuschter Lesererwartungen) verfaßt worden; es ist aber anzunehmen, daß May sich von Anfang an über solche Erwartungen im klaren war; möglicherweise wurde auch bei der persönlichen Unterredung im Hotel 'Leinfelder' über solche Erwartungen gesprochen.
41Heinz Stolte: (Werkartikel zu) Ardistan und Dschinnistan I/II. In: Karl-May-Handbuch, wie Anm. 1, S. 308-320 (S. 310).
42Gert Ueding: Leben aus der Totenstadt. Über Karl Mays "Ardistan und Dschinnistan". In: MKNIG 74 (1987), S. 33ff. (S. 33) - Vgl. Stolte: Werkartikel, wie Anm. 41, S. 310.
43Wollschläger: Das "eigentliche Werk", wie Anm. 37, S. 61.
44Vgl. Stolte: Werkartikel, wie Anm. 41, S. 317. - Arno Schmidt: Sitara und der Weg dorthin. Eine Studie Über Wesen, Werk & Wirkung Karl Mays. Karlsruhe 1963 (Reprint Frankfurt/M.1985), S. 307, hat auf die Legende von der 'Messingstadt' (566.-578. Nacht der Märchensammlung 1001 Nacht) verwiesen, die May "angeregt haben dürfte". - Christoph F. Lorenz: Von der Messingstadt zur Stadt der Toten. Bildlichkeit und literarische Tradition von "Ardistan und Dschinnistan". In: Karl May. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Sonderband Text + Kritik. München 1987, S. 222-243 (S. 228-233), hat diese Spur weiter verfolgt und interessante Motiv-Parallelen nachgewiesen: "Die Geschichte von der Totenstadt in 'Ardistan und Dschinnistan' weist zumindest einige Züge auf, die wir auch in der 'Messingstadt' finden können [...] Insgesamt jedoch fallen die Unterschiede zwischen den beiden Texten stärker ins Auge als die Gemeinsamkeiten; sollte May das Vorbild der 'Messingstadt' vorgeschwebt haben, so nahm er zumindest gravierende Änderungen vor" (ebd., S. 229f.).


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45Wolfgang Clauß: (Werkartikel zu) Ardistan und Dschinnistan. In: Kindlers Literaturlexikon IV. München 1974, S. 1150f. (S. 115 1); aktualisiert in: Kindlers Neues Literatur Lexikon, Bd. 11. München 1990, S. 401f.
46Vgl. Stolte: Werkartikel, wie Anm. 41, S. 310 - Hartmut Vollmer: Die 'eigentliche Aufgabe' des Künstlers. Karl May und der Symbolismus. In: JbKMG 1992, S. 218-237 (S. 229ff.).
47Stolte: Werkartikel, wie Anm. 41, S. 310.
48Vgl. Martin Lowsky: "Paris oder London ". Weltstadt und Weltstädtisches in Karl Mays Ardistan. In: JbKMG 1992, S. 183-198 (S. 184f.).
49Vgl. unten, S. 685 u. 690.
50Werner von Krenski: Der Weg nach Dschinnistan. In: KMJB 1928. Radebeul 1928, S. 419-428 (S. 419).
51Arno Schmidt: Abu Kital. Vom neuen Großmystiker (1958). In: Karl May. Hrsg. von Helmut Schmiedt. Frankfurt/M. 1983, S. 45-74 (S. 48).
52Ebd., S. 68.
53Dazu auch Werner F. Bonin: Karl Mays Pilgrims Progress. In: MKMG 16 (1973), S. 3-6; Fortsetzung in: MKMG 18 (1973), S. 7-13.
54Zit. nach Claus Roxin: Friedrich Dürrenmatt über Karl May. In. MKMG 81 (1989), S. 46.
55In einer Besprechung vom 22.1.1910 in der 'Driburger Zeitung'; zit. nach Bartsch, wie Anm. 3, S. 97.
56In einem Brief vom 12.1.1981 an Günter Scholdt; zit. nach Günter Scholdt: Sitara und die Marmorklippen. Zur Wirkungsgeschichte Karl Mays. In: JbKMG 1982, S. 158-169 (S. 169, Anm. 21).
57Hans Wollschläger: Karl May. Grundriß eines gebrochenen Lebens Zürich 1976, S. 146.
58Lorenz, wie Anm. 44, S. 222.
59Martin Lowsky: Karl May. Stuttgart 1987, S. 114.
60Heinz Stolte: Karl Mays 'Ardistan und Dschinnistan' und sein Wehftiedensgedanke. In: JbKMG 1988, S. 83-98 - Lowsky: "Paris oder London", wie Anm. 48 - Vollmer: Symbolismus, wie Anm. 46 - Wohlgschaft: Theologisches, wie Anm. 1. - Vgl. auch Walther Ilmer: Karl May - Mensch und Schriftsteller. Tragik und Triumph. Husum 1992, S. 217f. (mit überaus positiven Aussagen zu Ardistan und Dschinnistan).
61Stolte: Werkartikel, wie Anm. 41, S. 317.
62Ebd., S. 318.
63Vgl. Stolte: Weltfriedensgedanke, wie Anm. 60, S. 84 - (Anonymus): Nachwort. In: Karl May's Gesammelte Werke, Bd. 32: Der Mir von Dschinnistan. Bamberg 51.-70. Tsd. 1955, S. 469-483 (S. 472ff.). - Zur Deutung des Wortes 'Sitara' vgl. Wolf-Dieter Bach: Fluchtlandschaften. In: JbKMG 1971, S. 39-73 (S. 49f. u. 56f.).
64Vgl. unten, S. 660ff.
65Das etwas spätere Märchen von Sitara (May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 18, S. 1-7) setzt eine durchaus andere 'Geographie' voraus: Ardistan ist dort ein Teil von Sitara. - Vgl. R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 5, N 7f.
66Das arabische Wort 'Dschinnistan' hat Christoph M. Wieland "in die deutsche Literatur eingefuhrt, seine Sammlung 'Dschinnistan oder auserlesene Feen- und Geistermärchen' (1786-89) hat aber keine inhaltliche Beziehung zu Mays Roman." (Lowsky: Karl May, wie Anm. 59, S. 116).
67An DIESER Stelle wird Gott selbst als 'Mir von Dschinnistan' bezeichnet! Zur terminologischen und sachlichen Problematik, die sich hieraus ergibt, vgl. Hermann Wohlgschaft: Der Mir von Dschinnistan und Marah Durimeh oder Steht Gott unter dem Schutz der Menschheitsseele? In: MKMG 84 (1990), S. 8-11 - Ders.: Stimmen zu.- "Steht Gott unter dem Schutz der Menschheitsseele?" In: MKMG 87 (1991), S. 56-59; Fortsetzung in: MKMG 88 (1991), S. 48-50.
68Auch der anfängliche Einwand des Propheten (Jer 1, 6) hat im Dialog Marah Durimeh/Kara Ben Nemsi eine Entsprechung (vgl. 1, 12f.)!
69Krenski, wie Anm. 50, S. 422 Nach Lowsky: Karl May, wie Anm. 59, S. 116, hat May die Schilderung Ussulistans "teilweise von Christoph Martin Wielands 'Geschichte der Abderiten' (1774) übernommen".
70Zu Taldscha vgl. Werner Tippel - Hartmut Wörner: Frauen in Karl Mays Werk. SKMG Nr. 29 (1981), S. 47ff.
71Stolte: Weltfriedensgedanke, wie Anm. 60, S. 90, hebt hervor, daß Jesus in der Sage nur der "liebevollste aller Geister" (1, 217) und nicht der 'Sohn Gottes' sei, was die Proteste der katho-


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lischen Hausschatz-Leute verständlich mache; Stolte läßt aber unerwähnt, daß es in Halefs Kommentar ja ausdrücklich heißt: "Nur fehlt ihnen [den Ussul] die Lehre von Gottes Sohn, dem Erlöser." (1, 221)
72Dschinnistan ist in dieser Legende nicht mit dem 'Himmel' und der 'Mir von Dschinnistan nicht mit Gott identisch. In Mays Begrifflichkeit gibt es, besonders was den Mir von Dschinnistan betrifft, manche Widersprüche, auf die schon Wolfgang Wagner: Der Eklektizismus in Karl Mays Spätwerk. SKMG Nr. 16 (1979), S. 10, verweist. - Vgl. Wohlgschaft: Der Mir von Dschinnistan, wie Anm. 67.
73An Dostojewskis Legende vom 'Großinquisitor' (der den auf die Erde zurückgekehrten Christus verhaften läßt) könnte man hier denken.
74Vgl. Wohlgschaft: Der Mir von Dschinnistan, wie Anm. 67, S. 8f.
75Vgl. Thomas Rentsch: Martin Heidegger - Das Sein und der Tod. Eine kritische Einführung. München 1989, S. 163: "In naiver Selbstüberschätzung" strebte Heidegger "danach, [...] 'den Führer zu führen', wie Karl Jaspers berichtet. Er erlag einer illusionären Verkennung der politischen Situation und des tatsächlichen Verhältnisses von Geist und Macht; er bot sich dem Regime an, weil er wähnte, jetzt könne es zu einer philosophischen Revolution kommen." -Während Kara Ben Nemsi sich dem Regime des Tyrannen zwar ebenfalls (aus taktischen Gründen) 'anbietet', die Denkweise des Kriegsherrn aber grundsätzlich ablehnt, ist Heidegger freilich der Faszination des 'Führers' wirklich erlegen.
76Dazu Franz Hofmann: J.H. Pestalozzis politisch-pädagogisches Bekenntnis in seinen Wachforschungen' als Zeitgemälde in einem Triptychon hoch- und spätbürgerlicher Geschichtsphilosophie und Anthropologie. In: Pädagogische Rundschau 34(1980), S.143-162; vgl. Lowsky: Karl May, wie Anm.59,S. 116f.
77Vgl. Sibylle Becker: Karl Mays Philosophie im Spätwerk. Materialien zur Karl-May-Forschung, Bd. 3. Ubstadt 1977, S. 32-35.
78Vgl. May: Mein Leben und Streben, wie Anm. 18, S. 212.
79Vgl. May: Briefe, wie Anm. 12, S. 30. - Vgl. oben, S. 505.
80Oskar Sahlberg: Therapeut Kara Ben Nemsi. In: Karl May - der sächsische Phantast. Studien zu Leben und Werk. Hrsg. von Harald Eggebrecht. Frankfurt/M. 1987, S. 189-212 (S. 197, mit Bezug auf Arno Schmidt).
81Vgl. unten, S. 682ff.
82Dazu Wollschläger: Das "eigentliche Werk", wie Anm. 37, S. 69-79.
83Vgl. R. Schmid: Nachwort, wie Anm. 5, N 11: In einem Schreiben vom 15.7.1908 an Otto Denk unterzeichnet May als "Dschirbani"!
84Für Ardistan und Dschinnistan dürfte dies allerdings in weit geringerem Ausmaße gelten als für den Silberlöwen III/IV.
85Vgl. unten, S.546f.; zu Merhameh vgl. Tippel - Wörner, wie Anm.70, S. 46f.
86Vgl. oben, S. 469f.
87Vgl. oben, S. 378.
88Trotz der Abwertung durch den Autor (Halef als 'niedere Anima', die freilich 'geläutert' werden soll: 1, 420) wirkt der Hadschi - als eine der gelungensten Romanfiguren Mays - doch auch in Ardistan und Dschinnistan im ganzen recht sympathisch!
89Vgl. oben, S. 451 u. 486f.
90Noch in Mays Selbstbiographie gibt es bekanntlich Formulierungen, die als Gleichsetzung des Autors mit dem leidenden Christus mißverstanden werden könnten. - Vgl. Jürgen Lehmann: Privatheit und Selbstenthüllung. In: JbKMG 1989, S. 37-50 (S. 46).
91Vgl. Eckard Etzold: Karl May: Am Ort der Sichtung. Ein literarisches Todesnähe-Erlebnis. SKMG Nr. 81 (1989), S. 15-23.
92Vgl. oben, S. 411ff. u. 446ff.
93"Wir sind Bettler. Das ist wahr." Dieses - nach Luthers Tod (18.2.1546) auf einem Zettel gefundene - Wort ist als letzter Satz (16.2.1546) Luthers überliefert. - Vgl Hanns Lilje: Martin Luther in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek 1965, S.124 - Ernst Seybold: Karl-May-Gratulationen. Geistliche und andere Texte zu und von Karl May. 111. Sammlung. Ergersheim 1990, S. 123.
94Vgl. unten, S. 698ff.




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Sekundärliteratur


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